Die vorliegende Arbeit fasst das Werk "Ein Bericht" von Jean-François Lyotard zusammen und diskutiert es kritisch.
„Die Entscheidungsträger versuchen die Wolken des Gesellschaftlichen mittels Input-Output-Matrizen im Gefolge einer Logik zu verwalten, die die Kommensurabilität der Elemente und die Determinierbarkeit des Ganzen impliziert. Unser Leben wird durch diese Entscheidungsträger der Vermehrung der Macht geweiht. Ihre Legitimation hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit wie wissenschaftlicher Wahrheit wäre die Optimierung der Leistungen des Systems, seine Effizienz. Die Anwendung dieses Kriteriums auf alle unsere Spiele – es gibt verschiedene Sprachspiele – geht nicht ohne Schrecken vor sich, weich oder hart: Wirkt mit, seid kommensurabel, oder verschwindet!“ (Vorwort, S.15)
Lyotard versucht diese Aussagen in seinem Bericht zu erläutern. Ausgangspunkt ist die Hypothese, daß das Wissen in derselben Zeit, in der die Gesellschaften in das sogenannte postindustrielle und die Kulturen in das sogenannte postmoderne Zeitalter eintreten, sein Statut wechselt.
Demnach finde eine allgemeine Transformation statt, mit dem Ziel, die Erkenntnis in Informationsquantitäten zu übersetzen. Die Bedingung der Übersetzbarkeit etwaiger Ergebnisse in die Maschinensprache wird maßgebend sein. Alles, was sich dem nicht fügt bzw. nicht fügen kann, wird vernachlässigt werden. In diesem allgemeinen „Übertragungssprozeß“ wird am Ende die Wertform des Wissens im Mittelpunkt stehen. Das Wissen ist und wird für seinen Verkauf geschaffen werden, und es wird für seine Verwertung in einer neuen Produktion konsumiert und konsumiert werden: in beiden Fällen, um getauscht zu werden. Es hört auf, sein eigener Zweck zu sein, es verliert seinen „Gebrauchswert“.
Auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene wird das Wissen im (weltweiten) Konkurrenzkampf das Mittel der Macht werden. Die zunehmende Transparenz (vgl. Internet als unerschöpfliche Informationsquelle) bezeichnet er als einen Faktor der Undurchsichtigkeit und des „Rauschens“. Es verbleibt in gewisser Weise auf einem „oberflächlichen Niveau“. Die Problematik, die sich daraus ergibt, liegt auf der Hand: wer wird wissen? Wer wird mächtig sein?
Dieses Szenario, die „Informatisierung der Gesellschaft“, bedarf ihrer Legitimation. Die Legitimation ist der Prozeß, durch welchen ein Gesetzgeber autorisiert wird, ein Gesetz als Norm zu erlassen. Wissen und Macht sind in diesem Übertragungsprozeß zwei Seiten derselben Frage: Wer entscheidet, was Wissen ist, und wer weiß, was es zu entscheiden gilt? Mehr denn je ist die Frage des Wissens im Zeitalter der Informatik die Frage der Regierung. – Anmerkung: Lyotard bricht an dieser Stelle seine Ausführungen ab. Es bleibt offen inwieweit diese neue Machtposition der Regierung als Gefahr für die Nichtregierenden oder als Appell an die Verantwortung der Regierenden zu werten ist.
Die Methode der Legitimation sieht Lyotard in den Sprachspielen (vgl. Wittgenstein), und zwar in ihrem pragmatischen Aspekt. Wie jedes Spiel folgen auch die Sprachspiele nach bestimmten Regeln und sind somit determinierbar. Drei Beobachtungen trifft er hierzu:
1. Die Regeln beinhalten ihre Legitimation nicht in sich selbst. Sie sind Gegenstand eines expliziten oder impliziten Vertrags zwischen den Spielern.
2. Ohne Regeln gibt es kein Spiel.
3. Jede Aussage muß wie ein in einem Spiel ausgeführter Spielzug betrachtet werden.
Das erste Prinzip, was er daraus folgert, ist: Sprechen ist Kämpfen (im Sinne des Spielens), Sprechakte gehören einer allgemeinen Agonistik an. Daraus ergibt sich das zweite Prinzip: Der beobachtbare soziale Zusammenhang besteht aus sprachlichen „Spielzügen“.
Der Rahmen seiner Ausführungen ist die Sichtweise der Gesellschaft als funktionalem Ganzen, als ein selbstregulierendes System. Die ständigen Neuordnungen dienen der Verbesserung des „Lebens“ des Systems, mit dem Ziel der Optimierung seiner Leistungsfähigkeit, seiner Effektivität. Die Gesellschaft als intelligente Maschine! Er meint, daß die Funktionen der Regulierung und daher der Reproduktion mehr und mehr den Verwaltern entzogen und Automaten anvertraut werden. Das Problem wird zunehmend in der Verfügung von Informationen liegen, die von diesen Automaten zu speichern sein werden, damit die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Dies fällt mehr und mehr in den Zuständigkeitsbereich von Experten. Die herrschende Klasse ist und wird die der Entscheidenden sein.
