[...] Zwar hat das BAG 1975 entschieden, dass der § 102 kollektive und individualrechtlich-
präventive Schutzfunktion hat, jedoch im Gegensatz zu den personellen Einzelmaßnahmen
der Einstellungen, Versetzungen, Ein- u. Umgruppierung gemäß § 99,
hat der BR bei Kündigungen gem. § 102 ein geringeres Beteiligungsrecht. Eine Studie
im Auftrag der Hans- Böckler- Stiftung (WSI, Infratest) im Jahre 2001 kam zu dem
Ergebnis, dass eine Beteiligung des Betriebsrats bei arbeítgeberseitigen Kündigungen
kaum eine Rolle spiele. 2001 waren 32% der Fälle der Beendigungen in der
Mehrzahl betriebsbedingt; wobei natürlich diese Zahl nichts über die wahren Gründe
der Entlassung besagt. Spekulativ lässt sich annehmen, dass auch verhaltensbedingte
Anlässe in betriebsbedingte umgeschrieben werden (s. Anhang), um dem Arbeitnehmer
ggf. Sperrzeiten beim Bezug der Unterstützungsleistung gem. § 144 Abs.
1, Nr. 1 SGB III zu ersparen, oder aber um nachteiliges Ansehen beim neuen Arbeitgeber
zu vermeiden. Ferner gibt es keine offizielle Statistik über exakte Gründe, Motivation
und Zusammenhänge von Kündigungen. Sämtliche Daten beruhen auf Berechnungen
der Autoren. Einzig Kittner nennt eine Hochrechnung zur vorläufigen
Weiterbeschäftigung gem. § 102 aus dem Jahre 1978: Von etwa 1,23 Mio. Kündigungen
1978 wurden 522 Arbeitnehmer vorläufig weiterbeschäftigt. In 332.792 Betrieben
war ein BR installiert, 312.824 Anhörungsverfahren wurden durchgeführt, in
18.457 Fällen wurde Widerspruch eingelegt und in 3.033 Fällen Klage erhoben. 522
blieben 1978 übrig. Diesem Wert gegenüber steht die Böckler-Studie: Von 1996 bis
2001 wurden insgesamt pro Jahr zwischen 3,5 Mio. und 4,5 Mio. Beschäftigungsverhältnisse,
„die weitaus meisten ... konfliktfrei ohne Widerspruch durch betriebliche
Interessenvertretungen oder Klagen vor dem Arbeitsgericht“ aufgelöst.
Gliederung
1. Kündigungsschutz durch § 102 BetrVG?
1.1 Statistik
1.2 Anhörung, Widerspruch
1.3 Rechtliche Intention
2. Verhaltensbedingte Kündigung
2.1 außerordentliche Kündigung
2.2 Anhörung, Widerspruch
2.3 Weiterbeschäftigungsanspruch
3. Fazit
Literatur
Anhang
1. Kündigungsschutz durch § 102 BetrVG ?
„Das BetrVG ist ... kein kompensatorisches Gesetz, das einem schwachen Betriebsrat den Rücken stärken könnte; es ist ein apellatorisches Gesetz, das starke Kontrahenten ermuntert, den Konflikt wirtschaftsfriedlich auszutragen.“[1]
1.1 Statistik
Zwar hat das BAG 1975 entschieden[2], dass der § 102 kollektive und individualrechtlich-präventive Schutzfunktion hat, jedoch im Gegensatz zu den personellen Einzelmaßnahmen der Einstellungen, Versetzungen, Ein- u. Umgruppierung gemäß § 99, hat der BR bei Kündigungen gem. § 102 ein geringeres Beteiligungsrecht.[3] Eine Studie im Auftrag der Hans- Böckler- Stiftung (WSI, Infratest) im Jahre 2001 kam zu dem Ergebnis, dass eine Beteiligung des Betriebsrats bei arbeítgeberseitigen Kündigungen kaum eine Rolle spiele.[4] 2001 waren 32% der Fälle der Beendigungen in der Mehrzahl betriebsbedingt; wobei natürlich diese Zahl nichts über die wahren Gründe der Entlassung besagt. Spekulativ lässt sich annehmen, dass auch verhaltensbedingte Anlässe in betriebsbedingte umgeschrieben werden (s. Anhang), um dem Arbeitnehmer ggf. Sperrzeiten beim Bezug der Unterstützungsleistung gem. § 144 Abs. 1, Nr. 1 SGB III zu ersparen, oder aber um nachteiliges Ansehen beim neuen Arbeitgeber zu vermeiden. Ferner gibt es keine offizielle Statistik über exakte Gründe, Motivation und Zusammenhänge von Kündigungen. Sämtliche Daten beruhen auf Berechnungen der Autoren. Einzig Kittner nennt eine Hochrechnung zur vorläufigen Weiterbeschäftigung gem. § 102 aus dem Jahre 1978: Von etwa 1,23 Mio. Kündigungen 1978 wurden 522 Arbeitnehmer vorläufig weiterbeschäftigt.