Die Arbeit untersucht, wie stark die Bundesrepublik ihre politischen Reaktionen auf das von der Volksrepublik China initiierte Projekt der Belt and Road Initiative (BRI) mit den europäischen Partnern (auf Unions- und Staatenebene) abstimmte. Unter Berücksichtigung von Primärdaten werden vier Fälle (Chinas Wirken in Drittmärkten, Chinas Gründung der AIIB, Chinas Diplomatie in Europa und Chinas Investitionsstrategie) analysiert und die jeweilige deutsche Vorgehensweise mit den Konzepten der Kooperation, Hegemonie und des Imperialismus diskutiert. Als Ergebnis wird festgehalten, dass die Bundesrepublik anfänglich wenig Koordinationsbemühungen vornahm, diese jedoch im Verlauf der Zeit immer stärker wurden, so dass man von einer Europäisierung der deutschen Chinapolitik sprechen kann.
Deutschlands "langer Weg nach Westen" schien mit dem Voranschreiten des europäischen Integrationsprojekts an einem Ende angekommen. Aber als sich deutsche und europäische Interessen während der Eurokrise widersprachen, entschied sich Berlin gegen Europa. Dieser "europapolitische Sündenfall" prüfte das deutsche Selbstverständnis. Für Kundnani und Wirtensohn stellte sich die Frage: War dies Vorbote einer "postwestlichen deutschen Außenpolitik?" Besonders relevant ist dies mit Blick auf China. Mochte auch eine Zweckehe mit der Volksrepublik wirtschaftlich äußerst rentabel sein, so war der "Berlin-Beijing nexus" ein Prüfstein für die Vision, die der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (2018) als "Weltpolitikfähigkeit" der EU bezeichnete. Wenn sich Deutschland von chinapolitischen Partikularinteressen leiten lässt, so wäre dies mutmaßlich der Sargnagel für den Versuch, die strategische Autonomie der EU von bloßer Rhetorik in politische Praxis zu überführen. Andererseits könnte deutsche Führungsverantwortung dafür sorgen, dass Europa in der weltpolitischen Großmachtdiplomatie wieder auftaucht.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Forschungsstand
2.1 Deutsche Reaktion auf BRI
2.2 Europäische Reaktion auf BRI
2.3 Koordination der Reaktionen
3 Theoretischer Rahmen
3.1 Kooperation
3.2 Hegemonie
3.3 Imperialismus
3.4 Theoretische Implikationen
4 Methodische Überlegungen
5 Belt and Road: eine Fallauswahl
6 Die Bestimmung des Koordinationsgrads
6.1 Fall 1: Chinas Wirken in Drittmärkten
6.2 Fall 2: Gründung der AIIB
6.3 Fall 3: Chinas Diplomatie in Europa
6.4 Fall 4: Chinas Investitionsstrategie
6.5 Vergleich und Schlussfolgerungen
7 Fazit und Ausblick
Anhang
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabelle 1: Übersicht über die Strategietypen
Tabelle 2: Übersicht für die Operationalisierung
Tabelle 3: Zusammenfassung der Analyseergebnisse
Tabellarische Analysen (vgl. Anhang)
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Deutschlands „langer Weg nach Westen“ (Winkler 2000) schien mit dem Voranschreiten des europäischen Integrationsprojekts an einem Ende angekommen. Aber als sich deutsche und europäische Interessen während der Eurokrise widersprachen, entschied sich Berlin gegen Europa. Dieser „europapolitische Sündenfall“ (Müller-Brandeck-Bocquet 2011: 624) prüfte das deutsche Selbstverständnis. Für Kundnani und Wirtensohn (2016: 169) stellte sich die Frage: War dies Vorbote einer „postwestlichen deutschen Außenpolitik“? Besonders relevant ist dies mit Blick auf China. Mochte auch eine Zweckehe mit der Volksrepublik wirtschaftlich äußerst rentabel sein, so war der „Berlin-Beijing nexus“ (Kundnani/Parello-Plesner 2012) ein Prüfstein für die Vision, die der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (2018) als „Weltpolitikfähigkeit“ der EU bezeichnete. Wenn sich Deutschland von chinapolitischen Partikularinteressen leiten lässt, so wäre dies mutmaßlich der Sargnagel für den Versuch, die strategische Autonomie der EU von bloßer Rhetorik in politische Praxis zu überführen. Andererseits könnte deutsche Führungsverantwortung dafür sorgen, dass Europa in der weltpolitischen Großmachtdiplomatie wieder auftaucht.
Das gilt umso mehr, als die zehn Jahre der Regentschaft Xi Jinpings die Vorzeichen der chinesischen Integration in die Weltpolitik umgekehrt haben. Mit seiner Initiation der Neue Seidenstraße (BRI)1 im Jahr 2013 wurden die neuen Ambitionen offenkundig. Für Xi (2017) ein „Jahrhundertprojekt“, sahen die USA in ihr vor allem eine revisionistische Verschiebung der Macht- arithmetik.2 Aus deutscher Sicht war die Konstellation nicht derartig klar. Tatsächlich schien die deutsch-chinesische Sonderbeziehung während der Grundsteinlegung der BRI auf einem Höhepunkt angekommen: Berlin war der zentrale Ort, von dem aus Peking seine Europapolitik gestaltete (vgl. Noesselt 2011).
Insofern ist die deutsche Position gegenüber der BRI von hohem Forschungsinteresse - noch bedeutender könnte aber sein, wie sie sich im Zusammenhang mit den europäischen Partnern verhält. In dieser Arbeit soll sich diesem Sachverhalt angenähert werden. Deswegen lautet die Forschungsfrage:
Wie stark war die Abstimmung Deutschlands mit den europäischen Partnern hinsichtlich der chinesischen Belt and Road Initiative?
In Anbetracht der in der Forschung diskutierten relativen Nähe Deutschlands zu China wird von der Leitthese ausgegangen, dass die Koordination Deutschlands mit den europäischen Partnern überwiegend schwach war.
Der Untersuchungszeitraum deckt die Initiation der BRI im September 2013 bis zur Vorstellung der europäischen Initiative Global Gateway im Dezember 2021 ab. Die Entwicklung der BRI wird anhand von einzelnen Fallbeispielen untersucht. Die Arbeit hat gezeigt, dass sich Deutschland fallübergreifend mit den europäischen Partnern abgestimmt hat. Erkenntlich wurden aber ebenso die Nuancierungen und Abweichungen, die an mancher Stelle eine noch prononciertere Politik Europas erschwerten.
