Die Gestalt des „edlen Wilden“ fungiert Erdheim zur Folge als eine leitende Idee, „mit deren Hilfe die Vielfalt der Informationen über die eigene und die fremden Kulturen in je verschiedene strukturierte Zusammenhänge gebracht werden können“ und insofern immer in enger Wechselbeziehung zur Selbstreflexion steht: Einerseits können anhand dieser Idee die eigenen Werte und Normen in Frage gestellt werden und andererseits ist sie Grund, die diese Infragestellung erst möglich macht.
Diese Grundannahmen können als „roter Faden“ jener Autoren gelten, mit denen sich diese Arbeit auseinander zu setzten hat, denn diese reflektieren den als verfälscht angesehen Zustand der eigenen Kultur anhand der angeblich sorgenfreien Lebensweise der indianischen Völker. In seinem um 1580 entstandenen Essay „Von den Cannibalen“ versucht Michel de Montaigne, durch die Idealisierung der indianischen Lebensweise die eigene kulturelle Position in Frage zu stellen. Montaigne vertritt im Wesentlichen die These, dass die kindliche Unschuld der Eingeborenen den Keim einer unverdorbenen Vitalität in sich birgt und das sich die Europäer von den Ursprüngen reinen Menschentums entfernen. Anders als Montaigne, der nie die „neue Welt“ betreten hat, kann die umfangreiche Aufzeichnung „Neueste Reisen nach dem mitternächtlichen Amerika“ des Barons Louis- Armand de Lahontan aus dem Jahr 1705 als weitgehend authentisches Zeitzeugnis gelten, denn der Autor selbst hat mehrere Jahre mit kanadischen Einheimischen Kontakt gehabt. Lahontan nutzt diese Erfahrungen, um die eigene Gesellschaft umso heftiger zu kritisieren. In seinen fiktiven Dialog „Gespräche mit einem Wilden“ schlüpft Lahontan in die Rolle eines Verteidigers der europäischen Kultur, während sein Gegenspieler, der Hurone Adario die europäische Zivilisation als unbegreifliche Verirrung empfindet.
Die Konfrontation zwischen dem Eingeborenen und dem Zivilisierten findet seinen Höhepunkt in Jean- Jacques Rousseaus „Diskurs über die Ungleichheit“ aus dem Jahr 1754. Was dieses Buch so interessant macht ist die Vorstellung Rousseaus eines selbst unter Indianern längst verlorenen Naturzustandes, welcher sich dadurch auszeichnet, dass die Menschen ohne die Kenntnis von Gut und Böse eine sorglose Existenz führen. Erst mit dem Eintritt des Menschen in die Gesellschaft gewinnt das Problem der sozialen Ungleichheit an Schärfe.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Hauptteil
1. Kleine Kulturgeschichte des „edlen Wilden“
2. Die Exotisierung des „edlen Wilden“ bei Montaigne
3. Die Ethnographie und Zivilisationskritik des Barons Lahontan
4. Das hypothetische Modell des „homme naturel“ bei Rousseau
Schluss
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die Gestalt des „edlen Wilden“ fungiert Erdheim[i] zur Folge als eine leitende Idee, „mit deren Hilfe die Vielfalt der Informationen über die eigene und die fremden Kulturen in je verschiedene strukturierte Zusammenhänge gebracht werden können“ und insofern immer in enger Wechselbeziehung zur Selbstreflexion steht: Einerseits können anhand dieser Idee die eigenen Werte und Normen in Frage gestellt werden und andererseits ist sie Grund, die diese Infragestellung erst möglich macht.
Diese Grundannahmen können als „roter Faden“ jener Autoren gelten, mit denen sich diese Arbeit auseinander zu setzten hat, denn diese reflektieren den als verfälscht angesehen Zustand der eigenen Kultur anhand der angeblich sorgenfreien Lebensweise der indianischen Völker. In seinem um 1580 entstandenen Essay „Von den Cannibalen“ versucht Michel de Montaigne, durch die Idealisierung der indianischen Lebensweise die eigene kulturelle Position in Frage zu stellen: Dort zweifelt er die Berechtigung der Kolonisatoren an, aufgrund von militärischer Überlegenheit Völker zu unterwerfen, die sich seiner Meinung nach durch äußerste Tugendhaftigkeit auszeichnen. Montaigne vertritt im wesentlichen die These, dass die kindliche Unschuld der Eingeborenen den Keim einer unverdorbenen Vitalität in sich birgt und das sich die Europäer von den Ursprüngen reinen Menschentums entfernen. Mit dieser Konfliktlinie leitet er eine Abkehr von der bisher üblichen europazentrischen Betrachtungsweise ein und schafft Bitterli[ii] zur Folge ein neues Bewusstsein für die Relativität des eigenen kulturellen Standortes.
