In diesem Aufsatz geht es um die Neue Sachlichkeit, eine Epoche in der Literaturwissenschaft. Der Begriff ‚Neue Sachlichkeit‘ wurde Anfang der 1920er Jahre im Ausgang der Malerei geprägt. Die Literatur der ‚Neuen Sachlichkeit‘ ist eine Spielart der literarischen Moderne, die sich als dominante Strömung seit Mitte der 1920er Jahre ausprägt.
Die Situierung in der Moderne ist produktiv und problematisch zugleich, denn in der fachwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre hat eine Ausweitung des Moderne-Begriffs stattgefunden, was eine zunehmende Unverbindlichkeit des Terminus mit sich brachte. Die ästhetische Beschaffenheit und Valenz der Texte selbst wird nun stärker in den Blick genommen. In der modernistischen Literaturbewegung bildet die ‚Neue Sachlichkeit‘ einen Endpunkt. Als eine kulturelle Dominante hebt sie sich aus den vielen Tendenzen und Strömungen der Weimarer Zeit deutlich heraus.
Die ‚Neue Sachlichkeit‘
Eine Epoche ist ein abgrenzbarer Zeitraum mit gemeinsamen Merkmalen von Texten und Autoren. Die Übergänge zwischen den Epochen sind fließend, es gibt regionale Unterschiede und eindeutige Grenzziehungen sind nicht möglich. Epochen können anhand verschiedener Merkmale wie der poetologischen sowie philosophischen Positionen der Autoren, historischen Kontexten, der Themenwahl, Gattungen und der institutionellen Einbindung der Literatur bestimmt werden.
Der Begriff ‚Neue Sachlichkeit‘ wurde Anfang der 1920er Jahre im Ausgang der Malerei geprägt. Ein Schlüsselereignis war eine Kunstaustellung in Mannheim 1923, die deren Leiter, G.F. Hartlaub mit dem Titel ‚Die neue Sachlichkeit‘ überschrieb. Er unterschied zwischen einer Richtung, die zum Klassizismus tendiert und einer kunstverneinenden realitätsbezogenen Richtung. In der Malerei ist die Neue Sachlichkeit als Gegenbewegung zum Expressionismus, Kubismus und den avantgardistischen Kunstrichtungen bewertet worden. Es geht um eine Hinwendung ‚zurück zum Gegenständlichen‘. Innerhalb der ‚Neuen Sachlichkeit‘ gilt der Verismus als eine sozialkritische Tendenz. Wichtige Vertreter sind George Grosz (1893-1959) und Otto Dix (1891-1969). Ihre Bilder können als Reflex auf die Traumatisierungen des ersten Weltkrieges gesehen werden, da das Hässliche realistisch erfasst wird.
Die Literatur der ‚Neuen Sachlichkeit‘ ist eine Spielart der literarischen Moderne, die sich als dominante Strömung seit Mitte der 1920er Jahre ausprägt. Die Situierung in der Moderne ist produktiv und problematisch zugleich denn in der fachwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre hat eine Ausweitung des Moderne-Begriffs stattgefunden, was eine zunehmende Unverbindlichkeit des Terminus mit sich brachte. Die ästhetische Beschaffenheit und Valenz der Texte selbst wird nun stärker in den Blick genommen. In der modernistischen Literaturbewegung bildet die ‚Neue Sachlichkeit‘ einen Endpunkt. Als eine kulturelle Dominante hebt sie sich aus den vielen Tendenzen und Strömungen der Weimarer Zeit deutlich heraus. Sie setzt sich deutlich vom Expressionismus ab, welcher zuvor das literarische Feld beherrschte, indem sie sich sehr stark der Faktizität zuwendet. Darüber hinaus unterscheiden sich die beiden literarischen Bewegungen hinsichtlich des Gebrauchscharakters von Literatur.
