Gegensätzlich und dennoch eins – mit dieser Thematik befassen sich auch die Autoren, mit denen sich folgende Arbeit befasst. In ihrem Innersten gespalten, befinden sich die Protagonisten auf der Suche nach ihrer wahren Identität. Zahlreiche Doppelgängerfiguren verkörpern die unterschiedlichen Teile ihrer Selbst.
E.T.A. Hoffmann, der Meister des Unheimlichen, liefert mit seinem Roman „Die Elixiere des Teufels“ bereits in der Romantik ein Paradebeispiel des Doppelgängermotivs. Ein Jahrhundert später greift Gustav Meyrink in seinem Roman „Der Golem“ diese Problematik
erneut auf.
Alfred Kubin, als Illustrator sehr bekannt, war fasziniert von der unheimlichen Atmosphäre der Schauerromane seiner Vorgänger, in der ominöse Doppelgänger ihr Unwesen treiben. So schuf er kurze Zeit später, dem Vorbild Meyrinks folgend, in seinem Debütwerk
„Die andere Seite“ eine Welt voller Rätsel und Unheimlichkeiten, die der Düsterheit des Prager Ghettos in keiner Weise nachsteht. Einige der Abbildungen des Romans waren ursprünglich für den „Golem“ vorgesehen, welchen Kubin illustrierte.
Der Aspekt der Fremdbestimmung eröffnet nach einer kurzen Einführung der drei Werke die folgende Arbeit, da unsichtbare Mächte einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Protagonisten ausüben und ihnen ihren selbstbestimmten Lebensweg vereiteln. Der Fokus der Analyse liegt jedoch auf der Konstitution der Doppelgänger und ihrem Einfluss auf den Individuationsprozess der Protagonisten.
Die Funktion der Doppelgänger soll ebenfalls im Blickpunkt der
Arbeit stehen. So wird zu klären sein, ob diese als Begleiter der Protagonisten auf ihrem Lebensweg fungieren oder vielmehr den Selbstfindungsprozess bewusst verhindern, mit dem Ziel, die Identität ihrer Spiegelbilder zu zerstören.
Die Todesthematik, sowie die Frage inwieweit die Frauen der Romane die Selbstfindungsprozesse der Protagonisten negativ
und positiv beeinflussen, wird ebenfalls behandelt. Eng verbunden mit dem Wunsch nach einer höheren Existenz, ist das Motiv
der Androgynie. Der Sprung zwischen Traum und Wirklichkeit, Rahmen- und Binnenerzählung, durchbrochen von Retrospektiven und Einschüben, verwirrt. Allen drei Autoren gelingt es so, die Wirklichkeit zu verschleiern, die Identitäten von Rahmen- und Binnenerzähler zu vermischen. Die Erzählstruktur soll daher für ein besseres Verständnis aufgelöst werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort
2. Der Doppelgänger - eine Begriffserklärung
3. Die Schauerromane
3.1 E.T.A. Hoffmann: „Die Elixiere des Teufels“
3.2 Gustav Meyrink: „Der Golem“
3.3 Alfred Kubin: „Die andere Seite“
4. Die Fremdbestimmung
4.1 Der Faden des Lebens
4.2 Die unsichtbare Intelligenz
4.3 Im Bann
5. Das Doppelgängerphänomen
5.1 Im Zeichen des Kreuzes
5.2 Das Spiegelbild der Seele
5.3 „Der Demiurg ist ein Zwitter“
6. Die Todesthematik
6.1 Die Auferstehung im Kunstwerk
6.2 Zwischen Himmel und Erde
6.3 Das Reich des Todes
7. Das weibliche Geschlecht
7.1 Femme fragile vs. Femme fatale
7.2 Der Hermaphrodit
7.3 Die Medusenschönheit
8. Der Individuationsprozess
8.1 Der Duft der Rose
8.2 Die „Seelenschwängerung“
8.3 „Die eine glänzende Sonne“
9. Strukturelle Merkmale
9.1 Das Parergon
9.2 Glatt wie ein Stück Fett
9.3 Der Alptraum
10. Abschließender Vergleich
11. Schlusswort
12. Literaturverzeichnis
1. Vorwort
„Sie sind also wie die verschiedenen, aber voneinander nicht zu trennenden Seiten einer Münze, die Pole eines Magneten oder Puls und Intervall einer Schwingung. Letzten Endes ist es nie so, daß das eine über das andere den Sieg davonträgt, denn sie sind eher wie zwei Liebende, die sich balgen, als wie Feinde, die miteinander kämpfen.“[1] (Alan Watts über die Beziehung zwischen Ying und Yang)
Gegensätzlich und dennoch eins - mit dieser Thematik befassen sich auch die Autoren, denen ich mich in meiner folgenden Arbeit zuwenden möchte. In ihrem Innersten gespalten, befinden sich die Protagonisten auf der Suche nach ihrer wahren Identität. Zahlreiche Doppelgängerfiguren verkörpern die unterschiedlichen Teile ihrer Selbst.
E.T.A. Hoffmann, der Meister des Unheimlichen, liefert mit seinem Roman „Die Elixiere des Teufels“ bereits in der Romantik ein Paradebeispiel des Doppelgängermotivs. In diesem verworrenen Werk, das den Leser in ein düsteres Milieu entführt, erzählt Hoffmann die Geschichte eines „gefallenen Engels“[2], der, von seinem Doppelgänger verfolgt, auf dem Weg hinaus in die Welt seine wahre Bestimmung zu finden erhofft. Ein Jahrhundert später greift Gustav Meyrink in seinem Roman „Der Golem“ diese Problematik erneut auf. Die Verworrenheit von Realität und Traum, in welcher der Erzähler im Prager Ghetto seinem unheimlichen Doppelgänger begegnet, zieht den Leser unwillkürlich in seinen Bann. Meyrink traf mit der Thematik seines Bestsellers den Nerv seiner Zeit. Das bürgerlich-liberale Individuum befand sich in einem gesellschaftlichen Zwiespalt. Um die Ausführung der Geschäfte nicht zu gefährden, ließ der Bürger unter Bismarck und in der Wilhelminischen Ära von seinen politischen Idealen ab. Der Mensch identifizierte sich so mit der herrschenden Klasse, gegen die er sich gleichzeitig widersetzte. Dieser Konflikt wurde in der Literatur des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts in den Doppelgängerfiguren aufgegriffen, die als „feindliche[] Gegenspieler des Ichs“ dargestellt wurden.[3]
Alfred Kubin, als Illustrator sehr bekannt, war fasziniert von der unheimlichen Atmosphäre der Schauerromane seiner Vorgänger, in der ominöse Doppelgänger ihr Unwesen treiben. So schuf er kurze Zeit später, dem Vorbild Meyrinks folgend, in seinem Debütwerk „Die andere Seite“ eine Welt voller Rätsel und Unheimlichkeiten, die der Düsterheit des Prager Ghettos in keiner Weise nachsteht. Einige der Abbildungen des Romans waren ursprünglich für den „Golem“ vorgesehen, welchen Kubin illustrierte. Da Meyrink jedoch aufgrund einer inneren Schreibblockade bei der Niederschrift seines Romans ins Stocken geriet, verwendete Kubin die Zeichnungen schließlich für seinen eigenen Roman und ließ sich von ihnen für seine Traumstadt inspirieren.[4] Auch Werke des Meisters Hoffmann, den Kubin als „genialen Lieblingsdichter“[5] verehrte, illustrierte der Österreicher.
Der Aspekt der Fremdbestimmung eröffnet nach einer kurzen Einführung der drei Werke die folgende Arbeit, da unsichtbare Mächte einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Protagonisten ausüben und ihnen ihren selbstbestimmten Lebensweg vereiteln. Der Fokus der Analyse liegt jedoch auf der Konstitution der Doppelgänger und ihrem Einfluss auf den Individuationsprozess der Protagonisten. Verkörpern sie eine bösartige, verdrängte Seite der menschlichen Psyche oder sind ihre Absichten positiv zu werten? In welcher Form erscheint der dubiose Doppelgänger - ist er real sichtbar oder nur als Ausdruck eines unheimlichen Gefühls oder einer kurzen Vision zu deuten? Interessant ist auch die Untersuchung der Reaktion der Protagonisten bei einem Doppelgängerauftritt. Stellen Grauen und Angst die vorherrschenden Gefühle dar oder treten sie ihren Spiegelbildern vertrauensvoll entgegen? Die Funktion der Doppelgänger soll ebenfalls im Blickpunkt der Arbeit stehen. So wird zu klären sein, ob diese als Begleiter der Protagonisten auf ihrem Lebensweg fungieren oder vielmehr den Selbstfindungsprozess bewusst verhindern, mit dem Ziel, die Identität ihrer Spiegelbilder zu zerstören.
