In der Fachwelt ist mittlerweile unumstritten, dass auch Menschen mit einer geistigen Behinderung Verhaltensauffälligkeiten entwickeln oder psychisch erkranken können (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 11). Bisher fehlte jedoch ein interdisziplinärer Diskurs. Viele der früheren Arbeiten widmeten sich diesem Thema entweder aus einem klinisch-psychologischen Interesse oder aus einer rein behindertenpädagogischen Perspektive (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 9). Eine monokausale Sichtweise wird der Komplexität der Thematik nicht gerecht. Die exemplarischen Fallbeispiele dieser Arbeit beziehen sich auf erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, die in einer stationären Wohngruppe leben. Das Interesse an dieser Thematik resultiert aus der langjährigen Arbeit mit erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung und durch die in der täglichen Praxis immer wieder auftretenden Fragen zu dieser aktuellen Problematik. Ist das Verhalten des Bewohners „verhaltensauffällig“ oder ist es „psychisch gestört“? Warum bekommen Bewohner seit langer Zeit Psychopharmaka? Welche sozialpädagogischen Herausforderungen ergeben sich aus dieser Problematik? Was ist zu tun bzw. wie ist der pädagogische Alltag zu verändern, um diesem Personenkreis adäquat begegnen zu können? Zu Beginn der Arbeit werden definitorische Bestimmungen vorgenommen. Die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Auffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung, für deren Erklärung das Vulnerabilitäts-Stress-Modell (vgl. 2.4.3) herangezogen werden kann, werden in Kapitel 2 aufgezeigt. Nach der Darstellung theoriegeleiteter Modelle, wird in Kapitel 3 auf die Diagnostik psychischer Auffälligkeiten mit ihren Grundlagen und Besonderheiten bei Menschen mit geistiger Behinderung eingegangen. In Kapitel 4 werden einige wichtige psychiatrische Störungsbilder nach ICD-10 zunächst allgemein skizziert, um dann in ihrer Gültigkeit speziell für Menschen mit geistiger Behinderung überprüft zu werden. Eine Behandlungsmöglichkeit psychischer Auffälligkeiten ist die Gabe von Psychopharmaka, deren Wirkungen, Nebenwirkungen und Besonderheiten bei diesem Personenkreis in Kapitel 5 erläutert wird. In Kapitel 6 wird anhand eines Fallbeispiels aus der Praxis der Einsatz von Psychopharmaka dokumentiert. Lebensweltorientierung und Empowerment werden in Kapitel 7 exemplarisch als sozialpädagogische Konzepte dargestellt. Die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen bilden den Abschluss der Arbeit.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Begriffsbestimmung
2.1 Behinderung
2.1.1 WHO-Definition
2.1.2 Sozialrechtliche Definition
2.2 Geistige Behinderung
2.3 Psychische Gesundheit
2.4 Psychische Auffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung
2.4.1 Prävalenz
2.4.2 Ätiologie
2.4.3 Vulnerabilitäts-Stress-Modell
3 Diagnostik
3.1 Psychiatrische Untersuchung
3.2 Besonderheiten der psychiatrischen Diagnostik bei Menschen mit geistiger Behinderung
3.2.1 Verstehende Diagnostik
4 Spezielle Auffälligkeiten
4.1 Schizophrenie bzw. Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis
4.1.1 Definition
4.1.2 Symptome und Diagnostik
4.1.3 Schizophrenie und geistige Behinderung
4.2 Affektive Psychosen
4.2.1 Definition
4.2.2 Ätiologie
4.2.3 Diagnose
4.2.4 Affektive Psychosen und geistige Behinderung
4.3 Demenz
4.3.1 Definition
4.3.2 Symptome und Diagnostik
4.3.3 Demenz und geistige Behinderung
5 Psychopharmaka
5.1 Grundlagen
5.2 Einteilung der Psychopharmaka
5.2.1 Neuroleptika
5.2.2 Tranquilizer
5.2.3 Antidepressiva
5.3 Umgang mit Psychopharmaka
5.4 Psychopharmaka bei Menschen mit geistiger Behinderung
5.4.1 Grundlagen
5.4.2 Besonderheiten
5.4.3 Multidimensionaler Ansatz
5.4.4 Rechtliche Aspekte
6 Fallbeispiel
7 Sozialpädagogische Konzepte
7.1 Einleitung
7.1.1 Strukturorientierter und sozialökologischer Ansatz
7.1.2 Prozess- und kommunikationsorientierter systemischer Ansatz
7.1.3 Konstruktivistischer systemischer Ansatz
7.2 Sozialpädagogische Interventionen
7.3 Lebensweltorientierung
7.3.1 Theoretische Grundlagen
7.3.2 Lebensweltorientierte Behindertenarbeit
7.3.3 Biographiearbeit mit geistig behinderten Menschen
7.4 Empowerment
7.4.1 Dialogisches Prinzip
8 Schlussbetrachtung
9 Literaturverzeichnis
VerZeichnis der Tabellen und Abbildungen
I TABELLEN
Tabelle 1 Mögliche Erscheinungsformen psychischer Auffälligkeiten bei leichter und schwerer geistiger Behinderung (Überschneidungen sind möglich) (vgl. KONIARCZYK/HENNICKE 2003, S. 14)
Tabelle 2 Einige in Deutschland gebräuchliche Neuroleptika (Handelsnamen) nach DOSE 1999 (vgl. in KONIARCZYK/HENNICKE 2003, S. 8)
Tabelle 3 Medikation zum Zeitpunkt der Krankenhausaufnahme (Dezember 1991)
Tabelle 4 Medikation zum Zeitpunkt der Krankenhausentlassung (März 1992)
Tabelle 5 Medikation zum Zeitpunkt der Krankenhausentlassung (Mai 1992)
Tabelle 6 Medikation zum Zeitpunkt der Krankenhausentlassung (August 1994)
Tabelle 7 Medikation im Dezember 2002
Tabelle 8 Medikation im August 2003
II ABBILDUNGEN
Abbildung 1 Elemente der entwicklungsdynamischen Betrachtung (vgl. DOŠEN 1997, S. 42)
Abbildung 2 Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungsmodell (nach CIOMPI 1984 in BOSSHARD et al. 1999, S. 173)
Abbildung 3 Wirkungsweise von Psychopharmaka am Beispiel von Neuroleptika (FINZEN 1998 zit. nach BOSSHARD et al. 1999, S. 182)
Abbildung 4 Dokumentation der Reduzierung von Psychopharmaka (1991-2005)
1 Einleitung
Eine Situation am Abendbrottisch in einer Wohngruppe: Eine Bewohnerin, 42 Jahre alt, sitzt im Rollstuhl, kann sich verbal nicht ausdrücken. Sieben weitere Bewohner und zwei Betreuer[1] sitzen an einem Tisch, alle essen und unterhalten sich, es herrscht ein hoher Geräuschepegel. Die genannte Bewohnerin fängt nach einiger Zeit an, ihre Arme hochzunehmen, weint, kreischt, jammert, schreit und hyperventiliert. Die Atmosphäre am Tisch ist gespannt, einige Bewohner reagieren genervt, schreien zurück, andere Bewohner essen schnell auf und verlassen die Situation.
