In dem medialen Kapitalismus der Gegenwart ist Aufmerksamkeit die stärkste Währung, darum konkurrieren verschiedenste Anbieter, vom Sportereignis über die Kinokultur bis hin zum klassischen Schauspielhaus.
Sie sind mittlerweile alle geprägt vom Eventcharakter und dem daraus resultierenden Kampf um die besten Schauwerte.
Der mediale Betrieb versucht dabei stets den Spagat zwischen zwei gänzlich antagonistischen Prinzipien: Der künstlichen Überhöhung in der Form des Spektakels einerseits und einer größtmöglichen Nahbarkeit und Vermarktung des Authentischen andererseits.
Woher diese Entwicklung stammt und wie sie in den verschiedenen Medien ausgeprägt ist, bzw. kultiviert werden kann, ist Gegenstand dieser Arbeit.
INHALT
1. Theater als hoffnungsloser Patient?..
2. Gesellschaft des Spektakels
2.1 Prinzip der Aufmerksamkeit
2.2 Mediale Strukturen
2.3 Aufklärung als Illusion
2.4 Position der Konsumenten
2.5 Meme und Kultur
3. Mediale Authentizität
3.1 Ritual und Kult
3.2 Performative Wende
3.3 Liveness
3.4 Availability
3.5 Ästhetischer Schein
4. Strategien des theatralen Betriebs
4.1 Laiengruppen
4.2 Subventionierte Betriebe
4.3 Gastspielhäuser
4.4 Tourneetheater und Musicalbühnen
4.5 Performancekünstler
5. Paradigma eines zukunftsfähigen Theaters.
5.1 Flexible Strukturen
5.2 Marktforschung
5.3 Regionale Erzeugnisse
5.4 Bildungspolitik
5.5 Dreidimensionaler Kunstbegriff
6. Inszenierte Realität
Bibliographie .
1. Theater als hoffnungsloser Patient?
Inscribing theatre within a theory of media presupposes - rather hastily - that theatre can be compared with artistic and technological practices like film, television, radio or video. That involves comparing theatre with what is usually opposed to it: (mass) media, technical arts, the tech- niques of the culture industry. We would do theatre a disservice by mea- suring it against media grounded in a technological infrastructure that it has done without; we would also endanger its specificity.1
Doch genau dieser Versuch soll hier unternommen werden. Das Theater ist nicht erst seit gestern in einer fundamentalen Krise2. Dieses Siechtum zeigt sich vor allem in seiner schwindenden gesellschaftlichen Relevanz, die eher gefühlt messbar ist und sich einer objektiven Evaluation so gut wie komplett entzieht. Da die Wachstumsraten der Zuschauerzahlen allein schon räumlich und zeitlich begrenzt sind, obwohl durchaus hin und wieder neue Bühnen entstehen, kann man von der Reichweite und Strahlkraft anderer Medien nur träumen. Das liegt unter anderem in der speziellen transitorischen Natur des Theaters begründet und wird oft im gleichen Atemzug als Alleinstel- lungsmerkmal präsentiert. Ob man damit allerdings die Problematik fehlender gesellschaftlicher Relevanz wegdiskutieren kann, darf bezweifelt werden. „Die Freiheit der Kunst wird als Befreiung von der Nachfrage gelebt, sichtbar an Selbstfinanzierungsgraden von 15 Prozent oder weniger.“3 Als Folge davon könnte man die fehlende Innovationskraft in den Spielplänen und wachsende finanzielle Engpässe sehen, die grundsätzliche strukturelle Probleme der Betriebe noch verstärken. Nicht nur die andauernden Bud- getkürzungen der subventionierten staatlichen Theater sind alarmierend, auch die privatwirtschaftliche Live-Unterhaltungsindustrie steht unter einem zunehmenden finanziellen Druck, vom Zirkus, über das Varietétheater, bis hin zu den Musical- und Boulevardbühnen. Schon Erwin Piscator bemerkt die schwindende Strahlkraft, doch gleichwohl sieht er Hoffnung:
Wäre das Theater wirklich nur eine Schau bühne und seine Aufgabe mit der Befriedigung des menschlichen Triebes nach Zerstreuung, Sensa- tion oder Belehrung erschöpft, es könnten heute schon jene ihren Triumph auskosten, die seit Jahren den bevorstehenden Tod des Theaters verkünden, seinen Untergang durch Film, Revue und Radio.4
Unbestreitbar lebt das Theater momentan als krasser Außenseiter eine Art nostalgisches Nischendasein im Schatten der neuen Medien. Für viele ist das Theater wie ein Patient im Koma, der nur durch künstliche Beatmung und andere Geräte am Leben gehalten wird, aber weniger in der Hoffnung eines plötzlichen Erwachens, sondern mehr, um die einzelnen funktions- fähigen Organe beizeiten transplantieren zu können. Die Vertreter von Kultur und Politik stehen betreten daneben und haben ihr feierlichstes Trauer- gesicht aufgelegt, sind im Verborgenen aber längst bei der Verwaltung und Verteilung des Erbes. Die Feuilletonisten schreiben zwar fleißig weiter ihre Kritiken, doch mehr als höflichen Abgesang auf ein sterbendes mediales Format.