Ein wichtiges Ziel des Individuationsprozesses stellt die Erlangung einer höheren Bewusstseinsebene dar. In vielen Fällen ist das Erreichen dieses Zieles den Protagonisten erst nach dem Tod möglich. Die Todesthematik wird demnach ein Aspekt meiner Untersuchung sein. Neben den Doppelgängerfiguren stören noch andere Faktoren das erfolgreiche Erlangen der höheren Bewusstseinsebene. Sündhafte Gefühle, wie auch das Gefühl des Wahnsinns, oft durch das weibliche Geschlecht ausgelöst, stellen eine weitere Gefahr dar. Inwieweit die Frauen der Romane die Selbstfindungsprozesse der Protagonisten negativ und positiv beeinflussen, möchte ich in dem Kapitel „Das weibliche Geschlecht“ beleuchten. Eng verbunden mit dem Wunsch nach einer höheren Existenz, ist das Motiv der Androgynie. Die Struktur der Romane macht es jedoch nicht einfach zu beurteilen, ob die Vereinigung von Männlichem und Weiblichem im Symbol des Hermaphroditen als real zu bewerten ist. Der Sprung zwischen Traum und Wirklichkeit, Rahmen- und Binnenerzählung, durchbrochen von Retrospektiven und Einschüben, verwirrt. Allen drei Autoren gelingt es so, die Wirklichkeit zu verschleiern, die Identitäten von Rahmen- und Binnenerzähler zu vermischen. Ich werde daher den Versuch unternehmen, diese verwirrende Erzählstruktur für ein besseres Verständnis aufzulösen.
Die Forschungsgrundlage zu der behandelten Thematik ist recht breit. Besonders das Doppelgängermotiv wurde bereits vielfach diskutiert und veranschaulicht. Als Grundlage wird mir hierbei unter anderem die sehr ausführliche Darstellung des Doppelgängerphänomens von Gerald Bär mit dem Titel „Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm“ dienen. Die Abhandlung über das „Unheimliche“ von Sigmund Freud ist in diesem Zusammenhang ebenfalls von Nutzen. Besonders die Doppelgängerproblematik in E.T.A. Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels“ ist vielfach untersucht worden. Natalie Rebers „Studie zum Motiv des Doppelgängers bei Dostojewskij und E.T.A. Hoffmann“ wird mir ebenso als Anregung dienen wie die Dissertation von Ludger Schäfer von 1976, der sich intensiv mit dem Individuationsprozess in Hoffmanns Werk beschäftigt. Publikationen von Gerhard Weinholz und Johannes Harnischfeger sind weitere Grundlagen. Inge Stegmann und Jens Szczepanski bieten hilfreiche Stützen zu der Untersuchung des Traum- und Rahmenmotivs. Verschiedene Biographien der von mir behandelten Autoren werde ich ebenfalls hinzuziehen, da Parallelen zu ihren Figuren offensichtlich sind. Frans Smit und Manfred Lube liefern biographische Informationen über Gustav Meyrink. Eine übersichtliche Untersuchung des Entwicklungswegs Pernaths liefert Sigrid Mayer, wobei sie sehr differenziert das Golemmotiv behandelt. Ich möchte aufgrund der Intention meiner Arbeit darauf verzichten. Vielmehr möchte ich Unschlüssigkeiten sowie bisher nicht behandelte Lücken im Lebensweg Athanasius Pernaths aufklären. Einen engen Bezug zu den Weisheiten des Tarots stellen in diesem Zusammenhang Bella Jansen und Heidemarie Oehm her. Peter Cersowsky zieht in seiner Untersuchung „Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts“ ansatzweise einen Vergleich zwischen den ähnlich gestalteten Romanen „Der Golem“ und „Die andere Seite“. Ich möchte diesen vertiefen und zusätzlich einen Bezug zu Hoffmann herstellen. Denn ungeachtet der zeitlichen Spanne, die diese Werke umfasst - zwischen den „Elixieren“ und der „Anderen Seite“ liegt ein ganzes Jahrhundert - zeigen sich zahlreiche Parallelen, die in der Forschung bislang nicht behandelt wurden. Die Forschungsliteratur zu Alfred Kubins „Die andere Seite“ ist nicht sehr umfangreich. Neben Anneliese Hewigs Interpretationsstudie von 1967 beschäftigt sich Claudia Gerhards mit dem Aspekt der Apokalypse in Kubins Roman. Die Forschung betrachtet das Werk Kubins überwiegend aus der psychoanalytischen und kunsthistorischen Perspektive und untersucht den Zusammenhang zwischen dem zeichnerischen Schaffen und dem literarischen Werk Kubins. Jürgen Berners sowie Peter Cersowsky analysieren hingegen die Einflüsse der schwarzen Romantik und des Traumkonzeptes. Dem Einfluss des Doppelgängers auf die Selbstfindung des Protagonisten wird jedoch sehr wenig Beachtung geschenkt. Lediglich Andreas Geyer legt in seiner Publikation „Träumer auf Lebenszeit. Alfred Kubin als Literat“ eine sehr detaillierte Interpretation des gesamten Romans dar, die als Grundlage meiner Arbeit dienen wird. Zahlreiche kurze Hinweise und Deutungsansätze anderer Autoren werden in meine Analyse ebenfalls mit einfließen.
Um die Übersicht und die Vergleichsmöglichkeit zu gewähren, werden die drei Romane im Folgenden in verschiedene Aspekte unterteilt und aufgeführt. Ich beginne dabei stets mit den „Elixieren“. Die Bearbeitung des „Golem“ und der „Anderen Seite“ folgen. In einem abschließenden Vergleich werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Schauerromane nochmals aufgeführt und ausgewertet.
2. Der Doppelgänger - eine Begriffserklärung
„Der Mensch ist nie allein - das Selbstbewusstsein macht, daß immer 2 Ichs in einer Stube sind“.[6] Dieses Zitat Jean Pauls verdeutlicht die Vorstellung der Menschen von einem doppelten Bewusstsein, welche der Erscheinung eines Doppelgängers zugrunde liegt. Jean Paul war es auch, der das Phänomen des Doppelgängers in seinem Roman „Siebenkäs“ erstmals definierte: „So heißen Leute, die sich selber sehen.“[7] Das Motiv wurde in der Literaturgeschichte immer wieder aufgegriffen und in unterschiedlichster Weise behandelt. Die Definitionen des Begriffs sind daher beinahe unüberschaubar. Im Folgenden wird, nach einer Übersicht dieser verschiedenen Definitionen, die Funktion der Doppelgänger sowie ihre Entwicklung im Laufe der Literaturgeschichte behandelt und vorgestellt.
Ein erster Ansatzpunkt eines Vergleiches liefert die kontroverse Diskussion über die physische Ähnlichkeit der Doppelgängerfiguren. Für Otto Rank ist eine Ähnlichkeit des Doppelgängers in Bezug auf den Namen, die Stimme und die Kleidung zu seinem Original maßgebend. Er unterscheidet zwei Formen von Doppelgängern: Eine „selbständige und sichtbar gewordene Abspaltung des Ichs“, welche sich in einem Schatten oder einem Spiegelbild wiederfindet sowie „jene eigentlichen Doppelgängerfiguren, die einander als reale und leibhaftige Personen von ungewöhnlich äußerer Ähnlichkeit gegenüberstehen und die Wege kreuzen“.[8] Aglaja Hildenbrock betont dagegen die „psychische Bereitschaft sich in einem Gegenüber wiederzuerkennen“.[9] Eine physische Ähnlichkeit ist dabei nicht vonnöten. Einigkeit herrscht jedoch über das Wesen des Doppelgängers. Das Abbild eines Menschen, das sich im Traum oder in einem Porträt darstellt, wird im Volksglauben als ein „lebendiger Teil der Person“[10] identifiziert. Als belebte Puppe kann das Doppelgängermotiv mit dem Motiv des künstlichen Menschen gleichgesetzt werden.