[5] In 332.792 Betrieben war ein BR installiert, 312.824 Anhörungsverfahren wurden durchgeführt, in 18.457 Fällen wurde Widerspruch eingelegt und in 3.033 Fällen Klage erhoben. 522 blieben 1978 übrig.[6] Diesem Wert gegenüber steht die Böckler-Studie: Von 1996 bis 2001 wurden insgesamt pro Jahr zwischen 3,5 Mio. und 4,5 Mio. Beschäftigungsverhältnisse, „die weitaus meisten ... konfliktfrei ohne Widerspruch durch betriebliche Interessenvertretungen oder Klagen vor dem Arbeitsgericht“[7] aufgelöst. Das entspricht insgesamt laut der Untersuchung der Hans- Böckler- Stiftung 10 bis 13 % der Gesamtbeschäftigung der BRD, bei denen, wie eingangs erwähnt, der Betriebsrat eine untergeordnete Rolle spielt. So lässt sich bereits annehmen, dass zwischen 1978 und 2005 kein erheblicher, quantitativer Unterschied in der Relation festzustellen sein wird - sozioökonomische Hintergründe wie Beschäftigungsquote (etc.) außen vor. In der gesetzlichen Probezeit von maximal sechs Monaten gem. § 622, Abs. 3 BGB gilt zudem noch kein Kündigungsschutz, sodass in dieser Zeit die Mitwirkung des BR erschwert wird, wenngleich sie auch nicht unerheblich ist.[8] Laut des DGB werden 21 % der Arbeitgeberkündigungen bereits in der Probezeit ausgesprochen.[9] Zumal eine betriebliche Vertretung in Form eines formellen Betriebsrates gem. § 1 nicht in allen Unternehmen und Betrieben gewährleistet ist. „Betriebsverfassung ist staatlich nicht erzwingbar“, bemerken Höland und Eidmann in ihrer sozialwissenschaftlichen Studie zur „Betriebsverfassungswirklichkeit“ und verweisen damit auf das Problem der Einbindung der Betriebsräte (soweit vorhanden) in die Entscheidungsprozesse - korellierend mit der Betriebsgröße.[10] Laut des DGB sind zum einen lediglich 47 % aller Beschäftigten in Westdeutschland (38% in Ostdeutschland) überhaupt durch einen Interessenvertreter organisiert; zum anderen korellieren die einzelnen Quoten der Betriebe mit Betriebsrat erheblich mit der Größe der Beschäftigten.[11] Je größer der Betrieb, desto eher besteht eine [professionalisierte] Mitarbeitervertretung. Die statistischen Berechnungen variieren jedoch jeweils nach dem Erhebungsschwerpunkt an der Grundgesamtheit erheblich.[12]
1.2 Anhörung, Widerspruch
„Entgegen dem ersten Anschein verschaffen die vom Gesetzgeber ... zugelassenen ... Widerspruchsgründe dem Betriebsrat nur sehr beschränkte Handlungsmöglichkeiten.“[13] Ein Widerspruch ist für den Arbeitgeber aufgrund seines Direktionsrechts nicht bindend und hindert ihn nicht am Ausspruch der Kündigung. Einzige Ausnahme ist hier die außerordentliche Kündigung von Funktionsträgern der Betriebsverfassung gemäß § 103. Bei den leitenden Angestellten im Sinne des § 5 Abs. 3 BetrVG und § 14, Abs. 2 KSchG entfällt die Anhörungspflicht.[14] Der Arbeitgeber hat die Kündigung dem Betriebsrat zwar mitzuteilen, eine Anhörung findet dabei jedoch nicht statt. Ebenso findet § 102 bei Eigenkündigung des Arbeitnehmers keine Anwendung (2001: 38% der Fälle, WSI/Infratest). Das gleiche gilt für Aufhebungsverträge und einvernehmliche Änderungen.