Novalis` Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen", erstmals 1802 posthum veröffentlicht, wird von der Forschung nicht erst in jüngster Zeit der Tradition des Bildungsromans zugerechnet. Der Roman wird nach wie vor als Gegenbild zum Roman der Klassik und insbesondere zu Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" angesehen.
In dieser Arbeit wird, von einer vergleichenden Textlektüre ausgehend, Novalis` Bildungsideal mit den zugrundeliegenden poetologischen Grundannahmen herausgearbeitet. Dazu werden zunächst Struktur, Motivkomplexe und einzelne Charaktere beider Romane untersucht. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird der Blickwinkel für zentrale philosophische Fragestellungen der Frühromantik geöffnet. Der Abgleich mit den entsprechenden mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen, unter denen Goethe zuvor seinen Roman verfasst hat, ermöglicht schließlich eine kritische Würdigung des Ofterdingen-Romans und legt offen, inwiefern Novalis seine poetologischen Zielvorgaben verwirklicht bzw. verfehlt hat.
Inhaltsverzeichnis
1. Vorbemerkung
2. Zur Einführung: Novalis` Entwicklungsroman – ein Bildungsroman?
3. Narratologische Aspekte
3.1. Zur Struktur der Romane
3.1.1. Konvergenz von Mikro- und Makrostruktur: Novalis` Romanfragment
3.1.2. Die Frauengestalten als Spiegel des Inneren: Wilhelm Meisters Lehrjahre
3.1.3. Lehrfiguren
3.2. Motivkomplexe im Novalis-Roman
3.2.1. Der Motivkomplex des Bergbaus
3.2.2. Das Leitmotiv der blauen Blume
3.3. Beziehungen als Katalysator der eigenen Bewußtseinstranformation
3.3.1. Die Liebesbeziehung Heinrichs
3.3.2. Tragische „romantische“ Gestalten im Goethe-Roman: Mignon und der Harfner
4. Das Bildungsideal im Zeichen der Universalpoesie
4.1. Heinrichs Bildungsreise als Initiationsritus
4.2. Der Reifeprozeß als Reise zurück – in die eigene Vergangenheit
4.3. Die Reise als Leseerlebnis
4.4. Aufhebung der Zeit
4.5. Bildung wozu? Subjektivitätskonstruktion als Prozeß unendlicher Annäherung
5. Schlußbemerkungen
6. Bibliographie
I. Vorbemerkung
Das Romanfragment Heinrich von Ofterdingen (im folgenden bei Zitaten mit HvO abgekürzt) des Friedrich von Hardenberg alias Novalis, erstmals 1802 posthum veröffentlicht, wird von der Forschung nicht erst in jüngster Zeit der Tradition des Bildungsromans zugerechnet. Üblicherweise wird dieser Roman als Gegenbild zum Roman der Klassik und zu der ungenau definierten Gruppe der Bildungsromane gesehen. Diesem Genre wird insbesondere Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (im folgenden mit WM zitiert) als Stichwortgeber zugerechnet.
Der große Einfluß, den Goethes Roman auf Novalis bis hin zu dessen Plänen hatte, einen Gegenentwurf zu kreieren, ja, Goethe zu übertreffen[1], ist in der Forschungsliteratur oft genug dargestellt worden. In dieser Arbeit soll, von einer vergleichenden Textlektüre ausgehend, das Bildungsideal, wie es im Ofterdingen-Roman vertreten wird, mit den zugrundeliegenden poetologischen Grundannahmen herausgestellt werden.
II. Zur Einführung: Novalis` Entwicklungsroman – ein Bildungsroman?
Die Zuordnung des Heinrich von Ofterdingen zum Genre des Bildungsromans ist ebenso vieldiskutiert wie umstritten. Die Probleme fangen schon damit an, daß es trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Vielzahl an hochkarätigen Publikationen, welche die Forschung zu diesem Thema hervorgebracht hat, keine allgemein anerkannte schlüssige Definition dieses Genres gibt. Die Auffassungen klaffen denkbar weit auseinander. Auf der einen steht die These, der Bildungsroman sei ein klassisches Produkt der Goethezeit und folglich Wilhelm Meisters Lehrjahre die einzig maßgebliche Referenz:
Man hat die Unklarheit der Gattungsbezeichnung dadurch beheben wollen, daß man den Inhalt des Wortes "Bildung" aus dem Verständnis der Goethezeit zu bestimmen versuchte: Damals sei die Gattung entstanden, und man habe deshalb bei ihrer Beschreibung die Vorstellungen jener Epoche zu berücksichtigen. Nur wo dieses klassische Bildungskonzept sich in Romantexten als wirksam erweise, solle man von Bildungsromanen sprechen, um einen allzu vagen Begriffegebrauch zu vermeiden.[2]
Das andere Extrem bilden Auffassungen wie die, der (deusche) Roman schlechthin sei, wenn er "ein Kunstwerk seyn"[3] will, der Bildungsroman.