The broad facts will come as no surprise: 60 percent of American adults go to the movies versus the 22.3 percent who go to the theatre and the 4 percent who attend the opera or ballet; the average adult watches 2.9 hours of television per day (NEA 2004:45). […] The theatre audience seems to prefer the live event, though not by a huge margin: 22.3 per- cent of adults attended the theatre while 21 percent watched theatre in mediatized forms (ibid.:6).5
Die Theaterschaffenden wiederum sind trotz dieser Zahlen so produktiv wie nie und flüchten sich in hysterischen Aktionismus. Als erfolgversprechende Heilmethode wird abwechselnd die progressive Jugendarbeit, die multi- mediale Performance und die konservative Tradition gefeiert. Ob diese Strategien wirklich funktionieren können, oder ob es noch bessere Alter- nativen gibt, wird in der vorliegenden Arbeit untersucht. Es geht in erster Linie um strukturelle Unterschiede und nicht um inhaltliche, denn die grundlegenden Inhalte haben medienübergreifend seit Jahrtausenden kaum gewechselt, wenn man von einzelnen unbedeutenden modischen Gewich- tungen absieht. Was sich allerdings ständig erneuert, sind die Möglichkeiten der Distribution von (kulturellen) Inhalten und der entsprechende technische, aber auch der damit einhergehende ideologische Fortschritt. Dazu muss zunächst der mediale Rahmen analysiert werden, in dem Theater heute statt- findet. Die Bedingungen der (Unterhaltungs-)Kultur haben sich in den letzten hundertfünfzig Jahren so gravierend gewandelt wie noch nie zuvor. Die tech- nischen Errungenschaften lösen zunehmend die Grenzen des grundsätzlich Machbaren auf und treiben damit verschiedene Entwicklungen an, die sich in dem Begriff des Spektakel subsumieren lassen, ein Begriff der allerdings noch einer breiteren Definition bedarf,6 um auch die aktuellen Phänomene in der digitalen Welt miteinzubeziehen. Danach wird ein Diskurs über die Wurzeln des Theaters geführt, gerade im Hinblick auf die ursprüngliche Zielsetzung dieses Mediums und seiner geänderten (Selbst-) Wahrnehmung heute. Hier geht es vor allem um das Verhältnis zwischen Theater und Gesellschaft und andere, vermeintlich nicht ephemere Künste auf der Suche nach dem authentischen Moment und der bestmöglichen Vermarktung. Das Authentische steht dabei in einem kontradiktorischen Bezug zum Spek- takulären und im 3. Kapitel wird versucht diese Wechselwirkung zwischen den zwei Polen grob zu umreißen. Schiller hat gegen Ende des 18. Jahrhun- derts auf ähnliche Weise probiert, den Formtrieb und den sinnlichen Trieb erst gegenüberzustellen und im Rahmen der Kultur dann doch zu vereinen7, die vorliegende Arbeit will auf seinen Pfaden wandelnd einen Ausblick für das beginnende 21. Jahrhundert wagen. Anders als bei Schiller wird jedoch nicht die lebende Gestalt untersucht, sondern vielmehr das gestaltete Leben.8 Im Anschluss werden die wichtigsten Ausprägungen des zeit- genössischen Theaters kurz vorgestellt und deren Vorteile, Nachteile und Möglichkeiten abgewogen. Als ‚pars pro toto‘ liegt der Fokus auf dem deutschen Theatersystem, dessen Vielfalt einen einigermaßen vollständigen Überblick, zumindest über westliche und damit kapitalistisch geprägte Er- scheinungsformen von darstellender Kunst gibt. Dabei ist das Medium Theater im Kontext dieser Untersuchung stets in einem sehr breit gefassten Bezugsrahmen zu sehen. Während die Theaterwissenschaft sich oftmals sträubt, ihre Tore zu weit zu öffnen für Phänomene, die kaum mehr insze- nierungsanalytisch gefasst werden können, wird die Problematik kultureller Vermittlung zum Beispiel in der Ethnologie viel offener diskutiert. Mit ihrem Begriff der Alltagskultur ist sie besser in der Lage, die strukturellen Unter- schiede verschiedener Medien offenzulegen. Gerade wenn es um die gesellschaftliche Komponente von Theater geht, seine Relevanz in einem sozialen Gefüge, ist ein vergleichender Blick auf alle kulturellen Phänomene zwingend notwendig. Es ist nun einmal nicht zu leugnen dass die Vermitt- lungsfunktion von Kultur als grundsätzliches soziales Bedeutungsgewebe, wie es von Clifford Geertz9 postuliert wird, über ganz verschiedene Kanäle läuft, von denen das Theater nur einer ist. Im Rahmen der vorliegenden Ar- beit soll dieser breite Bezug jedoch hergestellt werden, selbst wenn es zu Lasten einer begrifflichen Genauigkeit geht oder machmal sogar die argu- mentative Stringenz leidet. Bei der initialen Idee zur Beschäftigung mit dieser Problematik spielen verschiedene Theoretiker und deren außergewöhnliche, bis heute vielfach rezipierte Werke eine wichtige Rolle. Ein ähnlich breiter gesellschaftlicher Ansatz im Bezug auf das Theater lässt sich zum Beispiel bei Patrice Pavice und auch den theater-anthropologischen Untersuchungen von Richard Schechner finden, während sich Erwin Piscator und Bertolt Brecht schon vor mittlerweile fast hundert Jahren sehr fruchtbare Gedanken zur Dialektik des Theaters allgemein gemacht haben. Guy Debord wiederum und auch Georg Franck beschäftigen sich mit der zunehmenden Kapital- isierung kultureller Systeme, deren Ausführungen sehr erhellend sind bei der Frage nach dem Zustand der westlichen Gesellschaft. Die nachfolgenden Ausführungen basieren dementsprechend sehr stark auf der Vorarbeit et- licher Koryphäen auf ganz verschiedenen Forschungsgebieten und werden im Rahmen dieser Untersuchung zu einem hoffentlich nachvollziehbaren neuen Gesamtbild zusammengefügt.
Sollte die Arbeit zeitweise dem theatralen Betrieb gegenüber sehr zynisch oder gar ablehnend klingen, so ist dies dem Versuch geschuldet, eine möglichst objektive Sicht auf das zu untersuchende Sujet zu gewinnen, um dann konstruktiv urteilen zu können. Es ist niemandem damit geholfen, eine blinde Lobeshymne zu verfassen, die keine Fehler erkennen will und demnach auch keine Lösungen anbieten kann. Der teilweise etwas rabiate Umgang mit den gepflegten Manierismen und Abwehrhaltungen dieser soge- nannten hochkulturellen Institution ist dem Zweck nach ein Weckruf, um ver- altete Überzeugungen, die allzu lang in verstaubten Theatergemäuern über- lebt haben, endlich in einem groß angelegten Frühjahrsputz zu beseitigen. Der Dünkel einer künstlerischen Elite, sowohl auf der Seite der Theoretiker als auch unter den Praktikern, hat keinen Platz in der zeitgemäßen Bewälti- gung sich stetig verändernder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Aber alleine die Tatsache, dass sich die vorliegende Schrift mit dem Theater als solchem beschäftigt, ist als unbedingte Wertschätzung für das Medium an sich zu verstehen und lässt die Dringlichkeit der getroffenen Aussagen hof- fentlich in einem liebevollen Licht erscheinen.
