Wird heute von sozialer Ungleichheit gesprochen, so wird diese Diskussion meist gleichgesetzt mit dem Kapitalbesitz oder Nichtbesitz. Doch darauf lässt sich die Debatte nicht reduzieren. Ungleichheit1 in modernen Gesellschaften ist von der Gesellschaft gemacht und keineswegs natürlichen Ursprungs wie noch Aristoteles annahm. Seit Rousseau, der die These der Freiheit und Gleichheit der Menschen erstmals vertrat, muss sich die Frage gestellt werden, warum soziale Ungleichheit existiert und wie man diese erfassen und strukturiert darstellen kann. 1 Wenn hier und fortlaufend von Ungleichheit geschrieben wird, so meint dies immer nur die soziale Ungleichheit.
1. Einleitung
Wird heute von sozialer Ungleichheit gesprochen, so wird diese Diskussion meist gleichgesetzt mit dem Kapitalbesitz oder Nichtbesitz. Doch darauf lässt sich die Debatte nicht reduzieren. Ungleichheit[1] in modernen Gesellschaften ist von der Gesellschaft gemacht und keineswegs natürlichen Ursprungs wie noch Aristoteles annahm. Seit Rousseau, der die These der Freiheit und Gleichheit der Menschen erstmals vertrat, muss sich die Frage gestellt werden, warum soziale Ungleichheit existiert und wie man diese erfassen und strukturiert darstellen kann.
2. Das vertikale Paradigma strukturierter Ungleichheit und dessen Defizite
An den sog. Klassikern der Ungleichheitsforschung Marx und Weber kommt man bei keiner Darstellung umhin, haben sie doch die Grundlage für die Ungleichheitsforschung gelegt und dieses Forschungsfeld erstmals betrachtet. Dabei zeichnet Marx ein düsteres Bild der modernen kapitalistischen Gesellschaft. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“[2] heißt es und die Klassen sind im Kapitalismus die Bourgeoisie und das Proletariat. Durch Anhäufung von Kapital und Produktionsmitteln erlangt der Kapitalist Reichtum, während der Proletarier verelendet. Soziale Ungleichheit wird also anhand von Besitz bzw. Nichtbesitz an Kapital und Produktionsmitteln differenziert. Es gibt daher nur die Klassen der Besitzer (Bourgeoisie) und Nichtbesitzer (Proletarier, die nur ihre Arbeitskraft verkaufen können), eine sog. Mittelklasse ist allenfalls widersprüchlich angedeutet.[3] Max Weber erweitert den Aspekt und unterscheidet nicht nur den Besitz, sondern auch den Erwerb. Des Weiteren führt er den Begriff des Standes ein. Ist der Begriff der Klasse bei Weber ökonomisch besetzt, so richtet sich die ständische Lage an die soziale Ehre. „Inhaltlich findet die ständische Ehre ihren Ausdruck normalerweise vor allem in der Zumutung einer spezifischen gearteten Lebensführung an jeden, der dem Kreise angehören will.“[4] Damit erweitert Weber Marx um die soziale Komponente.
Um die Ungleichheit in modernen Gesellschaften zu analysieren reicht dies jedoch nicht aus, da es einfach zu wenig Kriterien zur Unterscheidung sind. Nur Anhand von Kapital und Produktionsmitteln lässt sich keine Gesellschaft klassifizieren. Nicht zu letzt, da sich der Wohlfahrtsstaat in den westlichen Industriestaaten durchgesetzt hat, bleibt der Faktor Kapital zwar wichtig, ist aber nicht der Einzigste. Zum Beginn der Industrialisierung jedoch war dies drastischer und der sog. Pauperimus (Verelendung trotz Erwerbsfähigkeit) und die soziale Frage prägen Marx Darstellungen und machen sie nachvollziehbarer.
Das erweiterte Paradigma von Weber schließt einige dieser Lücken, ist aber nicht konsequent. Zwar gibt es auch Stände, eine ökonomische Mittelklasse und Differenzierung nach Qualifikation und Bildung, eine solide theoretische Grundlage fehlt aber.
3. Die Reformulierung des Paradigmas der vertikalen Ungleichheit
Erik Olin Wright hält als bekannter Vertreter dieser Position nach wie vor an der Strukturierung der Gesellschaft nach Klassen fest. Er versucht vor allen Dingen die Leerstellen bei Marx zu schließen und die Mittelklasse im System zu verankern. Hierfür stellt er verschiedenen Konzepte vor, wie man die Mittelschichten einordnen kann. Erstens als Klasse des Kleinbürgertum bzw. der neuen Arbeiterklasse, zweitens als völlig neue Klasse und drittens als widersprüchliche Gruppen zwischen den zwei bisherigen Klassen. „Aus diesen Bestrebungen [an der Klassenstruktur festzuhalten, aber die Begriffe zu überdenken] entwickelt die marxistische Sozialwissenschaft ein verfeinertes und differenziertes Begriffsarsenal, das – zumindest potenziell – ein tiefergehendes Verständnis der kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart erleichtern wird.“[5] Trotz der weiteren Differenzierung, bleibt für mich fraglich, ob das Konzept der Klassen, das wie es ausschaut nicht viel weiter angepasst werden kann, überhaupt geeignet ist, moderne Gesellschaften zu analysieren. Schon das Wort Klasse ist marxistisch so negativ besetzt, das man darauf keine Theorie mehr aufbauen kann, die heute noch anklang findet. Zum anderen stelle ich mir unter Klasse stets eine mehr oder weniger homogene Gruppe vor, die in sich weiter differenzierbar ist, aber doch Gemeinsamkeiten besitzt. Die Gesellschaften in solch große Klassen einzuteilen, verkennt meiner Meinung nach die Pluralität der Lebensstile und des zunehmenden Individualismus in unserer heutigen wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaft, wenn man Ungleichheit nicht nur auf das ökonomische (gut messbare) Kapital reduzieren will.
