Seit den sechziger Jahren sind Sinnkritik und Erkenntnisskepsis zunehmend zu Merkmalen der postmodernen Literatur geworden. Von dieser Bewegung wurde auch die gegenwärtige Geschichtsfiktion ergriffen. Im Bereich des Geschichtsdramas ist eine Entwicklung zu beobachten, die von Sinndekonstruktion bis zur Behauptung der Absurdität von Geschichte führt. Tom Stoppards Drama Travesties bildet innerhalb dieses Verlaufs einen Höhepunkt. Geschichtsfiktion ist sowohl der Literatur als auch der Historiographie zuzuordnen, da sie gattungsmäßig sowohl an Fiktion als auch an Geschichtsschreibung Anteil hat.
Im folgenden wird daher zunächst auf das Verhältnis von Historiographie und Literatur eingegangen. Weiterhin wird die die Dekonstruktion von Objektivität und Wahrheit sowohl in der Geschichtstheorie der letzten Jahrzehnte als auch in der postmodernen Literatur dargestellt. Im Anschluss wird Tom Stoppards Travesties mithilfe der gewonnenen Erkenntnisse beleuchtet.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Verhältnis von Historiographie und Literatur
3. Dekonstruktion von Objektivität und Wahrheit in der Geschichtstheorie
4. Sinndekonstruktion in der postmodernen Literatur
4.1 Postmoderne Weltanschauung
4.2 Postmodernes Erzählen
5. Tom Stoppards Travesties
5.1 Inhaltsabriss
5.2 Gattungseinordnung
5.3 Die Fiktionalisierung der Geschichte
5.3.1 Formale Merkmale der Fiktionalisierung
5.3.1.1 Intertextualität
5.3.1.2 Metafiktionale Thematik
5.3.1.2.1 Konstruktcharakter der Geschichtsdarstellung
5.3.1.2.2 Subjektivität des Historikers
5.3.1.2.3 Gebundenheit an narrative Diskurse
5.3.2 Fiktionalisierung auf inhaltlicher Ebene
6. Schluss
Anhang: Literaturverzeichnis
Geschichtsfiktion in der postmodernen Literatur am Beispiel von Tom Stoppards Travesties
1. Einleitung
Seit den sechziger Jahren sind Sinnkritik und Erkenntnisskepsis zunehmend zu Merkmalen der postmodernen Literatur geworden. Von dieser Bewegung wurde auch die gegenwärtige Geschichtsfiktion ergriffen. Im Bereich des Geschichtsdramas ist eine Entwicklung zu beobachten, die von Sinndekonstruktion bis zur Behauptung der Absurdität von Geschichte führt. Tom Stoppards Drama Travesties bildet innerhalb dieses Verlaufs einen Höhepunkt. Geschichtsfiktion ist sowohl der Literatur als auch der Historiographie zuzuordnen, da sie gattungsmäßig sowohl an Fiktion als auch an Geschichtsschreibung Anteil hat.
Im folgenden wird daher zunächst auf das Verhältnis von Historiographie und Literatur eingegangen. Weiterhin wird die die Dekonstruktion von Objektivität und Wahrheit sowohl in der Geschichtstheorie der letzten Jahrzehnte als auch in der postmodernen Literatur dargestellt. Im Anschluss wird Tom Stoppards Travesties mithilfe der gewonnenen Erkenntnisse beleuchtet.
2. Das Verhältnis von Historiographie und Literatur
Geschichtsschreibung ist bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als Teil der Literatur angesehen worden. Historiographie wurde bis dahin nach Aspekten wie sprachlicher Vollendung und erzieherischem Wert beurteilt.
Eine deutliche Unterscheidung zwischen Historiographie und Literatur entstand erst, als die Geschichtsschreibung für sich beanspruchte, allgemein gültige Wahrheiten über Ereignisse der Vergangenheit zu verbreiten. Die Trennlinie zwischen Historiographie und Literatur wurde verschärft durch die Bewegung des Modernismus und die zunehmende Wissenschaftlichkeit der Historiographie im 20. Jahrhundert.