Um diesen Erkenntnisgewinn zu erzielen, wurde die Arbeit wie folgt strukturiert. Als erster Schritt werden der Forschungsstand und die Forschungslücken dargestellt. Im zweiten Schritt wird ein theoretischer Rahmen konzipiert. Mit Bezug auf neorealistische und institutionalisti- sche Grundprämissen werden dafür drei außenpolitische Strategien - Kooperation, Hegemonie und Imperialismus - typologisiert, die die deutsche Rolle in Europa widerspiegeln sollen. Aufbauend auf dem theoretischen Fundament werden die Koordinationsmuster abgeleitet und für den Kontext der Untersuchung angepasst. Im dritten Schritt wird das methodische Vorgehen wie auch die Operationalisierung beschrieben. Als vierter Schritt werden die zu untersuchenden Fallbeispiele skizziert. Der fünfte Schritt besteht aus der Analyse. Zu dem Zwecke wird die Koordination der deutschen Politik mit der Politik der europäischen Partner fallspezifisch untersucht. Ein wesentlicher Teil der Analysearbeit kann in den im Anhang einzusehenden Tabellenübersichten nachvollzogen werden. Im sechsten Schritt werden die Ergebnisse verglichen und ihre Implikationen abgewogen. Im siebten Schritt schließlich wird die Analyse mit Blick auf die Gültigkeit der These zusammengefasst, ihre Limitationen benannt sowie wird auf Anknüpfungsmöglichkeiten für künftige Forschung verwiesen.
2 Forschungsstand
2.1 Deutschlands Reaktion auf die BRI
Die Neuen Seidenstraßen eröffneten ein weiteres Kapitel der chinesischen Außenpolitik. Sie veränderten auch die deutsch-chinesischen Beziehungen in vielfältiger Hinsicht. Entsprechend hat sich die Wissenschaft recht umfangreich mit der Reaktion Deutschlands auf die BRI be- schäftigt.3 Umso verwunderlicher ist es, dass noch keine Analyse die deutsche Politik explizit mit der Politik der europäischen Partner in Verhältnis gesetzt hat. So wurde noch nicht analysiert, ob Berlin eine treibende oder eine blockierende Rolle in Europa gespielt hat.
Die Studien von Harnisch (2018) sowie von Ciesielska-Klikowska (2019, 2020) haben die deutsche Reaktion auf die BRI am umfassendsten untersucht. Beide wählten einen liberalen Erklärungsansatz. So argumentiert Harnisch, „dass ideelle und wirtschaftliche Präferenzen, insbesondere deren Kombination und Priorisierung, eine plausiblere Erklärung für das deutsche Verhalten bereithalten“ (Harnisch 2018: 27; vgl. Ciesielska-Klikowska 2020: 452). In der ersten Phase bis etwa 2015 sei das öffentliche Interesse generell gering gewesen, jedoch führten erwartungsvolle Wirtschaftssektoren und regionale Interessen zu einer unterstützenden Haltung der Bundesregierung (Gaspers/Lang 2016: 26f; Harnisch 2018: 44; Ciesielska-Klikowska 2019: 99). Als sich die Initiative konkretisierte, habe sich die gesellschaftliche Präferenzorientierung in der ambivalenten Haltung der Bundesregierung, die sowohl wirtschaftliche Chancen als auch politische Risiken sehe, widergespiegelt (Harnisch 2018: 39f), und sei „durch einen Mix aus Konflikt und Kooperation“ politisch umgesetzt werden (ebd.: 35). Ab 2016 gab es ein Umdenken, Deutschland „was more often looking at the New Silk Road concept with great interest, but also with caution“ (Ciesielska-Klikowska 2020: 444-447).
Mair und Staff (2022) konzentrierten sich auf die Triebkräfte der deutschen Chinapolitik, betrachteten dabei neben innenpolitische auch geopolitische Motive, streifen die BRI aber nur am Rande. Sie argumentieren, Deutschlands Politik sei widersprüchlich und begründen dies durch das breite und kontroverse Meinungsspektrum auf der deutschen Berater- und Entscheidungsebene. Auch bei Röhr (2018) spielen geopolitische Überlegungen eine größere Rolle, während er gesellschaftliche Präferenzen außer Acht lässt. Interviewgestützt beschreibt er die skeptische und uneindeutige Sicht des Berliner Politikbetriebs auf die BRI.
Ein Defizit des gesamten Forschungsstandes ist das Fehlen eines klaren neorealistischen oder institutionalistischen Rahmens, der das Handeln der deutschen Entscheidungsträger*innen mit nationalstaatlichen Interessen in Verbindung bringt. Die liberalen Außenpolitikanalysen konnten erklären, dass die China-Nähe der deutschen Wirtschaft eine wichtige Komponente in den Erwägungen der Politik war. Doch indem innenpolitische Motive übergewichtet wurden, gerät die strukturgebende Bedeutung der Staatenwelt aus dem Blickfeld. Mit einer entsprechenden theoretischen Perspektive versucht die Arbeit diese Lücke zu schließen und das deutsche Handeln zu beschreiben. Sie verzichtet jedoch darauf, die deutsche Politik mit ihr zu erklären. Zukünftige Forschung sollte daran ansetzen. Ebenso wurden die verschiedenen Wirkungsdimensionen der BRI im Forschungsstand bis jetzt nicht berücksichtigt. In der Folge grenzten die Studien die BRI nicht präzise ein. Mit der Aufteilung auf verschiedene Fälle umgeht diese Arbeit das Problem und trägt zur Präzisierung bei.
2.2 Europäische Reaktion auf die BRI
Wie beschrieben fehlt neben einer neorealistischen auch eine europäische Verortung der deutschen Politik beziehungsweise spielt die europapolitische Einbettung im Forschungsstand nur am Rande eine Rolle. Die umfangreiche Forschungsliteratur über die Reaktion der europäischen Partner wurde noch nicht mit der Forschung über die deutsche Reaktion zusammengeführt. Dies könnte jedoch ergiebig sein, da sie ein politisch weites Feld abstecken. Die Forschung kann dabei zweigeteilt werden: Zum einen wurde untersucht, wie die BRI innerhalb Europas wirkt. Zum anderen wurde ein proaktiver Standpunkt Europas analysiert.