Für das Einzelne Subjekt ohne Entscheidungsgewalt heißt das, daß es abhängig und ohnmächtig den Entscheidungsergebnissen ausgeliefert sein wird. Jeder ist somit auf sich selbst zurückgeworfen. Und jeder weiß, daß dieses Selbst wenig ist!
Das Selbst ist zwar wenig, jedoch ist es nicht isoliert. Es ist in einem Gefüge von Relationen gefangen, das noch nie so komplex und beweglich war. Es ist Teil des Systems. Es ist auf „Knoten“ des Kommunikationskreislaufes gesetzt, seien sie auch noch so unbedeutend. Daraus ergibt sich, daß es durch einen unerwarteten „Spielzug“ zu wechselseitigen Verschiebungen von Mitspielern und Gruppen von Mitspielern kommen kann. Die Folge kann sein, daß es somit dem System jene Steigerung der Leistungsfähigkeit bringt, die es fordert, und dem Selbst eine Positionsverschiebung. Der Aufstieg zur herrschenden Klasse wird somit vom System ermöglicht, ja sogar gefördert (sofern es der Effizienzsteigerung dient).
Die Frage des sozialen Zusammenhangs ist als Frage ein Sprachspiel, dasjenige der Frage, das unmittelbar demjenigen, der sie stellt, demjenigen, an den sie sich richtet und dem zur Frage gestellten Referenten eine Position zuteilt. D.h.: Jedem, dem Fragendem, dem Gefragtem und dem Inhalt der Frage wird durch die Frage ein Position zugeteilt.
Es handelt sich hierbei ebenfalls um einen „Spielzug“. Jeder Sprachpartner unterliegt also während der ihn betreffenden
„Spielzüge“ einer „Umstellung“, einer Anderswerdung nicht nur in seiner Eigenschaft als Empfänger und Referent, sondern auch als Sender. Diese „Spielzüge“ rufen unfehlbar
„Gegenzüge“ hervor, doch jeder weiß aus Erfahrung, daß diese letzteren nicht „gut“ sind, solange sie nur reaktiv sind. Denn sie sind so nur programmierte Wirkungen in der Strategie des Gegners, des Agonisten. Sie vollenden diese und stehen also im Gegensatz zu einer Veränderung des beiderseitigen Kräfteverhältnisses. Unerwartete „Spielzüge“ – eine neue Aussage – sind daher nicht nur für das System wichtig!
Lyotard unterscheidet zwei Formen des Wissens: das narrative und das wissenschaftliche Wissen. Beim narrativen Wissen handelt es sich um eine Kompetenz, die über die Bestimmung und Anwendung des einzigen Wahrheitskriteriums (wie es in der Wissenschaft üblich ist) hinausgeht und sich auf jene der Kriterien von Effizienz, Gerechtigkeit und/oder Glück (ethische Weisheit), klanglicher und chromatischer Schönheit usw. ausdehnt. Es fällt mit einer umfassenden „Bildung“ von Kompetenzen zusammen und gestattet „gute“ Perfomanzen bezüglich verschiedener Gegenstände des Diskurses. Eine Besonderheit dieses Wissen ist auch die Affinität mit der Gewohnheit. Die narrative Form ist in der Formulierung des traditionellen („wilden“) Wissens vorherrschend. Eine Form dieses Wissens par excellence ist die Erzählung, gekennzeichnet durch eine Pluralität an Sprachspielen und „narrativen“ Regeln. Die Erzählungen bestimmen die Kriterien der Kompetenz und/oder sie illustrieren deren Anwendung. So bestimmen sie, was in der Kultur das Recht hat, gesagt und gemacht zu werden, und da sie selbst ein Teil von ihr ausmachen, werden sie eben dadurch legitimiert.
Das wissenschaftliche Wissen ist durch die Regeln der Verifikation und Falsifikation gekennzeichnet. Sie eröffnen der Auseinandersetzung der Mitspieler – Sender und Empfänger – den Horizont des Konsens. Die Wahrheit einer Aussage und die Kompetenz des Aussagenden sind der Billigung durch die Gemeinschaft der an Kompetenz Gleichen unterworfen. Es fordert die Absonderung eines Sprachspiels, des denotativen; und den Ausschluß der anderen (Bei Erzählungen werden denotative, präskriptive etc. Aussagen bunt durcheinander gewürfelt; der geschickte Umgang damit führt zu Kompetenz. Dabei stellt die Kombination der Sprachspiele das soziale Band dar.). Das wissenschaftliche Wissen kann weder wissen noch wissen machen, daß es das wahre Wissen ist, ohne auf das andere Wissen – die Erzählung – zurückzugreifen, das ihm das Nicht-Wissen (Bsp.: Fabeln, Mythen, Legenden, etc.) ist. Es würde sonst dem Vorurteil verfallen. Wie aber legitimiert es sich?
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- Mag. Marc Hollenstein (Author), 2002, Zusammenfassung und Diskussion von Jean-François Lyotards "Ein Bericht", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17397
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