Die bisher gültigen Ansichten von den Differenzen geschichtlicher und literarischer Werke wurden in der Postmoderne tief erschüttert. Dies geschah sowohl innerhalb der Historik als auch durch Werke, welche als Hybride zwischen beiden Textgattungen anzusehen sind.
Die Geschichtstheorie hat die traditionelle Differenzierung zwischen Historiographie und Literatur insofern unterlaufen, als sie den Konstruktcharakter und die Subjektgebundenheit historischer Erkenntnis in den Blick gerückt hat.[1]
3. Dekonstruktion von Objektivität und Wahrheit in der Geschichtstheorie
Vor über fünfzig Jahren wurde ein bedeutende Umbruch ausgelöst, infolgedessen die Geschichtstheorie zunehmend Ansichten der Postmoderne übernahm. Maßgeblich dazu beigetragen hat Robin G. Collingwoods Werk The Idea of History.[2]
Darin wehrt er sich gegen die Ansicht, durch das Studium von geschichtlichen Quellen gelange man zu objektiver Erkenntnis über vergangene Geschehnisse. Geschichtsschreibung könne nicht allein durch die Beschäftigung mit Quelltexten und deren Zusammensetzung erfolgen. Dies begründet Collingwood damit, dass historische Quellen nie ganz zuverlässig sind, sondern im Gegenteil meist unvollständig und selten widerspruchsfrei.[3]
Entscheidend für die Wende in der Geschichtstheorie ist neben den Zweifeln an der Objektivität historischer Erkenntnis außerdem der Vorwurf Collignwoods, die Geschichtsschreibung wolle sich Geltung verschaffen, indem sie historische Gegebenheiten mit einem universalen Sinn versehe. Einzelereignisse würden in einem Kontext darstellt, der mit einem fiktiven System gleichzusetzen sei.[4]
Nach Hayden White ist sich von der Vorstellung eines allgemein gültiger Sinns für die Weltgeschichte aufgrund einer Vielzahl möglicher Auslegungen von historischen Ereignissen zu lösen. Der Sinn von Geschichtsschreibung könne höchstens in der Verbreitung dieser unterschiedlichen Auslegungen begründet sein.[5]
Weiterhin beeinflusste Collingwood die neuere Historik dahingehend, dass er das Bewusstsein für Ähnlichkeiten in der Textentstehung von Literatur und Historiographie geschärft hat. Beide Gattungen haben diesbezüglich dieselben Prämissen zu erfüllen. Sowohl literarische als auch historische Werke müssten in der Darstellung logisch, konsistent und plausibel erscheinen, weshalb sich Geschischtsschreibung und Literatur gleicher erzählerischer Verfahren bedienen.[6]
Die Ansichten Collingwoods wurden in der Folgezeit durch andere Historiker indes verschärft. Das lässt sich einmal für den Konstruktcharakter von Geschichte feststellen. Während Collingwood die Ursache hierfür darin sieht, dass historische Quellen nie vollständig und widerspruchsfrei sind, geht Danto davon aus, die Konstruktion von Geschichte lasse sich grundsätzlich nicht vermeiden. Auch eine vollständige Chronik, die alle Geschehnisse tatsachengetreu und zuverlässig wiedergibt, verlange prinzipiell nach Konstruktion. Andernfalls fehle ihr die Einheitlichkeit, von der jede Geschichte lebt.
