Die Gegenüberstellung der Werke "1984" (1949) von George Orwell, "Vor dem Gesetz" (1915) von Franz Kafka und "Memento" (2000) von Christopher Nolan zeigte uns die verblüffende Ähnlichkeit des Plots, was vor allem die affektive Verfassung der Protagonisten und ihren Werdegang betraf. Angst, Verzweiflung, Schmerz, Verlust, Verrat und Tod sind Zustände, die dem Mann vom Lande in der Parabel "Vor dem Gesetz", Winston Smith in dem Roman "1984" und Leonard Shelby in dem Film "Memento" widerfahren. Dies alles sind Stimmungen, die den Menschen und sein Leben betreffen. Wir brachten daher die Gedanken des Existentialismus in Anwendung. Der Fokus auf die Existenz des Menschen und seiner Daseinsmöglichkeiten in der Welt war für diese Arbeit ausschlaggebend. Dabei tritt der phänomenologische Ansatz des deutschen Philosophen Martin Heidegger aus "Sein und Zeit" (1927) hinzu. Die Phänomenologie ist eine philosophische Strömung, die die Lehre "vom Sichzeigenden" besagt. In seinem Hauptwerk führt Heidegger eine Zeug-Ding-Analyse durch, die wir gebrauchten, um eine tiefere Deutungsmöglichkeit der Werke zu schaffen. Des Weiteren wurde die Methode des Vergleichs aus der komparatistischen Disziplin angewandt, um eine Reflexion der Erlebnisse und Erfahrungen aus den drei unterschiedlichen Handlungssträngen zu ziehen, sodass ein tieferes Verständnis der Werke gewährleistet wurde. Auf die Intermedialität der Komparatistik wurde ebenfalls eingegangen, da wir in dieser Arbeit auch eine Brücke zwischen dem Film "Memento" und den literarischen Werken "1984" und "Vor dem Gesetz" geschlagen haben. Nebenbei deuteten wir auf den gegenseitigen Effekt der Literatur mit der Philosophie. Da wir die Literatur aus dem Lichte der Philosophie interpretierten, bedienten wir uns der literaturphilosophischen Methode. Sie lieferte uns ebenfalls eingehende Interpretationsmöglichkeiten, die zum Beleuchten der ausgewählten Werke führten.
INHALTSVERZEICHNIS
ÖZET
ZUSAMMENFASSUNG
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
TEIL I EINLEITUNG
1.1. Zur Fragestellung
1.2. Ziel der Arbeit
1.3. Relevanz der Arbeit
1.4. Verfahren und Durchführung
TEIL II 1984
2.1. Inhaltsangabe und Interpretation
2.2. Die Figurenkonstellation von „1984“
2.2.1. Winston Smith
2.2.2. O’Brien
2.2.3. Julia
2.2.4. Der Große Bruder
2.2.5. Immanuel Goldstein
2.2.6. Tom Parsons
2.2.7. Syme
2.2.8. Mr. Charrington
2.2.9. Die Proles
2.3. Die Gebietsverteilung der drei Supermächte
2.4. Die vier Ministerien
2.5. Die Struktur der Gesellschaft in Ozeanien
2.6. Allgemeine Lebenslaufbahn eines ozeanischen Bürgers
2.7. Die Einführung der Neusprache
2.8. Ausschnitte aus den Filmen ,,1984“ (1956) und ,,1984“ (1984)
TEIL III VOR DEM GESETZ
3.1. Die Inhaltsangabe
3.2. Die Figurenkonstellation von ,,Vor dem Gesetz“
3.2.1. Der Türhüter
3.2.2. Der Mann vom Lande
3.3. Deutung der Parabel
3.3.1. Türhüter als Idee der Restriktion und Klassenwirrwarr
3.3.2. Das Tor verliert seine Funktion
3.3.3. Münzwurf des Absurden
3.3.4. Wahrheit oder Notwendigkeit
TEIL IV MEMENTO
4.1. Die Inhaltsangabe
4.2. Die Figurenkonstellation von ,,Memento“
4.2.1. Leonard Shelby
4.2.2. John Edward Gammell ,,Teddy“
4.2.3. Natalie
4.2.4. Sammy Jankis
4.2.5. Jimmy Grantz
4.2.6. Dodd
4.2.7. Burt
4.3. Erläuterung des Films