Erstere Forschungsrichtung mündete auch daraus, dass Chinas Großmachtdiplomatie die EU anfangs marginalisierte (Zeng 2017: 1165f). China umging demnach in weiten Teilen die supranationale Gemeinschaftsebene durch einen mitgliedsstaatlichen Bilateralismus (vgl. Menzel 2018; Mendes/Gagliano 2020), was in den Studien von Godement und Vasselier (2017) sowie von Benner et al. (2018) problematisiert wird. China habe nach dem Muster „Teile-und-Herr- sche“ agiert, sodass die EU-Regelwerke untergraben und systematische Einflussnahme auf die mitgliedsstaatlichen Politikeliten, Medien und Zivilgesellschaften ausgeübt worden sei. Gurol und Rodriguez (2020) bestimmten zudem verschiedene Wirkdimensionen der BRI, mit der sie anhand zweier Einzelfallanalysen - im Kontext Italiens und Osteuropas - feststellten, dass die Initiative dem europäischen Integrationsprozess schade (vgl. Holslag 2017).
Die innere Schwäche Europas erklärt das Fehlen geopolitischer Überlegungen seitens der EU, wie Nicholson (2015) sowie Haddad und Polyakova (2021) argumentieren. Es hätte an Vision und an Kapazitäten gefehlt, um einer „strategischen Autonomie“ zur Ausfüllung einer liberalen Führungsrolle neben den USA gerecht zu werden. Erst mit der europäischen Einsicht in die Notwendigkeit einer „Weltpolitikfähigkeit“, die aus dem doppelten Erweckungserlebnis der Brexit-Wahl sowie der US-Präsidentschaft Donald Trumps folgte, konnte in der Wissenschaft eine aktive, geostrategische Haltung der EU identifiziert werden. So prognostizierten einige Forscher*innen aufgrund der Machtverschiebungen mit Blick auf die BRI die Einleitung eines „revival of Eurasia“ (Wang 2015) oder „the beginning of a new China-EU axis in global poli- tics“ (Casarini 2017). Laut Smith und Taussig (2021) könnte Europa sich an der BRI beteiligen und „on the Chinese bandwagon“ springen, da die transatlantische Allianz an Bedeutung verliere.
Die Forschung (vgl. Godehardt 2016; Bond 2017 ; Baark 2019) vertrat zudem teilweise die Ansicht, eine Revitalisierung der Beziehungen zwischen Brüssel und Peking könnte im Zuge einer aktiven europäischen Partizipation an der BRI Wohlfahrtsgewinne abwerfen. Um dies effektiv zu gestalten, bräuchte es aber eine höhere Abstimmung der Mitgliedsstaaten, um der EU eine starke Verhandlungsbasis zu verschaffen und die Kooperation mit europäischen GoodGovernance-Standards zu vereinbaren. Sowohl Chinas Strategie, mit einzelnen Mitgliedsstaaten Gespräche über BRI-Projekte zu führen, als auch die mitgliedstaatlichen Autonomiebestrebungen seien dem abträglich.
Während manche Autor*innen also die BRI als potentielle Annäherung zwischen Europa und China interpretierten, so wurde in der Forschung mehrheitlich die wachsende Skepsis in den Schaltzentralen der EU gesehen (vgl. Small 2019; Tooze 2021; Verhoeven 2020; Röhr 2019; Grieger 2021). Demnach distanzierte sich die EU von der BRI, um mit dem amerikanischen Ansatz zu einem koordinierten „Counterbalancing“ zu konvergieren. So verfolge Europa nun eine Konnektivitätspolitik, die auch die Interessensphäre der BRI berührt. Ursächlich für diese außenpolitische Wende seien die chinesischen Wirtschaftspraktiken, die das kommerziellwohlstandsmaximierende Kalkül auf eine Weise verändert haben, dass sogar die Inkaufnahme handelspolitischer Konflikte rentabel erscheine. Diese Haltung entwickle sich zunehmend zum europäischen Konsens, trotz der abweichenden Position einzelner Länder.
Die Forschung hat also anders als im deutschen Kontext geopolitische Überlegungen angestellt, um die Reaktion der EU zu bestimmen. Ein Problem ist jedoch auch in diesem Forschungsstand, dass die Studien meistens nur mit einem losen Theoriebezug arbeiten.
2.3 Koordination der Reaktion
Wie beschrieben hat noch keine Studie explizit und systematisch die deutsche Rolle für die Politik der EU im Kontext der BRI analysiert. Bei einem kursorischen Abgleich der Forschungsstände zwischen den Reaktionen Deutschlands und der Reaktionen der EU erkennt man aber eine ähnliche ambivalente und wechselhafte Haltung. Einige Autor*innen weisen darauf hin, dass die deutschen Partikularinteressen bezüglich China in der BRI durchschlagen und eine gesamteuropäische Gegenstrategie erschweren (vgl. Barkin 2020; Dieter 2021). Andererseits taucht bei den Analysen zur EU-Politik die deutsche Rolle zumeist dann auf, um Berlin - neben Paris (vgl. Nicolas 2022: 155 ff.) - als treibende Kraft hinter den Bemühungen um eine geschlossene und einheitlichere Chinapolitik zu würdigen. In der Forschung zur Deutschlands Reaktion wird ebenfalls darauf eingegangen, dass Berlin sich stark an der europäischen Ausrichtung beteiligte. Nach Ciesielska-Klikowska (2020: 444-447) habe Berlin dabei eine kooperative Haltung der EU gegenüber China gefordert. Laut den meisten Forscher*innen waren die deutschen Entscheidungsträger*innen jedoch nicht auf Interessenausgleich mit China aus, sondern nahmen einen rivalisierenden Standpunkt ein, da sie die BRI als Einbahnstraße nach Peking betrachteten (Mair/Schaff 2022: 179f.; Huang 2019: 209 ff.).
Bei einem Vergleich der Forschungsstände wird somit anders als bei einer isolierten Betrachtung der deutschen Reaktion durchaus eine geopolitische Perspektive Berlins skizziert. Diese Arbeit beabsichtigt eine methodische und detaillierte Ausarbeitung, die sie jedoch nur beschreiben will. Die Untersuchung erweitert den Forschungsstand mit einer nuancierten Analyse der Abstimmung zwischen Deutschland und seinen europäischen Partnern. Forschung, die die Abstimmung valide erklärt, wird aber auch nach dieser Studie fehlen. Es ist empfehlenswert, das wissenschaftliche Defizit in zukünftiger Forschung zu eliminieren. Der im Folgenden dargestellte theoretische Rahmen bietet auch dafür eine gute Grundlage.