Diese aber könne nur durch Strukturierung nach Sinnhaftigkeit und Auswahl nach Bedeutungsgehalt erreicht werden.[7] Signifikanz besitzen geschichtliche Vorfälle jedoch nicht von sich aus. Ihre Bedeutung gewinnen sie vielmehr erst durch die Geschehnisse der darauf folgenden Zukunft. Historische Ereignisse hängen also grundsätzlich von gegenwärtigen Umständen ab.[8] Geschichtsschreibung unterliegt folglich immer einer gewissen Subjektivität, die von der Selektion und Interpretation des Historikers herrührt.[9]
Eine weitere Schwierigkeit bezüglich der historischen Erkenntnis liegt für Danto in der Distanz zwischen erzählter Zeit und Zeitpunkt der Abfassung der Erzählung. Geschichte wird nicht aus der Sicht eines Zeitgenossen erzählt, sondern entsteht aus dem Rückblick des Historikers. Aufgrund der zeitlichen Entfernung sei es dem Berichterstatter wohl kaum möglich, Motive und Gedanken der Menschen aus vergangener Zeit authentisch wiederzugeben.[10]
Schaff weist auf Aspekte hin, die wissenschaftliche Erkenntnis grundsätzlich relativieren, nämlich erkenntnisleitende Interessen und Standortgebundenheit des erkennenden Subjekts. Auch die historische Forschung kann sich nicht lösen von der Orientierung an spezifischen Interessen und der Abhängigkeit von jeweiligen Standorten. Beides führe unweigerlich zu Parteinahme und demzufolge einseitigen Darstellungen der Vergangenheit.[11]
Die Dekonstruktion von Objektivität und Wahrheit lässt sich ferner mit den Vermittlungsmodi geschichtlicher Erkenntnis begründen. Nach Stierle gehören Historiographie und Literatur im Gegensatz zu den Naturwissenschaften zum "narrativen Diskurs".[12] Das lässt sich zum einen mit den bereits erwähnten Überlegungen Dantos zum zeitlichen Abstand zwischen Ereignis und Berichterstattung begründen. Zum anderen besteht Geschichte im Gegensatz zur Chronik nicht aus einer reinen Aufzählung von Ereignissen. Diese werden vielmehr in einen übergeordneten Sinnzusammenhang gestellt. Ein historisches Ereignis in Form einer Geschichte darzustellen heißt für Stierle, sie nach Anfang und Ende zu ordnen. Dies erfordert jedoch die Auswahl von Teilereignissen nach dem Prinzip der Teleologie.[13]
Die Kohärenz einer Geschichte unterstützt ferner ein "intentionaler Fokus", durch den das zuvor Beabsichtigte am Ende als erreicht oder nicht erreicht erscheint.[14]
Geschichte wird also auch deshalb fiktionalisiert, weil historische Begebenheiten weniger nach vom Objekt vorgegebenen, als vielmehr vom Subjekt gewählten narrativen Kriterien strukturiert werden. Die diskutierten Ansätze weisen damit die von der Historik einst beanspruchte Wahrheit und Objektivität letztendlich als Konstrukt aus.
4. Sinndekonstruktion in der postmodernen Literatur
Im folgenden werden wesentliche Charakteristika der Postmoderne dargestellt und mit den Entwicklungen in der Geschichtstheorie in Beziehung gesetzt. Hierbei wird zunächst die postmoderne Weltsicht behandelt, bevor auf das postmoderne Erzählen selbst eingegangen wird.
4.1 Postmoderne Weltanschauung
Ein wichtiges Merkmal der Postmoderne ist die Fiktionalisierung von Wirklichkeitserfahrung. In der Literatur der Postmoderne wird nicht nur die Geschichte, sondern unsere gesamte Weltsicht als irreal aufgefasst. Die bisherige Trennung von Realität und Fiktion existiert in der Postmoderne nicht mehr. Es wird mit der durch Wissenschaft bzw. Religion geschaffenen Anschauung einer abschließenden Erklärung der Welt gebrochen. Aus postmoderner Sicht haben die Menschen keinen unmittelbaren Zugriff zur Welt. Stattdessen werde ihnen Welterfahrung vor allem aufgrund medialer Entwicklungen verfälscht übermittelt.[15]
Ein weiteres Element postmoderner Weltsicht ist die Gebundenheit unserer Wirklichkeitserfahrung an die Sprache. Diese vermag die Realität in ihrer Komplexität nicht abbilden. Über eine Realität außerhalb der Sprache aber lassen sich keine Aussagen treffen. Hiermit wird die Dekonstruktion jeglichen Sinns begründet.[16]
Ein drittes Charakteristikum stellt die Dezentrierung des erkennenden Subjekts dar. Es verliert in der Postmoderne infolge der Subjektivität von Erkenntnis seinen Anspruch, als Teil der objektiven Realität Sinn zu stiften und wird damit selbst zum "Zeichenprodukt".[17]
4.2 Postmodernes Erzählen
Das postmoderne Erzählen ist geprägt von der Demontage etlicher Merkmale realistischen Erzählens. Zu diesen zählt einmal die Mimesisfunktion von Literatur. Die traditionelle Ordnung der Handlung nach Raum und Zeit wird aufgebrochen. Sie wird nicht mehr von einem allwissenden Erzähler oder Autor vermittelt. Statt dessen findet sich in der postmodernen Erzählung eine Diskontinuität von Raum und Zeit.