2. Gesellschaft des Spektakels
Die erste Phase der Herrschaft der Wirtschaft über das gesellschaftliche Leben hatte in der Definition jeder menschlichen Realisierung eine De- gradierung des Seins zum Haben mit sich gebracht. Die gegenwärtige Phase der völligen Beschlagnahme des gesellschaftlichen Lebens durch die akkumulierten Ergebnisse der Wirtschaft führt zu einer verallgemein- erten Verschiebung vom Haben zum Scheinen, aus welchem jedes tat- sächliche »Haben« sein unmittelbares Prestige und seinen letzten Zweck beziehen muss.10
Wer die zeitgenössische westliche Gesellschaft einmal betrachtet, wird zunächst wahrhaftig erstaunt sein, wie durchgängig diese Lebenswirklichkeit inszeniert ist. Bis in intimste Lebensbereiche sind wir durchgehend von einem Ideal geprägt, das medial ausdiskutiert wird. „Waren das noch Zeiten, als nur Theaterstücke inszeniert wurden - heute wird alles inszeniert - das heißt: in Szene gesetzt: Ausstellungen, Texte, Sexualität, Körper, Lebensfor- men, Karrieren, Beziehungen, Politik.“11 Unsere Sexualität steht zum Beispiel längst in einem ständigen Diskurs mit Pornographie, die wiederum als öf- fentliche Plattform dient um gewisse Vorlieben und Verhaltensregeln im Bett zu definieren. Man könnte sagen, die Pornoindustrie ist nur Ausdruck unserer Wünsche, doch damit würde man lügen. Es ist keinesfalls zu leugnen, dass auch der Konsum von erotischen Filmen Einfluss auf unser sexuelles Selbst- bild hat. Ein offensichtliches Beispiel dafür wäre der schleichende Rückzug der Intimbehaarung und ihr mögliches Revival in der Zukunft. Man merkt hier ganz eindeutig, dass die Sexualität, wie fast alles andere auch, bestimmten modischen Strömungen unterworfen ist. Diese Moden werden über ver- schiedene Medien kommuniziert, wie etwa in der Werbung, im Film, in Ar- tikeln vieler Online- und Printmedien. Diese Omnipräsenz sorgt dann mittel- fristig für eine, der jeweiligen Zeit angepasste, Inszenierung der Sexualität. Diese Form von gesellschaftlicher Inszenierung lässt sich auf alle anderen Aspekte unseres Lebens übertragen:
Es prägt den Menschen nicht nur in seinen Verhaltensweisen, Denk- und Wahrnehmungsformen, die sich den Vorbildern auf dem Bildschirm angleichen, sondern es strukturiert und produziert auch jene Bedürfnisse nach Unterhaltung, Konsum und Zerstreuung, die das Fernsehen dann wieder befriedigen kann und muss. Dieser Kreislauf - ein typischer Rückkopplungseffekt - erklärt auch, warum die Verteidiger des Fern- sehens zynisch Recht haben, wenn sie beteuern, es würden damit nur die Wünsche der Menschen erfüllt.12
Es gibt natürlich schon immer einen gewissen gesellschaftlichen Diskurs, sogar über die pikanteren Details unseres Daseins, doch trotzdem hat sich qualitativ und auch quantitativ in den letzten 100 Jahren einiges gravierend geändert. Zunächst die quantitative Verschiebung gesellschaftlicher Insze- nierung. Es leuchtet jedem ein, dass mit der erhöhten Reichweite der Medien und einem zunehmend global einheitlich wahrgenommen Wirtschaftsraum die Diskurse grundsätzlich mehr Input bekommen und dadurch auch schneller verhandelt werden. Ein System mit vielen Komponenten, die sich gegenseitig befeuern, sorgt immer für einen rasanten Anstieg an Ergebnis- sen. Man stelle sich einen Tisch mit vier Personen vor, die entspannt bei einem Glas Wein über Kunst diskutieren, eventuell wird am Ende des Abends ein Konsens gefunden, vielleicht auch nicht, die Debatte bleibt gewissermaßen heterogen, jedoch so, dass alle Beteiligten die Diskussion als solche überblicken können. Dasselbe Szenario mit 40 Leuten sieht schon ganz anders aus. Im Laufe des Abends werden sich Interessengruppen bilden, die sowohl intern über ihre eigene Ausrichtung im Bezug auf die Kunst beratschlagen, als auch nach außen hin ihre Position verteidigen. Es wird zu einem viel fundierteren Ergebnis kommen, zumindest was die auszuwertende Menge an Daten betrifft. Selbst wenn sich dabei ver- schiedene Gruppen unversöhnlich gegenüberstehen und auch das Gesamtvolumen der diskutierten Inhalte vom Einzelnen nicht mehr überblickt werden kann, entwickelt sich langsam eine gewisse Homogenität der einzel- nen Ansichten innerhalb der Gruppen. „Jeder soll sich gleichsam spontan seinem vorweg durch Indizien bestimmten »level« gemäß verhalten und nach der Kategorie des Massenprodukts greifen, die für seinen Typ fabriziert ist.“13 Sobald jemand aber eine Ansicht teilt, die nicht mehr nur seinem Ver- stand entsprungen ist, sondern auf einem Gruppenkonsens beruht, setzt er bereits eben diese Ansicht in Szene. Er inszeniert diese Überzeugung als seine eigene Entscheidung, obwohl das nicht zwingend der Realität entspricht. Diese Haltung bezeichnet Erving Goffmann als Fassade:
Die Fassade wird zu einer »kollektiven Darstellung« und zum Selbstzweck. Wenn ein Darsteller eine etablierte soziale Rolle über- nimmt, wird er im allgemeinen feststellen, daß es bereits eine bestimmte Fassade für diese Rolle gibt. Ob er die Rolle nun in erster Linie über- nommen hat, weil er die gestellte Aufgabe erfüllen wollte, oder etwa, weil ihn die entsprechende Fassade reizte, immer wird er feststellen, daß er beiden entsprechen muß.14
Die zweite Komponente der geänderten Strukturen im sozialen Diskurs ist qualitativer Natur. Es geht hierbei um Dienstleistung im weitesten Sinne, beziehungsweise deren moderne Ausprägung. Der tertiäre Sektor hat einen unvergleichlichen Aufstieg im letzten Jahrhundert erfahren, der in seiner In- tensität der Industrialisierung gleichkommt. Während die klassische Industrie jedoch materielle Waren mit zunehmender Perfektion produziert, erschaffen die Dienstleistungsfabriken ausschließlich immaterielle Güter, nämlich immer konsensfähigere Meinungen und damit Moden. Das leuchtet zumindest im Bezug auf die Werbebranche sofort ein. Doch auch alle anderen Dienst- leistungen befriedigen vor allem Bedürfnisse auf immaterieller Ebene. Ein Haarschnitt beim Friseur ist nicht in dem Sinne materiell wie es die Haare an sich sind. Es geht eher um ihre Form, und die ist explizit modischen Strö- mungen und subjektiven Ansichten unterworfen. Unsere ganze Wellnesskul- tur, mit ihren Massageangeboten, Peelings und Stilberatungen lebt davon, dass wir an eben diesem modischen Diskurs teilhaben wollen. Wir unterwer- fen uns der homogenisierten Meinung im Bezug auf die adäquate Gestaltung unseres Lebens, gerade weil sie so perfekt präsentiert und vermarktet wird. „Damit wird die kulturindustrielle Ästhetisierung des Lebens, […] als ein scheinhafter, damit falscher Versuch beschrieben, die radikalsten Pro- gramme der ästhetischen Moderne gewinnbringend zu vermarkten.“15
