Der französische Literaturkritiker, Soziologe und Philosoph Roland Barthes, einer der Hauptvertreter des Strukturalismus in Frankreich, war mit seinem Werk Sur Racine 1963 Auslöser einer akademischen Kontroverse: er vertrat die Ansicht, daß Interpretation eines Werks allein über die Erkennung seiner Struktur möglich sein müsse.
Im Kapitel ,,L´Homme Racinien" beschreibt er die Struktur, die Racines Stücken zu eigen ist. Zu Beginn ruft er in Erinnerung, daß ausnahmslos alle Tragödien im Mittelmeerraum spielen, zwar in drei verschiedenen Ländern, diese Schauplätze seien jedoch alle eingezwängt zwischen Meer und Wüste, Licht und Schatten. Die konkreteren Orte der Handlung seien das Zimmer, das Vorzimmer und die Außenwelt, mit der die tragische Figur durch den Tod, durch Flucht und durch seine(n) Vertrauten in Verbindung treten könne. Beim Zimmer handle es sich um einen undefinierten, unsichtbaren und gefürchteten Ort, an dem die Macht residiere, von dem alle Beteiligten nur mit Respekt und Furcht reden und es nicht wagen, ihn zu betreten - als Ersatz für ein nicht vorhandenes Zimmer diene mitunter das Exil eines Königs. Als unmittelbare Vermittlungsinstanz zwischen dem inneren und äußeren Kommunikationssystem diene deshalb das Vorzimmer, ein Raum der Sprache, wo die tragische Figur ihre Gedanken offenbare. Zwischen diesen beiden Orten gebe es eine Verbindung - eine Tür, einen Vorhang oder eine Mauer, die Augen und Ohren habe - deren Überschreitung einen Verstoß darstelle. Zur Außenwelt, dem dritten Handlungsbereich, gebe es schließlich keine wirklich stabile, begehbare Verbindung, die Tragödie stelle gewissermaßen Gefängnis und Schutz gegen das, was nicht Teil von ihr ist, zugleich dar. Die einzig existierenden Verbindungen zu dieser Außenwelt seien der Tod, die Flucht und der Vertraute, der jedem der tragischen Figuren zur Seite gestellt ist. Ein wirklicher Tod, so Barthes, sei jedoch unmöglich, da das Vorzimmer ein Raum der Sprache sei und dort immer geredet werde. Gehe ein Akteur jedoch von der Bühne, so komme das in gewisser Weise seinem Tod gleich, komme die Sprache aus irgendwelchen Gründen zum erliegen, sei dies ebenfalls der Fall. Die Flucht auf dem immer vorhandenen, an der Küste entlang segelnden Schiff werde lediglich vom Vertrauten als Ausweg aus der Tragödie vorgeschlagen, von der tragischen Figur niemals selbst erwähnt, geschweige denn ausgeführt [...]
Inhaltsverzeichnis
- L'homme racinien
- Die Struktur
- Die Grundform
- Licht und Schatten
- Die Figuren
- Sprache
- Liebe
- Das Schicksal
- Das Rezept
- Britannicus
- Fazit
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Das Kapitel "L'homme racinien" aus Roland Barthes' Werk "Sur Racine" analysiert die Struktur und die grundlegenden Elemente der Tragödien von Jean Racine. Barthes untersucht die spezifischen Elemente, die Racines Werk ausmachen, und stellt die These auf, dass die Interpretation eines Werks allein über die Erkennung seiner Struktur möglich sein müsse.
- Die Struktur der Tragödien von Racine
- Die Bedeutung von Sprache und Kommunikation in Racines Werk
- Die Rolle von Liebe, Macht und Schicksal in der Tragödie
- Die Ambivalenz von Licht und Schatten als zentrale Metapher
- Die Analyse der tragischen Figur und ihrer Beziehung zur Welt
Zusammenfassung der Kapitel
- L'homme racinien
- Die Struktur
- Die Grundform
- Licht und Schatten
- Die Figuren
- Sprache
- Liebe
- Das Schicksal
- Das Rezept
- Britannicus
Barthes beschreibt die spezifische Struktur der Tragödien Racines. Er analysiert die räumliche Gestaltung der Handlung, die sich auf das Zimmer, das Vorzimmer und die Außenwelt beschränkt. Das Zimmer ist ein Ort der Macht, das Vorzimmer ein Raum der Sprache, und die Außenwelt bleibt weitgehend unerreichbar für die tragischen Figuren. Die Verbindung zwischen diesen Räumen wird durch Symbole wie Türen, Vorhänge und Mauern repräsentiert, die gleichzeitig als Grenzen und Vermittlungsinstanzen fungieren.
Barthes stellt die Grundform der Tragödie Racines dar, die auf einem Autoritätskonflikt basiert. Eine Person A hat Macht über Person B, die A starke, unerwiderte Gefühle entgegenbringt. Diese beiden Figuren sind an einem Ort gefangen, der nur für einen von ihnen genug Platz bietet, was zu einem Konflikt führt. Das Dilemma von A besteht darin, dass er immer verliert, unabhängig davon, ob er B freilässt oder weiter gefangen hält. Die gefangene Person ist oft ein Spiegelbild von A und möchte eine Gegenleistung für ihre Funktion, die ihr von B durch Undankbarkeit vorenthalten wird. A versucht daraufhin, die glückliche Situation von B zu stören. Liebe und Hass sind eng miteinander verbunden, und die Waffen, die B einsetzt, um A zu besiegen, sind hauptsächlich verbaler Natur.