Friedrich Schlegel verwendet den Begriff Bildungsroman als erster - allerdings noch nicht präzise fachwissenschaftlich – in seiner Kritik Über Goethe`s Meister. In der ersten terminologischen Verwendung des Begriffes "Bildungsroman" in einer Reihe von Aufsätzen und Vorträgen bei Karl Morgenstern um 1820 kommt es noch nicht zu einer Theorie auf hohem Abstraktionsniveau, sondern lediglich zu einer literaturhistorischen Zusammenschau, die durch Wielands Agathon, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, vor allem aber die Romane Klingers, motiviert wurde. Danach geht es im Bildungsroman darum, in den Protagonisten "männliche Denkart und Charakterstärke zu wecken, und gegen die Stürme des Lebens und die Schläge des Schicksals zu waffnen"[4]. Wilhelm Dilthey hat eine vielbeachtete Definition des Bildungsromanes der Zeit um 1800 geliefert. Bildungsromane stellen demzufolge
den Jüngling jener Tage dar; wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird.[5]
Diese Definition zugrunde gelegt, wäre fraglich, ob Heinrich von Ofterdingen vorbehaltlos als Bildungsroman zu bezeichnen sei, gerät Heinrich doch kaum mit der harten Realität in Konflikt - nicht ohne Grund wird der Tod Mathildes selber nicht dargestellt. Selbmann unterscheidet daher sehr treffend zwischen der weitergefaßten Kategorie des Entwicklungsromans und dem Bildungsroman im engeren Sinne[6].
Einig ist sich die Literaturwissenschaft immerhin in der Auffassung, der Dichter habe seinen Roman als Antithese zu Goethes Meister -Roman angelegt. Allerdings gehört zu dieser Einsicht auch nicht viel, geht sie doch allein schon aus diversen autobiographischen Notizen und Briefen von Hardenbergs hervor (siehe u.a.: Entwurf zu einem Goethe-Essay von 1798). Novalis begriff den Wilhelm Meister nach anfänglich grenzenloser Bewunderung zunehmend als handwerklich ausgereiftes und geschickt konstruiertes Romanwerk, in dem bedauerlicherweise doch die bestehende Gesellschaftsordnung mit ihren Sachzwängen den Sieg über eine Poetisierung der Welt davonträgt. In einem Brief an Ludwig Tieck vom 25. Februar 1800 etwa schreibt Novalis: "[...] ich sehe so deutlich die große Kunst, mit der die Poesie durch sich selbst im Meister vernichtet wird – und während sie im Hintergrunde scheitert, die Oeconomie sicher auf festen Grund und Boden mit ihren Freunden sich gütlich thut [...]"[7].
Ein gewisser Kompromiß in der Debatte zeichnet sich mit der Feststellung ab, daß die Charakteristika eines speziellen Genres wie dem des Bildungsromanes in einem gewissen Rahmen dynamisch sind und selber dem Wandel der Zeit unterliegen, ja, daß sie durch immer neue Beiträge auch immer neu justiert werden können[8]. Rolf Selbmann gibt zu bedenken, daß zum Bildungsroman, will er denn das Etikett eines eigenständigen Genres für sich beanspruchen, mehr gehört als nur eine feststehende Figurenkonstellation aus Lernendem und Lehrendem. Stilbildend sei vielmehr die "Dominanz einer Bildungskonzeption"[9]. Es wird im folgenden zu klären sein, inwiefern dieses Diktum für das Ofterdingen -Romanfragment gilt.