2.1 Prinzip der Aufmerksamkeit
Obwohl es schon immer eine vorherrschende Meinung gab, wie man sich zum Beispiel innerhalb einer Dorfgemeinschaft zu verhalten hatte, hat der Druck durch die quantitative Steigerung der Diskussionsteilnehmer und die qualitativ höheren Standards in der Darstellung der präsentierten Ergebnisse ständig zugenommen. „Die durch und durch zur Ware gewordene Kultur muss auch zur Star-Ware der spektakulären Gesellschaft werden.“16 Wir alle sehen unsere Körper schon längst selbst als Produkt, das es Mithilfe von Dienstleistungen zu inszenieren und im Wert zu erhalten gilt. „Die Idee einer Ästhetik der Existenz, einer Formung des Selbst durch Lebenstechniken, […] geht also davon aus, daß der Mensch für die Gestaltung seiner selbst ver- antwortlich ist und diese nur als Resultat einer bildenden Arbeit mit dazuge- hörigen Techniken möglich ist.“17 Von einer eher passiven Evaluation unseres Charakters durch die Augen der Dorfgemeinschaft haben wir uns mit der Per- fektionierung der entsprechenden (immateriellen) Werkzeuge zum aktiven Regisseur unserer Außendarstellung gewandelt. „Die kontemplative Seite des alten Materialismus, der die Welt als Vorstellung und nicht als Tätigkeit auffaßt - und der letzten Endes die Materie idealisiert -, ist im Spektakel voll- endet, […] Umgekehrt vollendet sich auch die geträumte Tätigkeit des Idealismus im Spektakel durch die technische Vermittlung von Zeichen und Signalen - die letzten Endes ein abstraktes Ideal materialisieren.“18 Dabei ist der Körper zwar an sich noch materiell, doch sein Wert misst sich mittlerweile vor allem in immateriellen Dimensionen, allerdings nicht länger im Sinne intrinsischer charakterlicher Eigenschaften. Es geht vielmehr in der Gesellschaft des Spektakels um die Generierung von Aufmerksamkeit.
Die Grundvoraussetzung für Aufmerksamkeit ist Bewusstsein. Aufmerksamkeit bedeutet jedoch eine zielgerichtete und intentionale Aus- prägung von Bewusstsein, auch Beachtung genannt. Ein Hund ist sich eines Menschen wohl bewusst, sobald dieser den Raum betritt, doch er schenkt ihm nur dann Aufmerksamkeit, wenn er auf irgendeine Weise auf dessen Anwesenheit reagiert oder sogar in eine nonverbale Kommunikation mit dem Menschen tritt. Selbstbewusstsein ist wiederum die Beachtung der eigenen Person als eigenständige, formbare Entität, was quasi schon eine Trennung der eigenen Persönlichkeit vom ungeteilten Ich erfordert. Der Mensch als soziales Wesen ist schon immer in einen Kontext an Aufmerksamkeit einge- bunden gewesen. Die Erziehung von Kindern erfordert genauso besondere Beachtung wie auch der Unterhalt von Freundschaften oder Beziehungen. Auch eine gewisse Form von gesellschaftlicher Aufmerksamkeit und damit einhergehend sozialer Interaktion ist offensichtlich nötig, um das koordinierte Zusammenleben überhaupt möglich zu machen. Trotzdem ist gerade in Großstädten eine zunehmende Abgrenzung der eigenen Person von sozialer Interaktion zu bemerken. Es scheint als wünsche sich der Mensch geradezu die Anonymität der Millionenstädte, die Nichtbeachtung anderer in der U-Bahn und die Möglichkeit alles mögliche Online zu bestellen ohne mit anderen Individuen interagieren zu müssen. Das liegt wohl daran, dass es auch anstrengend sein kann, jemandem Aufmerksamkeit zu schenken:
Ein anderer Ausdruck für den zunehmenden Zwang zum Haushalten mit Aufmerksamkeit ist, daß sie zur grundsätzlich knappen Ressource geworden ist. Knappheit bezeichnet die Asymmetrie zwischen der Verfügbarkeit einer Sache und ihren Verwendungsmöglichkeiten. […] Das unentwegte Wachstum ihrer reizenden, sich interessant machenden, lohnenden und verpflichtenden Verwendungsmöglichkeiten ist das, was unsere Aufmerksamkeit als Informationsflut erlebt.19
Nun ist die Menge an Beachtung, die ein Mensch pro Tag zu vergeben hat, natürlicherweise sehr begrenzt und Aufmerksamkeit wird dadurch ein knappes Gut. Gleichzeitig sehnen wir uns alle nach Aufmerksamkeit. Jedes Kind will die Aufmerksamkeit seiner Mutter, wir wollen von unseren Freunden beachtet werden, unser Chef soll unsere Arbeit schätzen und vielleicht ver- suchen wir sogar von Fremden bewundert zu werden, für Dinge die wir getan haben. Normalerweise ist es vor allem die positive Aufmerksamkeit nach der Menschen suchen, doch bevor sie niemand beachtet, nehmen sie zur Not auch negative Aufmerksamkeit in Kauf. Sei es das schreiende Kind dass sich auf den Boden wirft, der Klassenclown der irgendwelche Streiche spielt oder ein C-Promi der einen Skandal auslöst, indem er nackt auf einer Party er- scheint. Wir alle wollen also beachtet werden. Wenn nun aber jemand nur sich selbst Beachtung schenkt, dann ist er im besten Falle ein Narzisst und im schlimmsten Falle ein Psychopath. So werden Menschen die zu oft und zu viel Aufmerksamkeit einfordern, normalerweise irgendwann mit Missach- tung gestraft. Daraus resultiert eine riesige Nachfrage nach Aufmerksamkeit und nur ein sehr knappes Angebot. Es hat sich daher im Alltag ein reges Tauschgeschäft mit Aufmerksamkeit etabliert, bei dem idealerweise jeder am Ende die gleiche Menge an Beachtung verschenkt, die er auch erhalten hat. So etwas nennt man einen fairen Tausch.
