Im Juni 1994 hatte ich Gelegenheit, mich auf Einladung Plamen Kartaloffs, des Intendanten des "Staatlichen Musical-Theaters 'Stefan Makedonski'", in der bulgarischen Hauptstadt zu einem Orientierungsbesuch in Sachen "musikalisches Unterhaltungstheater" aufzuhalten und dabei auch drei Regiearbeiten des Hausherrn zu sehen: "Die Fledermaus" von Johann Strauß, "Anatevka" von Bock/Stein/Harnick und "Die schöne Helena" von Jacques Offenbach.
von Kraft-Eike Wrede
Im Juni 1994 hatte ich Gelegenheit, mich auf Einladung Plamen Kartaloffs, des Intendanten des "Staatlichen Musical-Theaters 'Stefan Makedonski'", in der bulgarischen Hauptstadt zu einem Orientierungsbesuch in Sachen "musikalisches Unterhaltungstheater" aufzuhalten und dabei auch drei Regiearbeiten des Hausherrn zu sehen: "Die Fledermaus" von Johann Strauß, "Anatevka" von Bock/Stein/Harnick und "Die schöne Helena" von Jacques Offenbach.
Eine vierte Produktion dieser auf die Gattungen Operette, Musical und komische Oper spezialisierten Sofioter Bühne - die Revue "Die ganze Welt ist himmelblau" von Robert Stolz - konnte ich als Video-Aufzeichnung sehen. Diese Inszenierung - höchst achtbar in deutscher Sprache! - realisierte Rumen Neikoff als Gast von der Nationaloper Sofia, der seit September 1994 Intendant der Nationaloper in Stara Zagora, einer Traditionsbühne im bulgarischen Pendant zur deutschen „Klassikerstadt Weimar", geworden ist.
Als Generalintendant der Nationaloper Sofia verfolgt Plamen Kartaloff Partnerschaften mit anderen europäischen Bühnen zum Zweck wirtschaftlicher und künstlerischer Kooperation. 1994 realisierte er ein Pasticcio aus verschiedenen Werken des zeitgenössischen bulgarischen Komponisten Ivan Spassoff unter dem Titel "Diptychon", das im Rahmen des "Festivals Sofioter Musikwochen 1994" zur Uraufführung gelangte. Beginn dieses Festivals ist stets der 24. Mai, der als "Tag des slawischen Schrifttums und der bulgarischen Kultur" traditionell gefeiert wird; außerdem ist der 24. Mai identisch mit dem Namenstag der beiden Slawenapostel Kyrillos und Methodos, jenen aus dem byzantinisch-griechischen Thessaloniki stammenden Missionaren, die in Bulgarien als "Stammväter" der nationalen und kulturellen Identität angesehen und - nach wie vor! - verehrt werden.
Wiederanknüpfen an alte Traditionen, wie sie überkommen sind in Geschichte, Religion, Literatur und Musik, aber auch in gewachsenen Beziehungen des bulgarischen Slawentums zu seinen Nachbarvölkern - insbesondere zu den Russen -, nicht zuletzt auch zu den nicht-slawischen Nachbarn wie Griechenland - das könnte das übergreifende Motto sein, unter dem sich das gegenwärtige Bulgarien innerhalb Europas politisch und kulturell neu zu orientieren sucht. Im seinem Verhältnis zu Deutschland sollten auch in Bulgarien an die Traditionen der deutschstämmigen Fürstenhäuser (das hessische Haus Battenberg und das sächsische Haus Sachsen-Coburg-Gotha) und der daraus folgenden Verbindungen seit dem Unabhängigkeitsjahr 1878 und die - wenn auch für Bulgarien nicht günstigen! - politischen Allianzen (weil es sich auf der Verliererseite sehen musste) angeknüpft werden oder besser gesagt: auch Deutschland sollte sich seiner über 140-jährigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen mit dem südosteuropäischen Land besinnen und im Rahmen seiner Möglichkeiten nicht nur Partnerschaft anbieten, sondern auch Patenschaften übernehmen. So böten sich häufigere Einladungen durch Bühnen des deutschsprachigen Raumes an, Gastspiele aus Bulgarien nach Deutschland, nach Österreich und in die Schweiz einzuladen. So fänden Sofioter und andere bulgarische Ensembles - z.B. aus Stara Zagora und Russe - Gelegenheit, sich im Ausland einem internationalen Publikum zu stellen. Nur so können sich Publikum und Künstler beider Länder näher kennenlernen, voneinander lernen, ein gemeinsames, gleich-hohes künstlerisches Niveau finden. Ich fand einen gleichermaßen hohen musikalischen Standard bei Sängern, Chor, Dirigenten und Orchestermusikern in Bezug auf die Stilsicherheit so unterschiedlicher Kompositionen wie der wienerischen "Fledermaus", des kommerziell-konfektionierten Musicals "Anatevka" und des den Charme des pariserischen 19. Jahrhunderts beschwörenden Jacques Offenbach, der die Heldenwelt der griechischen Mythologie in "Die schöne Helena" so meisterhaft zu travestieren verstand.