Anders als Montaigne, der nie die „neue Welt“ betreten hat, kann die umfangreiche Aufzeichnung „Neueste Reisen nach dem mitternächtlichen Amerika“ des Barons Louis- Armand de Lahontan aus dem Jahr 1705 als weitgehend authentisches Zeitzeugnis gelten, denn der Autor selbst hat mehrere Jahre mit kanadischen Einheimischen Kontakt gehabt. So lassen sich in dem Text eine Fülle von Hinweisen zum Schamanentum, den medizinischen Praktiken und den Kriegs- und Jagdbräuchen der dort ansässigen Völker finden. Lahontan, der in der westlichen Zivilisation nie richtig Fuß fassen konnte, nutzt diese Erfahrungen, um die eigene Gesellschaft umso heftiger zu kritisieren. In seinen fiktiven Dialog „Gespräche mit einem Wilden“ schlüpft Lahontan in die Rolle eines Verteidigers der europäischen Kultur, während sein Gegenspieler, der Hurone Adario, die Tugenden seiner Rasse preist und die europäische Zivilisation als unbegreifliche Verirrung empfindet.
Die Konfrontation zwischen dem Eingeborenen und dem Zivilisierten findet seinen Höhepunkt in Jean- Jacques Rousseaus „Diskurs über die Ungleichheit“ aus dem Jahr 1754. Was dort über die Sitten der amerikanischen Urbewohner berichtet wird ist zur damaligen Zeit nicht neu. Was aber dieses Buch so interessant macht ist die Vorstellung Rousseaus eines selbst unter Indianern längst verlorenen Naturzustandes, welcher sich dadurch auszeichnet, dass die Menschen ohne die Kenntnis von Gut und Böse eine sorglose Existenz führen. Erst mit dem Eintritt des Menschen in die Gesellschaft gewinnt das Problem der sozialen Ungleichheit an Schärfe. Für Rousseau steht außer Zweifel, dass der Verlauf der Geschichte nichts weiter als den Degradationsprozeß des Menschen wiederspiegelt, den er in seinem Werk auf spannende Art und Weise nachzeichnet. Bevor ich aber auf die drei genannten Autoren näher eingehe, möchte ich kurz einige Vorbemerkungen zu den Vorstellungen machen, die man mit dem „edlen Wilden“ verbindet.
1. Kleine Kulturgeschichte des „edlen Wilden“
Der herabwürdigende Begriff „Barbar“ wurde und wird benutzt, wenn man einen Menschen auf seine Minderwertigkeit hinweisen möchte ohne sich gleichzeitig die Mühe einer näheren Begründung machen zu müssen, da über die Bedeutung des Begriffs ein breiter Konsens besteht. Die Seefahrer der europäischen Kolonialgeschichte verwendeten zur Beurteilung der Überseebewohner dieses Wort mit Vorliebe, und stigmatisierten sie damit als Menschen, die ohne eine Ahnung von Recht und Ordnung lebten.
Das Klischee vom „Barbaren“ ist mit dem des „edlen Wilden“, besonders wie es sich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts herausbildete, eng verwandt, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Waren die „Barbaren“ noch primitiv, so bewundert man nun die Anspruchslosigkeit der „edlen Wilden“, kindische Unvernunft wird durch Unschuld ersetzt und Triebhaftigkeit bezeichnet man als unbesorgte Lebensfreude.