III. Narratologische Aspekte
3.1. Zur Struktur der Romane
3.1.1. Konvergenz von Mikro- und Makrostruktur: Novalis` Romanfragment
Der Philologie ist seit längerem aufgefallen, daß Novalis sich in seinem sprachlichen Stil an Goethe orientiert hat. Novalis bewunderte dessen klaren, einfachen und leichten Sprachfluß[10]. Und auch in der Struktur folgt der Heinrich von Ofterdingen dem Meister -Roman Goethes.
Die einzelnen Kapitel in der "Erwartung" bestehen weitgehend unabhängig nebeneinander, sie bilden kleine Einheiten für sich. Ihnen entsprechen die ansteigenden Stationen auf Heinrichs Bildungsweg. Daher sind den meisten Kapiteln jeweils neue "Lehrmeister" zugeordnet: im ersten Kapitel ist es der Vater, in den Kapiteln zwei und drei die Kaufleute, in Kapitel vier begegnet Heinrich den Rittern und der Morgenländerin, in Kapitel fünf sind es der Bergmann und der Einsiedler, darauf folgt in Kapitel sechs Schwaning. Einzig die Kapitel sieben und acht sind nicht voneinander zu trennen, sondern bilden eine Einheit; in ihnen wirkt der Dichter Klingsohr auf Heinrich ein. Das neunte Kapitel steht dann ganz im Zeichen des Klingsohr-Märchens; allerdings spricht vieles dafür, hier nicht mehr vorbehaltlos von einem Lehrmeister Klingsohr zu sprechen. An dieser Stelle werden bereits die beiden Linien Erzählhandlung und Erzählvorgang amalgamiert – eine Eigenart, die sich im zweiten Teil des Romanes in einer dauerhaften Aufgabe des geordneten realistischen Erzählens manifestiert. Implizit kündigt sich im Klingsohr-Märchen bereits die werdende dichterische Begabung Heinrichs an, und außerdem kann die Vereinigung von Freya und Eros am Ende des Märchens (HvO, S. 149 ff.) als stellvertretend für die im Roman nicht erzählte Vermählung Heinrichs und Mathildes angesehen werden. Hier wird vorausgegriffen auf die Erfüllung Wilhelms als Dichter. Hans-Joachim Mähl bezeichnet das Märchen als einzigen Ort im Schaffen Novalis`, "an dem der Dichter ein zauberhaft ausgemaltes Zielbild des zukünftigen goldenen Zeitalters entwirft, das aus Erinnerung und Ahnung herausgehoben märchenhafte Wirklichkeit gewinnt [...]"[11].
Doch die eigenartige kompositionelle Strenge hat noch weitreichendere Folgen. Der Roman zeichnet sich durch eine auffallende Konvergenz zwischen Mikro- und Makrostruktur aus. Einzelne Episoden, die zumeist deckungsgleich mit Kapiteln sind, spiegeln in ihrer Anlage häufig die Struktur des gesamten Romans: begonnen wird mit einer sporadischen Schilderung des Ambientes, es folgen Gespräche mit den jeweilig auftretenden Figuren, die Heinrich kennenlernt; vom Dialogischen wird zu Erzählungen übergegangen, und schließlich wird die Situation nicht mehr zugunsten der Realität aufgelöst, sondern die Episode endet in der traumhaften Welt eines Liedes oder einer fabelhaften Geschichte.
Erst anschließend erfahren die Erzählungen und Träume ihre Bestätigung in der Realität. In jeweils späteren Kapiteln ist die Handlung zumeist um Begebenheiten herum konstruiert, die in vorherigen bereits durch Erzählungen antizipiert wurden; so etwa in der Höhle des Einsiedlers die Eindrücke vom Abstieg in das Erdinnere, auf die bereits die Erzählungen des Bergmannes vorbereitet haben. Das konkrete Erlebnis wird so in seiner Bedeutung gegenüber der theoretischen Reflexion zurückgestuft. Die Realität erhält den Charakter einer Abgleichsinstanz für die Bewährung des Erahnten.