Von einigen Mitarbeitern der Wohngruppe wird das Schreien der Bewohnerin als ihre einzige Möglichkeit, Wünsche zu artikulieren, akzeptiert und toleriert; andere Mitarbeiter betrachten dagegen das Verhalten als „störend“, unangemessen und eventuell auch als „psychisch auffällig“, für sie ist die durch das Schreien ausgelöste „Unruhe“ in der Gruppe inakzeptabel. In der Zukunft wird dieser Bewohnerin die Rolle des „Störenfrieds“ zugeschrieben, weil sie immer wieder, auch in anderen Gruppensituationen, auffällt.
„Die sind so schwierig ..“ ist eine häufige Feststellung von pädagogischen Fachkräften in Einrichtungen der Behindertenhilfe, wenn sie über den Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung berichten, die gleichzeitig psychische Auffälligkeiten zeigen. In der Arbeit mit Menschen, die diese sogenannten Doppeldiagnosen („dual diagnosis“) aufweisen, steht oft die Auseinandersetzung mit erheblichen Verhaltensproblemen im Vordergrund. Diese erschweren das Zusammenleben und die Integration sowohl für die Betroffenen als auch für die Betreuer. Die Fachkräfte sind verunsichert, da die Ursachen und Zusammenhänge des Problemverhaltens selten eindeutig zugeordnet werden können.
Ist es nun im o.g. Fallbeispiel „Ausdruck von Selbstbestimmung“ (THEUNISSEN), dass die Bewohnerin[2] ihre vermeintliche Unzufriedenheit durch Schreien ausdrückt, stört sie die Gruppe absichtlich oder ist ihr scheinbar plötzlicher Stimmungsumschwung ein ernstzunehmendes Symptom einer Depression? Wie ist auf dieses Verhalten pädagogisch zu reagieren? Welche Faktoren und Gründe gibt es für dieses Verhalten?
Die Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung war lange Zeit Aufgabe der Psychiatrie. Ein eigenständiges Hilfesystem entwickelte sich in Deutschland erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts. Es erfolgte eine Abkehr vom defektorientierten medizinischen Modell hin zu Konzepten einer pädagogischen Förderung auf der Grundlage des Normalisierungsprinzips[3]. In den 70er Jahren wurde von Fachleuten und Politikern in der Psychiatrie-Enquête[4] die „Ausgliederung geistig behinderter Menschen aus der Psychiatrie“ gefordert.
Anfang der 90er Jahre begann in Deutschland eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema der psychischen Auffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung. Das Verhältnis von geistiger Behinderung und psychischer Störung wurde neu bestimmt. Psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung werden nicht mehr als unmittelbarer Ausdruck einer geistigen Behinderung betrachtet und nicht länger als „Wesensbedingtheit“ aufgefasst, sondern als Erscheinungsform angesehen, die zusätzlich bzw. unabhängig von einer geistigen Behinderung auftreten können.
Die Behindertenhilfe ist seit einigen Jahren in zunehmendem Maße damit beschäftigt, fachliche Konzepte und praktische Ansätze für den Umgang mit massiven Verhaltensproblemen bei Menschen mit geistiger Behinderung zu entwickeln. Diese herausfordernden Verhaltensweisen (HEIJKOOP) erschweren die Integration und lassen Angehörige und Mitarbeiter immer wieder an persönliche, fachliche und institutionelle Grenzen stoßen (vgl. PETRY/BRADL 1999, S.10f).
Der Blick auf diese psychischen Auffälligkeiten erfordert eine gemeinsame Kooperation von der Behindertenhilfe mit der Psychiatrie. Zwischen beiden, mittlerweile getrennten, Hilfesystemen gibt es ein „Grenzgebiet“, in dem es um Probleme von Menschen mit geistiger Behinderung geht, die zusätzlich massive Verhaltensprobleme und psychische Störungen zeigen, auf die weder die pädagogischen Angebote noch die psychiatrischen Dienste vorbereitet sind (vgl. GAEDT 1995, S. 13; DOŠEN 1997, S. 15).
Das o.g. exemplarische Beispiel aus der Praxis dient als Einstieg in die komplexe Thematik dieser Arbeit und zeigt, wie schwierig es oftmals ist, auffälliges Verhalten zu „verstehen“.
In der Fachwelt ist mittlerweile unumstritten, dass auch Menschen mit einer geistigen Behinderung Verhaltensauffälligkeiten entwickeln oder psychisch erkranken können (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 11). Bisher fehlte jedoch ein interdisziplinärer Diskurs. Viele der früheren Arbeiten widmeten sich diesem Thema entweder aus einem klinisch-psychologischen Interesse oder aus einer rein behindertenpädagogischen Perspektive (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 9). Eine monokausale Sichtweise wird der Komplexität der Thematik nicht gerecht.
Die exemplarischen Fallbeispiele dieser Arbeit beziehen sich auf erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, die in einer stationären Wohngruppe leben[5].
Das Interesse an dieser Thematik resultiert aus der langjährigen Arbeit mit erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung und durch die in der täglichen Praxis immer wieder auftretenden Fragen zu dieser aktuellen Problematik. Ist das Verhalten des Bewohners „verhaltensauffällig“ oder ist es „psychisch gestört“? Warum bekommen Bewohner seit langer Zeit Psychopharmaka? Welche sozialpädagogischen Herausforderungen ergeben sich aus dieser Problematik? Was ist zu tun bzw. wie ist der pädagogische Alltag zu verändern, um diesem Personenkreis adäquat begegnen zu können?
Zu Beginn der Arbeit werden definitorische Bestimmungen vorgenommen. Die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Auffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung, für deren Erklärung das Vulnerabilitäts-Stress-Modell (vgl. 2.4.3) herangezogen werden kann, werden in Kapitel 2 aufgezeigt. Nach der Darstellung theoriegeleiteter Modelle, wird in Kapitel 3 auf die Diagnostik psychischer Auffälligkeiten mit ihren Grundlagen und Besonderheiten bei Menschen mit geistiger Behinderung eingegangen. In Kapitel 4 werden einige wichtige psychiatrische Störungsbilder nach ICD-10[6] zunächst allgemein skizziert, um dann in ihrer Gültigkeit speziell für Menschen mit geistiger Behinderung überprüft zu werden. Eine Behandlungsmöglichkeit psychischer Auffälligkeiten ist die Gabe von Psychopharmaka, deren Wirkungen, Nebenwirkungen und Besonderheiten bei diesem Personenkreis in Kapitel 5 erläutert wird. In Kapitel 6 wird anhand eines Fallbeispiels aus der Praxis der Einsatz von Psychopharmaka dokumentiert. Lebensweltorientierung und Empowerment werden in Kapitel 7 exemplarisch als sozialpädagogische Konzepte dargestellt. Die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen bilden den Abschluss der Arbeit.
2 Begriffsbestimmung
2.1 Behinderung
Die Klärung dieses Begriffs führt zu keiner allgemein anerkannten Beschreibung. In der wissenschaftlichen Literatur stößt man auf unterschiedliche Bezeichnungen, die einen vermeintlich einheitlichen Personenkreis zu beschreiben versuchen: Menschen mit schwersten Behinderungen, Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung, sehr schwer mehrfachbehinderte Menschen (vgl. FRÖHLICH 1998, S. 96f) sind nur einige Bezeichnungen für Personen, die unter den Bedingungen von Behinderungen leben, die offensichtlich „als Superlative einer negativen Abweichung von der üblichen, erwarteten Leistungsfähigkeit“ (vgl. BECK 1998, ZfH) angesehen werden. Es existiert also weder eine einheitliche Begrifflichkeit noch eine allgemein gültige Auffassung darüber, auf Grund welcher Merkmalsausprägung Menschen zu diesem Personenkreis gezählt werden. Auch wenn mehrere Autoren (u.a. FEUSER) der Auffassung sind, auf Definitionen verzichten zu können, ist es zur besseren Verständigung notwendig, Begriffe zu erläutern bzw. sie zu definieren, um das Gemeinte von Anderem zu unterscheiden, sich verständigen zu können und Unterschiede kommunizierbar zu machen, um einen fachlichen Austausch über bestimmte Probleme zu ermöglichen.