4.4. Die Cover des Films
4.5. Die zwei Handlungsstränge
4.6. Bedeutungsträger des Plots
4.6.1. Die Polaroid-Kamera
4.6.2. Die Tätowierungen
4.6.3. Die Mindmap
4.6.4. Die Gegenstände der Ehefrau
4.7. Die detaillierte Szenenanalyse
4.8. Fakten versus Erinnerungen
TEIL V KOMPARATISTIK
5.1. Die komparatistische Disziplin
5.2. Vergleich und Reflexion
5.3. Arbeitsgebiet der Komparatistik
5.4. Intermedialität
TEIL VI EXISTENTIALISMUS
6.1. Genese und Arbeitsfeld des Existentialismus
6.2. Angstkategorien in den Werken ,,1984“, ,,Vor dem Gesetz“ und ,,Memento“
TEIL VII SEIN UND ZEIT
7.1. Abriss des Werks ,,Sein und Zeit“
7.2. Zeug und Ding
TEIL VIII ZEUG-DING-ANALYSE
8.1. 1984
8.1.1. Die Vergangenheit
8.2. Vor dem Gesetz
8.3. Memento
8.4. Resümee von ,,1984“, ,,Vor dem Gesetz“ und ,,Memento“
TEIL IX DER TOD
9.1. Kontemplation über den Tod
TEIL X COMPARATIO MEMENTO - 1984 - VOR DEM GESETZ
10.1. Vergleich des Grotesken
TEIL XI SCHLUSSFOLGERUNG
QUELLENVERZEICHNIS
LEBENSLAUF
ETİK BEYANI
Çukurova Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü Tez Yazım Kurallarına uygun olarak hazırladığım bu tez çalışmasında,
- Tez içinde sunduğum verileri, bilgileri ve dokümanları akademik ve etik kurallar çerçevesinde elde ettiğimi,
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24/08/2022
Bekir ÖZGÜN
yux^Ç ndpa.Ta iibv oi')K av è^supoio, nâoav êninopsuopsvog oöov: 1 outw ßa(h')v ZOvov
'HpaKksiTog o ’E^êoiog
ÖZET
SYNTHESİS EX CİRCULUS VİTİOSUS
GEORGE ORWELL'İN “1984”, FRANZ KAFKA'NIN “YASANIN ÖNÜNDE” ADLI YAPITLARIN VE CHRISTOPHER NOLAN'IN “MEMENTO” FİLMİNİN HEIDEGGER'İN “VARLIK VE ZAMAN” ESERİNDEN EŞYA-ŞEY-ANALİZİNİN FENOMENOLOJİK ÇERÇEVESİNDEKİ KARŞILAŞTIRMALI-VAROLUŞSAL YANSIMASI
Bekir ÖZGÜN
Doktora Tezi, Alman Dili Eğitimi Anabilim Dalı Danışman: Dr. Öğr. Üyesi Cavidan Çöltü İMREN Ağustos 2022, 205 Sayfa
George Orwell'in “1984” (1949), Franz Kafka'nın “Yasanın Önünde” (1915) ve Christopher Nolan'ın “Memento” (2000) yapıtlarındaki olay örgülerinin çarpıcı benzerliği ve kahramanlarının duygusal gelişimi bizleri varoluşun sorgusallığını irdelemeye yöneltmiştir. Korku, çaresizlik, acı, kayıp, ihanet gibi duygular ve ölüm gerçekliği, incelenen yapıtlardaki ana karakterlerin “Yasanın Önünde” yapıtında taşralı adam; “1984” yapıtında Winston Smith ve “Memento” filminde Leonard Shelby, başına gelenler ve onların yaşamlarını etkileyen ruh hallerinin birer yansıması olarak karşımıza çıkmaktadır. Bu çalışmada ise alman filozof Martin Heidegger'in “Varlık ve Zaman” (1927) başyapıtı ile temellendirilen bu yapıtları varoluşçuluk felsefesini de göz önünde bulundurarak Heidegger'den yola çıkarak “kendini kendinde gösteren” bir bilim ve felsefe akım olarak tanımlayabileceğimiz fenomenolojik yaklaşım ve eleştirel bakış açısıyla sunduk. Heidegger'in Eşya-Şey-Analizi bize ilgili yapıtları yorumlamak için daha derin bir bakış açısı sağlamıştır. Bu yapıtların irdelenmesinde “karşılaştırmalı yazın bilimi” disiplininden yararlanılmıştır. Bu Çalışmada film ve yazın arasında bir köprü kurduğumuzdan karşılaştırmalı yazının medyalararasılık kavramını da dahil ettik. Bu çalışmanın ayırt edici özelliği yazın ile felsefenin karşılıklı olarak birbirini beslediğinin bir göstergesi olmasıdır. Bu yöntem, bize seçtiğimiz eserleri derinlemesine yorumlama olasılığını sunmuştur.