3 Theoretischer Rahmen
Die Arbeit typologisiert das deutsche Verhalten gegenüber den europäischen Partnern mit den drei Strategien Kooperation, Hegemonie4 und Imperialismus. In den Internationalen Beziehungen wird oft auf die drei Begriffe rekurriert, sie werden aber teils diametral verschieden definiert und unpräzise voneinander abgegrenzt. Es ist Aufgabe dieses Kapitels, eine theoretische Schablone zu konzeptualisieren, bei dem sich die Annahmen nicht widersprechen und bei dem die Typen auf erschöpfende Weise das deutsche Verhalten beschreiben. Im Rahmen der Arbeit ist keine präzisere Konstruktion von Subtypen möglich, mit denen ein nuanciertes Abbild der Wirklichkeit gezeichnet werden könnte. Vor diesem Hintergrund müssen die Forschungsergebnisse relativiert werden. Weitere Forschung mit verfeinerter Typologie erscheint sinnvoll.
Die Typologie lehnt sich an die Arbeiten von Robert Keohane an. So wird sich auf die Annahmen bezogen, die Keohane (2005) in seinem Werk After hegemony: Cooperation and Discord in the World Political Economy aufgestellt hat (vgl. auch Keohane 1982). After hegemony ist ein Nachfolgewerk zu Power and Interdependence: World Politics in Transition, das Keohane zusammen mit Joseph Nye (2001) verfasste. Obwohl sie argumentieren, die realistische und die liberale Tradition lediglich zu integrieren, werden sie als Begründer des neoliberalen Instituti- onalismus betrachtet (ebd.: xiii ff.; Schimmelfennig 2015: 63, 89 f.).5
Die Theorie verfolgt einen systemischen Ansatz, insofern sie von der neorealistischen Kernannahme der Anarchie der Staatenwelt ausgeht. Relevant ist hierbei das Dilemma des kollektiven Handels. Durch den Wettbewerbscharakter internationaler Beziehungen ist die Bereitstellung globaler und internationaler öffentlicher Güter nicht gewährleistet (Keohane/Nye 2001: 37; Schimmelfennig 2015: 30 ff.). Neben der Betrachtung struktureller Konditionen gibt es in der Theorie auch eine akteurszentrierte Perspektive. Betrachtungsebene im Institutionalismus ist wie im Neorealismus der souveräne Staat. Im Sinne der Rational Choice-Theorie werden staatliche Entscheidungsträger*innen als egoistisch-zweckrationale Akteure betrachtet.6 Da sie unter den Bedingungen der Staatenkonkurrenz agieren, streben sie im Bereich Sicherheit Autonomie und im Bereich Wohlfahrt Nutzenmaximierung an, durch die Erzielung relativer oder absoluter Gewinne und die Vermeidung von Kosten (Keohane/Nye 2001: 10 f.; Schimmelfennig 2015: 72 f.). Im Institutionalismus treten als entscheidende Modifikationen die Strukturmerkmale Interdependenz und internationale Institutionen beziehungsweise Regime hinzu.7 Beide Merkmale haben potenziell eine zivilisierende Wirkung auf staatliches Verhalten (Schimmel- fennig 2015: 90; Keohane 2005: 14, 26).
Nachdem die grundlegenden Annahmen vorgestellt wurden, wird aus ihnen nun die Typologie abgeleitet. Der Typ wird jeweils definiert, sein grundlegender Mechanismus dargestellt sowie die Nutzen und Kosten genannt (vgl. Tabelle 1).8
3.1 Kooperation
Der erste Typ bezieht sich auf Kooperation.9 Durch die Existenz von gemeinsamen Zielen beziehungsweise komplementären Eigeninteressen, die sich in langfristigen und geregelten Beziehungen festigen, kann Kooperation erreicht und mittels Institutionen gesteuert werden. So schreibt Keohane: „Intergovernmental cooperation takes place when the policies actually followed by one government are regarded by its partners as facilitating realization of their own objectives, as the result of a process of policy coordination.“ (Keohane 2005: 52, Hervorhebung im Original) Eine Haltung, bei der die eigenen Interessen gegen die Präferenzen anderer Staaten verfolgt werden, wird durch Reputationsverlust bestraft und ist deswegen in vielen Situationen nicht rational (ebd.: 6-10; Keohane: 71-78105; Schimmelfennig 2015: 90). Die weiteste Stufe von zwischenstaatlicher Kooperation ergibt sich für Keohane in der Logik eines Regimes. In Power and Independence wurden Regime noch recht vage als „the sets of governing arrangements that affect relationships of interdependence“ (Keohane/Nye 2001: 17) beschrieben. In After Hegemony bezieht sich Keohane auf die Definition von Stephen Krasner, in der Regime „as sets of implicit or explicit principles, norms, rules, and decision-making procedures around which actors' expectations converge in a given area of international relations“ bezeichnet werden (Krasner 1982: 187).10 Je nachdem, wie stark die Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsprozesse institutionalisiert und etwa durch internationale Organisationen verankert sind, nimmt die Regimequalität ab oder zu.
Kooperation und Regime können auf vielfältige Weise dem nationalen Interesse dienen. Der vielleicht größte Nutzen ist die abnehmende Bedeutung der anarchischen Staatenwelt, da die Sicherheitsdimension an Relevanz verliert, während Wohlfahrtstreben vereinfacht wird. So kann der Verlust von Autonomie in Kauf genommen werden und es geht nicht mehr dermaßen um relative Gewinne, also um eine vorteilhafte und kurzfristige Profilierung gegenüber anderen Staaten (Krasner 1982: 189; Keohane/Nye 2001: 33 ff.; Keohane 2005: 11; Schimmelfennig 2015: 97). Stattdessen werden die Lasten reziprok geteilt. Bei Regimen werden Transaktionsund Verhandlungskosten gesenkt und Streitschlichtungsverfahren aufgestellt, sodass Verhandlungsprozesse effizienter sowie Vereinbarungen und Verträge wahrscheinlicher werden (Keo- hane 2005: 87 ff.).11
Kostenpunkte entstehen dadurch, dass trotz langfristiger Sicherheit und Wohlfahrtgewinnung Autonomieverlust sowie kurzfristige Wohlfahrteinbußen möglich sind (Keohane/Nye 2001: 35). In der Konsequenz gibt es Anreize, sich situativ nicht kooperativ zu verhalten oder die Regeln eines Regimes zu umgehen, um Autonomie im Sinne eines Souveränitätsvorbehalts zu wahren oder durch Trittbrettfahren die Kosten für die Aufrechterhaltung des Regimes zu exter- nalisieren (ebd.: 200 f.).12 Kosten können ebenfalls für von der Kooperation ausgeschlossene Staaten entstehen, da Kooperation und Regime durch spezifische Präferenzen von Staaten geformt werden (Keohane 2005: 54). Eine zwischenstaatliche Allianz kann folglich speziell gegen einen anderen Staat gerichtet sein. Letztlich ist Kooperation also ein Strategietyp, der nach Maßgabe machtpolitischer Kalkulation gewählt wird - wie auch die beiden folgenden Typen.