Gemeinsam ist diesen beiden Stereotypen, dass sie dann verwendet werden, wenn auf eine wie auch immer geartete Andersartigkeit hingewiesen werden soll. Beide Vorstellungen entspringen einem betont ethnozentrischen Kulturbewusstsein und gewinnen besonders dann an Aktualität, wenn der Mensch sich in seiner eigenen Kultur nicht mehr hinreichend geborgen fühlt: Genannt sei die Zeit, als die radikale Infragestellung der Aufklärungsphilosophen alte Denkmuster aufbrach und in der Phase vor und nach dem Ersten Weltkrieg, als sich der Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft ankündigte und der exotische Mensch in Kunst, Literatur und Musik ein beliebtes Thema wurde.[iii]
So ist die Sehnsucht nach einem sorglosen Leben in fernen Ländern und damit verbunden das Bild vom „guten“ oder „edlen Wilden“ wohl als Wunsch zu verstehen, aus einer enttäuschenden Gegenwart auszubrechen. Dabei bietet sich die Möglichkeit den Blick entweder auf die Ahnen der Vergangenheit zu richten, die einem natürlichen Urzustand näher gewesen waren oder auf die Zukunft, verbunden mit der Hoffnung auf ein ideales Gemeinwesen, in dem alle Menschen zufrieden leben können.[iv]
Als eines der ersten literarischen Zeugnisse, in dem der Wunsch nach einem unbeschwerten Leben beschrieben wird kann wohl Ovids Vision des „Goldenen Zeitalters“ angesehen werden. Der 43 vor Christus geborene Dichter beschreibt in seinen „Metamorphosen“ ein Zeitalter ohne Gesetze, Strafe und Furcht. Die Völker leben in „sicherer Ruhe“ und um Nahrung zu erhalten bedienen sie sich aus einer üppigen Natur. Der Boden trägt ungepflügt seine Früchte und die Flüsse sind voller Milch und Nektar, von den Eichen tropft gelber Honig. [v]
Solche mehr ideologisch als realistisch anmutende Beschreibungen lassen sich auch in der antiken Literatur finden, man denke nur an Platons Beschreibung des sagenumwobenen Atlantis. Als gemeinsamer Kern in solcher Schriften ist vor allem die Willensfreiheit und die natürliche Sittlichkeit der Naturvölker präsent.[vi]
Eine wahre Blüte erlebt der Glaube an die Glückseligkeit der im Naturzustand lebenden Menschen, wo eine zivilisierte Gesellschaft auf eine weniger entwickelte trifft, nämlich mit der Entdeckung der „Neuen Welt“. So war Kolumbus davon überzeugt, das irdische Paradies entdeckt zu haben und viele der spanischen Konquistadoren glaubten, die Schönheit der Indianer sei Ausdruck einer vollkommenen Tugendhaftigkeit. Weiterhin lobten sie ihr sanftes Wesen und ihre bewundernswerte Intelligenz, ihre angeborene Geschicklichkeit sowie das Fehlen von Schamgefühlen, die den vom „Sündenfall“ betroffenen Menschen kennzeichnen. Der spanische Missionar und Geschichtsschreiber Las Casas bezeichnet diese Völker als die glücklichsten der Erde und bemängelt nur, dass ihnen der christliche Glaube gänzlich unbekannt ist; einem Umstand, dem er durch tatkräftige Missionierung Abhilfe schaffen wollte. Auch der Schriftsteller Montaigne bewundert die Ursprünglichkeit der indianischen Lebensweise und vergleicht die Eingeborenen in seinem um 1580 entstandenen Essay „Von den Cannibalen“ mit wilden Früchten, die von der Natur ohne den korrumpierenden Einfluß irgendwelcher Aufzucht hervorgebracht werden.[vii]
Selbst als im 17. Jahrhundert die Ureinwohner der Antillen weitestgehend versprengt worden waren und deren Zahl durch eingeschleppte Krankheiten beständig abnahm, war die Vorstellung vom „edlen Wilden“ noch präsent. Es entstand die paradoxe Situation, dass man auf der einen Seite Bewunderung für die indianische Lebensweise empfand, auf der anderen Seite deren Lebensgrundlage durch Kriege konsequent zerstörte.