Im Bereich der Wissenschaft kann auf eine Kennzeichnung und Definition oder Umschreibung einer spezifisch gemeinten Personengruppe nicht verzichtet werden. Wissenschaftlichen Klärungen sind ohne Termini nicht möglich. Zur Unterscheidung von Etwas und einem anderen Etwas muss eine Grenze gezogen werden. Dass mit dieser Notwendigkeit auch Probleme entstehen können, und dass es nicht gleichgültig ist, welchen Terminus man in einem bestimmten Zusammenhang benutzt, ist eine andere Sache. (SPECK 2005, S.51f)
Je nachdem aus welchem Blickwinkel Behinderung gesehen wird, wird unterschiedlich debattiert. Aus medizinischer Sicht ist Behinderung eine organisch oder genetisch prä-, peri- oder postnatal erworbene Normabweichung, die als Hirnfunktionsstörung angesehen werden kann. Es wird der Versuch unternommen, Menschen mit Behinderung in ein Schema klinischer Syndrome einzuordnen. KOBI bezeichnet diese Betrachtungsweise als defektologisch-reduktionistisch bzw. biologisch-physiologisch (vgl. KOBI 1983, S. 155f). Der psychologische Ansatz beschäftigt sich in erster Linie mit der Minderung der Intelligenz, der sozialen Anpassung und dem Lernverhalten. Zur Ermittlung des Intelligentquotienten werden Intelligenztests verwendet. Diese Betrachtungsweise wird von KOBI als evolutiv-entwicklungspsychologisch und behavioristisch-lerntheoretisch beschrieben (ebd., S. 157f).
Der von KOBI als psychodynamisch-psychosozial bzw. als sozialpsychologisch ökologisch bezeichnete soziologische Ansatz (ebd., S. 160f) stellt die gesellschaftlichen Bezugssysteme in den Vordergrund. Der pädagogische Ansatz betrachtet Behinderung unter dem Aspekt der Erziehung und Bildung. Die Grundannahme der Bildungsfähigkeit auch von Menschen mit geistiger Behinderung ist in dieser Sichtweise impliziert.
2.1.1 WHO-Definition
Der Begriff „der geistig behinderte Mensch“ wird ersetzt durch „der Mensch mit einer geistigen Behinderung“. Die zentralen Kriterien des Klassifikationsschemas sind nicht mehr „impairment, disability und handicap“, sondern „impairments, activity, participation“ und Kontextfaktoren (vgl. FORNEFELD 2002, S. 20f).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterscheidet in ihrer Definition von Behinderung drei Begrifflichkeiten:
- Schaden
- funktionelle Einschränkung
- soziale Beeinträchtigung
Aufgrund einer Erkrankung, angeborenen Schädigung oder eines Unfalls als Ursache entsteht ein dauerhafter gesundheitlicher Schaden. Der Schaden führt zu einer funktionalen Beeinträchtigung der Fähigkeiten und Aktivitäten des Betroffenen. Die soziale Beeinträchtigung (handicap) ist Folge des Schadens und äußert sich in persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Konsequenzen.
Behinderung entsteht demnach aus den Folgen der sozialen Beeinträchtigung.
2.1.2 Sozialrechtliche Definition
Bei der Einführung des Sozialgesetzbuches IX ist es zum ersten Mal gelungen, eine einheitliche Behinderungsdefinition einzuführen, die für das gesamte Sozialrecht in der BRD bindend ist. Die neue Definition ist in § 2 SGB IX zu finden.
Danach sind Menschen behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“
Die neue Behinderungsdefinition nimmt Bezug auf die modernen Sichtweisen der WHO, die beim Übergang von der internationalen Klassifikation von „impairment, disability und handicap“ (ICIDH 1) nun nicht mehr diese defizitorientierten Begriffe verwendet, sondern Funktionen und Teilhabefaktoren in den Vordergrund stellt (ICIDH 2). Wichtig ist, dass für den Betroffenen nicht nur negative Aspekte beschrieben werden, sondern auch das mögliche Funktionsniveau, die Aktivität und die Möglichkeit zur Teilhabe berücksichtigt werden (vgl. FEGERT 2005, S. 53).
Behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken.
2.2 Geistige Behinderung
Unter „geistiger Behinderung“ wird „gemeinhin eine Erscheinungsform oder Eigenart des Menschlichen verstanden, bei der lebenslang ein erheblicher Rückstand der mentalen (intellektuellen) Entwicklung zu beobachten ist, der sich in aller Regel in unangemessen wirkenden Verhaltensweisen und in vergleichsweise erheblich herabgesetzten Lernleistungen auf schulischem, sprachlichem, körperlichem und sozialem Gebiet manifestiert, so dass die eigene Lebensführung in erheblichem Maße auf Hilfe angewiesen ist.“ (SPECK 2005, S.46)
In dieser Arbeit wird bewusst auf die gängige (psychologische) IQ-Einteilung verzichtet, weil „deren pädagogischer Aussagewert gering ist, und [...] in erster Linie nur intellektuelle Leistungen abgefragt werden und kommunikative, emotionale und soziale (Entwicklungs-)Aspekte ausgespart bleiben.“ (LINGG/THEUNISSEN 2000, S.15)
Pädagogischer Anknüpfungspunkt ist nicht von einer defizitorientierten Sichtweise ausgehend der „Geistigbehinderte“, sondern ein Mensch mit seinen zu verwirklichenden Entwicklungs- und Lernpotentialen. Entscheidend ist der „individuelle Assistenzbedarf“, mit dem in Bereichen, die für ein Leben in der Gesellschaft als besonders relevant gelten (z.B. Selbstversorgung, Kommunikation, Wohnen, Selbstbestimmung, Benutzung von Infrastruktur, Gesundheit, Arbeit, Freizeit) sowohl Einschränkungen als auch Stärken erfasst werden sollen (vgl. SPECK 2005, S. 48; LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 15).
Geistige Behinderung ist kein objektiver Tatbestand, sondern ein soziales Zuschreibungskriterium. LINGG und THEUNISSEN zufolge wäre es korrekt, nicht von „geistig behinderten Menschen“ zu sprechen, „sondern von Personen, die als geistig behindert bezeichnet werden. Ob ein Mensch als „behindert“ etikettiert wird, hängt von allgemeinen gesellschaftlichen und individuellen Normvorstellungen ab, die variieren können, aus diesem Grund sind Definitionen, Begriffsbestimmungen oder Typisierungen situationsabhängig und müssen immer vor dem Hintergrund bestimmter gesellschaftlicher Erwartungen, Anforderungen, Werte oder Konventionen gesehen werden.“ (ebd., S. 12)
2.3 Psychische Gesundheit
Zunächst soll das Konstrukt „psychische Gesundheit“ beschrieben werden, um dann herauszuarbeiten, was unter dem Begriff „psychische Auffälligkeit“ zu verstehen ist.