3.2 Hegemonie
Keohane und Nye definieren Hegemonie als eine Situation, in der „one state is powerful enough to maintain the essential rules governing interstate relations, and willing to do so.“ (Keo- hane/Nye 2001: 77) Das entscheidende Definitionsmerkmal ist der grundsätzliche Verzicht auf Zwangsmaßnahmen. Entsprechend „setzt [Hegemonie] die Akzeptanz des Anführers durch eine Gefolgschaft voraus“ (Menzel 2015: 42; vgl. Keohane 2005: 46; Destradi 2010: 913).13 Der Funktionsmechanismus besteht also in einer Art asymmetrischer Kooperation, nämlich dem Tausch von Führung gegen freiwillige Unterwerfung beziehungsweise Konformität. Zu dem Zweck muss der Hegemon Öffentliche Güter bereitstellen. Das kann ein Sicherheitsangebot in Form von Stabilität und Frieden umfassen, welches durch Bandwagoning-Mechanismen angenommen wird.14 In der Regel ist es die Wohlfahrtsdimension, die dem Hegemonen Legitimität verschafft, insbesondere durch Wohlstandstransfer (Keohane/Nye 2001: 204 f.). So kann zwar das Trittbrettfahren begrenzt werden, indem sich andere Staaten am Lastentragen beteiligen (ebd.: 200 f.; Menzel 2015: 42). Doch um seine Führungsposition zu behaupten und kooperatives Verhalten zu forcieren, muss ein Hegemon eine erhebliche Ressourcenkapazität besitzen und bereitstellen können - etwa einen großen Importmarkt, den Zugang zu Rohstoffen, Kapitalbesitz, einen günstigen Platz in der Wertschöpfungskette, eine Reservewährung oder die Fähigkeit Standards zu setzen und Infrastruktur aufzubauen (Keohane 2005: 33 ff.; Kindleberger 1978; Schimmelfennig 2015: 75).15 Im Gegenzug erhält der Hegemon die Kompetenzen, Regeln außer Kraft zu setzen und neue Regeln zu verhindern oder zu bestimmen (Keohane/Nye 2001: 37 ff.). Das ordnungspolitische System der Hegemonie kennzeichnet sich also durch eine „combination of paternalistic redistribution and authoritative control“ (Keohane 2005: 137) aus.
Die Übernahme einer hegemonialen Führungsrolle mag zwar als benevolent betrachtet werden, geschieht aber keineswegs aus selbstlosen oder empathischen Motiven. Es wird weiterhin von Nutzenmaximierung ausgegangen. So liegt die Aufhebung der Anarchie der Staatenwelt im langfristigen Interesse eines Hegemonen.16 Dabei geht es zentral nicht um den Reputationsgewinn, sondern darum, dass sich das stabilisierte internationale Umfeld rentiert. Unter dieser Bedingung können sowohl kurzfristige Wohlstandseinbußen als auch ein gewisser Autonomieverlust, der sich durch die eigene Compliance ergibt, in Kauf genommen werden (Keohane/Nye 2001: 37, 203; Keohane 2005: 45 f., 136; Kindleberger 2011: 389; Menzel 2015: 43).
Aus Sicht des Hegemonen ist der Übergang zwischen Hegemonie und Regime fließend. So gibt es für den Hegemonen den Druck, die Regeln möglichst gemeinwohlorientiert zu setzen und andere Staaten am Entscheidungsprozess zu beteiligen. Andernfalls droht die Akzeptanz der Führung aufgrund von Reputationsverlust zu kippen. Die Aufrechterhaltung der Ordnung wird
in der Folge immer kostenintensiver (Keohane/Nye 2001: 39).17 Andererseits kann Hegemonie in Imperialismus abgleiten. Insbesondere wenn sich das Trittbrettfahren zu stark ausbreitet, wird die Übernahme einer führenden Rolle unattraktiver und die Hegemonie erodiert. Der Hegemon unterliegt deswegen der permanenten Versuchung, seine privilegierte Position für spezifische Interessen auszunutzen (ebd.: 200 f.; Keohane 2005: 79).
3.3 Imperialismus
Im Sinne einer erschöpfenden Typologie muss Imperialismus alles sein, was durch die Typen Kooperation sowie Hegemonie nicht beschrieben wurde. So beginnt im Kontinuum außenpolitischer Strategien imperialistisches Verhalten, wenn Führung in egoistische Herrschaft umschlägt. Keohane ging nur rudimentär auf die imperialistische Option ein. Er verweist sie in die Sphäre der reinen Machtpolitik, in der sich keine gemeinsamen Interessen bilden. In Abgrenzung zu Hegemonie würde ein Imperium „dominate societies through a cumbersome political superstructure“ beziehungsweise „enforce rules without a certain degree of consent from other sovereign states“ (Keohane 2005: 45 f.).18 Bei der asymmetrischen Beziehung zwischen den untergeordneten Staaten mit dem Imperialisten fehlt also im Vergleich zum hegemonialen Verhältnis das voluntaristische Element. Die vorliegende Arbeit folgt Destradi, die eine imperialistische Strategie wie folgt definiert:
„A state which is clearly dominant in terms of material power resources has the option of creating security for itself in an environment perceived as anarchical (according to the realist perspective) through the unilateral pursuit of its own national interest, sustained by coercion and, if necessary, the use of military power.“ (Destradi 2010: 909 f.)
Die Kosten/Nutzen-Rechnung ist in dem Typ eindeutig. Der Imperialist profitiert auf Kosten und in Relation zu anderen Staaten. Anders als ein Trittbrettfahrer muss er dafür keine Autonomieverluste hinnehmen. Wenngleich er keine völkerrechtliche Souveränität gewinnt, so steigt sein Autonomiegrad de facto in dem Maße, in dem seine Machtressourcen zunehmen. Langfristig gesehen jedoch kann es auch für den Imperialisten kostspielig werden. Wenn die mächtigen Staaten ihre Dominanz nicht in politische Führungsverantwortung konvertieren, gibt es zu wenig Bereitschaft, für die Herstellung Internationaler Öffentlicher Güter zu sorgen (Kindleberger 1981: 253). Gerade unter den Vorzeichen der Interdependenz kann das zu einem Ausmaß an Konflikten führen, die ein solches Verhalten aus utilitaristischen Gesichtspunkten infrage stellen (Keohane/Nye 2001: 8-11). Zudem kann imperialistisches Verhalten Widerstand anderer Staaten evozieren. Mit anderen Worten, die internationale Anarchie ist auch für den Imperialisten von Instabilität geprägt.
