1. Einleitung
Erving Goffman schreibt in seinem Buch „Stigma“ über die Situation des Individuums, das von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen ist. Dabei wird unter einem Stigma eine besondere Andersartigkeit verstanden, sei sie körperlich, seelisch oder erblich bedingt.
Goffman untersuchte dabei verschiedene Personengruppen, die Stigmatisierte akzeptieren, z.B. solche, die selber stigmatisiert sind oder solche, die mit dem Stigmatisierten zusammenleben oder zusammen arbeiten.
Dabei stellt sich die Frage, inwiefern bei in eine Klinik eingewiesenen psychisch Kranken eine Stigmatisierung dieser durch das Krankenhauspersonal und durch andere psychisch Kranke erfolgt. [...]
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
2. STIGMA
3. ASYLE. DIE MORALISCHE KARRIERE DES GEISTESKRANKEN
4.BEANTWORTUNG DER FRAGESTELLUNG
5. KRITIK AM BEGRIFF DES WEISEN
6. LITERATURVERZEICHNIS
1. Einleitung
Erving Goffman schreibt in seinem Buch „Stigma“ über die Situation des Individuums, das von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen ist.
Dabei wird unter einem Stigma eine besondere Andersartigkeit verstanden, sei sie körperlich, seelisch oder erblich bedingt.
Goffman untersuchte dabei verschiedene Personengruppen, die Stigmatisierte akzeptieren, z.B. solche, die selber stigmatisiert sind oder solche, die mit dem Stigmatisierten zusammenleben oder zusammen arbeiten.
Dabei stellt sich die Frage, inwiefern bei in eine Klinik eingewiesenen psychisch Kranken eine Stigmatisierung dieser durch das Krankenhauspersonal und durch andere psychisch Kranke erfolgt.
2. Stigma
Nach Goffman kann diese Andersartigkeit, die zur Stigmatisierung führen kann, aus einer physischen Deformation, z.B. ein fehlendes Bein, einem individuellen Charakterfehler, z.B. psychische Krankheit, oder aus einem phylogenetischem Stigmata, das von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben wird, z.B. Rasse, bestehen. Das stigmatisierte Individuum wird mit negativen Attributen von der Gesellschaft versehen. Die Andersartigkeit wird dabei als Abweichung von normativen Erwartungen empfunden, wobei diejenigen, die nicht von den jeweiligen normativen Erwartungen abweichen, als die „Normalen“ bezeichnet werden.
Die Zuschreibung von Attributen ist abhängig von dem, was Goffman als virtuale soziale Identität und als aktuale soziale Identität unterscheidet.
Bei der virtualen sozialen Identität erfolgt die Zuschreibung bezüglich einer bestimmten Personenkategorie, der ein bestimmtes Individuum zugeordnet wird, über vermutbare, nicht gesicherte Eigenschaften.
Die aktuale soziale Identität konstituiert sich im Gegensatz dazu aus den tatsächlich wahrgenommenen und somit gesicherten Attributen.
Stimmt die virtuale soziale Identität nicht mit der aktualen Identität überein, wird das Individuum umdefiniert und einer anderen Personenkategorie zugeordnet. Diejenigen, deren negative Attribute offensichtlich und von vorhinein bekannt sind, werden die Diskreditierten genannt, z.B. psychisch Kranke gegenüber dem Personal einer psychiatrischen Anstalt: „Wenn es eine Diskrepanz zwischen der aktualen sozialen Identität eines Individuums und seiner virtualen Identität gibt, ist es möglich, daß uns dieses Faktum bekannt ist, noch bevor wir Normale den Kontakt zu ihm aufnehmen, oder daß es ganz evident ist, wenn das Individuum sich uns vorstellt.“1 Diejenigen, deren negative Attribute nicht offensichtlich oder von vorhinein bekannt sind, werden die Diskreditierbaren genannt, z. B. psychisch Kranke gegenüber Fremden in der Öffentlichkeit: „Wenn jedoch ihre Andersartigkeit nicht unmittelbar offensichtlich und nicht von vornhinein bekannt ist (oder wenigstens ihr nichts darüber bekannt ist, daß sie den anderen bekannt ist), dann ist [wenn] sie tatsächlich eine diskreditierbare, nicht eine diskreditierte Person.“2
Beim Stigmatisiertem wird die Grundvoraussetzung, daß das Individuum als geheiligt gewürdigt werden muß, nicht erfüllt. Das bedeutet, daß Beachtung, vollständige soziale Akzeptanz und Respekt, die der Stigmatisierte seinem Gegenüber zeigt, von diesem dem Stigmatisiertem gegenüber nicht erwidert wird. Dadurch ist die Reziprozität, die Wechselseitigkeit, gestört.