Für die Begriffsbildung und das Realitätsverständnis der ‚Neuen Sachlichkeit‘ insgesamt ist die Neufassung der Kategorien Gegenständlichkeit und Wesen bedeutend. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der Oberfläche umgewertet. Sie wird in einem dokumentarischen, quasi fotografischen Verfahren abgebildet und gestaltet, deshalb bleiben innere Vorgänge wie Gefühle weitgehend ausgespart. Die Oberfläche wird hier nicht analog zu einem dahinter verborgenen Inneren definiert. Sie wird vielmehr als das einzig Sichtbare, auf der alles Geschehen sich abspielt beschrieben und hinter der sich nur der leere Raum befindet. Die Bestimmung der Realität erfolgt in der ‚Neuen Sachlichkeit‘ über die manifestierte Funktionalität der Verläufe. Die literarische Szene in der gesamten Weimarer Zeit war äußerst heterogen. Die ‚Neue Sachlichkeit‘ zeigte sich zwar von Beginn an als eigenständige Strömung aber zur Zeit der Weimarer Republik konnte zunächst nach der oben angeführten Definition nicht von einer Epoche im engeren Sinn gesprochen werden. Ausschlaggebend dafür waren die Richtungsdivergenzen und Formunsicherheiten in der Literatur zwischen 1918 und 1933.
Dennoch hat sich der Begriff der ‚Neuen Sachlichkeit‘ durchgesetzt, da er die wesentlichen Züge der literarischen Strömung konzise und handhabbar in sich zu fassen vermag. Innerhalb der literarischen Strömung gibt es Divergenzen, die sich zum einen aus dem Grad der Komplexitätsreduktion ergeben, die sich durch die Frage beantworten lässt, inwiefern die Ästhetizität und Literatizität der Texte zugunsten des rein Dokumentarischen aufgeben werden und zum anderen ergeben sie sich aus unterschiedlichen politischen Positionen der Autoren. Durch die Forschungen von Sabina Becker wurde eine fundierte literaturanalytische Erfassung der ‚Neuen Sachlichkeit‘ ermöglicht. Eine grundlegende Neubestimmung der ‚Neuen Sachlichkeit‘ erfolgte ab Mitte der 1990er Jahre. Sodass sie nunmehr als Epochenbegriff gefasst wurde. Wesentliche Aspekte der ‚Neuen Sachlichkeit‘ sind die Offenheit zu bisher kunstfremden Phänomenen, wie Sport, Technik und Jazz sowie die zwei allseitig anerkannten Eigenschaften der ‚Neuen Sachlichkeit‘: die Hinwendung zur Alltagswelt, zu Tatsächlichkeiten und der schmucklose ‚veristische‘ Stil. Für Sabina Becker zeichnet sich die ‚Neue Sachlichkeit‘ durch eine Verbindung von fiktionalem und journalistischem Schreiben aus, wodurch eine beobachtende gestische Schreibweise gefördert wurde und der traditionelle allwissende Erzähler durch den beobachtenden Berichterstatter ersetzt wurde.
Idealtypisch können als zentrale Dimensionen der neusachlichen Ästhetik folgende bestimmt werden: Nüchternheit, Objektivität, Entsentimentalisierung, Präzisionsästhetik, Tatsachenpoetik, Realitätsbezug, Reportagestil, Antipsychologismus, Antiexpressionismus, Beobachtung, Gebrauchswertorientierung, Entindividualisierung, Vereinfachung, Unterhaltungsfunktion und Multimedialität.
Diese Dimensionen sollen in Anbetracht der Aspekte und Ausprägungen neusachlicher Literatur sowie historischen, politischen und kulturellen Kontexten genauer ausgeführt und anhand exemplarischer Werke verdeutlicht und veranschaulicht werden.