Die sicherheitspolitisch-militärische Dimension ist in dieser Arbeit weniger von Relevanz als die Wohlfahrtsdimension. Historisch wurde der Imperialismusbegriff stark von linken ökonomischen Theorien des 20. und frühen 21. Jahrhunderts, insbesondere von Wladimir Lenin (1960) und von John A. Hobson (1902), geprägt. Auch bei institutionalistischen Annahmen sind wirtschaftliche Partikularinteressen oft Ursache für imperialistisches Verhalten. In der heutigen, interdependenten Struktur der Weltwirtschaft sind die Bedingungen angelegt, dass nach dem Beggar-thy-Neighbour- Prinzip zum gegenseitigen Nachteil um wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und Exportanteile konkurriert wird (vgl. Klein/Pettis 2020: 1f, 224f). So schreibt Keohane, „Policy change results [...] from increased competition among the industrialized countries and between them and newly industrializing countries“ (Keohane 2005: 213). Entsprechend ist Protektionismus „a way of forcing the costs of adjustment onto others (inside one's own country or outside)“ (ebd.: 212).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Übersicht über die Strategietypen
3.4 Theoretische Implikationen
Abgeleitet von den theoretischen Implikationen untersucht die Arbeit das variierende Koordinationsniveau zwischen Deutschland und seinen europäischen Partnern. Um den jeweiligen Koordinationsgrad zu messen, wird mit Blick auf die Typologie eine starke Koordination mit den folgenden Beziehungsmustern angezeigt:
1) Ein Staat führt die Politik seiner Partner hegemonial an.
2) Ein Staat reiht sich in die Politik seiner Partner kooperativ ein.
3) Ein Staat ordnet sich der hegemonialen Politik seiner Partner unter.
Eine schwache Koordination ist bei den folgenden Beziehungen gegeben:
4) Ein Staat verfolgt entgegen seinen Partnern imperialistisches Eigeninteresse.
5) Die Partner verfolgen entgegen einem Staat imperialistische Eigeninteressen.
Die Strategien werden auf das deutsche Handeln angewandt. Wie im nächsten Kapitel ausgeführt wird, ist nicht zu erwarten, dass dies auf eindeutige Weise durchgeführt werden kann. Entsprechend wird der Koordinationsgrad erweitert. Wenn beispielsweise Deutschland sowohl eine unterordnende Haltung 3) hat als auch imperialistisch 4) agiert, so wird dies als mittelmäßige Koordination eingeordnet.
Bei der Übertragung auf den Untersuchungsgegenstand entfällt 5), denn es wird davon ausgegangen, dass die europäischen Partner nicht imperialistisch gegen Deutschland agieren können. Zwar ist es vorstellbar, dass einzelne mitgliedsstaatliche Partner die Interessen Deutschlands missachten. Als zentrale Partner werden jedoch die Organe der EU angesehen. Diese haben schon vertraglich kein Eigeninteresse, welches imperialistisch gegenüber einem Mitgliedsstaat steht. Zukünftige Forschung sollte die mitgliedsstaatlichen Partner mehr einbeziehen.
4 Methodische Überlegungen
Diese theoretischen Überlegungen werden empirisch durch einen breiten Datenkorpus untersucht. Es werden dafür multiple Quellen genutzt. Die Arbeit berücksichtigt lediglich die Hauptentscheidungsorgane und Führungseliten. Auf deutscher Seite ist dies die Bundesregierung und ihre Parlamentsfraktion. Seitens der europäischen Partner werden die Regierungen anderer Länder sowie die Unionsebene - insbesondere die Kommission, den EAD, das Europäische Parlament, der Rat der EU - einbezogen. Die Positionen anderer Mitgliedsstaaten werden im Sinne von Komplexitätsreduktion eher kursorisch dokumentiert. Informationen werden aus staatlichen Internetseiten gesammelt und darüber hinaus aus Zeitungsartikeln mittels der Suchfunktion der Digitalauftritte der Medien ermittelt. Das methodische Vorgehen besteht in einer qualitativen Analyse und systematischen Strukturierung dieser Datensätze im Sinne der Fragestellung und Typologie. Die Tabellenübersichten (s. Anhang) sind Ausdruck und Ergebnis dieser Analysearbeit. Zusätzlich werden Erkenntnisse und Hintergrundinformationen aus Sekundärliteratur wie Journalpapers und Fachzeitschriften in die eigene Analyse synthetisiert.19 Die Abstimmung zwischen Deutschland und seinen Partner bewegt sich im Rahmen der Beziehungsmuster 1) bis 4), aus denen sich direkt ein duales Koordinationsniveau ableitet, was jedoch durch die Möglichkeit einer mittelmäßigen Abstimmung weiter differenziert wird. Für die Untersuchung ergibt sich das Problem einer zweifelsfreien Identifizierung des jeweiligen Musters. Etwa müssen bei der Analyse diplomatische Gepflogenheiten zu Kenntnis genommen werden. In einer gemeinsamen Stellungnahme mit Deutschland wird China keine übermäßige Kritik an der BRI zulassen. Um das Dokument trotzdem valide zu bewerten, müssen Leerstellen und Formulierungen in den Blick genommen werden, mit denen Deutschland eine etwaige kritische Haltung durchscheinen lässt.
Schon aus diesen Feinheiten ergibt sich, dass eine analytisch-idealtypische Trennschärfe in der Realität kaum durchführbar erscheint. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Deutschland in völliger Missachtung der Interessen seiner Partnerländer handelt. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass Deutschland auch bei einem kooperativen Verhalten genuine Interessen beibehält.