„Gesund sein heißt, sich wohl zu fühlen, Bereitschaft zur Meisterung von Anforderungen und Problemen zu zeigen, ein aktives Interesse an Menschen und der Umwelt zu nehmen und über ein Zutrauen in die eigene Selbstverwirklichung zu verfügen.“ (BOSSHARD/EBERT/LAZARUS 1999, S. 31) Im Umkehrschluss hieße „psychisch auffällig“ zu sein, sich unwohl zu fühlen, den täglichen Anforderungen nicht gerecht werden zu können und kein Vertrauen in sein Selbstwertgefühl zu haben.
Psychische Gesundheit ist nach der WHO ein Zustand des „vollkommenen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein die Abwesenheit von Krankheit oder Schwäche.“ (vgl. BOSSHARD et al. 1999, S. 32; DOŠEN 1997, S. 34)
Was bedeutet diese Definition für Menschen mit geistiger Behinderung? Nach den genannten Definitionen scheint es für diesen Personenkreis nahezu utopisch, psychisch gesund zu sein. Die Definitionen sind als Idealzustand zu verstehen. Nicht alle Menschen mit geistiger Behinderung sind qua Definition „psychisch auffällig“, es wird jedoch deutlich, dass dieser Personenkreis mitunter mehr Energie aufwenden muss, um psychisch gesund zu sein. Besonders der institutionalisierten Personenkreis ist durch ein „Mehr an sozialer Abhängigkeit“ (HAHN 1981) charakterisiert. Diese Menschen haben oftmals wenig Möglichkeiten zur Autonomie, weniger eigene Bedürfnisse, geringe finanzielle Ressourcen und eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten.
DOŠEN zufolge sind drei Faktoren entscheidend für die psychische Gesundheit:
- Eine ausgeglichene Persönlichkeit,
- eine feste Position in der Gemeinschaft und
- die Ausschöpfung der persönlichen Fähigkeiten.
Bei einer ausgeglichenen Persönlichkeit sind die Aspekte der Entwicklung (kognitiv, sozial, emotional) gleichermaßen entwickelt und verlaufen auf der Entwicklungslinie parallel zueinander (ebd., S. 34f). Dabei ist die Höhe des Entwicklungsniveaus nicht wichtig. Somit können auch Menschen mit geistiger Behinderung unabhängig von ihrem Entwicklungsniveau eine ausgeglichene Persönlichkeit haben.
Ein Mensch muss die Gelegenheit erhalten in Abhängigkeit von seinem Entwicklungsniveau und den physischen Fähigkeiten optimal mit seiner Umgebung umzugehen, um auf diese Weise zu neuen Anregungen und Erfahrungen zu kommen, die wiederum zu einer Interaktion führen. (DOŠEN 1997, S. 35)
Als grundlegende Voraussetzungen für psychische Gesundheit gelten Zufriedenheit und Glück.
2.4 Psychische Auffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung
Psychische Störungen treten als Symptome im Bereich der Emotionen, des Denkens und Wahrnehmens, des Verhaltens sowie des körperlichen Erlebens und Empfindens mit folgenden Charakteristika auf:
- Symptome und Beschwerden, die einen oder mehrere psychische Funktionsbereiche vorübergehend oder längerfristig einschränken, z.B. das Denken, das Fühlen, das Wollen, die Motivation, die Wahrnehmung, die Sprache, die Motorik.
- Entwicklung und Selbstverwirklichung stagnieren, die Betroffenen verharren in Abhängigkeit und Unselbständigkeit („erlernte Bedürfnislosigkeit“, THEUNISSEN)
- Ängstliche Vermeidung (Rückzug) von Menschen und Umwelt.
- Kein konstruktiver Umgang mit negativen und leidvollen Erfahrungen.
- Keine besonders starken Widerstandskräfte (Coping-Ressourcen) gegenüber Belastungen und Stress besitzen.
- Erhöhte konstitutionelle Vulnerabilität und fehlende bzw. mangelnde bereichsspezifische Kompetenzen sowie fehlende extrinsische und intrinsische Belohnungen für aktives Handeln (vgl. MÜHL et al. 1996, S. 31).
Auffällige Verhaltensweisen bei Menschen mit geistiger Behinderung erscheinen oftmals unerklärlich. Als Ausdruck einer tiefer liegenden psychischen Störungen sind sie psychiatrisch zu behandeln; pädagogisch sind sie zu beeinflussen, wenn sie als schwerwiegende, aber „einfache“ Verhaltensprobleme verstanden werden (vgl. PETRY/BRADL 1999, S. 15).
Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die Begriffe „Verhaltensauffälligkeiten“ und „psychische Störungen“ zu definieren.
Im Rahmen dieser Arbeit soll der Schwerpunkt auf den psychischen Störungen, die im Folgenden auch als „psychische Auffälligkeiten“ bezeichnet werden, liegen.
Der Ausdruck „psychische Auffälligkeit“ wird bevorzugt, weil es in der Praxis oft sehr schwierig ist, bei Menschen mit geistiger Behinderung exakt zwischen einer psychischen Störung im Sinne einer pathologischen Erkrankung, die ihre Grundkriterien im ICD-10 findet, oder einer Verhaltensauffälligkeit, die eher auf pädagogische Kontexte und immer auch eine subjektive Bewertung enthält, zu unterscheiden. „Psychische Störung“ ist ein Terminus aus dem ICD-10. Für Menschen mit geistiger Behinderung passen die diagnostischen Kategorien oft nicht, daher ist es besser, von „Auffälligkeiten“ reden. Das macht deutlich, dass keine klare Grenzziehung zwischen auffälligen Verhaltensweisen und psychischen Störungen möglich ist. Dieser Personenkreis kann psychisch erkranken, oftmals liegt ein sehr komplexes Bedingungsgefüge zugrunde. Der Begriff „Störung“ wird in der gesamten psychiatrischen Klassifikation verwendet, um den problematischen Gebrauch von Begriffen wie „Krankheit“ oder „Erkrankung“ weitgehend zu vermeiden. „Störung“ ist kein exakter Begriff. Seine Verwendung soll in der ICD einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzeigen, die immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden sind (vgl. DILLING/ MOMBOUR/SCHMIDT 2000, S. 22f). Die Verwendung des Terminus „psychische Auffälligkeit“ im Titel soll deutlich machen, wie komplex diese Thematik ist. Dieser Begriff wird auch bevorzugt, weil psychische Störungen an sich, also die Möglichkeit einer psychischen Erkrankung in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken sind. Dann wiederum ist deutlich zu machen, dass gerade bei diesem Personenkreis, besonders im Falle einer kommunikativen Barriere, der bereits als „behindert“ etikettierte Mensch mit geistiger Behinderung nicht auch noch als „psychisch gestört“ zu bezeichnen ist. Dieser Terminus mag bei sog. nichtbehinderten Menschen zutreffen, weil ihr sonst funktionierendes Leben, ihr Alltag relativ unauffällig und unabhängig verläuft. Der Titel „psychische Auffälligkeit“ drückt aus, dass Menschen mit geistiger Behinderung in einem komplexen System aus Abhängigkeit, Machtverhältnissen, begrenzten Entscheidungsspielräume etc. leben und über weniger, eingeschränktere, begrenztere Ressourcen verfügen als sog. nichtbehinderte Menschen.
PETRY versteht Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen „als ineinander übergehende Phänomene“, die auf einem Kontinuum liegen, bei dem an einem Ende klare psychiatrisch definierte Merkmale liegen und am anderen Ende Verhaltensstörungen, die unmittelbar auf den erzieherischen Kontext zurückzuführen sind (vgl. PETRY/BRADL 1999, S. 15; LINGG/THEUNISSEN 2000, S.19).