Die Stabilisierung und Krise der Weimarer Republik bilden einen Hintergrund der neusachlichen Diskurse. So herrschen zwei kollektive Bilder der Weimarer Republik im Bewusstsein der Nachwelt vor. Zum einen das Bild der ‚goldenen Zwanziger‘ und einer äußerst lebendigen und dynamischen Gesellschaft, die eine Blüte der Kultur erlebt. Zum anderen das einer krisengeschüttelten Republik, die über Inflation und kollektive Armut in die Weltwirtschaftskrise gleitet. Die Literatur in der Weimarer Republik ist zu großen Teilen Zeit-Literatur, so auch die Literatur der ‚Neuen Sachlichkeit‘. So ist die Gattung des Zeitromans spezifisch für die ‚Neue Sachlichkeit‘. Bekannte Zeitromane sind ‚Im Westen nicht Neues‘ von Erich Maria Remarque und ‚Fabian‘ von Erich Kästner.
Kollektive Zustände der Verunsicherung begleiten mentalitätsgeschichtlich die Weimarer Republik bis zu ihrem Ende. Helmuth Plessners ‚Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus‘ ist ein bedeutendes Werk für die Formierung der ‚Neuen Sachlichkeit‘. Es vermittelt Aspekte einer Zivilisationskrise, die über eine Wendung gegen das verbreitete Denken in Gemeinschaftskategorien zu einer ‚sachlichen‘ Verhaltenslehre, geprägt von einer größeren Freiheit des Einzelnen, leitet. Das Krisenparadigma bildete in der Frühphase der Forschung weitgehend auch die Grundlage für die Herleitung der ‚Neuen Sachlichkeit‘. So resultieren aus Modernisierungsphänomenen wie der Expansion der technischen Apparaturen, wissenschaftlicher Entdeckungen, neuen Formen sozialer Schichtung und Arbeitsorganisation sowie der Ausbreitung moderner Medien gesellschaftliche und literarische Veränderungen. Die neusachliche Literatur enthält ebenfalls sozialkritische Elemente, da sie die Charaktere in ihrer Rat und Orientierungslosigkeit zeigt.
Der Bezug in der ‚Neuen Sachlichkeit‘ zu krisenhaften wie stabilisierenden Elementen kann anhand einiger summarischer Merkmale festgestellt werden. Die Protagonisten der neusachlichen Literatur entsprechen weitgehend den Merkmalen der zentralen der Epoche. Ein neusachlicher Prototyp ist beispielsweise der angepasste, zugleich aber verunsicherte und nach Perspektiven suchende, von sozialer Deklassierung bedrohter Typus des Angestellten. In der Weimarer Republik entwickelte sich eine ausdifferenzierte Angestelltenkultur. Die Angestelltenschicht war überwiegend weiblich und großstädtisch geprägt. Ihre Ausprägung und Ausdifferenzierung resultieren aus der Technifizierung und Rationalisierung der Büroarbeit, einer verstärkten Konzernbildung sowie der Einführung in den USA entwickelter Zeit- und Leistungserfassungssysteme. Ein exemplarisches Beispiel ist die Figur des Germanisten Jakob Fabian aus Erich Kästners Großstadtroman ‚Fabian‘. So ist dieser zunächst Werbetexter und anschließend arbeitslos. Die Figur Fabian kann als in die Metropole verschlagenes und ihr hilflos ausgeliefertes Individuum verstanden werden. Bei den weiblichen Figuren fällt innerhalb der ‚Neuen Sachlichkeit‘ der wiederkehrende Typus der karriereorientierten, gut ausgebildeten und im persönlichen Habitus freizügige Frau. Dieser Typus wird sehr gut durch die Figur der Cornelia Battenberg in Kästners ‚Fabian‘ repräsentiert. Weitere Beispiele die Mentalitäten dieser Schichten durch einen analytischen, teils journalistischen und teilweise episch-literarischen Zugriff, nämlich durch die Konzentration auf die Oberflächenstruktur, zu erfassen, liefert Siegfried Kracauer. Er veröffentliche im Feuilleton der FAZ (1929/1930) die Serie ‚Die Angestellten‘, in welcher er deren schichtzugehörige Bewusstseinsformen und Sehnsüchte thematisiert. Gleichwohl versuchte er über eine neusachliche Bestandsaufnahme hinauszugehen. In einem Epitext klärt er über die Intention seines literarischen Handelns auf.