Ein knappes Gut wird aber nicht schon dadurch zur Währung, daß es sich als Rationierungsmittel und Form des Einkommens durchsetzt. Um als Währung zu fungieren, muss es mindestens drei weiteren An- forderungen genügen. Zu seinem bemessenden und belohnenden Ge- brauchswert muß erstens ein universeller Tauschwert hinzukommen. […] Sein Tauschwert muß zweitens ein homogenes und allgemein verbindliches Maß annehmen. […] Ein Gut das zur Währung taugen soll, muß sich drittens zur Schatzfunktion eignen. Es muß sich horten und als Form des Reichtums akkumulieren lassen.20
Georg Franck legt aber sehr überzeugend dar, warum eine Ökonomie der Aufmerksamkeit nun aber alle diese Voraussetzungen bei näherer Betrachtung erfüllt. Bis hin zur Vermarktung des eigenen Körpers wird jeder Wert in der Gesellschaft des Spektakels vordergründig in Aufmerksamkeit gemessen, während Geld als Währung zunehmend in den Hintergrund gerät. Der Körper ist nur ein Produkt, neben so vielen anderen Waren und Inhalten, den wir auf dem Markt der Aufmerksamkeit präsentieren.
2.2 Mediale Strukturen
Dieser Markt wird über Medien organisiert, denn seit jeher bündeln sie große Mengen an Beachtung. „Medien schaffen gelegentlich Kunst, immer aber Kultur. Sie halten den metakulturellen Diskurs in Gang, indem sie Vergleiche ermöglichen und die Aufmerksamkeit steuern.“21 Sie sind sozusagen die Banken und zugleich auch die Börsen in der Ökonomie der Aufmerksamkeit. Jeder bringt den verschiedenen Medien täglich einiges an Aufmerksamkeit entgegen, sei es der Morgenzeitung, dem Fernsehen, einem Onlinemagazin, dem Radio oder mittlerweile auch sozialen Netzwerken wie Facebook. Diese Medien wiederum verleihen diese Anzahlung an Beachtung seitens der Nutzer vordergründig an speziell ausgewählte Personen. Sie verleihen Men- schen, denen sie ein öffentliches Interesse zutrauen, einen Kredit, der sich hoffentlich mittelfristig auch für das Medium auszahlt.22 Wenn ein Fernsehsender zum Beispiel einen Star etabliert, der exklusiv beim eigenen Sender auftritt, dann hat das Publikum wieder einen Grund mehr, eben diesen Kanal zu sehen und keinen anderen. Gleichzeitig wird ein Mensch, sobald er das Licht der Öffentlichkeit sucht, zu einer Art börsennotierten Ein- Personen-Unternehmen. Er bietet ein gewisses Produkt an, in diesem Fall sich selbst, seine Kunstfigur, sein Talent oder sein Aussehen, welches dann durch das Medium eine Evaluation erfährt und einen momentanen Marktwert erhält. So „konzentriert der Star - d.h. die spektakuläre Darstellung des lebendigen Menschen - diese Banalität. Der Stand eines Stars ist die Spezialisierung des scheinbaren Erlebten, ist das Objekt der Identifizierung mit dem seichten, scheinbaren Leben“23. Schalten viele Leute ein ist er augenscheinlich begehrt, sein Wert steigt. Bis er vielleicht einen Skandal hat und nicht mehr so viele Zuschauer generiert. Oder man wird von einer anderen Berühmtheit so gut ersetzt, dass man nun überflüssig ist. Irgend- wann ist der Markt ohnehin gesättigt, bzw. will der Konsument neue Gesichter sehen.
Das System kulturellen Rangs spielt sich ein durch den Börsengang des Renommees. Der Kulturbetrieb ist ein Kapitalmarkt der Beachtlichkeit. An ihm wird deutlich, was es heißt, daß das Spiel um den Selbstwert zu einem Gesellschaftsspiel im eigentlichen Sinne des Wortes wird. Es bedeutet zunächst einmal, daß es auf gesamtgesellschaftlicher, nämlich auf der Ebene der Öffentlichkeit gespielt wird. Der Abstimmungskreis der persönlichen Bekanntschaft wird unmaßgeblich.24
Dieses System wird sehr erfolgreich von vielen Medien betrieben und scheint für alle zufriedenstellend zu funktionieren. Menschen die berühmt werden wollen, erhalten eine Plattform, auf der sie ihrem Drang nach Anerkennung nachgehen können und austesten, wie groß ihr vermeintlicher Marktwert tat- sächlich ist. Die Zuschauer bekommen hingegen ihren Drang nach Unterhal- tung befriedigt und bestimmen gleichzeitig demokratisch mit, wer sie über- haupt unterhalten darf. Gerade im Bezug auf diese demokratische Mitbe- stimmung sind neuere Medien verständlicherweise sehr viel direkter aus- geprägt als ältere. Die klassischen gedruckten Zeitungen, als Dinosaurier der Medienlandschaft, entscheiden größtenteils intern, wer welchen Artikel schreibt und wen interviewt. Die Redakteure orientieren sich also eher an einem vagen öffentlichen Interesse, können aber auch im Nachhinein kaum prüfen welcher Artikel nun gelesen wurde und welcher nicht. Das Fernsehen hat hingegen schon Mechanismen parat, um die Zuschauerzahlen messen zu können. Hier wird auf die Quote einzelner Sendungen geschaut und Kon- sequenzen daraus gezogen. Am eindeutigsten hat jedoch das Internet das kapitalistische Prinzip des ständig messbaren Marktwertes verinnerlicht. In den frühen Stunden des Internets zählte man die Anzahl an Besuchern auf einer bestimmten Homepage, um deren Relevanz oder Beliebtheit zu messen. Heutzutage gelten die Views bei einem Video, die Likes bei einem Post, oder die Anzahl der Follower bzw. Abonnenten als Gradmesser für Be- liebtheit. Das ist für jeden wunderbar transparent und demokratisch. Es visualisiert sozusagen das ehemals imaginäre System im Kampf um Aufmerksamkeit und macht es damit auch weniger spekulativ und vielleicht sogar manipulativ.
