Bei diesem kurzen Essay handelt es sich um eine Abhandlung zu den zwei Narziss-Gedichten von Rilke. Hier werden außerdem Verbindungen zu den duineser Elegien hergestellt.
Die beiden Narziss-Gedichte unterscheiden sich nicht nur in ihrer Länge, sondern auch in ihrer Perspektive. Ist das längere der beiden Gedichte aus der eigenen Perspektive des Narziss verfasst "DIES also: dies geht von mir aus und löst/ sich in der Luft und im Gefühl der Haine" , beschreibt das andere aus der Perspektive eines Betrachters den Tod des Narziss: "NARZISS verging." Es ist wie eine Spiegelung, als würde das Gedicht, welches das Vergehen Narziss‘ aus der Perspektive eines Betrachtenden thematisiert, eine Reflexion des längeren Narziss-Gedichtes darstellen.
Rilkes Narziss-Gedichte und ihre Darstellung der menschlichen Vergänglichkeit
Von Rilke existieren zwei Gedichte zum Narziss. Sie unterscheiden sich nicht nur in ihrer Länge, sondern auch in ihrer Perspektive. Ist das längere der beiden Gedichte aus der eigenen Perspektive des Narziss verfasst „DIES also: dies geht von mir aus und löst/ sich in der Luft und im Gefühl der Haine“1, beschreibt das andere aus der Perspektive eines Betrachters den Tod des Narziss: „NARZISS verging.“2 Es ist wie eine Spiegelung, als würde das Gedicht, welches das „Vergehen“ Narziss‘ aus der Perspektive eines Betrachtenden thematisiert, eine Reflexion des längeren Narziss-Gedichtes darstellen.
Ist sich Narziss in anderen Texten seines eigenen Spiegelbildes nicht bewusst, verhält es sich auch bei Rilke ähnlich: „Was sich dort bildet und mir sicher gleicht“3. Aber eher noch als ein völliger Mangel an Erkenntnis des eigenen selbst, ist sich Rilkes Narziss zumindest der Ähnlichkeit zwischen sich und seinem Spiegelbild bewusst. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen dem Narziss in Rilkes Gedicht und dem Narziss in anderen Darstellungen ist die unerwiderte Liebe, mit welcher er hier konfrontiert wird: „Dort ist es nicht geliebt. Dort unten drin/ ist nichts, als der Gleichmut überstürzter Steine“4. Dieser Moment scheint einherzugehen mit einem Erkennen des eigenen Spiegelbildes, denn so heißt es weiter: „und ich kann sehen, wie ich traurig bin./ War dies mein Bild in ihrem Augenscheine?“5 Verweisen diese Strophen auf jenen Moment des Erkennens, tut sich hier aber auch die Frage auf, was gemeint ist mit „mein Bild in ihrem Augenscheine“? Wer ist diese Frau, von welcher hier die Rede ist und warum ist sie notwendig? Diese Strophe scheint auch darauf zu verweisen, dass es dennoch etwas Anderes ist, was Narziss‘ Untergang zur Folge hat als nur die Verzweiflung darüber, dass seine Liebe niemals Erwiderung finden wird, zumindest darüber hinausgeht. Es scheint der Wunsch zu sein, in sich selbst das zu finden und zu erkennen, was eine Frau in ihm sieht und ihm ermöglicht wird auf diese Weise für sich allein ohne einen weiteren Menschen zu existieren. Es scheint, als wolle Narziss eine Verbindung eingehen, in der er sich selbst genügen kann. Um hier zu verstehen, was die Intention von Rilkes Gedichten sein könnte, ist auch ein Blick auf Rilkes anderes Narziss-Gedicht und auf die Duineser Elegien hilfreich.