Während Texte in der Historiographie zumindest nach einem willkürlich vom Subjekt erzeugten Sinn aufgebaut sind, werden die Prinzipien Kausalität und Teleologie in der postmodernen Erzählung gänzlich aufgegeben. Typisch ist dagegen die Aufsplitterung der Handlung in verschiedene, gleichwertige Alternativen.[18]
Daraus ergibt sich ein weiteres Kennzeichen der Postmoderne, nämlich die Veränderung der Autorenidentität. Dieser verliert seine Autorität zur Interpretation und wird zur "Reflektorfigur" degradiert. Seine Aufgabe besteht lediglich darin, Inhalte zu verarbeiten und weiterzugeben. Der Autor spielt in der postmodernen Erzählung keine Rolle mehr und "stirbt" schließlich.[19]
Ist die Mimesis der Wirklichkeit nicht mehr möglich, kann die Fiktion nur noch auf sich selbst verweisen. In der postmodernen Literatur wird diese Autoreferentialität an einer Vielzahl von Erzähltechniken deutlich, die als Illusionsdurchbrechung bezeichnet werden.[20]
Dazu gehört zunächst die Intertextualität. Die wechselseitige Bezugnahme von mindestens zwei Texten kann durch Zitate sowie Ähnlichkeiten in Form, Inhalt oder Sprache erreicht werden.[21]
Ein weiteres Verfahren der Illusionsdurchbrechung ist die metafiktionale Thematisierung der Fiktionalität eines Textes oder fiktiver Erzählformen generell. Illusionsdurchbrechung besitzt hier jedoch nicht die Funktion, den Leser zur Realität zu führen, sondern ihm die Fiktionalität der Welterfahrung zu demonstrieren.[22]
Die wichtigste Aufgabe postmoderner Literatur liegt in der Kritik bestehender Sinnsysteme. Diese erfolgt durch das gleichwertige Nebeneinander verschiedener Alternativen, die sich gegenseitig relativieren oder aufheben.[23] Mit der Zurückweisung vorgefertigte Sinnsysteme und der Hervorhebung des Rezeptionsmoments wird statt des Autors der Leser ins Zentrum der Sinnstiftung gestellt. Der einst passive Rezipient soll zum aktiven Gestalter werden.[24]
[...]
[1] Nünning 2001: 250 f.
[2] Collingwood 1951
[3] Ebd.: 257 - 261
[4] Ebd.: 263 - 266
[5] White 1994: 154 f.
[6] Collingwood 1951: 266 - 274
[7] Danto 1965: 149
[8] Ebd.: 168
[9] Ebd.: 142
[10] Ebd.
[11] Schaff 1975: 46
[12] Stierle 1979: 90
[13] Ebd.: 92
[14] Ebd.
[15] Nünning 2001: 522
[16] Ebd.: 524
[17] Ebd.: 524
[18] Löffler/Freiburg/Petzold/Späth 2001: 112
[19] Ebd.: 333
[20] Ebd.: 113
[21] Ebd.: 100
[22] Ebd.: 113
[23] Ebd.: 105
[24] Ebd.: 108
- Arbeit zitieren
- Anne Axmacher (Autor:in), 2004, Geschichtsfiktion in der postmodernen Literatur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31954
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