„Die kulturindustrielle Erfindung des Stars war ein derart schlagender Erfolg, daß sie alsbald auch in der hohen Kultur Nachahmung fand. In- zwischen müssen auch Operndiven, Klaviervirtuosen, Erfolgsautoren und Kometen der Kunstszene nach dem Muster des Stars aufgebaut werden.“25 Während nämlich früher gewisse Leitmedien mehr oder weniger eine Monopolstellung innehatten, ist die Landschaft heute viel heterogener. Gerade das Fernsehen und das Internet sind als Medien multitextuell an- gelegt und in sich, sowohl strukturell als auch inhaltlich, schon viel komplexer und diverser als zum Beispiel eine Tageszeitung. Man könnte beim Internet sogar von einem Metamedium sprechen, das alle anderen Medien komplett in sich vereint. Diese zunehmende Übermacht des Internets wird nun vielfach selbst als Problem dargestellt und dazu wäre sicherlich eine eingehendere Untersuchung möglich. Doch zuerst einmal muss man konstatieren dass das Internet als solches keine eigenen Interessen verfolgt und demnach in keiner klassischen Monopolstellung ist. Vielmehr hat sich der Markt um Aufmerk- samkeit plötzlich weit geöffnet und jeder der Zugang hat, kann als Un- ternehmer in den Kampf um Klickzahlen und Beachtung einsteigen. Wo früher wenige Privilegierte über die Inhalte eines Mediums entschieden haben, dürfen nun alle Teilnehmer Inhalte anbieten und gleichzeitig die In- halte der anderen mit dem Mittel der Aufmerksamkeit bewerten. Eigentlich ein höchst demokratisches System.
2.3 Aufklärung als Illusion
Die Idee der Demokratie hat neben der grundsätzlichen Struktur unseres zeitgenössischen Theaters und auch sehr vieler anderer moderner gesellschaftlicher Phänomene ihre Wurzeln in der Antike. Die Renaissance dieser Kulturepoche und als Folge davon auch die Ideale der Aufklärung haben die westliche Wertegemeinschaft nachhaltig verändert. Nun stehen einige diesen Errungenschaften durchaus ambivalent gegenüber. Viele Men- schen bemerken im Alltag die Grenzen in der konsequenten Umsetzung humanistischen Gedankenguts. Brandaktuell ist die Problematik der Flüchtlingskrise oder seit jeher der Umgang mit prekären Lebensumständen weniger begüterter Mitbürger. Hierauf hat weder die Antike noch die moderne Gesellschaft bisher eine zufrieden stellende Antwort gefunden und vermutlich wird sie es nie, daran kann auch die permanente Auseinandersetzung mit diesem Thema innerhalb der Kunst nichts ändern. Doch einige Theoretiker gehen sogar so weit, die Aufklärung nicht nur als fehlbar zu betrachten, son- dern als grundsätzlichen Fehler, als letzten Zwischenschritt auf dem Weg zu einer absoluten Gesellschaft des Spektakels. Diese Position vertritt zum Beispiel Adorno, wenn er schreibt:
Denn Aufklärung ist totalitär wie nur irgendein System. Nicht was ihre romantischen Feinde ihr seit je vorgeworfen haben, analytische Methode, Rückgang auf Elemente, Zersetzung durch Reflexion ist ihre Unwahrheit, sondern daß für sie der Prozeß von vornherein entschieden ist. Wenn im mathematischen Verfahren das Unbekannte zum Unbekannten einer Gleichung wird, ist es damit zum Altbekannten gestempelt, ehe noch ein Wert eingesetzt ist.26
Damit kreidet er vor allem die scheinbar unausweichliche Rationalität und dogmatische Struktur der wissenschaftlichen Deduktion in unserem Zeitalter an. Es ist durch den absoluten Wahrheitsanspruch unserer technokratisch organisierten Gesellschaft kein Platz mehr für das unbestimmte Bewe- gungsmoment, dessen Ausdruck sich unter anderem im Mythos manifestiert. Jedoch die „Mythologie selbst hat den endlosen Prozeß der Aufklärung ins Spiel gesetzt,“27 das heißt im Klartext, wir sind in derselben schicksalhaften Notwendigkeit gefangen diesen in der Antike begonnenen Weg bis zum Ende zu gehen. Die Naturwissenschaften, die Philosophie und letztlich auch die Kunst sind alle in ihrer jeweiligen Form auf der Suche nach Erkenntnis und Transparenz, doch die Ankunft am Ziel könnte anders ausfallen als erträumt. Denn wenn alles aufgeklärt wäre, würden wir vermutlich dem existenziellen Nichts ins Auge blicken. Gleichwohl beschreibt Georg Franck exemplarisch, wie die Rationierung von Aufmerksamkeit gerade im wissenschaftlichen Kon- text erstaunlich effizient funktioniert. „Auf dem Markt der Ideen herrscht zwar nicht vollkommene, aber effektive Konkurrenz. […] Die soziale Verteilung der Beachtung folgt dem Gebot des individuellen Interesses am Fortkommen. […] Es ist unsinnig, alles und jedes wahrzunehmen.“28 Wenn man dieser kapitalistisch-funktionalen Logik konsequent folgt, kürzt sich der Mensch, oder wenigstens das Menschliche irgendwann aus der Gleichung heraus. „Ökonomische Rationalität, so will es der common sense, hat mit mitmen- schlichen Gefühlen nichts zu tun. Nicht Mitgefühl, sondern mitmenschliche Kälte gilt als rational im ökonomischen Sinne. Das Kümmern um die Gefühle anderer ist Sache der Ethik, aber nicht der Klugheit.“29
Durch diese Spezialisierung und Delegation von Emotionen, deren Aufarbeitung in der Ethik wiederum höchst wissenschaftlich betrieben wird, verliert der Mensch zunehmend den eigentlichen Gegenstand aus den Augen. Die humanistisch geprägte Gesellschaft hat sich in einem Panzer aus argumentativen Strukturen versteckt und weiß sich stets zu rechtfertigen, doch die Realität der menschlichen Natur lässt sich in letzter Konsequenz eben nicht wegdiskutieren. Der Tod und das Leid auf der Welt kann nicht er- klärt und nicht abgeschafft werden, irgend jemand muss die Toiletten putzen, die undankbaren Arbeiten möglichst unsichtbar verrichten. Diese Un- gerechtigkeit, auf deren Grundlage auch die antike attische Demokratie baut kann weder durch die Aufklärung noch durch den Kapitalismus nivelliert wer- den. Doch die Gesellschaft des Spektakels gibt ihr Bestes, dieses Stigma bis in die hintersten Ecken des Verstandes zu verdrängen. Denn „mit der Ver- sachlichung des Geistes wurden die Beziehungen der Menschen selber ver- hext, auch die jedes Einzelnen zu sich. Er schrumpft zum Knotenpunkt kon- ventioneller Reaktionen und Funktionsweisen zusammen, die sachlich von ihm erwartet werden.“30