Barthes argumentiert, dass sich alle großen Stücke Racines um einen Kampf zwischen Licht und Schatten drehen. Der perfekte Zustand wird erreicht, wenn die tragische Figur die Augen in Tränen gen Himmel wendet, wobei die Augen das Licht symbolisieren, das das Dunkel offenlegt. Allen Stücken liegt ein Kampf zwischen Autorität und Begierde zugrunde, wobei die Autorität und die "aliénation" im Vordergrund stehen. Die Liebe, die in der Begierde mitschwingt, legt nur den anderen Konflikt offen. Zwei Arten von Liebe finden sich in den Stücken: die arrangierte Liebe und die plötzlich entflammte Liebe. Die Grundform des Scheiterns ist der vergebliche Versuch, von einer plötzlich entflammten zu einer dauerhaften Liebe zu gelangen.
Barthes bezeichnet die Figuren in Racines Stücken als "acteurs" und nicht als "personnages". Er argumentiert, dass es keine Charaktere oder Individuen gibt, und dass das Geschlecht einer Figur aus dem Konflikt resultiert. Die tragische Figur ist diejenige Person, die eingeschlossen ist und ihrem Schicksal nur durch den Tod entfliehen kann. Sie lebt in einer Welt der Zeichen und findet im Hass die fehlende Sicherheit. Die tragische Figur überlegt, was sie tun soll, anstatt zu handeln.
Barthes betont die Bedeutung von Sprache in Racines Werk. Das Glück der tragischen Figur existiert nur in der Phantasie und gelangt zum Zuschauer per Sprache. Sprachlosigkeit ist gleichbedeutend mit Ohnmacht, und der Versuch zu schweigen stellt einen Versuch dar, der Tragödie zu entkommen. Schönheit und Aussehen werden nicht als anatomische Eigenschaften behandelt, sondern als begriffliche, abstrakte Schönheit.
Liebesszenen in Racines Stücken sind eine Art Theater im Theater, die durch Sprache vermittelt werden und nichts mit der Realität zu tun haben. Der zerbrechlichste und zugleich lebendigste Moment ist der Moment des Kampfes, in dem das Licht den Schatten erhellt, aber noch nicht durchbricht. Liebe ist zweitrangig und dient dazu, die tragische Figur immer wieder an ihre tragische Situation zu erinnern.
Barthes erweitert seine Reflektionen auf die göttliche Ebene und argumentiert, dass das Schicksal bei Racine eine Art böse Kraft ist, die ihr Gegenteil im Glück sucht. Die Welt entspricht einem Gericht, in dem der Angeklagte unschuldig ist und der Richter der Schuldige sein muss. Der Held möchte sich auflehnen, weiß aber durch die Macht der Vergangenheit nicht wie und bewegt sich im Kreis. Die traditionelle Lösung besteht darin, sich in das Schicksal zu ergeben.
Laut Barthes ist der Schlüssel zu Racine die Formel "Reden ist Handeln". Die Art und Weise, wie gesprochen wird, spielt eine Rolle. "Parole" ist gleichbedeutend mit "réaction", und die ultimative Utopie besteht in einer Welt, in der die "parole" die Lösung für Konflikte ist. Eine Tragödie ist ein durch Sprache vermitteltes Scheitern.
Barthes analysiert die Tragödie "Britannicus" und argumentiert, dass Néron weniger eine Figur als eine Situation ist, die von seiner Vergangenheit gelähmt ist und sich endlich autonom bewegen möchte. Er ist das Spiegelbild seiner Mutter und möchte ihre Verhaltensweisen nicht übernehmen. Ihm stehen zwei Vertraute zur Seite: Burrhus und Narcisse. Burrhus verkörpert die öffentliche Meinung und Narcisse versucht, Néron durch einen Dialog auf den dunklen Pfad zu führen. Die letztendliche Lösung des Konfliktes durch Gift ist nur möglich, weil sie unspektakulär ist und nicht geplant. Zwischen Néron und seinem Halbbruder Britannicus besteht eine paradoxe Symmetrie. Die Tragik liegt darin, dass Néron das einzige, was er selbst schuf, nämlich die Liebe zu Junie, verliert.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen die Struktur, die Sprache, die Liebe, das Schicksal und die tragische Figur in den Tragödien von Jean Racine. Barthes analysiert die spezifischen Elemente, die Racines Werk ausmachen, und stellt die These auf, dass die Interpretation eines Werks allein über die Erkennung seiner Struktur möglich sein müsse. Er untersucht die Bedeutung von Sprache als Handlungsträger und die Rolle von Liebe, Macht und Schicksal in der Tragödie. Die Ambivalenz von Licht und Schatten als zentrale Metapher und die Analyse der tragischen Figur und ihrer Beziehung zur Welt runden die Analyse ab.
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- Stephanie Wössner (Autor), 1999, L´homme racinien (Roland Barthes: Sur Racine), Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1569