Die Ursache einer Spaltung des Ichs sah man im Christentum in der „Idee der zwei Seelen“ begründet. Der „Versuch des niederen Ich [...] gegen das höhere zu rebellieren, es zu überwältigen“[11], wie Emil Lucka es 1904 in seiner Abhandlung „Verdoppelungen des Ich“ betonte, verkörpert den Kampf des sinnlichen bösen und des sittlichen guten Ichs. Ein Identitätsverlust war häufig die Folge. Die Verantwortlichkeit für diese Krise in der Persönlichkeitsstruktur wurde in früherer Zeit gerne auf eine außenstehende Figur, wie dem Teufel, projiziert. Dies änderte sich jedoch im Verlauf der Zeit. Der Doppelgänger verlagerte sich nach innen.[12]
Den Bezug zu dem Unterbewusstsein, der im weiteren Verlauf der Literaturgeschichte aufrecht erhalten wurde, stellten bereits Sigmund Freud und Carl Gustav Jung auf. Letzterer definiert die Seele als eine „Personifikation der unbewußten Inhalte“ und erläutert die Entstehung eines Doppelgängers folgendermaßen: „Wo ein selbständiger Seelenteil projiziert wird, entsteht eine unsichtbare Person.“[13] Das im Doppelgänger personifizierte „Es“[14] und das „Über-Ich“, welches dem Menschen ins Gewissen zu reden versucht, stehen sich dabei gegenüber. Der Doppelgänger als Verkörperung des „Es“, der triebhaften, negativen Seite im Menschen, stellt dabei die meist verbreiteteste Variante in der Literaturgeschichte dar. Verborgene Wünsche werden im Körper des Doppelgängers ausgelebt. Diese negative Konnotation des Doppelgängers entwickelte sich jedoch erst im Laufe der Zeit. Begegneten die Menschen ihren Doppelgängern, die als Behüter und Beschützer galten, in früherer Zeit mit Vertrauen, so umfing die Doppelgänger später die Aura des Unheimlichen. In ihrer Erscheinung als „Schattengeister“[15] verwiesen sie auf den baldigen Tod des Menschen. Dieser Aberglaube war in Deutschland weit verbreitet. So prophezeite in Norddeutschland beispielsweise die Erscheinung des Schattens ohne Kopf am Sylvesterabend den Tod des Menschen im folgenden Jahr. In Bayern ist dagegen derjenige dem Tode nahe, der am Weihnachtsabend seinen Schatten doppelt sieht.[16] Die komische Verwendung des Doppelgängermotivs, die in Verbindung mit dem Motiv der Verkleidung und der Verwechslung nur in der Romantik ihren Einsatz fand, wurde zunehmend von der unheimlichen Ausprägung des Motivs verdrängt. Der Begriff des Unheimlichen wurde von Sigmund Freud in seinem Aufsatz „Das Unheimliche“ intensiv beleuchtet. Eng mit dem „Heimlichen“ verbunden, liegt die entscheidende Quelle des unheimlichen Gefühls in dem „Moment der Wiederholung“.[17] Ereignisse der Vergangenheit, die sich in dem mehrmaligen Auftauchen von Doppelgängern wiederholen und sich in ihnen verselbstständigen, lösen ein Gefühl des Unbehagens und Grauens aus. Ebenso stellt die Verwischung der Grenze zwischen Wirklichkeit und Phantasie, die von den Doppelgängern oft überschritten wird, einen Auslöser der unheimlichen Atmosphäre dar. Die Funktion der Doppelgänger ist jedoch nicht ausschließlich negativ zu bewerten, fungieren diese oftmals auch als Begleiter des Menschen bei seinem Selbstfindungsprozess. Durch die Vermittlung wichtiger Selbsterkenntnisse ist der Protagonist in der Lage sich von den verdrängten Gefühlen, die sich in seinem Spiegelbild manifestieren, zu befreien.[18] Die Ausbildung eines Doppelgängers beruht nach Wilhelmine Krauss dabei jedoch nicht, wie bereits erwähnt, auf dem Konflikt der sittlichen gegenüber der sündigen Seite des Menschen, sondern ist in einem „subjektiv übersteigerte[n] Idealismus“ anzusiedeln:
Das Wesen dieses subjektiven Idealismus besteht darin, daß das Ich sich über seine endliche Beschränkung hinaus zur Unendlichkeit erweitern will [...] stößt der unendliche Wille des Ichs gegen die eigene Beschränkung und Begrenzung, so fühlt das Ich sich selbst gespalten in einen unendlichen und endlichen, in einen idealen und einen wirklichen Pol.[19]
Die Vorstellung einer Spaltung existiert bereits seit Beginn der Menschheit. Im Schöpfungsmythos wird die Trennung der Einheit, in diesem Fall von männlichen und weiblichen Anteilen, erstmals verdeutlicht.[20] Besonderes Interesse erfuhr das Phänomen im achtzehnten Jahrhundert. Karl Philipp Moritz’ „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ sowie Johann Caspar Lavaters „Geheimes Tagebuch: Von einem Beobachter seiner Selbst“ belegen das große Interesse am Phänomen des Doppelgängers.[21] Seit der Aufklärung, in der die Selbstentfremdung eine höhere Verbindung ermöglichte, wird der Begriff des Doppelgängers nicht mehr nur als ein individueller Ausdruck einer persönlichen Ich- Problematik behandelt, sondern als ein Symptom einer gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet.[22] In der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere in der Romantik, trat das Motiv schließlich vermehrt auf. Das Gefühl - die herrschende Instanz in dieser Epoche - führte zum Subjektivismus: „Das Ich wird absolutes Subjekt. Sinnliche Erfahrung ist bedeutungslos, da das Ich keine außerhalb seiner selbst liegenden Dinge mehr anerkennt. Alle scheinbaren Objekte sind in Wirklichkeit vom Ich gesetzt, sind seine Teile und Vorstellungsprodukte. Damit teilt sich das Ich in einen betrachtenden und einen betrachteten Teil.“[23] Die Doppelgängerproblematik war im mittleren und späteren neunzehnten Jahrhundert immer noch ein vielfach behandeltes Thema. Als rein imaginäre Doppelgänger, an Medien wie Spiegel oder Schatten gebunden oder als personale Doppelgänger traten sie in den unterschiedlichsten Formen auf.
Im Expressionismus nahmen Doppelgänger eine allegorische Bedeutung ein und wurden zunehmend psychologisch gedeutet.[24] Die Wahrnehmung eines Doppelgängers gilt in neuerer Zeit als krankhaft. Die im Wachzustand auftretenden Visionen werden als Zeichen einer Schizophrenie oder einer Halluzination ärztlich behandelt. Die Menschen, die eine solche Paranoia ausbilden, werden zudem oft als Opfer von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen angesehen.[25] Die Möglichkeit der Ausbildung einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur stellt bei einer derartigen Gegenüberstellung mit dem eigenen Selbst heutzutage eine ernstzunehmende Gefahr dar.
Im Folgenden möchte ich untersuchen, in welcher Form das Doppelgängermotiv, das vorwiegend im deutschsprachigen, englischen und russischen Raum untersucht worden ist, in den mir vorliegenden Schauerromanen verwendet wird.
3. Die Schauerromane
3.1 E.T.A. Hoffmann: „Die Elixiere des Teufels“
Bereits bei der Vollendung seines Märchens „Der goldene Topf“ schmiedete E.T.A. Hoffmann Pläne für seinen Schauerroman „Die Elixiere des Teufels“. Dieser sollte schauriger und unheimlicher werden als alles, was Hoffmann zuvor verfasst hatte. In einem Brief vom 24.3.1814 an seinen Verleger Carl Friedrich Kunz schilderte er erstmals die Intention seines Romans:
Es ist darin auf nichts geringeres abgesehen, als in dem krausen, wunderbaren Leben eines Mannes, über den schon bei seiner Geburt die himmlischen und dämonischen Mächte walteten, jene geheimnisvollen Verknüpfungen des menschlichen Geistes mit all' den höhern Prinzipien, die in der ganzen Natur verborgen und nur dann und wann hervorblitzen, welchen Blitz wir dann Zufall nennen, recht klar und deutlich zu zeigen.[26]
Hoffmann war allerdings besonders von dem ersten Teil seines, als persönliches „Lebenselixier“ betitelten Romans, nicht überzeugt und wünschte fast „jenes phantastische Buch [...] nicht in die Welt geschickt zu haben“.[27] Die Verlage teilten diese Sichtweise und traten dem Werk sehr verhalten entgegen. Hoffmann, der sich zu jener Zeit in einer finanziellen Krise befand, war jedoch bereit Kompromisse einzugehen, sodass der erste Teil der „Elixiere“ 1815 veröffentlicht wurde. Im Gegensatz zu dem ersten Teil, den Hoffmann innerhalb von sieben Wochen schrieb, benötigte er für die Fertigstellung des zweiten Teils erheblich länger. Erst ein Jahr später wurde auch dieser Teil der Lebensabenteuer des Mönches Medardus veröffentlicht. Bei dem Besuch eines Klosters in Bamberg, in dem Hoffmann intensive Gespräche mit einem Pater namens Cyrillus führte und die Gruft des Klosters interessiert besichtigte, setzte er sich intensiv mit dem Klosterleben auseinander und schöpfte erste Inspirationen für seinen Roman.[28] Einen weiteren großen Einfluss auf sein Werk übte der Roman „The Monk“ von Matthew Lewis aus - ein sehr bekanntes Werk der Gattung des Schauerromans -, das ebenfalls die Verführung eines Geistlichen durch den Satan behandelt.[29] Schauerromane waren jedoch als Trivialliteratur verpönt, der „romantische Wahnsinn“ wurde als „krankhaft“ eingestuft.[30] Die Reaktionen auf den Roman waren daher nur sehr dürftig. Die negative Einschätzung des Romans änderte sich auch in den folgenden Jahren nicht. 1931 erschien Hoffmann sogar auf einer Pariser Tabelle von verbotenen Autoren.[31] Weitaus positiver bewerteten Charles Baudelaire, Friedrich Hebbel und Sigmund Freud den Roman und priesen Hoffmann als einen „genialen Dichter der Spaltung und des Unheimlichen“.[32] Obwohl das Buch im Ausland, besonders in Großbritannien, schon früh Anerkennung fand, wusste man den Roman in Deutschland erst im zwanzigsten Jahrhundert als ein „Werk, das die Tradition des Schauerromans zum psychologischen Roman weiterführt“, zu würdigen.[33] In diesem berichtet der Mönch Medardus reumütig in Form einer Retrospektive von seinen vergangenen Erlebnissen. Um die Todsünde der Familie zu büßen und seine aufsteigenden Gelüste zu unterdrücken, entscheidet sich der junge Franz den Weg des Geistlichen einzuschlagen. Doch sein Vorhaben misslingt. Ein wundersamer Trank, die „Elixiere des Teufels“, raubt ihm sein Rednertalent und verändert sein gesamtes Wesen. Schwankend zwischen wilden Trieb- und Mordgelüsten und dem Wunsch nach einer geistigen Verbindung verfolgen verschiedene Doppelgänger Medardus auf Schritt und Tritt. Der junge Mönch schlüpft im Lauf der Erzählung in verschiedene Rollen. Die Verleugnung seiner wahren Identität stürzt ihn jedoch zunehmend in eine schwere Identitätskrise, aus der er nur mühsam wieder zu sich selbst findet.