Diese Reziprozität bleibt bei „teilnehmenden Anderen“ bestehen, die dem Stigmatisiertem Akzeptanz, Respekt und Beachtung entgegenbringen. Goffman unterscheidet dabei zwei Kategorien: einmal „Seinesgleichen“ und einmal „Weise“. Seinesgleichen sind solche, die sein Stigma teilen: „Da sie aus eigener Erfahrung wissen, was es bedeutet, dieses bestimmte Stigma zu haben, können einige von ihnen das Individuum mit den besonderen Berufstricks und einem Lamentierkreis versorgen, in den es sich zurückziehen kann zur moralischen Unterstützung und wegen des Behagens, sich zu Hause , entspannt, akzeptiert zu fühlen, als eine Person, die wirklich wie jede andere normale Person ist.“3 Da sie das gleiche Stigma besitzen, empfinden sie sich der gleichen Gruppe bzw. Stigmakategorie zugehörig. Die andere Kategorie, die der Weisen, akzeptiert Stigmatisierte und gibt diesen das Gefühl, normal zu sein: „Die „Weisen“, nämlich Personen, die normal sind, aber deren besondere Situation sie intim vertraut und mitfühlend mit dem geheimen Leben der Stigmatisierten gemacht hat und denen es geschieht, daß ihnen ein Maß von Akzeptierung, eine Art von Ehrenmitgliedschaft im Clan zugestanden wird. Weise Personen sind Grenzpersonen, vor denen das Individuum mit einem Fehler weder Scham zu fühlen noch Selbstkontrolle zu üben braucht, weil es weiß, daß es trotz seines Mangels als ein gewöhnlicher anderer gesehen wird.“4
Dabei unterscheidet Goffman zwei Typen von Weisen: „Ein erster Typus eines Weisen ist derjenige, dessen Weisheit daher kommt, daß er in einer Einrichtung arbeitet, die entweder den Bedürfnissen der Stigmatisierten einer bestimmten Art dient oder den Aktionen, die die Gesellschaft in Hinblick auf diese Personen unternimmt.“5 Durch den Kontakt im Berufsleben oder in der Alltagsstruktur werden die Stigmatisierten von den Weisen als Normale akzeptiert.
„Ein zweiter Typ einer weisen Person ist das Individuum, das durch die Sozialstruktur mit einem stigmatisiertem verbunden ist- eine Verbindung, die die größere Gesellschaft dazu führt, beide Individuen in gewisser Hinsicht als eins zu behandeln.“6 Bei Personen, die diskreditiert sind, besteht für diese Weisen die Gefahr, ebenfalls stigmatisiert zu werden, während für Weise, die mit Diskreditierbaren verbunden sind, nur die Möglichkeit der Stigmatisierung besteht. Wie das Stigma dahin tendiert, sich auch auf die nahen Beziehungen des Stigmatisierten auszuwirken, werden solche Beziehungen vermieden oder, falls sie schon bestehen, abgebrochen.