Im Jahr 1667 beschreibt der französische Missionar du Terte die überaus wichtige Funktion der Antillen im Hinblick auf die Wirtschaftspolitik seines Landes und erarbeitet Vorschläge zur besseren Bewirtschaftung der Inselgruppe. Aber auch du Terte ist nicht nur an der wirtschaftlichen Bedeutung der entdeckten Landstriche interessiert, sondern ist zudem von der Gleichberechtigung und persönlichen Freiheit angetan, die seiner Meinung nach das Zusammenleben der Indianer bestimmt. Du Terte gilt in Fachkreisen als einer der ersten, der die Sympathie für archaische Lebensformen und die europäischen Lebensverhältnisse kritisch gegenüber stellt. Er bezieht aber keine persönliche Stellungnahme zugunsten der einen oder anderen Seite, sondern konstruiert in seinen Reiseberichten, wie Bitterli[viii] es ausdrückt, ein labiles Gleichgewicht zwischen „der Verlockung durch das Fremdartige und der Neigung zur Bequemlichkeit des Angestammten.“
Der Autor verweist an gleicher Stelle auf das Phänomen, dass die gebildeten Menschen des 18. Jahrhunderts durch die vielen naturwissenschaftlichen Entdeckungen und deren rationaler Aufbereitung zwar in der Lage waren, die inneren Gesetzmäßigkeiten der Natur zu enthüllen, gleichzeitig aber in der Gesellschaft das „Erkenntnismittel der Vernunft“ als unzureichend empfunden wurde. Parallel zu den Methoden der „exakten Wissenschaften“ war unter der Bevölkerung vor allem eine gefühlsbetonte Empfänglichkeit und eine ausschweifende Vorstellungskraft zu verzeichnen.[ix] Dieses Bedürfnis nach einem mehr an „Intuition“ wurde durch literarische Werke bedient, die phantastische Reiseberichte und Utopien zum Inhalt haben, und darauf verweisen, dass „in Angelegenheiten des Lebens und der Liebe nichts durch Vernunft, alles aber durch Empfindungen entschieden wird.“[x]
Bezeichnender Weise standen nicht sachlich genaue Kompilationen hoch im Kurs, sondern jene, die mit sentimentalen und phantastischen Vorstellungen hantierten. Persönliche Traumvorstellungen der Autoren hatten bei der Darstellung indianischer Lebensverhältnisse mehr Gewicht als rationale Wissenschaftlichkeit. Häufig entnahmen die Autoren ihre Erkenntnisse aus zweiter Hand, waren also nie selbst als Beobachtende vor Ort, und deuteten die gemachten Erfahrungen nach eigenem Gutdünken um, um so den Enthusiasmus einer gutgläubigen Leserschaft nach exotischem Leben zu bedienen. Die Konsequenz war, dass die Lebensweise der „edlen Wilden“ sehr verzerrt dargestellt wurde und mit der Wirklichkeit wenig gemein hatte. Das gestiegene Interesse an den Naturvölkern hat aber nicht zu einem „boom“ in der wissenschaftlichen Forschung beigetragen, sondern eher zu der Verbreitung eines Wunschbildes, das sich immer mehr ausbreitete und verklärte.[xi]
Wie schon in der Einleitung erwähnt, soll die stark exotische Darstellung indianischen Lebens, so wie es auch die Autoren Montaigne, Lahontan und Rousseau taten, nicht ausschließlich die Lust nach Unterhaltung entsprechen- sondern dient zugleich als fundamentale Kritik an den europäischen Zuständen.
[...]
[i] Vgl. Erdheim, Mario: Anthropologische Modelle des 16. Jahrhunderts: Oviedo, Las Casas, Sahagun, Montaigne; Verlag C.H. Beck, München 1990, S.42.
[ii] Vgl. Bitterli, Urs: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹; Verlag C.H. Beck, München 1976, S.233.
[iii] Vgl. Bitterli, Urs: ebd., S.374.
[iv] Vgl. Bitterli, Urs: Der „Edle Wilde“ und die Afrikaner; Atlantis Verlag AG, Zürich 1980, S.81.
[v] Vgl. Publius Ovidius Naso: Metamorphosen; Heimeran Verlag, München 1979, S.12-13.
[vi] Vgl. Friedrich, Hugo: Montaigne; Francke Verlag, Bern 1967, S.193.
[vii] Vgl. Bitterli, Urs (1980): S.82.
[viii] Vgl. Bitterli, Urs: ebd., S.83.
[ix] Vgl. Bitterli, Urs: ebd., S79.
[x] Vgl. Bitterli, Urs: ebd., S.80.
[xi] Vgl. Bitterli, Urs: ebd., S.81.
- Citation du texte
- Axel Limpert (Auteur), 2005, Die Reinheit des Naturzustandes versus die Verfälschtheit des Kulturzustandes, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64664
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