3.2 Gustav Meyrink: „Der Golem“
Gustav Meyrink, der sehr früh sein Interesse am Okkultismus und der Telepathie bezeugte und bereits als Kind von Visionen heimgesucht wurde, begann 1907 die Arbeit an seinem ersten Roman „Der Golem“.[34] In diesem schauerlichen Werk spiegelt sich seine Vorliebe für die jüdische Mystik und Magie wider. Das Prager Ghetto stellt den Schauplatz des Geschehens dar.[35] Die intensive Beschäftigung Meyrinks mit der esoterischen Thematik und seine antimilitaristische Einstellung wurden kritisch begutachtet. Dennoch wurde sein Roman, der eng mit der Symbolik des Tarots arbeitet, in der Zeitschrift „Die weißen Blätter“ veröffentlicht. 1915 erschien das Werk, welches Gustav Meyrink den großen Durchbruch sicherte und bis heute als „Meisterwerk“ gefeiert wird, in Buch- form.[36] Hermann Hesse war einer seiner glühenden Bewunderer. Doch es gab auch viele, die scharfe Kritik an seinem Roman, wie auch seiner Person, äußerten. Albert Zimmermann beschreibt die Stimmung des „Golem“ als „schmutzig-schmierig, wüst und ekelhaft“. Er überträgt diese Adjektive auch auf dessen Autor, denn dieses sei seine bevorzugte Stimmung, er liebe das „Faulige“.[37] Wie komplex und durchdacht der Roman des Österreichers jedoch aufgebaut ist und wie er den Leser auf unheimliche und fesselnde Art in die Suche des Erzählers nach sich selbst mit einbezieht, möchte ich in meiner Arbeit untersuchen.
Der Roman erzählt die Geschichte eines anonymen Erzählers, der, in den Schlaf versunken, in der Identität des vierzigjährigen Gemmenschneiders Anthanasius Pernath das Leben im Prager Ghetto im Jahre 1885 kennenlernt. Von Visionen und mystischen Ereignissen heimgesucht, begegnet er dem rätselhaften „Golem“, der seit Jahren im Ghetto die Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Auf der Suche nach seinem wahren Selbst, das Pernath infolge eines Traumas verloren hatte, wird er in Intrigen und Liebesver- strickungen verwickelt, bis er im Gefängnis jegliche Hoffnung verliert. Wieder befreit, sucht er seine damaligen Freunde vergeblich. Er stürzt ab - und erwacht, um festzustellen, dass er keine Stunde geschlafen hat. Auf der Suche nach dem „wahren“ Pernath macht er erstaunliche Entdeckungen.
3.3 Alfred Kubin: „Die andere Seite“
Alfred Kubin, der als Illustrator und Mitglied der Künstlergruppe „Die blauen Reiter“ bekannt war, erregte mit seinem ersten und einzigen Roman „Die andere Seite“ (die erste Auflage erschien 1909) großes Aufsehen. Die Skepsis war groß. Kubin war als Zeichner zu bekannt, „als daß sein Roman „Die andere Seite“ in die Literaturgeschichte Eingang gefunden hätte“[38], wie Hellmuth Petriconi betont. In lediglich zwölf Wochen verfasste der Autor den Roman, noch sehr traumatisiert von dem Tod seines Vaters, der kurz zuvor verstarb.[39] Dieses Ereignis hatte Kubin in eine schwere künstlerische Schaffenskrise gestürzt. Schnell jedoch spürte er den inneren Drang etwas zu tun und begann einen abenteuerlichen Roman zu verfassen.[40]
Voll Eile und Sehnsucht kam ich zu Hause an. Als ich dann eine Zeichnung anfangen wollte, ging es absolut nicht. Ich war nicht im Stande zusammenhängende, sinnvolle Striche zu zeichnen. Es war, wie wenn ein vierjähriges Kind zum erstenmal die Natur abkonterfeien sollte. Diesem neuen Phänomen stand ich erschrocken gegenüber, denn, ich muß es wiederholen, ich war innerlich ganz und gar mit Arbeitsdrang erfüllt. Um nur etwas zu tun und mich zu entlasten, fing ich nun an, selbst eine abenteuerliche Geschichte auszudenken und niederzuschreiben. Und nun strömten mir die Ideen in Überfülle zu, peitschten mich Tag und Nacht zur Arbeit, so daß bereits in zwölf Wochen mein phantastischer Roman »Die andere Seite« geschrieben war. In den nächsten vier Wochen versah ich ihn mit Bildern.[41]
Der phantastische Roman erzählt die Erlebnisse eines namenslosen Zeichners, der auf die Einladung seines Jugendfreundes Claus Patera hin, gemeinsam mit seiner Frau, in dessen selbst erschaffenes Traumreich irgendwo in Zentralasien zieht.[42] Die neue Heimat entpuppt sich allerdings schnell als ein in der Vergangenheit verfangener Überwachungsstaat, der der Macht des Herrschers Patera unterworfen ist. Das sorgenfreie Leben der Traumbewohner, die nur in „Stimmungen“[43] leben, nimmt dagegen mit dem Einzug des Amerikaners Herkules Bell in das Reich ein abruptes Ende. Seltsame und unheimliche Dinge geschehen. Der Neuling entpuppt sich als Doppelwesen und gleichzeitiger Widersacher Pateras, der schließlich unter apokalyptischen Zuständen mit seinem Reich untergeht.
4. Die Fremdbestimmung
4.1 Der Faden des Lebens
Kaltblütiger Mörder oder Opfer einer höheren Macht? Diesen Zwiespalt thematisiert Hoffmann in seinem Roman „Die Elixiere des Teufels“. Franz ist ein unbekümmertes, fröhliches Kind, doch tief in seinem Innersten verborgen lauern die Erbsünden seiner Vorfahren, die Entsühnung fordern. Franz ist auserwählt, die Sünden seiner Vorfahren aufzuheben und das eigene sündhafte Geschlecht auszurotten. Sein eigener Wille bleibt dabei jedoch auf der Strecke. Als „willenloses Werkzeug“ einer fremden Macht (E 157) fühlt er sich wie eine Marionette, dessen Fäden eine unbekannte Instanz nach Belieben zieht. Von inneren Stimmen zu seinen verbrecherischen Taten gedrängt, ist er im Inneren entzweit. Denn, obwohl er sich als Mönch Medardus als der Vollstrecker einer göttlichen Macht, als ein „besonders Erkorner des Himmels“ (E 39), wähnt, beschleichen ihn immer wieder Zweifel, ob er nicht vielmehr in die Opferrolle hineingedrängt wird. Medardus ist der Beeinflussung von bösen wie auch guten Mächten hilflos ausgesetzt, wie bereits im Vorwort herausgestellt wird:
[...] als könne das, was wir insgemein Traum und Einbildung nennen, wohl die symbolische Erkenntnis des geheimen Fadens sein, der sich durch unser Leben zieht, es festknüpfend in allen seinen Bedingungen, als sei der aber für verloren zu achten, der mit jener Erkenntnis die Kraft gewonnen glaubt, jenen Faden gewaltsam zu zerreißen, und es aufzunehmen, mit der dunklen Macht, die über uns gebietet.[44]
Der junge Mönch versucht vergeblich diesen Faden zu zerreißen. Dass er für diese Sünde nicht bestraft wird, ist der himmlischen Macht Gottes zu verdanken. Diese steht dem bösen, teuflischen Prinzip entgegen. Seine Bemühungen den Weg der Geistlichkeit einzuschlagen, um seinem sündhaften Begehren zu entfliehen, sind nicht von Erfolg gekrönt. Medardus kann seine sexuellen Triebe nicht kontrollieren. Der Teufel missbraucht diese Gefühle des Menschen um Macht über ihn zu gewinnen.[45] Auch den verlockenden Düften des magischen „Elixiers des Teufels“ kann er nicht widerstehen. Sein Bestreben, den „böse[n] Anfechtungen] des Teufels“ (E 28) durch asketische Übungen zu entkommen, misslingt. Der Mönch wird von einer „feindlichen Macht“ (E 36) verleitet, das verbotene Getränk zu kosten, welches ihn in einen hochmütigen und unberechenbaren Täter verwandelt. Doch nicht alle Menschen sind den Anfechtungen des Teufels in gleichem Maße ausgeliefert. Der Graf, welcher ihn zu dem Genuss des verbotenen Tranks verleitet, spürt die Wirkung des Bösen nicht. Der Glaube und die Offenheit, das Böse in sich eindringen zu lassen, stellen demnach die eigentliche Gefahr dar.[46] Mit dem bösen Prinzip infiziert, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Medardus verliert die Macht über seine Reden. „Blindlings das nachsprechend“, was ihm eine „fremde Stimme im Innern“ zuflüstert (E 64), betrachtet er sein Leben als schicksalhafte Fügung (E 62). Diese „innere Passivität“ ist verheerend, da er der Gefahr erliegt, in ein „Spannungsfeld zwischen realer und idealer Welt“ zu geraten.[47] Seine konträren Gefühle von Trieb und Gewissen, Verstand und Gefühl führen ihn in den Wahnsinn.