In der Konsequenz ist es herausfordernd, das jeweilige Verhalten methodisch zu typologisieren. Es dürfte relativ einfach festzustellen sein, ob die Stoßrichtung der Politik Deutschlands und seiner Partner ähnlich und das Handeln folglich als koordiniert einzustufen ist. Dies wäre etwa der Fall, wenn von beiden Seiten Stellungnahmen abgegeben werden, in denen die chinesische Politik begrüßt beziehungsweise abgelehnt wird. Ersichtlich wird dabei aber nicht, ob Deutschland hegemonial, kooperativ oder untergeordnet handelte. Um eine derartige Differenzierung zu ermöglichen, werden in Tabelle 2 die Indikatoren für die Auswertung der Dokumente dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Übersicht für die Operationalisierung
5 Belt and Road: eine Fallauswahl
Die Arbeit folgt in ihrer Struktur dem Zeitverlauf der BRI in ihren drei Phasen. Die erste Phase umfasst etwa den Zeitraum von 2013 bis 2016. Während dieser Zeit hat die Pekinger Entscheidungselite auf nationaler und subnationaler Ebene Ressourcen und Personal mobilisiert, um die Volksrepublik auf die Ausführung der BRI vorzubereiten. Für internationale Beobachter*innen blieb die Ausgestaltung der Initiative dagegen vage (He 2019: 185; Ye 2020: 124 ff.) Die zweite Phase dauerte von 2016 bis 2019. Nun wurde versucht, insbesondere mit Leuchtturmprojekten die BRI auf globaler Ebene konkret zu implementieren (Ye 2020: 131 ff.). 2019 begann die dritte Phase, die man als Konsolidierung bezeichnen könnte (Yuen 2019). So betonte Xi Jinping (2019) auf der zweiten Belt and Road-Konferenz, der Fokus liege nunmehr auf „jointly promote high-quality Belt and Road cooperation“.
Wie jede Studie, die sich mit der BRI beschäftigt, steht auch diese vor dem Problem, Belt and Road plausibel einzugrenzen. Wie einige Forscher*innen betonen, sollten die chinesischen Landkarten mit ihren eingezeichneten Korridoren nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Initiative kein klar umrissenes Konzept ist (vgl. Yuen 2019; Öztürk 2020). China hat die BRI in den letzten Jahren mit immer mehr Politikfelder in Verbindung gesetzt - etwa wurde eine „Digital Silk Road“ und während der Corona-Pandemie eine „Health Silk Road“ offiziell verkündet (Hillman 2020). Diese Ausweitungen werden in der Arbeit nicht behandelt, da sie den europäischen und deutschen Kontext nicht unmittelbar berühren. Dennoch hat die Arbeit ein weitgehendes Verständnis der BRI - so wird beispielsweise das technologische Modernisierungsprogramm MiC25 als eng mit der Initiative verflochten betrachtet. Damit wird aber die Unterscheidung, welche Politik von China und Deutschland in Beziehung zur Seidenstraße steht und welche nicht, noch schwieriger. Im Sinne eines intersubjektiven Vorgehens wird deswegen kurz erläutert, welche Fälle untersucht werden.
Erstens wird Chinas Handeln auf Drittmärkten im außereuropäischen Kontext betrachtet. Im Fokus steht eine Außenpolitik, die auf der Finanzierung und Durchführung von Infrastrukturprojekten basiert. Diese Konnektivitätspolitik ist für viele Beobachter*innen das Kernstück der Neuen Seidenstraße. So konzipierte China die BRI anfangs nur als Entwicklungsprojekt für die zentralasiatische Nachbarschaft, später erst zielte das Land auch auf den Großteil des Globalen Südens und die westlichen Industrienationen ab. Die Analyse betrachtet, ob Deutschland und seine Partner auf den Drittmärkten mit China kooperierten oder konkurrierten, wodurch auch der deutsch-europäische Koordinationsgrad erschlossen werden kann.
Der zweite Fall konzentriert sich auf die AIIB. Obwohl die Entwicklungsbank offiziell nicht Teil der BRI ist, wurde sie sowohl in der Forschung als auch in Teilen der Politik unter diesem Blickwinkel betrachtet - als Finanzierungsinstrument für die entwicklungspolitischen Projekte. Inhaltlich also mit Fall 1 verwandt, hat China mit der Bank vor allem deswegen Aufmerksamkeit erregt, weil ihr einige westliche Staaten beigetreten sind. Nachdem Großbritannien seinen Beitritt verkündete, haben sich auch Deutschland und einige andere EU-Staaten dazu entschlossen. Es wird untersucht, inwiefern die deutsche Entscheidung im Verhältnis zu den anderen mitgliedsstaatlichen Beteiligungen sowie zur Position der EU-Ebene steht.
Im dritten Fall wird Chinas diplomatisches Agieren in Europa beleuchtet. Bei der Protokollierung des Forschungsstands wurde erläutert, dass China in seiner Europapolitik eine „Teile und Herrsche“-Strategie verfolgte - durch ein bilaterales Vorgehen oder wie bei 16+1, einem 2012 gegründeten Format, mit dem China seine Beziehungen zu ursprünglich 16 mittel- und osteuropäischen Ländern auszubauen versuchte, durch die Bildung von Gruppen. So wurde eine ganze Reihe an EU-Staaten offizielles Mitglied der BRI. Die Analyse fokussiert sich auf Deutschlands Standpunkt. Zu erörtern ist einerseits die Frage, ob die deutsche Diplomatie an die EU rückgebunden war. Zum anderen wird betrachtet, wie Deutschland auf die Annäherungen anderer Mitgliedsstaaten reagierte und in diesem Zusammenhang mit seinen europäischen Partnern gemeinsame Maßnahmen durchführte.
Der vierte Fall behandelt Chinas Investitionspolitik in Europa. Der Aufkauf kritischer Infrastruktur, die Veränderung der europäischen Transportnetze, die Modernisierung der eigenen Wirtschaft - das wirtschaftliche Agieren war in mehrerer Hinsicht politisch brisant. Von analytischem Interesse ist hier nicht nur die Übernahme deutscher Unternehmen.
[...]
1 Die Begriffe Belt and Road, Seidenstraße und Neue Seidenstraße werden in der Arbeit synonym verwendet. BRI ist mittlerweile die geläufigste Bezeichnung in deutscher und englischer Literatur, während One Belt, One Road (OBOR) an Bedeutung verloren hat. Angemerkt werden sollte, dass die Begriffe einen propagandistischen Hintergrund haben.
2 Befürchtet wurde vor allem die Thukydides-Falle - eine deterministische Vorstellung, wonach die Vereinigten Staaten als Welthüter zur Konfrontation mit der aufsteigenden Macht China verdammt ist, vgl. Allison (2017); Mearsheimer (2021).
3 Nach eigener Kenntnis beschränkt sich die wissenschaftliche Literatur mit Fokus auf Deutschlands Reaktion auf Lang und
Gaspers (2016), Eszterhai (2017) (2017), Harnisch (2018), Röhr (2018), Ciesielska-Klikowska (2019, 2020), Druzbacká und Kittová (2021), Waite (2022) sowie mit Abstrichen Mair und Staff (2022).
4 Zudem ist als Konsequenz von Hegemonie das Verhalten Trittbrettfahren möglich - das jedoch wegen seiner Abhängigkeit von Hegemonie nicht als eigenständige Strategie beschrieben wird.