2.4 Position der Konsumenten
Was also bisher noch nicht ergründet wurde, ist die Position der einzelnen Konsumenten in diesem System. Wie weiter vorne beschrieben wurde, ist in einem privaten sozialen Rahmen die Menge an Aufmerksamkeit idealerweise so verteilt, dass jeder genau so viel erhält wie er verschenkt. Diese Idee funktioniert aber nur im kleinen Maßstab und gerät durch die enormen Men- gen an zu verteilender Beachtung zunehmend in ein Ungleichgewicht. Einer- seits liegt das daran, dass die Angebote in den Medien so unüberschaubar viele werden, wobei nur wenige sich überhaupt durchsetzen und Beachtung finden. Das heißt, auch die Meme 31 genannten Informationsbrocken bzw. Unterhaltungsbits sind plötzlich einer natürlichen Evolution unterworfen. An- dererseits sind gerade passive Konsumenten die sich nicht selbst pro- duzieren gar nicht auf der Plattform vertreten, so dass ihnen Aufmerksamkeit zu Teil werden könnte. Die Konsequenz daraus ist, dass manche Menschen durch die Medien sehr viel mehr Aufmerksamkeit bekommen als andere. Augusto Boal hat sich ab den 60er Jahren mit der ungerechten Gewichtung von Aufmerksamkeit und der passiven Position des Zuschauers befasst:
Der Zuschauer, das passive Wesen par excellence, ist weniger als ein Mensch. Es tut not, ihn wieder zum Menschen zu machen, ihm seine Handlungsfähigkeit zurückzugeben. Er muss Subjekt, Protagonist werden. […] Wer Theater macht, ist direkt oder indirekt an die herrschenden Klassen gebunden. […] Die Welt wird als festgefügt vorausgesetzt, als vollkommen oder auf dem Weg zur Vollkommenheit begriffen, und ihre Leitwerte allein werden dem Zuschauer vorgestellt.32
Die Produktionsmittel liegen theoretisch bis heute in der Hand der Mächtigen oder zumindest Wohlhabenden. In unserer heutigen Gesellschaft des Spek- takels ist die Dynamik jedoch eine andere. Durch den demokratischen Zu- gang zu medialen Plattformen und die theoretische Erreichbarkeit eines Zu- standes der Berühmtheit für jeden ist die Zahl derer, die sich auf diesem Markt profilieren können exorbitant gestiegen. Die Balance von Angebot und Nachfrage hat sich grundsätzlich gewandelt weil die künstliche Verknappung von Berühmtheiten nun weder von einer kleinen Elite der Herrschenden ge- steuert werden kann, noch natürliche Grenzen kennt. Da es so attraktiv und einfach scheint, berühmt zu werden, gibt es plötzlich immer mehr Produzen- ten, was erst zu einem harten Preiskampf und schließlich zu einem Preisver- fall führt. Diese Entwicklung lässt sich im Internet direkt verfolgen. Die Musik- und Videostreamingdienste, genauso wie die Onlineausgaben der Printmedi- en werben mit Dumpingpreisen um Konsumenten. Das Problem wird sich in Zukunft noch verschärfen, denn der Dienstleistungssektor und vor allem die Unterhaltungsindustrie produzieren mittlerweile ähnliche Warenüberschüsse wie auch viele andere Industriezweige:
Nicht einmal mehr im materiellen Konsum ist das Geld das aus- schließliche Rationierungsmittel. Grund ist die Fülle des Angebots. Die Fülle des Angebots macht seine Wahrnehmung anstrengend. Also geht der rationale Konsument dazu über, das Angebot nur mehr oberflächlich wahrzunehmen. Sobald nun aber mit einer gewissen Oberflächlichkeit seitens der Nachfrager zu rechnen ist, wird die gezielte Attraktion von deren Aufmerksamkeit zum verpflichtenden Geschäft für die Anbieter.33
Die Verluste der Medien werden versucht zu kompensieren, indem man nun zum Beispiel die Produzenten für die Bereitstellung der Inhalte zur Kasse bittet. Dieses Prinzip heißt in der Musik zum Beispiel Pay to play und hat sich ebenfalls in anderen Bereichen der Unterhaltungsbranche bereits etabliert. Da neue Produzenten zunächst eher um die Akkumulation von Aufmerk- samkeit bemüht sind, können die etablierten Medienplattformen durch die schiere Masse an auf den Markt drängenden Produzenten versuchen, ihre Gewinneinbrüche klein zu halten. Diese neuen Persönlichkeits-Produzenten müssen wiederum versuchen, später aus der gesammelten Beachtung Kapi- tal zu schlagen. Man gibt also zum Beispiel Geld aus, um Werbung für den eigenen Kanal auf Youtube zu schalten, bis man selbst genügend Abonnen- ten hat, dass andere vor den eigenen Videos Werbung schalten wollen. Idealerweise wird man aber irgendwann einfach direkt dafür bezahlt, be- stimmte Produkte zu konsumieren. Man ist damit zum professionellen Kon- sumenten geworden. Das klingt zunächst paradox, wird aber durch die Ökonomie der Aufmerksamkeit plötzlich möglich. Diese Konsumenten haben nämlich so viel Beachtung auf dem medialen Markt angesammelt, dass es sich für Firmen lohnt, sie zu Werbefiguren zu machen34. Es hat mehrere Vorteile, wenn die Aufmerksamkeit derart effektiv zu Geld gemacht werden kann. Erstens bekommt dadurch der Einzelne für die Inszenierung seiner Persönlichkeit einen zusätzlichen Anreiz auf finanzieller Ebene. Zweitens wird dabei gleichzeitig gewährleistet, dass die Gesellschaft des Spektakels dem kapitalistischen Prinzip unterworfen und das Geld als Währung erhalten bleibt. Drittens löst die Wirtschaft damit das Problem der zunehmenden Un- nahbarkeit einzelner Akteure. Die großen Firmen und viele alte Stars sind von dem normalen Konsumenten aufgrund des globalisierten Marktes so ent- fremdet, dass ihnen die professionellen Konsumenten als lokale Vermittler dienen, um auf einzelne Zielgruppen individuell einwirken zu können und sich damit eine gewisse Authentizität zu erhalten.