Hoffmann beschäftigte sich intensiv mit den Auswirkungen der Fremdbestimmung auf Körper und Seele. Verschiedene wissenschaftliche Schriften zu den „Nachtseiten“[48] des Geistes und zur „romantischen Medizin“[49] liegen den Charakterentwürfen seiner Protagonisten zugrunde. Der Autor kannte das Gefühl der inneren Zerrüttung aus eigener Erfahrung. Die Angst dem Wahnsinn zu verfallen, notierte er mehrfach in seinem Tagebuch, wie auch am ersten Juni 1811: „Gespannt bis zu Ideen des Wahnsinns die mir oft kommen [!] Warum denke ich schlafend und wachend so oft an den Wahnsinn?“[50] Die Macht des Unterbewussten stellt dabei die Quelle des Wahnsinns dar. Dieser versetzt die Seele des Menschen in innere „Spannungen“.[51]
Doch lässt sich die innere Zerrüttung des Mönches und das unheimliche Spiel zwischen ihm und seinem Doppelgänger wirklich als Schicksalsfügung interpretieren? Oder sind die Ereignisse, wie der Sturz des Grafen in den Abgrund, vielmehr als Zufall anzusehen? In der Epoche der Romantik räumte man dem Schicksalsbegriff einen hohen Stellenwert ein. Die Fügung des Schicksals wurde als „Gabe Gottes“ interpretiert, während das Vertrauen auf eigene Kräfte den Verdacht des Bösen im Menschen suggerierte.[52] Die Begriffe des Zufalls und des Schicksals lassen sich jedoch miteinander vereinen. Denn die magischen Kräfte des Schicksals können als „Vertreter einer geistigen Macht“ interpretiert werden, die in das Leben eingreifen und ihre Wirkung auf den Zufall entfalten, „wie es bisher die geistige Kraft eines Menschen auf die Materie hat“.[53] Dem magischen Zufall steht ein innerer Kampf von Gut und Böse entgegen. Dieser manifestiert sich allerdings nur auf der subjektiven Empfindungsebene des Protagonisten und spiegelt die unsichtbare Macht wider. Medardus empfindet seine Lebensgeschichte als vorbestimmtes Schicksal und äußert im Verlauf des Farospieles, dass es „höchst gefährlich und verderblich“ sei, den Kampf mit dem Schicksal aufzunehmen (E 152). Das Schicksal muss akzeptiert werden.
Inwiefern der Mensch trotz dieses vorgegebenen Schicksals frei in seinen Handlungsweisen ist, wurde in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Während die Einen die Freiheit des Handelns als beschränkt oder unterbunden betrachten[54], gibt es auch gegenteilige Stimmen. Diese sehen die Freiheit des Protagonisten nicht gefährdet. Solange er den Idealen der göttlichen Natur folgt, ist ein eigenständig bestimmter Entwicklungsweg möglich.[55] Der Protagonist ist frei dem Schicksal zu entkommen, indem er die Situation erkennt und seine Handlungsweise ändert. Ich teile diese Sichtweise. Medardus, der durch die Hoffnungen seiner Mutter und des Pilgers in die Geistlichkeit gedrängt wird, ist dennoch selbst für seine nachfolgenden Taten verantwortlich. Die Besessenheit und der Wahnsinn erschweren die Durchhaltefähigkeit zum Guten, liefern ihn aber nicht zwangsläufig an den Dämon aus. Medardus verliert die Kontrolle über sich nur partiell und behält die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Der Papst weist im Roman auf die Selbstbestimmtheit mit Hilfe einer Metapher hin (E 300):
Doch! sprach er [d.i. Papst]: der ewige Geist schuf einen Riesen, der jenes blinde Tier, das in uns wütet, zu bändigen und in Fesseln zu schlagen vermag. Bewußtsein heißt dieser Riese, aus dessen Kampf mit dem Tier sich die Spontaneität erzeugt. Des Riesen Sieg ist die Tugend, der Sieg des Tieres, die Sünde.
Es ist wesentlich einfacher für den jungen Mönch, die Verantwortlichkeit für sein Handeln von sich zu weisen und auf die Elixiere oder den Einfluss des Satans abzuwälzen. Der Verlust der freien Entscheidungsfähigkeit ist indes eine nicht von der Hand zu wiesende Gefahr, wie bei dem Farospiel verdeutlicht wird. Die Tatsache, dass der Fürst den Verlust des Geldes ersetzt hätte, hebt die Freiheit des Spiels auf. Willensstärke und der Glaube an die eigenen Fähigkeiten sind daher notwendig, um den Einflüssen böser Mächte zu widerstehen.
4.2 Die unsichtbare Intelligenz
Auch die Menschen im „Golem“ werden von einer mysteriösen Macht beherrscht. Im Prager Ghetto begegnet der Erzähler dem sagenumwobenen Golem. Alle dreiunddreißig Jahre erscheint diese unheimliche Gestalt und versetzt die Menschen in Angst und Schrecken.[56] Als „Geschöpf der Gedankenwelt und Atmosphäre des Ghettos“[57] besitzt er eine enorme Macht über das Seelenleben der Menschen. Die innere Verbundenheit mit dem düsteren Ghetto betont das „golemhafte“ dieses Geschöpfes und verwandelt den geheimnisvollen Fremden in ein unheimliches und schreckliches Gespenst.[58] Es symbolisiert die tiefsten Seelenschichten der Ghettobewohner, in die er ungefragt eindringt und ein Gefühl der Besessenheit hervorruft (G 52). Diesem darf jedoch nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden, denn erst durch sie erhält er die Möglichkeit, eine körperliche Gestalt anzunehmen. Es besteht demnach ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis.[59]
Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte, in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so müßten auch [...] alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick zusammenfallen, löschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein nebensächliches Streben [...] in ihrem Hirn aus. (G 33)
Verschiedene Vorzeichen kündigen das „Hereinbrechen jenes Phantoms“ (G 52) ins Reich an:
Der abblätternde Bewurf einer alten Mauer nimmt eine Gestalt an, die einem schreitenden Menschen gleicht; und in Eisblumen am Fenster bilden sich Züge starrer Gesichter. Der Sand vom Dache scheint anders zu fallen als sonst und drängt dem argwöhnischen Beobachter den Verdacht auf, eine unsichtbare Intelligenz, die sich lichtscheu verborgen hält, werfe ihn herab und übe sich in heimlichen Versuchen, allerlei seltsame Umrisse hervorzubringen.
Schleicht sich der Golem in die Seele eines Menschen, schwinden diesem die Sinne. Eine unsagbare Müdigkeit erfasst den Geist (G 55) und der Leib wird von einem qualvollen Starrkrampf befallen. Der Mensch hat keinerlei Einfluss mehr auf seinen Körper. Der Erzähler empfindet dieses Eindringen in seine Persönlichkeit als grauenvoll und angstein- flößend:
Und als ich antwortete, da fühlte ich, daß sich meine Zunge wie aus einem Krampfe löste, von dem ich vorher nichts gespürt hatte. Ich war förmlich überrascht, daß ich mich bewegen konnte, und deutlich kam mir zum Bewußtsein, daß ich mich - wenn auch nur den Bruchteil eines Herzschlags lang - in einer Art Starrkrampf befunden haben mußte. (G 51)
Er ist nicht in der Lage, sich gegen den ungewollten Eingriff zu wehren. Eine Kälte überzieht seinen Leib und ein entsetzliches Gefühl, „als verblute er langsam“, kriecht seinen Körper hinauf (G 75). Der Golem hat von ihm Besitz genommen. Seine Wesens- und Gesichtszüge, die er in seine „Opfer“ hineinprojiziert, verleihen seiner Anwesenheit Ausdruck. So befindet sich Pernath abrupt in dem Schoße seines Freundes Zwakh, der als Marionettenspieler gerade den Kopf einer neuen Puppe anfertigt. Erschrocken starrt ihm das Gesicht des Golem am Ende der Schnitzerei entgegen (G 55 ff.). Die Besessenheit der betroffenen Menschen gipfelt in dem Mord des Freimaurers Karl Zottmann. Mehrere Selbstmorde geschehen ebenfalls. Auch der Lustmörder Laponder wird von einer höheren Gewalt zu seiner grausamen Tat gedrängt: „Wenn ich auch bei vollkommen klarem Bewußtsein handelte, so hatte ich dennoch keine Wahl: irgend etwas, dessen Vorhandensein in mir ich nie geahnt hatte, wachte auf und war stärker als ich.“ (G 248 f.)