„Er liebte, was ihm ausging, wieder ein/ und war nicht mehr im offnen Wind enthalten“6, heißt es im anderen Gedicht zum Narziss. Dieses Konzept eines Lebewesens, dass sich selbst an die Umwelt abgibt bzw. eben dies nicht vermag oder vielmehr dessen nicht bedarf, da es sich selbst genug ist, ist bei Rilke nicht nur im Gedicht des Narziss enthalten. Auch in der Gedichtreihe der Duineser Elegien gibt es Wesen, deren Existenz von einem Ausgehen und Wiederinsichaufnehmen geprägt ist. Dort sind es die Engel, „Frühe Geglückte, ihr Verwöhnten der Schöpfung“7, die sich selbst ausgeben bzw. ausatmen und in gleicher Weise wieder in sich aufnehmen: „ Spiegel: die die entströmte eigene Schönheit/ wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz.“8 Engel nehmen somit ihr eigenes Selbst und ihr Aussehen wieder in sich auf und sind somit in der Lage einen Kreis zu erschaffen, der ihnen ein unendliches Leben ermöglich, da sie nichts von sich selbst an ihre Umwelt und an andere abgeben müssen, sondern ganz für sich selbst bleiben können. Peter Szondi fasst dies in einer Vorlesung zu den Duineser Elegien wie folgt zusammen:
„Die Schönheit, die dem Antlitz der Engel entströmt, wird nicht von anderen Wesen aufgenommen, bleibt nicht als Bild vom Engel in der Seele des ihn anschauenden Menschen. Sondern die entströmte Schönheit kehrt wieder zu ihrem Ausgang: sie wird wiedergeschöpft in das eigene Antlitz. […] Sie gibt sich deshalb nie aus, sie wird nie ärmer und schwächer und ist so auch nicht auf anderes angewiesen.“9
Der Engel also ist ein selbstgenügsames, perfektes Wesen, welche sich durch diese Art der Existenz immer wieder neu aufnehmen und daher unendlich bestehen kann. Die Rede ist hierbei ebenfalls von einem „ Spiegel “, ein Motiv, was bei Narziss ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Auch darauf geht Szondi in seinem Vortrag ein, der eine direkte Verbindung zu dem Spiegel-Motiv in den Duineser Elegien und dem Narziss herstellt. „Narziß wollte die eigene Schönheit, die in die ihn liebende Frau hinüberströmte, erreichen und in sich wiederschöpfen. Aber erst in der Vereinzelung, seinem Spiegelbild erkennt er sie.“10 Szondi verweist hierbei auf die vierte Strophe des zweiten Narziss-Gedicht: „Was sich dort bildet und mir sicher gleicht/ und aufwärts zittert in verweinten Zeichen,/ das mochte so in einer Frau vielleicht/ innen entstehen; es war nicht zu erreichen.“11 Ebenfalls stellt er somit zu den bereits erwähnten Strophen eine Verbindung her, in welchem von dem „Bild in ihrem Augenscheine“ die Rede ist. Somit wird deutlicher, dass Narziss erhofft, indem er seine eigene Schönheit wieder auffängt, so wie eine Frau es kann, sich selbst genügend zu sein, indem er sich so erblickt, was ein anderer und somit zu sich selbst so zu lieben, dass es keinen anderen Menschen bedürfe, er sich somit also selbst genüge, indem er mit seinem Spiegelbild eine Form von Verbindung eingeht, wie es den Engeln möglich ist. Auf diese Weise kann gesagt werden, dass Narziss‘ Schicksal aktiv von ihm mitbestimmt wird, führt man diese Deutung fort, spricht Szondi hier doch davon, dass Narziss die eigene Schönheit erreichen „wollte“.
Scheinbar wird hier der Wunsch nach einer erotischen Liebe impliziert, die verdeutlicht wird, da explizit von einer Frau gesprochen wird. Eine Liebe, die für Narziss aber eben nicht zu erreichen ist. „Denn, wie ich mich in meinem Blick verliere:/ ich könnte denken, daß ich tödlich sei.“12 Mit diesen Zeilen endet das Gedicht und verweist somit auf das Ende des Narziss. Fast schon notwendig ist hierbei das kürzere Gedicht, welches als eine Art Zeuge seines Todes fungiert. „NARZISS verging.“ Narziss kann nicht selbst von seinem eigenen Tod berichten, vielmehr bedarf es hierfür eines Beobachters. Wie bei einer Spiegelung wird hier das Geschehen noch einmal, komprimierter und verzerrter, wiedergegeben. „Er liebte, was ihm ausging, wieder ein/ und war nicht mehr im offnen Wind enthalten/ und schloß entzückt den Umkreis der Gestalten/ und hob sich auf und konnte nicht mehr sein.