Im Kern dieses Essays steht die Frage, inwieweit sich der Zusammenhang zwischen dem Wachstum der deutschen Gymnasien und einem (vermeintlichen) gleichzeitigen pädagogischen Qualitätsverlust und eine mögliche Entwertung von Bildungsabschlüssen durch demographische Daten, historische Einflüsse und veränderte Bildungsverhalten bestätigen oder entkräften lassen kann.
Dabei werden zunächst einige Entwicklungstendenzen sowie statistische Aspekte berücksichtigt und Ursachen der Bildungsexpansion während der letzten 60 Jahre innerhalb Deutschlands untersucht, um im weiteren Verlauf ihre historischen wie zukünftigen Folgen bewerten zu können.
In einem weiteren Schritt werden einige aktuelle Pressestimmen kommentiert und in Hinblick auf die Thesen Hartmut Titzes, der die aktuellen Effekte der Bildungsexpansion als Teil einer strukturhistorischen Entwicklung begreift, untersucht, um schließlich zu der Gesamtbewertung eines möglichen Qualitätsverlusts innerhalb des Gymnasiums kommen zu können.
Bildungsexpansion in Deutschland am Beispiel des Gymnasiums
Zum Zusammenhang zwischen Bildungsexpansion und (vermeintlichem) Qualitätsverlust
„So viele Abiturienten, das liegt unmittelbar auf der Hand, können weder selbst alle geeignet sein, höhere Berufe auszuüben, noch können ihnen dafür ausreichend Stellen zur Verfügung stehen“[1]. So kommentierte Johan Schloemann in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung 2010 die Folgen der Bildungsexpansion und reagierte damit auf eine Debatte, die mit einem Wachstum der deutschen Gymnasien einen gleichzeitigen pädagogischen Qualitätsverlust und eine mögliche Entwertung von Bildungsabschlüssen assoziiert.
Im Kern dieses Essays soll im Folgenden die Frage stehen, inwieweit sich diese Befürchtungen durch demographische Daten, historische Einflüsse und veränderte Bildungsverhalten bestätigen oder entkräften lassen. Dabei werden zunächst einige Entwicklungstendenzen sowie statistische Aspekte berücksichtigt und Ursachen der Bildungsexpansion während der letzten 60 Jahre innerhalb Deutschlands untersucht, um im weiteren Verlauf ihre historischen wie zukünftigen Folgen bewerten zu können. In einem weiteren Schritt werden einige aktuelle Pressestimmen kommentiert und in Hinblick auf die Thesen Hartmut Titzes, der die aktuellen Effekte der Bildungsexpansion als Teil einer strukturhistorischen Entwicklung begreift, untersucht, um schließlich zu der Gesamtbewertung eines möglichen, von Schloemann attestierten, Qualitätsverlusts innerhalb des Gymnasiums kommen zu können.
Definition, Entwicklungstendenz und Bedeutung
Andreas Hadjar und Rolf Becker definieren den Begriff der Bildungsexpansion als Ergebnis der „ gestiegene [n] Bildungsbeteiligung, [der] längere [n] Verweildauer im Bildungssystem und [der] beschleunigte [n] Zunahme höherer Schulabschlüsse nach den Bildungsreformen in den 1960er und 1970er Jahren“[2]. Laut Helmut Fend sei das gesamte 20. Jahrhundert durch das Phänomen der Bildungsexpansion gekennzeichnet und seit den 1950er Jahren habe sich dieser Prozess (weltweit) hochgradig beschleunigt[3] – seit den 1990er Jahren sei diese Expansion in Deutschland mit Bezug auf das Gymnasium jedoch zu einem Stillstand gekommen, welcher sich bereits seit Anfang/Mitte der 1980er Jahre abgezeichnet hätte[4]. Ausgangspunkt für die Bildungsexpansion waren die jährlich steigenden Geburtenzahlen in der Bundesrepublik Deutschland seit Beginn der 1950er Jahre bis Mitte der 1960er Jahre (auf etwa 800.000 jährlich), welche nach 1967 binnen zehn Jahren auf etwa 600.000 sanken, dieses Niveau bis Mitte der 1980er Jahre hielten und bis 1990 auf etwa 700.000 jährliche Geburten anstiegen[5]. Gerd Hepp verweist darauf, dass das deutsche Bildungssystem während dieser Zeit völlig unterschiedlichen Herausforderungen ausgesetzt gewesen sei – etwa zwischen 1975 und 1985, in der die gymnasiale Sekundarstufe I Höchstbelastungen ausgesetzt war, während sich die Grundschulen leerten und die Hochschulen massiven Andrang hatten – ohne dass gravierende strukturelle oder systematische Reformmaßnahmen vorgenommen worden seien[6]. Trotz dieser systemimmanenten Herausforderungen versteht Helmut Fend die Bildungsexpansion und insbesondere die Möglichkeit, weiterführende Bildungsgänge (in einem gewissen Maß) allen sozialen Schichten der Bevölkerung zugänglich gemacht zu haben, als eine der bildungspolitischen Kernerrungenschaften des 20. Jahrhunderts[7].