3.1.2. Die Frauengestalten als Spiegel des Inneren: Wilhelm Meisters Lehrjahre
Dieses Schema, nach dem einzelne erzählerische Einheiten bestimmten Charakteren gewidmet sind, findet sich bereits in Wilhelm Meisters Lehrjahre. Dort wird jedes der acht Bücher jeweils von einer Frauengestalt dominiert, die in Bezug zum Entwicklungsstand des Protagonisten steht und dessen innere Beschäftigung reflektiert[12] - von der naiven Leidenschaft zu Mariane in der frühen Jugend über die kapriziösen Beziehungen zu den Frauengestalten, die im Zusammenhang mit dem Theaterbetrieb stehen, und die "ethisch" motivierten Frauen schöne Seele und Therese, die eine Abkehr vom extrovertierten und flüchtigen Leben der Theatergesellschaften darstellen, bis hin zum ausgewogenen Gleichgewicht all dieser Antriebe, verkörpert durch Natalie. Wilhelm erkennt ihre harmonische Natur, die auch durch ihren persönlichen Werdegang und eine beneidenswerte Erziehung im Herzen der Turmgesellschaft begünstigt wurde, zu gegebener Zeit: "Sie haben sich, man fühlt es Ihnen wohl an, nie verwirrt. Sie waren nie genötigt, einen Schritt zurück zu tun." (WM, S. 557).
Am Ende der Entwicklung steht als Symbiose Natalie, die alle unterschiedlichen Veranlagungen und Neigungen harmonisch in sich vereint. Ihre Handlungen sind motiviert durch uneigennützige, tätige Hilfe am Nächsten: "Wer nicht im Augenblick hilft, scheint mir nie zu helfen; wer nicht im Augenblicke Rat gibt, nie zu raten." (WM, S. 558). Es ist aber wohl kein Zufall, daß gerade Natalie in dem Roman als Charakter eher blaß bleibt. Hierin ähnelt sie auffallend der Mathilde aus dem Novalis-Roman, die ja auch, wie weiter oben bereits dargelegt wurde, eher eine Projektionsfläche als ein selbstbestimmter, starker Charakter ist.
3.1.3. Lehrfiguren
Im folgenden soll in den Blick genommen werden, in welcher Weise die mit didaktischer Intention konzipierten Figuren in den beiden Romanen auf die Protagonisten einwirken.
Es sei dabei zunächst auf die enorme Komplexität der Handlung in den Lehrjahren verwiesen. Das Auftauchen einzelner Gestalten dort scheint zunächst keiner stillschweigend verfolgten Logik, die im Zusammenhang mit der Handlungsprogression zu sehen ist, geschuldet zu sein. Die Weggefährten Wilhelms treten auf und verschwinden wieder, so der Anschein, "wie im richtigen Leben". Doch es konnte ja bereits festgehalten werden, daß die Zuordnung einzelner Bücher zu Frauengestalten einer ganz bestimmten, durchaus inszenierten Konzeption folgt. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, daß es bei den Auftritten der didaktischen Charaktere nicht anders ist:
Je nachdem, welche Einsichten und Tendenzen in ihm zu- oder abnehmen, an Wichtigkeit einbüßen oder gewinnen, trifft er typische Vertreter solcher Gesinnungen und trennt sich wieder von ihnen, wenn sein Wesen dem ihrigen entwachsen ist.[13]
Dabei wird dem Leser eine Vielzahl unüberschaubarer Konflikte und Reibungen einander widerstreitender Standpunkte vorgeführt, die, teils offensichtlich durch Dialoge angebahnt, teils unter der Oberfläche im Verborgenen wirkend (als handlungsmotivierendes Element für Wilhelm), einander bekämpfen. Einzelne "Lehrmeister" entschwinden nach ihrem erstmaligen Wirken nicht für immer aus der Handlung, sondern sie können jederzeit wieder auftauchen, offenkundig vollkommen zufällig. Einiges wirkt dabei aber doch bewußt inszeniert. Ein geradezu symbolhaft überzogenes Beispiel dafür sind der Abbé und sein Zwillingsbruder, die vor dem Aufdecken ihrer Identität als Mitglieder der Turmgesellschaft bereits mehrfach als Fremde oder unbekannte Reisende in Erscheinung treten.
Ganz anders im Heinrich von Ofterdingen: hier folgt ein Lehrmeister chronologisch auf den anderen; die vertretenen Positionen stellen noch dazu keine antagonistischen Auffassungen dar, die gegeneinander in Stellung gebracht werden, sondern wohldosiert portionierte Bildungshäppchen, die aufeinander aufbauen. Bernard E. Hauer spricht gar von einem "ausgeprägt undialektische[n] Grundzug des Romans"[14]. Heinrichs Bildungsweg scheint jederzeit klar vorgezeichnet. Die bevorzugten Medien der Erkenntnisvermittlung sind dementsprechend neben dem Träumen nahezu ausschließlich das wohlwollende Gespräch und die exegetische Lektüre.