Bei massiven Ausdrucksformen (z.B. (Auto-)Aggression, um körperliche Beschwerden mitzuteilen), denen keine Psychopathologie zugrunde liegt, ist von Verhaltensauffälligkeiten zu sprechen. Die übrigen Normabweichungen, die ins Extreme eines erwartungswidrigen Verhaltens oder Erlebens reichen, werden als psychische Störungen bezeichnet (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 19).
BUNDSCHUH definiert Verhaltensauffälligkeiten als „ [...] von Normen und allgemeinen Erwartungen negativ abweichende Verhaltensweisen, die die psychosoziale Entwicklung sowie die soziale Integration beeinträchtigen und sich negativ auf die dialogische Basis verschiedener Erziehungs- und Bildungsverhältnisse auswirken.“ (vgl. BUNDSCHUH 1999, S. 308f)
LINGG und THEUNISSEN sind der Meinung, dass Verhaltensauffälligkeiten Signal einer Beziehungsstörung seien. Die betreffende Person versucht sie durch spezifische Verhaltensweisen zu bewältigen, die von anderen als normabweichend und sozial unerwünscht eingestuft werden (ebd., S. 25).
HEIJKOOP bevorzugt den Begriff der „herausfordernden Verhaltensweisen“ (challenging behaviour), da sich mit ihm stärker der soziale Kontext, in dem ein Verhalten als problematisch oder auffällig in Erscheinung tritt, einbeziehen lässt. Die individuumzentrierte Sicht wird zugunsten einer interaktionsorientierten Sicht aufgegeben (vgl. PETRY/BRADL 1995, S. 6; HEIJKOOP 2002, S. 7; MÜHL et al. 1996, S. 19).
EMERSON et al. (1999) sind der Meinung, dass „hochgradig herausforderndes Verhalten [...] von solcher Intensität, Häufigkeit und Dauer ist, dass die körperliche Sicherheit der Person selbst und von anderen ernsthaft gefährdet ist; oder das Verhalten begrenzt oder verzögert ernsthaft den Zugang zu oder die Nutzung von üblichen gemeindenahen Einrichtungen.“ (zit. nach KONIARCZYK 2003, S. 19)
Als auffällige Verhaltensweisen gelten u.a. Auto- und Fremdaggressionen, starke motorische Unruhe und Stereotypien (gleichförmige Bewegungen von Kopf, Körper und Händen), aber auch extreme Rückzugstendenzen und ausgeprägte Passivität (vgl. BRADL 1999, S. 40f; MÜHL et al. 1996, S. 19)
Die Etikettierung eines Menschen als „verhaltensauffällig“ oder „psychisch gestört“ ist ebenso normabhängig wie die Kennzeichnung einer Person als „geistig behindert“ (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 18).
HEIJKOOP ist der Meinung, dass diese als verhaltensauffällig bzw. psychisch auffällig bezeichneten Menschen in festgefahrenen Situationen stecken. Es handelt sich um ein wechselseitiges Beziehungsgeflecht zwischen dem behinderten Menschen und seinen Betreuungspersonen. Eine allzu lange Suche nach dem „Warum“ ist weniger hilfreich, da es viele Auffälligkeiten gibt, deren Ursache nicht erklärbar sind, mit denen aber umgegangen und gelebt werden muss. Daher ist es HEIJKOOP zufolge sinnvoller, nach dem „Wie“ für den Umgang in der Praxis zu fragen. Dabei ist ein gezieltes, systematisches und kontrolliertes Vorgehen notwendig (vgl. HEIJKOOP 2002, S. 15f).
Die Theorie der Selbstorganisation (MATURANA/VARELA) gilt auch für Menschen mit geistiger Behinderung. Diese sind als sich selbst regulierende Systeme zu verstehen, die aktiv in ihre Umgebung und zur Kontrolle ihrer Situation eingreifen können (vgl. HEIJKOOP 2002, S. 8). Die noch vorhandenen Selbstkontrollmöglichkeiten des Menschen mit geistiger Behinderung, die nicht bewusst ablaufen müssen, sind zu berücksichtigen. Außerdem gilt es zu überlegen, wie diese selbstschützenden Kräfte gestärkt werden können.
Tabelle 1 Mögliche Erscheinungsformen psychischer Auffälligkeiten bei leichter und schwerer geistiger Behinderung (Überschneidungen sind möglich) (vgl. KONIARCZYK/HENNICKE 2003, S. 14)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[7][8][9]
KONIARCZYK und HENNICKE zufolge ist es selbstverständlich „ [...] möglich, dass auch Menschen mit schwerer geistiger Behinderung von einer schizophrenen Psychose, einer Depression, Angst- oder Zwangsstörung betroffen sind. Die Diagnosestellung ist jedoch meist durch die mangelnde Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt, so dass sich entsprechende Diagnosen häufig ausschließlich auf den sich aus Beobachtungen ergebenden Verdacht für das Vorliegen einer spezifischen Störung stützen können.“ (ebd., S. 14f)
Bei Menschen mit leichter geistiger Behinderung sind die Möglichkeiten der Differentialdiagnostik wesentlich höher, daher können alle diagnostischen Kategorien vorkommen. Bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung ist die Feststellung psychischer Auffälligkeiten schwieriger ist, dieser Personenkreis zeigt typischerweise andere Auffälligkeiten (vgl. DOŠEN 1997, S. 23). Dagegen ist HEIJKOOP der Auffassung, dass die Unterscheidung nach hohem bzw. geringem Intelligenz- bzw. Entwicklungsniveau unbedeutend sei, wenn es darum gehe, die Prozesse zu erhellen, die bei diesem Personenkreis eine Rolle spielen (vgl. HEIJKOOP 2002, S. 16).
Von Verhaltensstörung soll laut DOŠEN (ebd., S.32) gesprochen werden, wenn „ auf der Basis von abweichenden Persönlichkeitsstrukturen, bestimmten Hirnfunktions-störungen, falsch erlernten Interaktionsmustern oder einer Kombination dieser Faktoren ein Verhalten entsteht, das die Gesundheit und die sozialen Ansprüche der Person selbst oder anderer Personen gefährdet. “
Eine eindeutige Zuordnung und Klassifizierung von psychischen Auffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung mittels üblicher psychiatrischer Diagnostikinstrumente ist aufgrund eingeschränkter sprachlicher Kompetenz oftmals schwierig. Auch wenn einige Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung in ihrer Form mit psychiatrischen Auffälligkeiten (z.B. Selbstverletzendes Verhalten, Nahrungsverweigerung, Destruktivität, Aggressivität, Vermeidung von Blickkontakt, soziale Ängstlichkeit und Zurückgezogenheit, Schlafstörungen, Hyperaktivität) vergleichbar sind, so bleibt doch MÜHL et al. zufolge der Sinn und die Möglichkeit eines Vergleichs fraglich. Eine Gefahr bei der Psychiatrisierung von Verhaltensproblemen bei Menschen mit geistiger Behinderung liegt in der impliziten Reduzierung des Verhaltensproblems auf das Individuum, d.h. in der individualtheoretischen Sichtweise. Die Folge hiervon ist häufig eine ausschließliche Behandlung des betroffenen Individuums mit Psychopharmaka (vgl. MÜHL et al. 1996, S. 20).