Befund, Ursachen und Folgen der Bildungsexpansion
Historisch betrachtet ist die Bildungsexpansion dabei, neben den demographischen Einflüssen, vor allem ein Produkt stetigen technischen Fortschritts und anhaltenden wirtschaftlichen Wachstums innerhalb Deutschlands während der letzten 150 Jahre[8]. Hadjar und Becker skizzieren dabei eine dreiphasige Entwicklungslinie, die von der Etablierung nationaler Bildungssysteme Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, über die Aufhebung des parallelen Verlaufs von Volksschule und Gymnasium während der Weimarer Republik bis zur Öffnung der Gymnasien und höheren Sekundarschule nach Ende des 2. Weltkrieges innerhalb der Bundesrepublik Deutschland führt[9]. Konnte die Volksschuloberstufe in den 1950er Jahren mit einem relativen Schulbesuch von 70% als eigentliche Gesamtschule der BRD gelten, begann in den 1960er Jahren der kontinuierliche Bedeutungsverlust der Hauptschule, welcher sich in den kommenden Jahrzehnten weiter verschärfen sollte[10]. Während das Gymnasium bis in die 1960er Jahre eine hochselektive Schulform war, welche den Vorstellungen einer sozial homogenen Elitebildung entsprach und bei der restriktive Aufnahmeregelungen, ein unausgeglichenes regionales Angebot und eine soziale Distanz schaffende Aura als Barrieren wirkten[11], erhöhte sich im Zeitraum zwischen 1960 und 1980 die Zahl der Gymnasiasten um das Zweieinhalbfache und führte letztendlich zu einer heterogeneren Schülerschaft in Hinblick auf deren soziale Herkunft[12]. Dabei wurde die Bildungsexpansion durch die Verlängerung der Vollzeitschulpflicht von 8 auf 9 Jahre Anfang der 1960er Jahre, ihre spätere Anhebung auf 10 Jahre in einigen Bundesländern[13], die Verbesserung der Schulversorgung, insbesondere im Realschulbereich, die Abschaffung punktueller Aufnahmeprüfungen sowie einer allgemeinen Senkung verschiedener Selektionsschwellen[14] zusätzlich beschleunigt. Die Folgen dieser historischen Verschiebung in Richtung Realschule und Gymnasium unterstreichen die statistischen Daten zum relativen Schulbesuch der Vierzehnjährigen im Jahr 2000 – etwa 30% der Schülerinnen und Schüler besuchten in dieser Zeit das Gymnasium, 24% Realschulen, etwa 22% Grund- und Hauptschulen und etwa 10% Gesamtschulen[15]. Gleichzeitig wird im Vergleich zur den Zahlen von 1975 (45% Hauptschule, 20% Gymnasium, 20% Realschule) vor allem der Bedeutungsverlust der Hauptschule einerseits, sowie das enorme Wachstum der Gymnasien und Realschulen andererseits, als die nun vorherrschenden Schulformen in Deutschland, ersichtlich[16].
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[1] Schloemann, Johan: Klassenbewusstsein. Das Land braucht nicht viele Abiturienten, sondern bessere. Sonst verliert das Gymnasium seine Bedeutung als höhere Bildungsanstalt, in: Süddeutsche Zeitung, 06./07.02.2010, München 2010, Sp. 2.
[2] Hadjar, Andreas/Becker, Rolf: Bildungsexpansion – erwartete und unerwartete Folgen, in: Hadjar, Andreas/Becker, Rolf (Hrsg.): Die Bildungsexpansion. Erwartete und Unerwartete Folgen. Wiesbaden 2006, S. 11-24, online verfügbar: http://link.springer.com/book/10.1007/978-3-531-90325-5/page/1 (zuletzt geprüft am 23.08.2013), hier S. 12.
[3] Vgl. Fend, Helmut: Geschichte des Bildungswesens. Der Sonderweg im europäischen Kulturraum, Wiesbaden 2006, S. 203.
[4] Vgl. Fend, S. 204.
[5] Vgl. Hepp, Gerd F.: Bildungspolitik in Deutschland. Eine Einführung, Wiesbaden 2011, S. 74.
[6] Vgl. Hepp, S. 76; Cortina, Kai S./Baumert, Jürgen/Leschinsky, Achim/Mayer, Karl Ulrich/Trommer, Luitgard (Hrsg.): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 57.
[7] Vgl. Fend, S. 202.
[8] Vgl. Hadjar/Becker, S. 12f.
[9] Vgl. Hadjar/Becker, S. 12f.
[10] Vgl. Cortina/Baumert/Leschinsky/Mayer/Trommer, S. 77.
[11] Vgl. Cortina/Baumert/Leschinsky/Mayer/Trommer, S. 514.
[12] Hadjar/Becker, S. 12f.
[13] Vgl. Cortina/Baumert/Leschinsky/Mayer/Trommer, S. 58.
[14] Vgl. Cortina/Baumert/Leschinsky/Mayer/Trommer, S. 78-80.
[15] Vgl. Cortina/Baumert/Leschinsky/Mayer/Trommer, S. 79.
[16] Vgl. Cortina/Baumert/Leschinsky/Mayer/Trommer, S. 79-82.
- Citar trabajo
- B.A. Thomas Schulze (Autor), 2013, Bildungsexpansion in Deutschland am Beispiel des Gymnasiums, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/262942
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