Im Wilhelm Meister spielen diese Erzähltechniken zwar auch eine eminent wichtige Rolle, aber nicht mit einer solchen Ausschließlichkeit. Sie werden flankiert vom häufig schmerzhaften Kontakt mit der realen Lebenswelt. Die Lehrbotschaften, mit denen die Zöglinge bedacht werden, sind hier gänzlich anderer Natur. Die Rede des unbekannten Herrn im Goethe-Roman, der einst die Meistersche Bildersammlung begutachtet hatte, weist diesen ganz eindeutig als Vertreter eines aufklärerischen Bildungskonzeptes aus:
Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit und Zufall gebildet; die Vernunft des Menschen stellt sich zwischen beide und weiß sie zu beherrschen; sie behandelt das Notwendige als den Grund ihres Daseins; das Zufällige weiß sie zu lenken, zu leiten und zu nutzen, und nur indem sie fest und unerschütterlich steht, verdient der Mensch, ein Gott der Erde genannt zu werden. (WM, S. 71)
Allerdings ist es bereits eine Aufklärung, die ihren grenzenlosen Optimismus verloren hat. Neben der reinen Verstandeskraft und den Notwendigkeiten der Lebenswelt ist es auch der Zufall, der auf das Schicksal des Individuums einwirkt.
Erkenntnisgewinnung ist ein langsamer Prozeß, wenn er so umfassend ausgerichtet ist wie bei dem Dichter und seinen Romanhelden. Fehlentscheidungen, Rückfälle und für die Entwicklung notwendiges fruchtbares Dunkel, wobei dem hellen und skeptischen Verstand keine absolute Macht eingeräumt wird, gehören zu der fortschreitenden und kräftigen Metamorphose der Geistesentfaltung.[15]
Wie sehr der einzelne sich auch bemüht, seine persönlichen Anlagen auszubilden – ihm sind dabei doch gewisse Schranken gesetzt, die zu überwinden ihm nicht vergönnt ist. Gleichwohl wird das Bemühen, sich selbst nach Kräften auszubilden, durch den ganzen Roman hinweg als unbedingte conditio sine qua non dargestellt, ohne welche keine reife Persönlichkeit entstehen kann. Das Erfahren der eigenen Schranken sowie der Wirkung eines uneinsehbaren Zufalls wird somit absolut zwingend. Der Kandidat muß sich selbst in dieser ernüchternden Situation finden, er muß enttäuscht werden, um persönliche Reife bei einer ausgewogenen Entwicklung der individuellen Anlagen erlangen zu können.
3.2. Motivkomplexe im Novalis-Roman
3.2.1. Der Motivkomplex des Bergbaus
Heinrich begegnet auf seiner Reise auch einem Bergmann. Der Ofterdingen-Roman stellt zwar möglicherweise das populärste, aber gewiß nicht das einzige Beispiel aus der frühromantischen Dichtung dar, in dem das Motiv des Bergbaus eine zentrale Rolle spielt.
[...]
[1] Novalis 1981 Band II, S. 642.
[2] Jacobs/Krause, S. 19.
[3] Morgenstern in Selbmann (Hg.) 1988, S. 75.
[4] Morgenstern in: Selbmann (Hg.) 1988, S. 53.
[5] Dilthey, S. 322 – 323.
[6] Selbmann, S. 84.
[7] Novalis 1981 Band IV, S. 323.
[8] Siehe dazu u.a.: Mayer.
[9] Selbmann 1984, S. 37.
[10] Beck, S. 21 f..
[11] Mähl, S. 404.
[12] Siehe dazu Minden, S. 40.
[13] Ammerlahn, S. 46 – 47.
[14] Hauer, S. 195.
[15] Ammerlahn, S. 108.
- Citation du texte
- Boris Kruse (Auteur), 2006, Das Bildungsideal in Novalis' "Heinrich von Ofterdingen" im Kontext der Bildungsromandiskussion, dargestellt anhand eines Vergleiches mit Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59280
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