Wie nun stellt sich nun eine Relation zum deutschen musikalischen Unterhaltungstheater dar? Aufgrund meiner Reiseeindrücke kann ich sagen, dass die Begeisterung für Operette und Musical beim Sofioter Publikum ungebrochen ist, während ich im Vergleich mit einem deutschen Großstadtpublikum eher den Eindruck habe, dass dieses zwar optische Reize und szenische Effekte eines Bühnenspektakels durchaus schätzt und auch dafür bereit ist, hohe Eintrittspreise zu zahlen, mitunter aber nicht den "künstlerischen Gegenwert" zu beurteilen vermag. Der Preis für eine Eintrittskarte - gerade für die gegenwärtig zahlreich angebotenen Musicals - gerät eher zu einer (finanziellen) Prestigeangelegenheit. Zum Beispiel verlangte der private Theaterbetreiber Friedrich Kurz in der (als Schauspielhaus seit 1993 geschlossenen)"Freien Volksbühne" in Berlin-Wilmersdorf für ein auf die "Zielgruppe Jugendliche" ausgerichtetes Musical "Shakespeare & Rock 'n' Roll" Eintrittspreise bis zu € 48,57, was dem Gegenwert von ca. 3.300,-- bulgarischen Lewa entsprach - ein Preisniveau, das kaum vorstellbar ist bei den katastrophal-niedrigen Einkommen in Bulgarien! In der Regel bieten die deutschen Stadttheater im Dreispartenbetrieb flächenversorgend musikalisches Unterhaltungstheater an - von den Großstädten wie z.B. Berlin, Hamburg, Dresden, München und Leipzig (die eigene Häuser für Operetten und Musicals unterhalten) einmal abgesehen. Die Stadttheater bieten neben der hehren Kunst die "leichte Kost" - eher aus Verlegenheit - "auch" an, weil deren Intendanten und künstlerischen Vorstände dieses Genre oft für "unkünstlerisch" halten, und wenn sie es schon tun, dann nur, weil sie aufgrund der öffentlichen Zuwendungen (aus Steuermitteln der "mündigen Staatsbü rger!") dazu verpflichtet sind. Hier wirkt sich die unselige Auffassung vom (angeblichen) Unterschied zwischen der "seriösen“ und „leichte" Kunst - der Einteilung von "E"- und "U"-Kunst - nicht gerade zu Gunsten des nachfragenden Publikums aus. Das Problem hierbei liegt eher in der mitunter anmaßenden Mentalität von intellektuellem Hochmut der "Kunstverwalter" in den Theatern. Ich meine damit durchaus Dirigenten, Dramaturgen, Regisseure und Intendanten auf der Theaterseite und Kulturpolitiker auf der Verwaltungs- und Trägerseite! Das (häufig falsch verstandene, weil nur der eigenen intellektuellen Eitelkeit und künstlerischen Selbstverliebtheit verpflichtete)"Regietheater" dient häufiger dem "Image" der Regisseure als dem Dienst am künstlerischen Werk selbst! Vielmehr dulden es manche Theaterleiter, dass die Werke des Unterhaltungstheaters denunziert - und dadurch degradiert - werden, indem man sie nicht ernst nimmt. Es werden mitunter nicht gerade die "Besten der Zunft" als Regisseure für dieses Genre engagiert; es wird auch nicht immer "die erste Garnitur" mit den Hauptrollen besetzt; vielmehr nimmt man gern "billige" Gäste, spart am Ausstattungsetat und zeigt bei der Spielplangestaltung wenig Einfallsreichtum, was die Ausschöpfung des Operetten- und Musical-Repertoirs betrifft. "Alle sieben Jahre wieder" kommt "Die lustige Witwe" auf den Spielplan, während 70 % des vorhandenen Repertoirs unbeachtet bleiben und als "nicht aufführenswert" abqualifiziert werden. Anscheinend misstraut man der Emotionalität, mit der sich Operette und Musical an "Herz und Bauch" der Zuschauer richten - einfach, weil man dies - ideologisch argumentierend - als "bürgerlich-reaktionär" - oder - noch simpler! - als "kitschig" empfindet und damit das Publikum bevormundet.
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- Arbeit zitieren
- Kraft-Eike Wrede (Autor:in), 1994, Musikalisches Unterhaltungstheater in Deutschland und Bulgarien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/463109
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