Die Problematik und die möglichen negativen Folgen von auffälligen Verhaltensweisen sind bei Menschen mit geistiger Behinderung und deren Bezugspersonen durch folgende Faktoren charakterisiert:
- Das Problemverhalten kann stark selbstgefährdend sein.
- Auffälliges Verhalten behindert bzw. erschwert Lernen und Entwicklung.
- Schwere Verhaltensstörungen führen häufig zu Heim- oder Anstaltseinweisungen und sozialem Ausschluss der Betroffenen.
- Personen mit schweren Verhaltensproblemen sind besonders gefährdet, sediert, sozial und emotional vernachlässigt und/oder mit aversiven und strafenden Konsequenzen behandelt zu werden.
- Schwere Verhaltensstörungen verringern die Chance der Deinstitutionalisierung
- Das Arbeiten mit Personen mit schweren Verhaltensproblemen führt bei den Bezugspersonen häufig zu psychischen Belastungen (Burnout[10] ).
- Die Bezugspersonen fühlen sich häufig überfordert und hilflos im Umgang mit den betroffenen Personen.
- Auf Seiten der Bezugspersonen kann sich ihre Hilflosigkeit wiederum in Aggressionen gegenüber dem Betroffenen umkehren, deren Folge Vernachlässigung bzw. Meidung und Bestrafung des Betroffenen sein können (vgl. MÜHL et al. 1996, S.21).
Es wird deutlich, dass auffällige Verhaltensweisen sowohl für die betroffene Person selbst als auch für deren Bezugspersonen erhebliche Belastungen und Risiken hervorrufen können.
Auffälliges Verhalten als sinnvolle Verhaltensweisen, als Hilferufe angesichts einer deprivierenden Situation zu verstehen, verlangt von den häufig überforderten Betreuern hohe Fachkompetenz, zumal sie selten die Entstehung dieser Verhaltensmuster miterleben. Meist lernen sie die Menschen mit schwerer geistiger Behinderung bereits mit ihren schwer verstehbaren Verhaltensweisen kennen, die vor allem als störend charakterisiert werden. Durch das Nichtverstehen scheint eine schwere geistige Behinderung eher eine Störung der Kommunikation mit den Bezugspersonen zu sein, die zwar primär aus der Hirnschädigung resultiert, aber konsekutiv durch psychoreaktive und milieubedingte Faktoren zu dem wird, was als schwere geistige Behinderung erscheint (vgl. FEUSER 1981, S.135 in MÜHL et al. 1996, S. 22).
Psychische Auffälligkeiten können als Versuch der betroffenen Person verstanden werden, das psychische Gleichgewicht zurückzugewinnen. Das auffällige Verhalten verweist dann auf Überforderung, Missverständnisse oder auf ungelöste Konflikte.
Psychische Auffälligkeiten sind jedoch nicht immer Symptom des Versuchs, ein anderweitiges, vorrangiges Problem zu bewältigen. Psychische Auffälligkeiten können als eigenständige Erkrankung auftreten. Zwänge, Ängste, Depressionen, Autismus und Psychosen sind kein „subjektiver Lösungsversuch“, sondern Erkrankungen, unter denen die betroffene Person leidet und die diagnostiziert, verstanden und therapiert werden muss (vgl. WARNKE in Geistige Behinderung 1/02, S.1).
Bestimmte Verhaltensstörungen sind nicht gemeinsam mit der geistigen Behinderung angeboren und müssen daher nicht resignierend akzeptiert bzw. toleriert werden. Auf diese Verhaltensauffälligkeiten ist anders zu reagieren als mit Bestrafung, Erhöhung der Medikation oder Fixierung (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 48).
Da eine klare Grenzziehung zwischen den Begriffen selten möglich zu sein scheint, ist von einer multidimensionalen Betrachtungsweise auszugehen.
2.4.1 Prävalenz
Der Forschungsstand zur Prävalenz psychischer Auffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung ist laut MEINS (1994) quantitativ und qualitativ unzureichend (vgl. HENNICKE 2000, S. 43). Die empirische Literatur zu dieser Thematik wurde von LOTZ für die Jahre 1970 bis 1990 mit sehr unterschiedliche Ergebnissen ausgewertet. Somit unterliegen die Prävalenzraten beträchtlichen Schwankungen. LOTZ zufolge weisen ca. 30-40% der Menschen mit geistiger Behinderung „irgendeine psychische Störung“ auf (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 49). Das Risiko einer psychischen Störung für Menschen mit geistiger Behinderung ist also 3-4mal so hoch. Wichtige Einflussvariablen sind der Grad der Behinderung, das Ausmaß der Institutionalisierung, das Vorliegen einer Epilepsie, das Alter, die jeweils zugrunde gelegten Definitionen von Problemverhalten sowie die Art der Informationsgewinnung (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 49).
Nach SPECK und DILLING weisen Menschen mit geistiger Behinderung mindestens 3-4mal so viele zusätzliche psychiatrische Störungen auf wie in der Gesamtbevölkerung (vgl. SPECK 2005, S.57; DILLING 2000, S. 254).
In der wissenschaftlichen Literatur wird die Prävalenz psychischer Störungen mit 34-57% bei leichter und mit 45-64% bei schwerer geistiger Behinderung angegeben. Das Spektrum reicht von Störungen, wie sie auch bei sog. nichtbehinderten Menschen vorkommen bis zu Störungen, die spezifisch für Menschen mit geistiger Behinderung sind (vgl. KONIARCZYK 2003, S. 14).
Eine andere Studie, BALLINGER et al. 1991, ergab, im Gegensatz zu der Studie von LOTZ, dass in Großeinrichtungen 80% der Bewohner eine psychiatrische Diagnose erhielten, wobei am häufigsten Persönlichkeitsstörungen (17%) sowie Störungen des Sozialverhaltens (15%) genannt wurden (vgl. HENNICKE 2000, S. 43).
Die beträchtlichen Schwankungen verdeutlichen, dass es keine objektiven Kriterien zur Erfassung von psychischen Auffälligkeiten gibt, da sie immer Zuschreibungsprozessen unterliegen, die eine normabhängige Etikettierung und subjektive Werturteile beinhalten (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S.17f.).
Im pädagogischen Alltag ist daher eine kritische Reflexion der eigenen und allgemeinen Normvorstellungen unerlässlich.
2.4.2 Ätiologie
Es gibt unterschiedliche Erklärungsansätze für die Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten bzw. psychischen Auffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung. Im Folgenden sollen einige dieser Perspektiven näher betrachtet werden.
Verhaltensauffälligkeiten oder psychische Störungen sind weder ausschließlich als personinhärentes Merkmal noch als reine genetische Disposition zu verstehen. Eine einseitige Sichtweise wird der Komplexität dieser Problematik nicht gerecht. Erst das reziproke Zusammenwirken biologisch-organischer, psychischer und sozialer Aspekte trägt zur Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten und zur Erklärung von psychischen Störungen bei (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 21).
Das „personale System“ ist in Verbindung mit Lebensereignissen und Umweltbedingungen von besonderer Bedeutung (vgl. THEUNISSEN in PETRY/BRADL 1999, S. 143).