[15] Laut der Infratest-/WSI-Studie aus dem Jahre 2001 über beendete Arbeitsverhältnisse haben 6% der Arbeitnehmer um solche Formen gebeten und 4% der Arbeitgeber griffen zu solchen Maßnahmen[16] - wie auch immer diese Zahlen zu interpretieren sind! Ebenfalls mitbestimmungsfrei sind auslaufende Zeitverträge wie auch die Nichtigkeit eines Arbeitsverhältnisses.[17] Sieht der Arbeitnehmer freiwillig von einer Anhörung des BR ab, so ersetzt dies nicht das Mitbestimmungsrecht. Von selber Nichtigkeit ist die Bereitschaft des Arbeitnehmers, die Kündigung zu akzeptieren.[18] Die Anhörungspflicht entfällt auch nicht, wenn der BR bereits zum Sachverhalt gehört wurde und der AG aufgrund etwaiger Verfahrensfehler eine Wiederholungskündigung ausspricht.[19] Ist jedoch der gekündigte Mitarbeiter im Zuge einer Anhörung nicht erreichbar, so beeinflusst dies nicht die Entscheidung oder Mitbestimmung.[20] Anders verhält es sich, im Falle, dass der BR aufgrund interner Umstände nicht erreichbar ist. Der AG muss dann Vertreter des Betriebsrates anhören oder bis zur endgültigen Erreichbarkeit des BR warten und darf nicht die Abwesenheit bewusst nutzen, um eine Kündigung auszusprechen, um den unbequemen Mitarbeiter schnell loszuwerden.[21] Die Beweislast für eine ordentliche Anhörung trägt der AG.[22] Bei außerordentlichen Kündigungen in schwerwiegenden Eilfällen entfällt ebenfalls nicht die Anhörungspflicht.[23] Auch besteht die Möglichkeit einer Kündigung auf Veranlassung des BR gemäß § 104, welche keiner weiteren Anhörung und Mitbestimmung nach § 102 bedarf. Nach der Rechtsnormenhierarchie unterliegt eine gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses ebenfalls nicht dem § 102.
[...]
[1] Kotthoff, H.: Betriebsräte und betriebliche Herrschaft. Frankfurt/ M. 1981. S. 33. (zitiert in: Höland, A.: Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zum Betriebsverfassungsrecht. Düsseldorf. 1994. S. 11)
[2] Vgl.: Kittner, M.: (BAG 18.9.1975), § 102 BetrVG. In: Kündigungsschutzrecht. Frankfurt/ M. 1999,
S. 474.
[3] Vgl.: Kittner: a.a.O., S. 473.
[4] Vgl.: Pfarr, H.: Die Beendigung von Arbeitsverhältnissen. März 2003. S.4.
[5] Vgl.: Kittner: a.a.O., S. 474 (aus Falke AiB, 1981)
[6] Ebd.
[7] Bielinski, Hartmann, Pfarr, Seifert: AuR 2003. (zitiert in: Pfarr: a.a.O., S. 4)
[8] Vgl.: Kittner: a.a.O., S. 474.
[9] Vgl: Engelen-Kefer, U.: Informationen zum Arbeits- u. Sozialrecht. DGB Bundesvorstand. Juni 2005. S. 2
[10] Vgl.: Höland, A.: Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zum Betriebsverfassungsrecht. Düsseldorf. 1994. S. 3f.
[11] eigene Recherche: DGB (aus IAB Betriebspanel 2003), Hans-Böckler-Stiftung (Datenblatt 2005).
[12] Vgl.: Höland: ebd.
[13] Däubler, W: Arbeitsrecht. Franfurt/ M. 2004. S. 257.
[14] Vgl.: Kittner: a.a.O., S. 475.
[15] a.a.O., S. 477.
[16] Vgl.: Pfarr, H.: a.a.O., S. 5
[17] Vgl.: Kittner: a.a.O., S. 477.
[18] Ebd.
[19] Vgl.: Hanau/Kania: BetrVG § 102. Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht. München. 2003. S. 1190.
[20] Ebd.
[21] Ebd.
[22] Vgl.: Hanau/Kania: a.a.O., S. 1195.
[23] Vgl.: Kittner: a.a.O., S. 476.
- Arbeit zitieren
- Uwe Lammers (Autor:in), 2005, Zum § 102: Mitbestimmung bei Kündigungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55008
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