„Zitate, Gespräche und Beobachtungen an Ort und Stelle bilden den Grundstock der Arbeit. Sie sollen nicht als Exempel irgendeiner Theorie, sondern als exemplarische Fälle der Wirklichkeit gelten.“ (Kracauer 1971-2002, Bd. 1, 214)
Die Verhaltensweisen der Figuren werden als Reaktionsbildungen im Konflikt mit der Außenwelt gestaltet und neigen zur Externalisierung. Dazu tritt die epische Beobachterfunktion als Erzählperspektive hervor, die sich weitgehend auf das Äußere, Gegenständliche beschränkt. Ebenso stehen die Technikbegeisterung sowie Rationalisierungsprozesse im Einklang der sachlichen äußeren Darstellung, was wiederrum in Verbindung zur objektiven Schilderung steht. Diese persönliche Schilderung erfahrbarer Zustände und deren Bewältigung zeigt sich häufig in neusachlicher Literatur. Allerdings geschieht die Bewältigung nicht in Form von revolutionär-veränderbarer Aktion, sondern durch wehmütige Abfindung. ‚Mädchen an der Schreibmaschine‘ ist ein kurzer Prosatext von Mascha Kaleko, der genau diese wehmütige Abfindung und das Arbeitsleben, dessen autoritäre Strukturen und die Gefühle der Arbeitenden vermittelt.
„Und das Mädchen hinter der Schreibmaschine hat es gründlich satt. Macht ein Gesicht, das durchaus nicht zu dem lustigen Rot der neuen Bluse vom letzten Ausverkauf paßt. Und tut, als ob das immer so wäre. Und als säße es auf einer Insel mitten im Unglücksmeer, ganz allein mit seinen paar lumpigen Stenogrammen und seinem elenden Klapperkasten.“ (Kaleko 2001: 129)
Der Text ist gesellschaftskritisch. Einerseits wird die Monotonie des Arbeitslebens kritisiert und andererseits wird das Gedrücktsein, die Einsamkeit und Unsicherheit in der damaligen Gesellschaft thematisiert. Im letzten Absatz wird durch das Wochenende eine mögliche Ausflucht aus der beschriebenen Problematik angesprochen.
„Montag bis Freitag findet Alltag statt. – Sonnabend Mittag um zwei aber fängt der Sonntag an.“ (ebd.)
Die Autoren der ‚Neuen Sachlichkeit‘ waren eher individuelle Einzelgänger, die sich über die großen Verlage und Massenmedien austauschten. Der multimediale Autor entstand zu dieser Zeit. Einen literarischen Schwerpunkt bildete Berlin. Die Tätigkeit vieler Autoren für die Massenmedien ist ein Indiz der Annäherung des literarischen Schreibens an den Journalismus. Zwei Subgattungen entwickelten sich im Zusammenhang der beschriebenen Vorgänge und zeigen gleichermaßen das Realitäts- und Literaturverständnis der ‚Neuen Sachlichkeit‘; das Zeitstück und die Reportage. Die Metropole Berlin wurde schon als bedeutender Schauplatz erwähnt, jedoch gab es Formen neusachlichen Schreibens auch in anderen Großstädten. Sodass die Bedeutung der Metropolen für die Entstehung der Literatur der ‚Neuen Sachlichkeit‘ nicht geleugnet werden kann. Die Metropolen weisen eine Konzentration des Verlags- und Pressewesens, eine Entwicklung neuer Medien (Film, Radio) und eine florierende Unterhaltungsindustrie auf.
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- Arbeit zitieren
- Thomas Bäcker (Autor:in), 2015, Die Neue Sachlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/353934
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