Gegenwärtig überwiegt die Auffassung, dass Verhalten in seiner Gesamtheit weder durch Umweltfaktoren noch durch organische Abweichungen allein, sondern auch durch die Wechselbeziehung zwischen den organischen und erfahrungsbedingten Eigenheiten eines Menschen mit seiner sozialen und materiellen Umgebung bestimmt wird. (DOŠEN 1997, S. 20)
DOŠEN geht in seinem entwicklungsdynamischen Ansatz[11] von der Bedeutung des Entwicklungsverlaufes eines Menschen mit geistiger Behinderung aus. Es wird ein Zusammenhang zwischen Defiziten in der sozio-emotionalen Entwicklung und der Entstehung pathologischer Symptome hergestellt. Bei der Erörterung von psychischen Auffälligkeiten müssen biologische Aspekte, Umwelteinflüsse und Entwicklungsprozesse berücksichtigt werden (vgl. DOŠEN 1997, S. 38).
Die psychosoziale Entwicklung eines geistig behinderten Kindes ist das Ergebnis genetischer, organischer, biochemischer und psychosozialer Einflüsse.
Abbildung 1 Elemente der entwicklungsdynamischen Betrachtung (vgl. DOŠEN 1997, S. 42)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Schaubild von DOŠEN (Abbildung 1) zeigt, was auch eine sozioökologische Perspektive (u.a. BRONFENBRENNER 1981) berücksichtigt: Lebenswelten nehmen Einfluss auf den Menschen und Lebenswelten werden reziprok vom Menschen beeinflusst. LINGG und THEUNISSEN zufolge können „Diskrepanzen zwischen diesen Systemen, gegenläufige Interaktionen oder Intentionen [...] die Entwicklung des Einzelnen erschweren und [...] Konflikte befördern, die zu Störungen führen können.“ (LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 26)
Demzufolge sind psychische Auffälligkeiten nicht isoliert, sondern unter Berücksichtigung der gesamten Lebensumstände zu betrachten (vgl. MÜHL et al. 1996, S. 13).
Eine systemische Sichtweise integriert Fachleute und/oder andere Bezugspersonen, die mit ihren alltäglichen Interaktionen an der Konstruktion von psychischen Auffälligkeiten beteiligt sind (vgl. PETRY/BRADL 1999, S. 10f).
FINZEN zufolge sind psychische Krankheiten Ausdruck neuronaler Systemstörungen, dieses gilt unabhängig von ihrer Ursache. Bei depressiven Störungen ist nachweisbar, dass vor allem im Thalamus[12] ein Serotonin- und Noradrenalinmangel besteht. In diese Störungen können Psychopharmaka eingreifen, zur Wiederherstellung des Gleichgewichts im Gehirn beitragen und somit eine Besserung der Krankheitssymptome erzielen (siehe dazu Kapitel 5). Laut FINZEN bleibt die Frage offen, wie diese Störungen zustande kommen. Dabei scheinen Stress[13], emotionale und körperliche Belastung, psychische Konfliktsituationen ebenso eine Rolle zu spielen wie Neuronalläsionen[14], genetische Auffälligkeiten und toxische Reaktionen.
Im Gehirn spielen sich komplexe Vorgänge vielfältiger Zentren ab, wobei auch nach heutigem Stand der Wissenschaft viele Frage offen bleiben, vor allem nach den Reserven, Kompensations- und Ausgleichsfähigkeiten des Gehirns (vgl. FINZEN 2004, S. 37f).
2.4.3 Vulnerabilitäts-Stress-Modell
Das Modell erklärte ursprünglich die Entstehung schizophrener Psychosen. Es integriert genetisch-biologische, psychologische und soziale Faktoren. Mehrere Autoren (ZUBIN, CIOMPI) erweiterten dieses Modell und fügten den Faktoren „Stress“ hinzu.
Dieses komplexe Modell eignet sich gut, um die Ätiologie psychischer Auffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung zu beschreiben. Auch LINGG und THEUNISSEN weisen darauf hin, dass dieses Modell zur Erklärung der erhöhten Prävalenz psychischer Auffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung herangezogen wird (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 25).
Unter Beteiligung verschiedener Faktoren erweitert das Vulnerabilitäts-Stress-Modell das Verständnis für die subjektive Sinnhaftigkeit von psychischen Auffälligkeiten, weil reziproke Zusammenhänge zwischen Individuum und Lebenswelt, Figur und Hintergrund, Reaktionen, Handlungen und Lebensereignisse aufgezeigt werden. Auf diesem Weg ist zu hypothetischen Aussagen über Institutionalisierungseffekte und einem subjektiv bedeutsamen Sinn von Verhaltens- und Erlebensweisen eines Menschen mit geistiger Behinderung zu gelangen.
Die Entwicklung jedes Individuums vollzieht sich in einem soziokulturellen Kontext, der das Ausmaß der sozialen Ressourcen, die Wertesysteme und die medizinisch-pädagogische Versorgungsstruktur definiert.
Menschen mit geistiger Behinderung haben in den verschiedenen Kulturen und auch abhängig von dem spezifischen Entwicklungsstand der jeweiligen Gesellschaft sehr unterschiedliche Voraussetzungen, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln zu können oder eine spezifische Förderung zu erhalten, die es ihnen ermöglicht, ihre kognitiven, motorischen oder sozialen Defizite zu kompensieren. Ihre Sozialisation ist mit erheblichen Risiken verbunden (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 26).
Da das Vulnerabilitäts-Stress-Modell (siehe Abbildung 2) ursprünglich aus der Schizophrenieforschung kommt, ist in der dritten Phase, der Langzeitentwicklung, der Verlauf einer Schizophrenie dargestellt. Auf die Symptomatik und den Verlauf wird in den Kapiteln 4.1.1 und 4.1.3 näher eingegangen.
Abbildung 2 Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungsmodell (nach CIOMPI 1984 in BOSSHARD et al. 1999, S. 173)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die individuelle prämorbide Vulnerabilität jedes Menschen entwickelt sich im Laufe der Kindheit und Jugend, der Sozialisation, aus den biologisch-genetischen und den psychosozialen Einflüssen. Die Vulnerabilität ist geprägt durch ein unterschiedliches Ausmaß an Fähigkeiten, Informationen zu verarbeiten, Ich-Stärke zu entwickeln, soziale Bezugssysteme zu internalisieren und sie anwenden zu können (vgl. SCHANZE in KONIARCZYK/HENNICKE 2003, S. 30f).
Familiäre Erziehungs- und Kommunikationsstile verändern sich, wenn in der Familie ein behindertes Kind lebt. Ein überbehütender Erziehungsstil wirkt sich auf den Erwerb von Kompetenzen und Coping-Strategien aus. Wenn es versäumt wird, geeignete psychosoziale Lern- und Entwicklungsfelder (z.B. Frühförderung) zur Verfügung zu stellen, kommen die bestehenden Defizite in der weiteren Entwicklung des Individuums deutlich und anhaltend zur Ausprägung (vgl. HENNICKE 2000, S. 45).
Das Zusammenspiel psychosozialer und biologisch-genetischer Aspekte prägt die Vulnerabilität jedes einzelnen Menschen in unterschiedlichem Ausmaß. Die prämorbide Vulnerabilität stellt keine unveränderbare Größe dar, sondern lässt sich durch die sog. Moderatorvariablen Kompetenz, Coping und soziales Umfeld verändern (vgl. SCHANZE in KONIARCZYK/HENNICKE 2003, S. 31).
Situationen, in denen mehrere Faktoren kumulativ, intensiv und permanent auftreten, erzeugen destruktive Wirkungen, die nahezu das gesamte Spektrum an Verhaltensauffälligkeiten oder psychischen Störungen betreffen können (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 25).