Das Geschöpf, welches „nicht sterben kann“ (G 47), nimmt bei jedem Menschen unterschiedliche Züge an. Erscheint er den Einen als gespenstisches Phantom, beschwört die Frau des Archivars Hillel, dass es nur ihre „eigene Seele habe sein können, die - aus dem Körper getreten - ihr einen Augenblick gegenübergestanden und mit den Zügen eines fremden Geschöpfes ins Gesicht gestarrt hätte.“ (G 53) Das „Gespenst“ als einen Teil seiner Selbst anzuerkennen, stellt den Schlüssel zur Erlösung dar. Nur so kann die angsteinflößende Projektion seiner Selbst überwunden und der freie Wille zurückerlangt werden.[60] Pernath ist mit der Situation jedoch überfordert: „Ich kam mir vor wie ein Gaul, der dressiert wird, das Reißen am Zügel spürt und nicht weiß, welches Kunstwerk er machen soll, den Willen seines Herrn nicht erfaßt.“ (G 102)
Ist wirklich der Golem die herrscherische Instanz, die über die Menschen Gewalt ausübt? Oder handelt es sich vielmehr um die innere Stimme seines Selbst, die Pernath den richtigen Weg zu weisen versucht; hin durch die „wilden Schluchten und Klüfte des Lebens“ empor in die „Firnenwelt eines unbetreten Landes“ (G 236)? Jeder empfindet die Anwesenheit des mysteriösen Geschöpfes unterschiedlich. Pernath spürt, dass hinter dem unheimlichen Golem mehr verborgen ist, als all die Menschen, die „von einem unsichtbaren magnetischen Strom belebt“ (G 42), willenlos durch ihr Dasein treiben, ahnen.
4.3 Im Bann
Ähnlich willenlos fristen die Träumer in Kubins Roman „Die andere Seite“ ihr monotones Leben. Das gesamte Traumreich steht unter dem Bann des allgegenwärtigen Schöpfers Patera, der seine Geschöpfe wie „Marionetten“ (AS 149) an seidenen Fäden lenkt.[61] Die Hauptstadt Perle gleicht einer großen Bühne, Theater sind demnach in dem Traumreich nicht erwünscht und unnötig, betonen die Bewohner doch selbst: „Wir haben selbst Theater genug!“ (AS 98) So beobachtet der Erzähler eines Tages einige Burschen, die „Nebengeräusche“ erzeugen (AS 106).
Der Erzähler spürt die Macht seines alten Jugendfreundes am eigenen Leib. Bereits vor seiner Ankunft im Traumreich beeinflusst ihn diese. Eine Ablehnung der Einladung ist ausgeschlossen (AS 27). Zweifelhafter steht die Frau des Erzählers dem Vorhaben ihres Gatten gegenüber. Angsterfüllt stellt sie vor dem Tor des Traumreiches fest: „Nie mehr komme ich da heraus.“ (AS 47) Sie wird Recht behalten, denn wie alle anderen Menschen, die Patera in sein Reich eingeladen hat, wird auch sie von der „kollektiven Beses- senheit“[62] ergriffen. Der Schöpfer verbirgt sich hinter allem, selbst die Zeugung eines Kindes scheint er beeinflussen zu können. Kindern, die im Traumreich geboren werden, fehlt wie ihm das Nagelglied am linken Daumen (AS 114). Im Verlauf der Handlung entdeckt der Erzähler, der den Leser durch das Traumreich führt, besondere Rituale. Die gewaltige Anziehungskraft Pateras wird in dem sogenannten „großen Uhrbann“ (AS 79), der die Menschen täglich überfällt, besonders offenkundig. Auch der Erzähler kann sich diesem Zwang nicht entziehen und steht schließlich vor der Wand, an der ein Strahl Wasser herunterfließt, und spricht von einer inneren Stimme angetrieben die Worte: „Hier stehe ich vor Dir!“ (AS 81)[63]
Die als „Klaps“ (AS 103) beschriebene Gefühlsregung, welche die Bewohner befällt, wenn Patera einen epileptischer Anfall hat, demonstriert seine Verbundenheit mit ihnen und betont seine Macht: „Wird aber das innerliche Auflehnen gegen das Unabänderliche zu stark, dann kommt der Klaps“ (AS 104). Dem Bann des unnahbaren Herrschers sind neben den Menschen auch alle Tiere und Pflanzen unterworfen:
Das gesamte Traumland war einem Bann unterworfen [...] Der Meister steckte wirklich hinter allem und manifestierte sich häufiger, als es angenehm war, auf geheimnisvolle Weise. Der Gedanke, daß er der Lenker von fast fünfundsechzigtausend Träumern sei, war nicht von der Hand zu weisen [...] Wo die Grenzen seiner Macht lagen, konnte ich unmöglich absehen, denn ich bekam noch genug Beweise, daß er auch allem [!] tierischen und pflanzlichen Wesen seine Impulse mitteilte. Wir ahnten das auch sämtlich und nahmen es als ein besiegeltes Schicksal hin. (AS 148)
Der „Magnetiseur“ Patera versetzt die Traumbewohner in einen Trancezustand und steht in der Tradition des „Magnetiseur[s]“ E.T.A. Hoffmanns.[64] Den Höhepunkt der Besessenheit bildet indes der Starrkrampf, den der Erzähler am eigenen Leib erfährt, als er Patera gegenübersteht: „Von der Zunge ausgehend, ergriff er den ganzen Körper. - Unten auf dem Platze wurden Menschen und Tiere einen Moment steif wie Holz.“ (AS 125) Die Verwandlungsfähigkeit des Herrschers ist gewaltig. Dem Erzähler gelingt es erst sehr spät bis zu ihm vorzudringen. Die Anwesenheit des Schöpfers ist allgegenwärtig, zeigt er sich doch immer wieder in verschiedenen Personen und überzieht mit seinem Duft das gesamte Land (AS 76, 123).
Die Menschen leben unter ständiger Beobachtung des Herrschers, der alles selbst erschaffen hat, jeden Bewohner und jeden Gegenstand sorgfältig auswählte. Bezeichnenderweise erhalten vorwiegend verwirrte oder schwache Menschen eine Einladung in das Reich. Ständige Gäste der Sanatorien und Heilanstalten, „in sich abgeschlossene^ Typen“ (AS 59), waren ebenso begehrt wie Menschen mit einem ausgefallenen Äußeren. Nach dem „Gesichtspunkt des Abnormen oder einseitig Entwickelten“ (AS 60) werden sie ausgesucht. All diese Menschen zeichnen sich durch eine Besonderheit aus, die ihre ganz persönliche Identität prägt. Dies macht sie allerdings auch besonders beeinflussbar. Der Erzähler lässt sich ebenfalls dieser Gruppierung zuordnen. Er charakterisiert sich selbst als „schüchterner“, „schwächlicher Mensch“ (AS 13). Dies erklärt auch, weshalb die Traumbewohner glauben, sich schon einmal begegnet zu sein (AS 52). Sie sind alle nach ähnlichen Kriterien ausgewählt worden und der Beeinflussung Pateras hilflos ausgesetzt.
Es verwundert jedoch sehr, dass immer wieder betont wird, wie glücklich und zufrieden die Bewohner ihr Leben trotz der seltsamen Umstände und der rätselhaften Geschehnisse führen. Sie leben ihren „Traum“, die restliche Welt gerät zunehmend in Vergessenheit. Der Erzähler beschreibt das Gefühl, welches jeden Bewohner erfasst, folgendermaßen:
Uns erschien das Traumreich unermeßlich und grandios, die übrige Welt kam gar nicht in Betracht, man vergaß sie. Kein Mensch, der sich hier eingelebt, wollte wieder hinaus, «da draußen», das war Schwindel, das gab’s gar nicht. (AS 145)
Obwohl die Umstände sehr merkwürdig sind und die Geldwirtschaft lediglich „symbolisch“ existiert (AS 65), fühlt der Erzähler, dass es eine „starke Hand‘ gibt, deren „verborgene Kraft“ hinter allem steht (AS 66). Er nennt diese Macht das „Schicksal“ (AS 66). Der innere Drang des Erzählers, das Rätsel um seinen alten Jugendfreund zu entschlüsseln, wird immer größer. Von diesem Vorhaben wird ihm dessen ungeachtet tunlichst abgeraten. Die Bewohner folgen diesen Befehlen widerstandslos. Niemand denkt zunächst daran sich aufzulehnen. Selbst als Seuchen die Stadt überfluten und alle Dinge und Menschen der Verwahrlosung und dem Zerfall hilflos ausgesetzt sind, scheinen sich die Bewohner über den Ernst der Lage nicht im Klaren zu sein: „Sich aber in seinem Vergnügen stören zu lassen, fiel keinem Traummenschen ein“ (AS 192), betont der Erzähler nach der schlimmen Tierseuche, bei der etliche Menschen bereits ums Leben kamen.