2.5 Meme und Kultur
Die Kulturindustrie ist also wider Erwarten ein unglaublicher Wachstums- markt, der momentan in erster Linie aus dem wachsenden Humankapital Profit schlägt. Diese Industrie ist nur noch indirekt an die Begrenzung der Rohstoffe gekoppelt und auch frei von dem enormen Investitionsbedarf des sekundären Sektors, also quasi eine Industrie ohne die Nachteile der indus- triellen Revolution. Zugleich befreit sich die Kulturindustrie auch verstärkt von ihren physischen Fesseln, indem sie die Entstehung der digitalen Märkte forciert. Der Hang zur Digitalisierung setzt dabei ein theoretisch unendliches Potential an Wachstum frei und ermöglicht der kulturellen Evolution die Un- abhängigkeit von physischen Grenzen. Diese Entwicklung stellt nur den Endpunkt dar in der Hinwendung des Menschen zur Mathematik, Wis- senschaft und anderen logischen Systemen. „Werkzeuge sind empirische, Maschinen sind mechanische und Apparate neurophysiologische Hand- und Körpersimulationen.“35 Doch was einer genaueren Analyse bedarf, ist die zukünftige Ausrichtung der Kultur im Bezug auf ihre Ziele:
Der Mensch und die Gesellschaft erscheinen im Bild als Arten, wie Informationskanäle funktionieren, sie sind nicht irgendwie dinglich zu fassen. Was man zu fassen bekommt, wenn man ins Gewebe greift, sind die Fäden. […] Weder ist der «Geist» ein Kulturprodukt, noch ist «Kultur» ein geistiges Produkt, sondern beide, Kultur und Geist, sind Aspekte eines «Feldes» von Informationsprozessen.36
[...]
1 Patrice Pavis: Theatre at the crossroads of culture. London: Routledge, 1992. S. 99.
2 vgl. dazu Haselbach, Dieter; Klein, Armin; Knüsel, Pius; Opitz, Stephan: Der Kulturinfarkt. Von allem zu viel undüberall das Gleiche. München: Knaus, 2012.
3 ebd. S. 24.
4 Erwin Piscator: Schriften. Bd. 2. Berlin: Henschelverlag, 1968. S. 32-37 In: Lazarowicz, Klaus [Hg.], Balme, Christopher [Hg.]: Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart: Reclam, 1991, S. 626.
5 Philip Auslander: Liveness. Performance in a mediatized culture. New York: Routledge, 2008 [1999], S. 23.
6 vgl. dazu die einführenden Worte zum Paratheater bei Lazarowicz, Klaus [Hg.], Balme, Christopher [Hg.]: Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart: Reclam, 1991, S. 649ff.
7 vgl. Friedrich Schiller: Ü ber dieästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart: Relcam, 2000 [ca. 1793].
8 ebd. S. 58f.
9 vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987.
10 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat, 2013. S. 18f
11 Konrad Paul Liessmann: Philosophie der modernen Kunst. Wien: Facultas, 1999. S. 182.
12 Konrad Paul Liessmann: Philosophie der modernen Kunst. Wien: Facultas, 1999. S. 114f.
13 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Fischer, 2013 [1947]. S. 131.
14 Erving Goffmann: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper, 1997 [1983]. S. 28.
15 Konrad Paul Liessmann: Philosophie der modernen Kunst. Wien: Facultas, 1999. S. 133f.
16 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat, 2013. S. 166.
17 Konrad Paul Liessmann: Philosophie der modernen Kunst. Wien: Facultas, 1999. S. 186.
18 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat, 2013. S. 183f.
19 Georg Franck: Ö konomie der Aufmerksamkeit. München: Carl Hanser, 1998. S. 50f.
20 Georg Franck: Ö konomie der Aufmerksamkeit. München: Carl Hanser, 1998. S. 72f.
21 Haselbach, Dieter; Klein, Armin; Knüsel, Pius; Opitz, Stephan: Der Kulturinfarkt. Von allem zu viel undüberall das Gleiche. München: Knaus, 2012. S. 74.
22 vgl. Georg Franck: Ö konomie der Aufmerksamkeit. München: Carl Hanser, 1998. S. 135ff.
23 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat, 2013. S. 48.
24 Georg Franck: Ö konomie der Aufmerksamkeit. München: Carl Hanser, 1998. S. 138.
25 Georg Franck: Ö konomie der Aufmerksamkeit. München: Carl Hanser, 1998. S. 167f.
26 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Fischer, 2013 [1947]. S. 31.
27 ebd. S. 17.
28 Georg Franck: Ö konomie der Aufmerksamkeit. München. Carl Hanser, 1998. S. 44f.
29 ebd. S. 199.
30 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Fischer, 2013 [1947]. S. 34.
31 vgl. dazu Karl Olsberg: Schöpfung außer Kontrolle. Wie die Technik uns benutzt. Berlin: Aufbau, 2010.
32 Augusto Boal: Theater der Unterdrückten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979 [1974]. S. 34-36,56-58,66. In: Lazarowicz, Klaus [Hg.], Balme, Christopher [Hg.]: Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart: Reclam, 1991, S. 647.
33 Georg Franck: Ö konomie der Aufmerksamkeit. München: Carl Hanser, 1998. S. 69.
34 http://www.zdf.de/zdfinfo/die-youtube-story-die-erfolgsgeschichte-des- videoportals-39477658.html (zuletzt aufgerufen am 20.03.2016)
35 Vilém Flusser: Medienkultur. Frankfurt a.M.: Fischer, 2008 [1997]. S. 167.
36 ebd. S. 30.
- Citar trabajo
- Sascha Fersch (Autor), 2016, Zwischen Spektakel und Authentizität. Das zeitgenössische Theater auf der Suche nach neuen Wirkungsräumen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/442329
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