Stigmatisierte machen hinsichtlich ihrer Andersartigkeit ähnliche Lernerfahrungen und Veränderungen in der Selbstauffassung. Diesen Lernerfahrungen und Veränderungen in der Selbstauffassung folgen meist ähnliche persönliche Anpassungen. Diese schrittweisen Anpassungen bezeichnet Goffman als den „moralischen Werdegang“. Er unterscheidet zwei Phasen dieses Sozialisationsprozesses: „Eine Phase dieses Sozialisationsprozesses ist die, in welcher die stigmatisierte Person den Standpunkt der Normalen kennenlernt und in sich aufnimmt und hierbei den Identitätsglauben der weiteren Gesellschaft und eine allgemeine Vorstellung davon erwirbt, wie es sein würde, ein bestimmtes Stigma zu besitzen. Eine andere Phase ist die, in welcher sie lernt, daß sie ein bestimmtes Stigma besitzt, und diesmal im Detail die Konsequenz davon, es zu besitzen.“7 Diese zwei Anfangsphasen bewirken verschiedene Verhaltensmuster, die die Basis für die spätere Entwicklung darstellen. Goffman erwähnt hierbei vier solcher Verhaltensmuster: „Ein erstes Muster umfaßt diejenigen mit einem angeborenem Stigma, die gerade dann in ihre unvorteilhafte Situation sozialisiert werden, wenn sie die Standards, die sie nicht erreichen, kennenlernen und in sich aufnehmen.“8
Das zweite Verhaltensmuster beinhaltet diejenigen, die von Geburt an stigmatisiert sind, aber durch eine schützende Kapsel, z.B. die Familie, vor der moralischen Erfahrung durch die Öffentlichkeit geschützt werden. Die stigmatisierte Person wird dann lernen, „daß das „Eigene“, das es zu besitzen glaubte, das falsche war, und daß dies weniger Eigene wirklich seines ist.“9 Der Zeitpunkt, an dem das behütete Individuum die moralische Erfahrung erfährt, wird zwar nach sozialer Klasse, Wohnort und Art des Stigmas variieren, wird aber in jedem Fall eintreten.
„Ein drittes Sozialisationsmuster wird von jemandem, der spät im Leben stigmatisiert wird, oder der spät im Leben erfährt, daß er schon immer diskreditierbar gewesen ist veranschaulicht.“10 Dabei ergibt sich das Problem der Neuidentifizierung oder auch eine Mißbilligung seiner selbst, da diejenigen schon lange über die Unterschiede zwischen Normalen und Stigmatisierten gelernt haben.
„Ein viertes Muster wird von denjenigen veranschaulicht, die anfänglich in einer fremden Gemeinschaft sozialisiert wurden, entweder innerhalb oder außerhalb der geographischen Grenzen der Gesellschaft, und die nun eine zweite Seinsweise erlernen müssen, die von ihrer Umgebung als die reale und gültige empfunden wird.“11 Dabei empfinden Post-Stigma-Bekanntschaften, die den Stigmatisierten nur mit diesem Stigma kennen, das stigmatisierte Individuum einfach als eine fehlerhafte Person. Dagegen haben Prä-Stigma-Bekanntschaften, die in ihrer Vorstellung an dem festhalten, was das Individuum vor der Stigmatisierung einmal war, Probleme damit, den Stigmatisierten mit formalen Takt oder mit vertrauter Akzeptierung zu behandeln.
Unabhängig davon, nach welchem Verhaltensmuster der moralische Werdegang abläuft, „wird das Individuum, wenn es zum ersten Male erfährt, wer das ist, den es nun als seinesgleichen akzeptieren muß, zumindest wohl einige Ambivalenz empfinden, denn diese anderen werden nicht nur offenkundig stigmatisiert sein und daher anders als die normale Person, als die der Neue sich zu kennen meint, sondern können auch andere Attribute haben, mit denen sich zu verbinden er schwierig findet.“12
In anschließenden Phasen des moralischen Werdegangs lernt der Stigmatisierte die In- group-Partizipierung zu akzeptieren, das heißt er weist die neuen Seinesgleichen nicht mehr zurück und kann sich allmählich mit seiner neuen Gruppe identifizieren, oder er weißt diese doch wieder zurück, nachdem er sie zuvor akzeptiert hatte. Die späteren Phasen werden durch Verschiebungen der Meinung und der Teilnahme an der Gruppe gekennzeichnet.
Stigmatisierung ist auf die soziale Information einer Person bezogen, die durch bestimmte Zeichen, wie z.B. charakteristische Eigenschaften, die durch die handelnde Person durch körperlichen Ausdruck vermittelt werden, oder durch Symbole verdeutlicht werden.
Goffman unterscheidet dabei drei verschiedene Symbole: das Prestigesymbol, das eine wünschenswerte Klassenposition ausdrückt, das Stigmasymbol, das die Aufmerksamkeit auf ein prestigeminderndes Attribut lenkt, und „disidentifiers“, ein Zeichen, das „ein sonst kohärentes Bild zu zerbrechen geeignet ist, diesmal aber in positiver, vom Handelnden gewünschter Richtung, nicht so sehr um einen neuen Anspruch zu begründen, sondern um ernste Zweifel an der Gültigkeit des virtualen zu wecken.“13
Goffman schreibt, daß sich Zeichen, die soziale Information übermitteln, danach unterscheiden, ob sie angeboren sind oder nicht, und wenn nicht, ob sie bleibend sind. Zeichen, die soziale Information tragen, unterscheiden sich in bezug auf ihre Zuverlässigkeit. Jemand, der sich einmal die Pulsadern aufgeschnitten hat und diese Narben trägt, muß nicht auch weiterhin selbstmordgefährdet sein. Er wäre nicht berechtigt als selbstmörderisch stigmatisiert.