Es ist grotesk und unwirklich, doch die Menschen führen ein einfaches Leben. Sorgenfrei genießen sie ihr Leben unter der Lenkung des Herren. Die anfängliche Euphorie des Erzählers, der sich diesem Leben anpasst, verfliegt dahingegen sehr schnell: „Der Herr besaß unseren Willlen, trübte unsere Vernunft.“ (AS 149) Hin - und hergerissen zwischen Abscheu und Hoffnung, baut er immer wieder vergeblich auf die Hilfe Pateras (AS 135). Der Herrscher scheint nicht in der Lage zu sein, den drohenden Untergang aufzuhalten. Eine große Müdigkeit plagt seinen Geist. Im Schlaf ist seine Einflussnahme auf die Menschen besonders einfach. Es überrascht daher nicht, dass eine Schlafseuche ausbricht, als Herkules Bell mit Hilfe seiner Proklamation auch die letzten Traumstädter zu überzeugen versucht (AS 185). Der Glaube an den Herren nimmt jedoch immer mehr ab. Das Reich versinkt nach und nach in Schutt und Asche.
Mit dem Untergang des Reiches stürzt auch jeder einzelne Bewohner in die Tiefe und verschwindet in der unförmigen Masse, in der sich alles auflöst. Die Menschen verlieren die Fähigkeit der Sprache (AS 214) und fallen dem um sich greifenden Sittenverfall zum Opfer (AS 217 f.), da die Wahrung des guten Rufes keine Rolle mehr spielt. Der freie Wille des Menschen ist erloschen. Der Erzähler schildert diese besonderen Momente erschüttert:
Aber den stärksten Eindruck machte mir der halbwache, etwas blöde Ausdruck dieser erhitzten oder blassen Gesichter, der ahnen ließ, daß diese Armen nicht in freier Willensbestimmung handelten. Es waren Automaten, Maschinen, die, in Gang gesetzt, sich selbst überlassen worden waren - der Geist mußte woanders hausen! (AS 220)
Der einzige Bewohner, der sich dieser Selbstaufgabe mit aller Kraft widersetzt, ist der Amerikaner Herkules Bell. Seine Bemühungen, den Blick der Menschen für den Untergang ihrer Identität zu schärfen, sind allerdings vergeblich. Zu groß ist die Angst der Träumer vor der Rache des Herren (AS 166). Auch der Tod Pateras am Ende des Romans führt nicht zu der erwünschten Erlösung.
Die Menschen besitzen keine eigene Schöpferkraft mehr, eine individuelle Besessenheit bleibt an ihnen haften.[65] Selbstmord scheint die einzige Lösung zu sein. Inwieweit Patera die Machtinstanz repräsentiert oder ob eine noch höhere, verborgene Macht hinter diesem Phantom waltet, werde ich noch erläutern.
5. Das Doppelgängerphänomen
5.1 Im Zeichen des Kreuzes
Voller Entsetzen vernimmt Medardus die Stimme seines Doppelgängers, der ihn unaufhörlich auf seinem Weg in die Freiheit verfolgt. Kontinuierlich fordert er ihn auf, mit ihm aufs Dach zu steigen und zu ringen. Sein grässliches Lachen lässt den Mönch erschaudern. Doch nicht die Person löst das Gefühl des Grauens bei dem jungen Mönch aus, sondern die Erkenntnis, dass der Doppelgänger einen Teil seiner Selbst repräsentiert (E 128).[66] Die blutige Gestalt des in den Abgrund gestürzten Viktorins bleibt dabei nicht die einzige Doppelgängergestalt. Auch in dem seltsamen Maler, seinem Halbbruder Her- mogen und dem närrischen Friseur Belcampo zeigen sich Züge seiner Selbst. Das Ich des Mönches ist in unzählige Teile gespalten, eine Einheit der Persönlichkeit ist nicht mehr vorhanden:
[...] doch war mein Ich hundertfach zerteilt. Jeder Teil hatte im eignen Regen eignes Bewußtsein des Lebens und umsonst gebot das Haupt den Gliedern, die wie untreue Vasallen sich nicht sammeln mochten unter seiner Herrschaft. Nun fingen die Gedanken der einzelnen Teile an sich zu drehen, wie leuchtende Punkte, immer schnell und schneller, so daß sie einen Feuerkreis bildeten, der wurde kleiner, so wie die Schnelligkeit wuchs, daß er zuletzt nur eine stillstehende Feuerkugel schien. Aus der schossen rotglühende Strahlen und bewegten sich im farbigen Flammenspiel. (E 254)
Ob Medardus damit als schizophren zu bezeichnen ist, lässt sich allerdings nicht eindeutig bestimmen. Der Begriff stammt aus dem Griechischen, in dem „schizo phren“ die Bedeutung „ich spalte die Seele“ trägt.[67] Medardus fühlt sich in seinem Wesen gespalten: „Ich bin das, was ich scheine, und scheine das nicht, was ich bin, mir selbst ein unerklärliches Rätsel, bin ich entzweit mit meinem Ich!“ (E 73) Dennoch sind viele der Doppelgängerauftritte nicht als bloße Halluzinationen seitens Medardus zu deuten. Denn die Gestalten, die als sichtbare Personen erscheinen oder nur als innere, angsteinflößende Stimme vernommen werden, werden auch von außenstehenden Personen wahrgenommen. Dies unterstützt die Glaubwürdigkeit des Mönches. Die gespenstischen Szenen, wie beispielsweise der furchteinflößende Auftritt des wahnsinnigen Mönches im Forsthaus, entlarven sich so als Ereignisse der Realität, beziehungsweise des Übernatürlichen. Die unheimliche Atmosphäre entsteht vor allem, da sich vertraute Umgebungen als Orte des Schreckens enthüllen. Den Höhepunkt des Grauens bildet die Kerkerszene, in welcher der nackte Doppelgänger aus dem Boden hervorsteigt und Medardus das Messer überreicht, das die Erbsünde repräsentiert (E 201 f.).
Medardus Seele ist gespalten. Gute und böse Teile, die er von sich gewiesen hat, erscheinen ihm nun in Verkörperung der Doppelgänger. Das „individuelle Böse“, welches sich vor allem in dem Doppelgänger Viktorin verdeutlicht und Medardus in Versuchung führt, ist jedoch nicht nur negativ zu werten. Durch die Darstellung des Bösen wird das Gute gleichsam betont und tritt hervor.[68] Verdrängte Persönlichkeitsteile gelangen dabei tief aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche. Der Verlust des Bewusstseins bei der Erscheinung eines Doppelgängers bekräftigt diese Verbindung.[69] Der Schock und die Furcht vor der Konfrontation mit dem eigenen Selbst überwältigen den jungen Mönch, obwohl die Doppelgänger ihm wohlgesonnen sind. Medardus zu schaden ist nicht ihre Absicht. Sie fungieren vielmehr als Beschützer, die ihn auf seinem Weg begleiten, bis er die Vollständigkeit seines Wesens zurückerlangt hat. Die Rötung des Blutes in dem mysteriösen Traum weist auf diese Funktion der Doppelgänger hin.[70] Hoffmann fiel es nicht schwer, sich in die Psyche seines Protagonisten hineinzuversetzen, denn auch er wurde von Doppelgängern seiner Selbst verfolgt. In einem Tagebucheintrag vom ersten Juni 1804 notierte er: „Ungeheure Gespanntheit des Abends ... Anwandlungen von Todesahnungen - Doppelgänger -“[71]
Eine ähnlich schaurige Wirkung verspürt Medardus in der Gegenwart des Grafen Viktorin, der als offenkundigster Doppelgänger des Mönches anzusehen ist. Dieser nimmt verschiedene Realitätsgrade ein. Mimt er zum einen den wahnsinnigen Mönch, der Medardus als Gespenst im Forsthaus auflauert (E 128) und ihm seine Lebensgeschichte wie einen Spiegel vorhält (E 138), fordert er ein anderes Mal seinen Bruder Medardus als blutige Gestalt in einer Vision auf, mit ihm aufs Dach zu steigen. Wie Belcampo und Her- mogen existiert er als reale Person und lässt den Leser damit im Ungewissen über seine Existenz. Viktorin verkörpert vorwiegend die sexuellen Züge in Medardus Charakter. Er spiegelt die teuflische Seite in dem Charakter des Protagonisten wider. Seine frevelnden und sündigen Triebe, die der Mönch im Kloster mit Bußübungen zu züchtigen und verdrängen suchte, kann er in der Gestalt Viktorins frei ausleben (E 136 f)[72] Doch nicht nur Medardus fürchtet sich vor seinem Doppelgänger. Das Phantom Viktorin ist ebenfalls in seiner Persönlichkeit gespalten und fühlt sich wie Medardus von einem fremden Ich verfolgt (E 334). Verwirrt und willenlos bietet er für den jungen Mönch die Möglichkeit der Schuldübertragung. Dieser ist nicht bereit, die Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, und projiziert sie auf seinen Doppelgänger, der sich bereitwillig als Täter stellt. Viktorin verkörpert somit das verdrängte Unterbewusstsein, welches mit seinem Erscheinen an die Oberfläche tritt.[73] Dennoch entwickelt sich eine Verbundenheit zwischen den beiden Brüdern (E 143). Ihre Wesensgleichheit wird in dem Kampf im Wald besonders offenkundig. Qualvoll spürt Medardus die Schmerzen des Gegners am eigenen Leib:
Dann lachte er stärker und mich nur traf jäher Schmerz; ich versuchte seine unter meinem Kinn festgeknoteten Hände loszuwinden, aber die Gurgel einzudrücken drohte mir des Ungetüms Gewalt. (E 252)
[...]