5 Beide Werke waren für die weitere Entwicklung der IB wegweisend, da sie als liberaler Bruch mit dem Neorealismus re- zeptiert wurden. Tatsächlich aber verstanden sich beide Autoren weniger als liberale Theoretiker, sondern mehr als Schüler des Realismus, die sich auch auf dessen Grundannahmen berufen. Die Ähnlichkeit der Annahmen wird auch dadurch bestätigt, dass Andrew Moravciks sie zum Anlass nahm, die Theorie des Neo-Liberalismus auf gleiche Weise vom Realismus wie vom Institutionalismus abzugrenzen, vgl. Moravcisk (1993: 516).
6 Keohane ergänzt, dass seine Annahmen unter den Bedingungen von Bounded rationality sogar noch mehr Gültigkeit besitzen, da die zusätzliche Unsicherheit Regimen einen noch höheren Stellenwert zuweist, vgl. Keohane (2005: 115 ff.).
7 Definiert wird Interdependenz als „mutual dependence. Interdependence in world polities refers to situations characterized by reciprocal effects among countries or among actors in different countries.“ Keohane/Nye (2001: 7) Nye und Keohane definierten zudem einen Idealtyp „complex interdependence“, bei dem die realistischen Annahmen (insbesondere die zentrale Bedeutung des Politikfeldes Sicherheit) umgekehrt werden, vgl. Keohane/Nye (2001: 20 f.).
8 Neben Keohane haben auch weitere Autor*innen Konzepte entwickelt, die der Typologie sehr nützlich sind. Insbesondere auf Sandra Destradis (2010) Konzeptualisierung eines Kontinuums außenpolitischer Strategien, das ebenfalls einen imperialistischen bis kooperativen Bereich absteckt, wird verwiesen. Weitere inspirative Autoren waren Krasner (1982), Kindleberger (1978); (1981); (2011), Menzel (2015), Münkler (2005) und Hobson (1902).
9 Für Destradi (2010: 921 ff.) heißt kooperatives Verhalten die Übernahme einer Führung von „a group of states in order to realise or facilitate the realisation of their common objectives.“ Während das im Kontext ihrer Betrachtung regionaler Mächte nachvollziehbar ist, wird in dieser Arbeit kooperative Außenpolitik als die Beteiligung an einem Regime gedeutet.
10 Prinzipien sind „the purposes that their members are expected to pursue“, Normen „contain somewhat clearer injunctions to members about legitimate and illegitimate behavior“, Regeln „indicate in more detail the specific rights and obligations of members“ und Entscheidungsprozesse „provide ways of implementing their principles and altering their rules“, vgl. Keo- hane (2005: 57 ff.).
11 Daneben werden die drei klassischen Probleme asymmetrischer Informationen, Moral hazard und Unverantwortlichkeit beziehungsweise Trittbrettfahren gelöst. Regime stellen Transparenz, Erwartungssicherheit, Monitoring und Compliance bereit, sie schaffen ein Vertrauensverhältnis zwischen Eliten und Bürokratien, durch Issue-linking sorgen sie für zusätzliche Verflechtung der Interessen (Keohane/Nye (2001: 291); Keohane (2005: 93 ff.); Schimmelfennig (2015: 102 ff.)). Mit anderen Worten haben sie die Funktion einer übergeordneten Instanz und wirken als Transmissionsriemen.
12 Es muss betont werden, dass Regime „ do not necessarily improve world welfare. They are not ipso facto"good".“, vgl. (Keohane (2005: 72, Hervorhebungen im Original)).
13 In den IB gibt es eine Debatte über die Trennung der Konzepte Hegemonie und Führerschaft, die sich um den Grad des Zwangscharakters drehen, vgl. Destradi (2010: 915). Für den Zweck dieser Arbeit werden die Begriffe synonym verwendet.
14 Robert Giplin fügte diese neorealistische Perspektive zu dem wirtschaftlichen Verständnis von Hegemonie hinzu, vgl. Gilpin (2012).
15 Im Ausnahmefall muss ein Hegemon darüber hinaus den Willen und die Fähigkeit haben, wirtschaftliche oder militärische Zwangsmaßnahmen einzusetzen, um revisionistische Aggressoren abzuwehren, vgl. Schimmelfennig (2015: 83).
16 So schlussfolgert Kindleberger (2011: 372) in seiner Analyse der Weltwirtschaftskrise: „Als jedes Land sich auf die Wahrnehmung seiner nationalen Privatinteressen beschränkte, ging das Gemeinwohl der Staatengemeinschaft in die Binsen und mit ihm die nationalen Belange aller.“
17 Für die Trittbrettfahrer fällt die Kosten-Nutzen-Rechnung im Vergleich zum Regime ähnlich wie in der Beteiligung an einem Regime aus, da sich die Autonomieverluste durch Wohlfahrtsgewinne ausgleichen. Gleichzeitig hat das Interesse zum Trittbrettfahren Grenzen, da sonst erstens Sanktionen drohen und zweitens die Möglichkeiten zur Beeinflussung der Ordnung minimiert werden, vgl. Schimmelfennig (2015: 75, 83).
18 Diese Arbeit präferiert jedoch den Begriff des Imperialismus anstatt des Imperiums. Bezogen wird sich auf die begriffliche Distinktion von Herfried Münkler (2005) und Ulrich Menzel (2015). Ein Imperium würde sich durch einen postnationalen Charakter auszeichnen: „Imperiale Grenzen trennen keine gleichberechtigten politischen Einheiten, sondern stellen eher Abstufungen von Macht und Einfluss dar“. vgl. Münkler (2005: 16). Imperialismus unterscheidet sich vom Imperium sowohl durch die Beibehaltung einer Ordnung nationalstaatlicher Souveränität als auch durch die Gegensätzlichkeit der Interessen zwischen dem imperialistischen Staat und den vom Imperialismus betroffenen Staaten, vgl. Münkler (2005: 20). Während also Imperialismus eher unter den Bedingungen der Anarchie der Staatenwelt besteht, zementiert ein Imperium die Hierarchie der Staatenwelt, vgl. Menzel (2015: 38 ff.).
19 Auf die Durchführung von Interviews wurde verzichtet. Zukünftige Forschung könnte insbesondere durch Expertenbefragungen wertvolle Informationen liefern, um die Ergebnisse zu akzentuieren.
- Quote paper
- Christian Wallerer (Author), 2023, Chinas Imperium, Deutschlands Hegemonie? Die Neue Seidenstraße und die Abstimmung der Bundesrepublik mit ihren europäischen Partnern, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1357593
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