Ein anderer Aspekt der sozialen Information ist die „Mit“-Bezogenheit, das heißt, „daß unter bestimmten Umständen die Identität derer, mit denen ein Individuum zusammen ist, als eine Informationsquelle über seine eigene soziale Identität benutzt werden kann, wobei die Annahme gemacht wird, daß es ist, was die anderen sind.“14 Goffman schreibt, daß es eine gängige Vorstellung gibt, nach der Nahestehende eines Stigmatisierten nicht von dessen Andersartigkeit zurückgeschreckt werden im Gegensatz zu Fremden. Daher wird Stigma-Management hauptsächlich in der Öffentlichkeit erwartet.
Das Stigma-Management ist die Art und Weise, wie der Stigmatisierte mit seinem Stigma umgeht und wie er sich Fremden und Vertrauten gegenüber verhält. Durch die Informationskontrolle kann der Stigmatisierte regeln, welche Mitmenschen was und wieviel über sein Stigma wissen. Es gibt jedoch auch Stigmata, die für Freunde nicht offensichtlich sind und sich nur Vertrauten gegenüber offenbaren, so z.B. Frigidität, Impotenz, Sterilität.
Je nach Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität werden charakteristische Anstrengungen vorgenommen, um das Stigma zu managen. Weil die Information über persönliche Identität sich oft genau dokumentieren läßt, kann sie zwar auch ein Individuum vor möglicher falscher Darstellung sozialer Identität schützen, sie setzt aber auch dem Individuum für eine Selbstdarstellung in Form einer Biographie deutliche Grenzen. So kann sich z.B. ein ehemaliger Geisteskranker nicht als ein gewöhnlicher Arbeitssuchender ausgeben, weil seine Sozialversicherungskarte ungestempelte Lücken aufweist.
Der Tagesablauf konfrontiert das stigmatisierte Individuum mit verschiedenen sozialen Situationen, in denen es je nach Gegenüber die Stigmasymbole offenbart, verwischt oder versteckt, um einen gewissen Grad an Akzeptierung zu erhalten. Dies bezeichnet Goffman als Informationskontrolle. So bemühen sich manche stigmatisierte Personen die Zeichen ihres stigmatisierten Fehlers als einen Fehler eines anderen Attributs darzustellen, das weniger deutlich ein Stigma verbirgt. „Eine sehr weit angewandte Strategie der diskreditierbaren Person ist es, ihre Risiken so zu lenken, daß sie die Welt aufteilt in eine größere Gruppe, der sie nichts erzählt, und in eine kleinere Gruppe, der sie alles über sich erzählt und auf deren Hilfe sie sich dann verlassen kann.“15
Das Individuum kann sich freiwillig enthüllen, wodurch er von einem Diskreditierbaren, der Informationsmanagement ausübt, zu einem Diskreditierten wird, der Spannungsmanagement praktiziert, um unbequeme soziale Situationen zu vereinfachen. Jedoch sind nach Goffman Normale und Stigmatisierte keine Personen in dem Sinne, sondern eher Perspektiven. „Diese werden erzeugt in sozialen Situationen während gemischter Kontakte kraft der unrealisierten Normen, die auf das Zusammentreffen einwirken dürften.“16
Inwiefern diese Aspekte auf die Fragestellung, ob psychisch Kranke durch das Krankenhauspersonal, die nach Goffman „Weise“ sind, stigmatisiert werden, zutreffen, wird später verdeutlicht.
[...]
1 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.56
2 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.56
3 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.31
4 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.40
5 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.42
6 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.45
7 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.45?
8 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.45
9 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.47
10 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.47
11 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.49
12 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.51
13 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.59
14 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.63
15 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.120
16 Goffman, Erving (1996) Stigma, S.170
- Citation du texte
- Dr. Monique Zimmermann-Stenzel (Auteur), 1997, Stigmatisierung psychisch Kranker, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23071
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