[1] Watts, Der Lauf des Wassers, S. 48.
[2] Freund, Deutsche Phantastik, S. 196.
[3] Vgl. Oehm, Gustav Meyrink, S. 192 f.
[4] Vlg. Hewig, Phantastische Wirklichkeit, S. 13.
[5] Alfred Kubin; zit. nach: Cersowsky, Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, S. 74.
[6] Paul, Ideen-Gewimmel, S. 76.
[7] Paul, Siebenkäs, S. 31.
[8] Rank, Der Doppelgänger, S. 113 f.
[9] Hildenbrock, Das andere Ich, S. 272.
[10] Frenzel, Motive der Weltliteratur, S. 100.
[11] Emil Lucka: Verdoppelungen des Ich, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 115, Berlin 1904, S. 60; zit. nach: Bartholomae, Die Doppelpersönlichkeit im Drama der Moderne, S. 15.
[12] Vgl. Bär, Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie, S. 290.
[13] Jung, Seelenprobleme der Gegenwart, S. 170.
[14] Bär, Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie, S. 51.
[15] Bartholomae, Die Doppelpersönlichkeit im Drama der Moderne, S. 7.
[16] Vgl. ebd., S. 9.
[17] Freud, Das Unheimliche, S. 260.
[18] Vgl. Hildenbrock, Das andere Ich, S. 174.
[19] Krauss, Das Doppelgängermotiv in der Romantik, S. 7 f.
[20] Vgl. Bär, Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie, S. 101.
[21] Karl Philipp Moritz: Gnöthi sautón oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, Berlin 1783; Johann Caspar Lavater: Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner Selbst, Frankfurt/Leipzig 1771.
[22] Vgl. Bär, Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie, S. 440.
[23] Johann Gottlieb Fichte; zit. nach: Bartholomae, Die Doppelpersönlichkeit im Drama der Moderne, S. 9.
[24] Vgl. Frenzel, Motive der Weltliteratur, S. 110.
[25] Vgl. Bär, Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie, S. 32.
[26] Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, S. 550.
[27] E.T.A. Hoffmann; zit. nach: Köhn, Vieldeutige Welt, S. 44.
[28] Vgl. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, S. 554.
[29] Vgl. Nehring, E.T.A. Hoffmann, S. 336.
[30] Vgl. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, S. 570.
[31] Vgl. Magris, Die andere Vernunft, S. 53.
[32] Ebd., S. 54.
[33] Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, S. 575.
[34] Vgl. Binder, Gustav Meyrink, S. 430.
[35] Das Schreiben gestaltete sich jedoch schwierig. Zu verworren war die Handlung, sodass einige seiner Freunde, u.a. Fritz Eckstein, Meyrink unterstützten. Ursprünglich war „Der ewige Jude“ oder „Der Stein der Tiefe“ mit dem Untertitel „Der Guckkasten“ als Titel des Romans vorgesehen. Vgl. Binder, Gustav Meyrink, S. 457 f.
[36] Das Kapitel „Prag“ des „Golem“ entspricht der Urzelle des Romans. Es gleicht dem Kapitel aus „Der Trödler Wassertrum“, welches im „Pan“ am 16. September 1911 abgedruckt wurde. Vgl. Lube, Gustav Meyrink, S. 121.
[37] Vgl. Albert Zimmermann: Gustav Meyrink und seine Freunde. Ein Bild aus dem dritten Kriegsjahr, Hamburg 1917, S. 5; zit. nach: Marzin, Okkultismus und Phantastik, S. 20.
[38] Petriconi, Das Reich des Untergangs, S. 96.
[39] Andres Geyer merkt allerdings an, dass Briefe und Vorstudien zu der „Anderen Seite“ existieren, die eine frühere Beschäftigung mit dem Roman nahe legen. Vgl. Geyer, Träumer auf Lebenszeit, S. 98.
[40] Ursprünglich war der Titel „Traumreich“ für das Werk vorgesehen.
[41] Kubin, Aus meinem Leben, S. 40 f.
[42] Hellmuth Petriconi führt als Quelle der Wegbeschreibung in das Traumreich den Bericht Marco Polos an. Vgl. Petriconi, Das Reich des Untergangs, S. 98 ff.
[43] Kubin, Die andere Seite, Seite 12. Im Folgenden werden Zitate unter Verwendung der Sigle „AS“ im Text nachgewiesen.
[44] Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, S. 12. Im Folgenden werden Zitate unter Verwendung der Sigle „E“ im Text nachgewiesen.
[45] Vgl. Steinwachs, Die Liebeskonzeption, S. 51.
[46] Vgl. Nehring, E.T.A. Hoffmann, S. 344.
[47] Vgl. Nipperdey, Wahnsinnsfiguren, S. 101.
[48] Unter diesem Begriff verstand man die Seiten des Menschen, die dem Verstand nicht zugänglich sind, wie die Fremdbestimmung durch unerklärliche Kräfte (Schicksal, Zufall), die Triebe, die Erscheinungen des animalischen Magnetismus wie Hypnose sowie Phänomene der menschlichen Psyche (Wahnsinn). Gotthilf Heinrich Schubert prägte den Begriff der „Nachtseite“. Vgl. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, S. 563.
[49] Ebd., S. 558.
[50] E.T.A. Hoffmann; zit. nach ebd., S. 564.
[51] Nipperdey, Wahnsinnsfiguren, S. 213.
[52] Vgl. Pabst, Schicksal, S. 15.
[53] Krauss, Das Doppelgängermotiv in der Romantik, S. 103.
[54] Vgl. Ralf Schenk, Regine Jebsen und Kurt Willimeczik in: Köhn, Vieldeutige Welt, S. 73.
[55] Vgl. Nipperdey, Wahnsinnsfiguren, S. 208. Bernhard von Arx, Karl Ochsner und Wolfgang Pfeiffer-Belli vertreten diese Meinung ebenfalls. Vgl. Köhn, Vieldeutige Welt, S. 73.
[56] Meyrink, Der Golem, S. 48. Im Folgenden werden Zitate unter Verwendung der Sigle „G“ im Text nachgewiesen.
[57] Doms, Das Phänomen der kollektiven Besessenheit, S. 37.
[58] Vgl. Rosenfeld, Die Golemsage, S. 161.
[59] Vgl. Doms, Das Phänomen der kollektiven Besessenheit, S. 27 ff.
[60] Vgl. Smit, Auf der Suche nach dem Übersinnlichen, S. 122.
[61] Vgl. die Assoziation von Regisseur und Statisten bei Geyer, Träumer auf Lebenszeit, S. 117.
[62] Doms, Das Phänomen der kollektiven Besessenheit, S. 36 ff.
[63] Clemens Ruthner deutet dies als ein Pissoir, in welchem sich das Mysterium mit banalen Körperäußerungen in einer grotesken Art und Weise verschränkt. Vgl. Ruthner, „Bacchanalien, Symposien, Orgien...“, S. 73.
[64] Vgl. Cersowsky, Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, S. 72 ff.
[65] Vgl. Doms, Das Phänomen der kollektiven Besessenheit, S. 42.
[66] Vgl. Bär, Das Motiv des Doppelgängers, S. 40.
[67] Vgl. Lederer, Phantastik und Wahnsinn, S. 283.
[68] Vgl. Schäfer, Symbole des Individuationsprozesses, S. 180 f.
[69] Vgl. Kremer, Romantische Metamorphosen, S. 252.
[70] Vgl. Schäfer, Symbole des Individuationsprozesses, S. 167.
[71] E.T.A. Hoffmann; zit. nach: Krauss, Das Doppelgängermotiv in der Romantik, S. 111.
[72] Vgl. Bär, Das Motiv des Doppelgängers, S. 263.
[73] Vgl. Cramer, Bewusstseinsspaltung, S. 9.
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