Oftmals treten schon lange vor der Erkrankung eine Vielzahl von Belastungssituationen auf (prämorbide Vorphase, Abb. 2), die mit den jeweils zur Verfügung stehenden Ressourcen nur unzureichend aufgefangen und bewältigt werden können. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen den zur Verfügung stehenden und bereitgestellten Ressourcen und den Anforderungen des Alltags, diese komplexe Belastungsspirale kann letztlich zum Verlust funktionierender und befriedigender Alltagsgestaltung führen (Krankheitsausbruch, Abb. 2) (vgl. BOSSHARD et al., S. 57).
Der Ausbruch der Erkrankung hängt im wesentlichen von drei Faktoren ab (vgl. BÄUML 1994, S. 30f):
- Vulnerabilität (Verletzlichkeit):
- chronischer Stress (tägliche Belastungen)
- akuter Stress (Schicksalsschläge)
Bei Menschen mit geistiger Behinderung erschweren unzureichende oder fehlende Achtung, Belastungen und Bevormundungen im Alltag, fehlende Integration, nicht ausreichende sprachliche oder andere kommunikative Verständigungsmöglichkeiten, eingeschränkte bzw. inadäquate Möglichkeiten der Artikulation und Durchsetzung eigener Wünsche und Bedürfnisse, gleichzeitige Unter- und Überforderung, Einsamkeit und Isolation die Sozialisation und erhöhen die Wahrscheinlichkeit psychischer Auffälligkeiten (vgl. LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 48f). Aus diesen Faktoren können große psychosoziale Belastungen entstehen.
Psychische Auffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung werden oft nicht ernst genommen und als weniger wichtig und therapierelevant erachtet als bei sog. nichtbehinderten Menschen.
FRASER (1997) charakterisiert den Lebensstil dieser Menschen „das Management einer vereitelten Identität“, „dass durch einen einzelnen negativen Faktor [...] eine Kette zwingender Folgen von Seiten der Umwelt in Gang gesetzt werden kann. [...] Hirnschädigung und inadäquates Umfeld beeinflussen sich negativ und das bedingt eine hohe Betroffenheit mit psychischen Störungen.“ (FRASER zit. nach LINGG/THEUNISSEN 2000, S. 49f) Das reziproke Zusammenwirken ungünstiger sozialer Faktoren und ungünstiger individueller Voraussetzungen lässt diesen Personenkreis besonders anfällig (vulnerabel) für psychische Krisen sein/werden. In Stresssituationen fehlen ihnen Coping-Ressourcen bzw. Widerstandskräfte.
Eine sozialpädagogische Konsequenz aus dem Vulnerabiliäts-Stress-Modell sollte ein systematisches Vorgehen[15] sein, um identitätsbeschädigende Prozesse aufzudecken und Veränderungen des sozialen Systems, der Einstellung und der Situation zu initiieren.
Menschen mit geistiger Behinderung sind besonders empfindlich für Stress, weil sie langsamer denken und begreifen, sich nur mit Schwierigkeiten äußern können und nur einen geringen Einfluss auf ihr eigenes Leben haben (vgl. HEIJKOOP 2002, S. 16). Viele Experten suchen die Ätiologie der Störungen in abweichenden körperlichen, biologischen oder neurologischen Funktionen oder in der frühkindlichen Entwicklung. Abweichende oder traumatisierende Ereignisse lassen sich laut HEIJKOOP jedoch immer finden. Das soll kein Plädoyer gegen eine multidisziplinäre Untersuchung sein, sondern dafür, dass gründlich über den Platz dieser Informationen im zukünftigen Umgang nachzudenken ist. Viele Verhaltensweisen lassen sich weder aufklären noch verändern, sie sind eine Tatsache, mit der gearbeitet werden muss (vgl. HEIJKOOP 2002, S. 16).
[...]
[1] Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit die männliche Form verwendet, gemeint ist stets auch die weibliche.
[2] In dieser Arbeit wird abwechselnd sowohl die weibliche als auch die männliche Bezeichnung für Menschen mit geistiger Behinderung verwendet.
[3] BANK-MIKKELSEN formuliert 1969, dass „Normalisierung die Gesamtheit der Mitte ist, durch die ein geistig Behinderter dahin gelangt, ein Leben zu führen, das dem normalen so nahe wie möglich kommt.“ NIRJE fordert 1970, „dem geistig Behinderten Errungenschaften und Bedingungen des täglichen Lebens zu verschaffen, so wie sie der Masse der übrigen Bevölkerung zur Verfügung stehen.“ Willensäußerungen, Wünsche und Bitten der Menschen mit geistiger Behinderung sind in Betracht zu ziehen und zu respektieren.
[4] 17.500 Menschen mit geistiger Behinderung waren in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht und erhielten keine sozial- bzw. heilpädagogischen Förderprogramme.
[5] Autistische Verhaltensweisen bleiben in dieser Arbeit unberücksichtigt.
[6] Internationale Klassifikation psychischer Störungen
[7] Reizbar, leicht erregbar
[8] Einnässen. Nächtliches Einnässen (E. nocturna), Einnässen mehrfach am Tag (E. diurna), ohne erklärbare Harnwegsanomalie o.ä.
[9] Einkoten in die Windel bzw. Hose
[10] Der Begriff steht für ein Phänomen, das in der psychosozialen Arbeitswelt eine langjährige Forschungsgeschichte aufweist. FREUDENBERGER benutzte das Wort 1974, um einen physiologischen und psychologischen Endzustand zu beschreiben. Er beobachtete, dass Betreuer sich innerhalb kurzer Zeit stark veränderten. Die anfangs mit großem Engagement und Idealismus tätigen Mitarbeiter wurden zunehmend erschöpfter, deprimierter, zynischer und den Klienten gegenüber gleichgültiger. Damit einher gingen diverse psychosomatische Beschwerden (Erschöpfung, Übermüdung, Schlaflosigkeit). Als Ursache dieser Symptome nahm FREUDENBERGER eine Diskrepanz zwischen anfänglich idealistisch-irrealer Erwartung und der darauf folgenden Ernüchterung durch die realen Arbeitsverhältnisse an. Mittlerweile ist Burnout zu einem der wichtigsten Begriffe avanciert, die „negative Folgen von Arbeitsbeanspruchungen psychosozialer Berufsgruppen“ thematisieren. Einerseits wird der Begriff leichtfertig verwendet, um darunter berufliche Frustrationen wie Konflikte, Enttäuschung, Resignation und Unzufriedenheit zu subsumieren. Andererseits gewinnt Burnout als ein ernst zu nehmendes Phänomen zunehmend an Beachtung (vgl. SCHMIETA 2001, S. 4f).
[11] Auf eine vertiefte Darstellung des entwicklungsdynamischen Prozesses nach DOŠEN wird verzichtet (vgl. DOŠEN 1997).
[12] Hauptteil des Zwischenhirns
[13] vgl. dazu die sog. „Life-Event-Forschung“ mit der Einschätzungsskala der sozialen Wiederanpassung („Social Readjustment Scale“) nach HOLMES und RAHE (1967). Je größer der individuell erlebte Stresswert ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden. HOLMES und RAHE zufolge stellt Stress das Ausmaß dar, in dem Menschen sich verändern und ihr Leben als Reaktion auf ein äußeres Ereignis anpassen müssen. Je mehr Veränderung notwendig ist, desto größer ist der erlebte Stress.
[14] Läsion = Schädigung, Verletzung, Störung
[15] vgl. dazu u.a. Zirkulärer Problemlösungsprozess (vgl. STIMMER 2000, S. 32f).
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