“13 In diesem kürzeren Narziss-Gedicht tritt viel stärker der von Szondi angemerkte Versuch, sich ähnlich dem Engel in einem Kreislauf herauszugeben und wiederaufzunehmen. So wie der Engel ist auch Narziss „nicht mehr im offnen Wind enthalten“. Doch es gelingt ihm nicht, der Versuch sich selbst zu genügen scheitert und es geschieht, was die erste Zeile einführt: „NARZISS verging.“ Denn er kann sich zwar aufnehmen, doch „konnte nicht mehr sein“. Und so schlussfolgert Szondi: „Narziß starb am Versuch die Daseinsweise der Engel zu verwirklichen.“14 Somit ist in Rilkes Gedichten Narziss nicht einfach nur eine Figur, die durch ein vorherbestimmtes Schicksal den Tod findet, da er an einer unglücklichen und unerfüllbaren Liebe zugrunde geht. Vielmehr ist es ein Wunsch nach Unsterblichkeit und Selbstgenügsamkeit. Narziss will den Engeln gleichen. Sie sind „Höhenzüge, morgenrötliche Grate/ aller Erschaffung“15. Er will somit zu einem perfekten Wesen werden, wie es die Engel sind. Doch „[d]as Schicksal des Narziß ist also für Rilke das Schicksal des Menschen, der die Grenzen seines Daseins verkennt, der sich vermißt, die Daseinsform zu erreichen, die nur dem Engel zukommt.“16 Somit vergeht Narziss also nicht aus einer Traurigkeit heraus, sondern aus dem Unvermögen, sich selbst wiederaufzunehmen, wie es den Engeln möglich ist. Denn Narziss kann ohne ein Anderes, das ihn erblickt und somit Zeuge seiner Schönheit wird, nicht existieren. Er ist dem Menschen gleichgesetzt, von dem es in den Duineser Elegien heißt: „Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen; ach wir/ atmen und aus und dahin“17
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1 Rainer Maria Rilke: Narziss (2). In: Rainer Maria Rilke. Sämtliche Werke. Zweiter Band. Insel-Verlag, 1963, S. 56-57, hier S. 56.
2 Rainer Maria Rilke: Narziss (1). In: Rainer Maria Rilke. Sämtliche Werke. Zweiter Band. Insel-Verlag, 1963, S. 56.
3 Rainer Maria Rilke: Narziss (2). In: Rainer Maria Rilke. Sämtliche Werke. Zweiter Band. Insel-Verlag, 1963, S. 56-57, hier S. 57.
4 Ebd. S. 57.
5 Ebd. S. 57.
6 Rainer Maria Rilke: Narziss (1). In: Rainer Maria Rilke. Sämtliche Werke. Zweiter Band. Insel-Verlag, 1963, S. 56
7 Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. In: Rainer Maria Rilke. Die schönsten Gedichte. Hrsg.: Uwe Heldt. Piper München Zürich, 2005, 55-90, hier S. 61.
8 Ebd. S. 61.
9 Peter Szondi: Rilkes Duineser Elegien. In: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Studienausgabe der Vorlesungen Band 4. Hrsg.: Henriette Beese. Suhrkamp, 1975, S. 377-510, hier S. 395.
10 Ebd. S. 397f.
11 Rainer Maria Rilke: Narziss (2). In: Rainer Maria Rilke. Sämtliche Werke. Zweiter Band. Insel-Verlag, 1963, S. 56-57, hier S. 57.
12 Ebd. S. 57.
13 Rainer Maria Rilke: Narziss (1). In: Rainer Maria Rilke. Sämtliche Werke. Zweiter Band. Insel-Verlag, 1963, S. 56.
14 Peter Szondi: Rilkes Duineser Elegien. In: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Studienausgabe der Vorlesungen Band 4. Hrsg.: Henriette Beese. Suhrkamp, 1975, S. 377-510, hier S. 398.
15 Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. In: Rainer Maria Rilke. Die schönsten Gedichte. Hrsg.: Uwe Heldt. Piper München Zürich, 2005, 55-90, hier S. 61.
16 Peter Szondi: Rilkes Duineser Elegien. In: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Studienausgabe der Vorlesungen Band 4. Hrsg.: Henriette Beese. Suhrkamp, 1975, S. 377-510, hier S.398.
17 Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. In: Rainer Maria Rilke. Die schönsten Gedichte. Hrsg.: Uwe Heldt. Piper München Zürich, 2005, 55-90, hier S. 61.
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- Rebekka Merkel (Autor:in), 2016, Rilkes Narziss-Gedichte und die Darstellung der menschlichen Vergänglichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/704361