Die Ausdehnung des Kapitalbegriffes steht bei Bourdieu im Mittelpunkt. Neben dem ökonomischen Kapital existiert weiter soziales und kulturelles Kapital. Es bestehen Wechselbeziehungen zwischen diesen Kapitalarten und alle lassen sich untereinander mit unterschiedlicher Effizienz transformieren. „Das ökonomische Kapital ist unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts; das kulturelle Kapital ist unter bestimmte Voraussetzungen in ökonomisches Kapital konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in Form von schulischen Titeln; das soziale Kapital, das Kapital an sozialen Verpflichtungen oder „Beziehungen“, ist [...] ebenfalls [...] konvertierbar [...].“[6] Dabei kann auch relativ individuell der Sozialisationsprozess, der schon enorme Ungleichheit schafft, in Form des kulturellen Kapitals analysiert werden. Das inkorporierte Kulturkapital (das verinnerlichte Wissen) wird durch Titel institutionalisiert (institutionalisierte Kulturkapital). Objektives Kulturkapital ist hingegen materiell und zwar käuflich zu erwerben. Ihr wahrer Wert erschließt sich aber erst bei entsprechenden inkorporierten Kulturkapital.
Meiner Einschätzung nach eine sehr sinnvolle Einteilung, weil es damit möglich ist die Gesellschaft nicht nur nach ökonomischen Kapital einzuordnen, sondern nach weiteren Kriterien. Das sich ökonomisches Kapital, kulturelles und soziales in gewisser Weise bedingen ist klar, allerdings besteht nicht immer ein direkter, linearer Zusammenhang zwischen den Kapitalarten. Folgendes Beispiel soll das verdeutlichen: Der Bundeskanzler der BRD hat zweifelsohne ein sehr hohes soziales Kapital, immerhin wurde er von der Mehrheit der (wählenden) Bevölkerung legitimiert. Sicher besitzt er dadurch auch ökonomisches Kapital und kulturelles war die Voraussetzung damit er diesen Titeln erhält, neben weiteren Faktoren. Der Vorstandsvorsitzende eines großen Autorherstellers besitzt beispielsweise auch viel kulturelles und soziales Kapital, aber unweit mehr ökonomisches Kapital als der Bundeskanzler soziales. Die Relation zwischen sozialen und ökonomischen Kapital bedingt sich also nicht linear und das ist auch der entscheidende Grund, warum es notwendig ist nach diesen weiteren Kriterien zu differenzieren, denn wenn es linear wäre, würde die Differenzierung nach Kapitalbesitz und Erwerb wie nach Weber ausreichen. Bourdieu`s Ansatz ist m.E. nach sehr gut geeignet, die Gesellschaft in weit differenzierte Gruppen einzuteilen, da es viele verschiedene Möglichkeiten der Verteilung zwischen den drei Kapitalarten gibt und man so ein ausgewogenes Bild der Gesellschaft bekommt ohne sich in Kleinkrämerei zu verzetteln.
4. Neue Ansätze der Analyse sozialer Ungleichheit
Neue Ansätze zur Analyse sozialer Ungleichheit haben m.E. nach entscheidende Vorteile gegenüber den klassischen Konzepten und deren Weiterentwicklung. Zum einen können sie auf diverse andere Theorien aufbauen oder aber diese verwerfen und neue Wege gehen, zum anderen sind die Theorien meist nur auf den Zeitrahmen anwendbar, wo sie entstanden sind und damit können neue Ansätze auch aktuelle Probleme oder Entwicklungen aufgreifen, was ihren zeitlichen Vorgänger nicht möglich war. Beispielsweise konnte Marx den Einfluss eines Wohlfahrtsstaates nicht berücksichtigen, weil es ihn schlicht und einfach noch nicht gab.
Reinhard Kreckel hält trotz der o.g. Punkten an einer Klassengesellschaft fest, doch setzt er einige Prämissen damit das Konzept tragfähig bleibt. Diese wären z.B. das Klassenkonflikte nicht zwangsweise zu gesellschaftlichen Konflikten führen, es kein Klassenbewusstsein gibt
und es anzunehmen ist, „dass auf der Ebene der alltäglichen Handlungswirklichkeit ein komplexes Mischungsverhältnis von klassenspezifischen, milieuspezifischen und atomisierten Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit auftritt, das nicht theoretisch bestimmt, sondern nur empirisch ermittelt werden kann.“[7]
[...]
[1] Wenn hier und fortlaufend von Ungleichheit geschrieben wird, so meint dies immer nur die soziale Ungleichheit.
[2] Karl Marx und Friedrich Engels (1848) 1959. Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW 4, Berlin: Dietz Verlag: S. 462
[3] Es ist dabei zu beachten, das Marx „Kapital“ nicht zu Ende geschrieben wurde. 1
[4] Max Weber 1985. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr, S. 535
[5] Erik O. Wright 1985. Was bedeutet neo und was heißt marxistisch in der neo-marxistischen Klassenanalyse?, in: H. Strasser und John H. Goldthorpe (Hrsg.), Die Analyse sozialer Ungleichheit. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 256 2
[6] Pierre Bourdieu 1983. Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheit. Sonderband 2. Soziale Welt. Göttingen: Schwartz, S. 185 3
[7] Reinhard Kreckel 1998. Klassentheorie am Ende der Klassengesellschaft, in: Peter A. Berger und Michael Vester (Hrsg.), Alte Ungleichheiten, Neue Spaltungen. Opladen: Leske + Budrich, S. 35
- Citation du texte
- Martin Schultze (Auteur), 2004, Soziale Ungleichheit in modernen Gesellschaften, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37670