Anahtar Kelimeler: Varoluşçuluk, Eşya-Şey-Analizi, Karşılaştırmalı Yazın
ZUSAMMENFASSUNG
SYNTHESIS EX CIRCULUS VITIOSUS DIE KOMPARATIVE-EXISTENZIELLE REFLEXION DER LITERARISCHEN WERKE ,,1984“ VON GEORGE ORWELL, ,,VOR DEM GESETZ“ VON FRANZ KAFKA UND DEM FILM ,,MEMENTO“ VON CHRISTOPHER NOLAN IM PHÄNOMENOLOGISCHEN ZIRKEL DER ZEUG-DING-ANALYSE HEIDEGGERS AUS ,,SEIN UND ZEIT“
Bekir ÖZGÜN
Doktorarbeit, Abteilung für Deutschdidaktik Betreuerin: Ass. Prof. Dr. Cavidan ÇÖLTÜ IMREN August 2022, 205 Seiten
Die Gegenüberstellung der Werke ,,1984“ (1949) von George Orwell, ,,Vor dem Gesetz“ (1915) von Franz Kafka und ,,Memento“ (2000) von Christopher Nolan zeigte uns die verblüffende Ähnlichkeit des Plots, was vor allem die affektive Verfassung der Protagonisten und ihren Werdegang betraf. Angst, Verzweiflung, Schmerz, Verlust, Verrat und Tod sind Zustände, die dem Mann vom Lande in der Parabel ,,Vor dem Gesetz“, Winston Smith in dem Roman ,,1984“ und Leonard Shelby in dem Film ,,Memento“ wiederfahren. Dies alles sind Stimmungen, die den Menschen und sein Leben betreffen. Wir brachten daher die Gedanken des Existentialismus in Anwendung. Der Fokus auf die Existenz des Menschen und seiner Daseinsmöglichkeiten in der Welt war für diese Arbeit ausschlaggebend. Dabei tritt der phänomenologische Ansatz des deutschen Philosophen Martin Heidegger aus ,,Sein und Zeit“ (1927) hinzu. Die Phänomenologie ist eine philosophische Strömung, die die Lehre ,,vom Sichzeigenden“ besagt. In seinem Hauptwerk führt Heidegger eine Zeug-Ding-Analyse durch, die wir gebrauchten, um eine tiefere Deutungsmöglichkeit der Werke zu schaffen. Des Weiteren wurde die Methode des Vergleichs aus der komparatistischen Disziplin angewandt, um eine Reflexion der Erlebnisse und Erfahrungen aus den drei unterschiedlichen Handlungssträngen zu ziehen, sodass ein tieferes Verständnis der Werke gewährleistet wurde. Auf die Intermedialität der Komparatistik wurde ebenfalls eingegangen, da wir in dieser Arbeit auch eine Brücke zwischen dem Film ,,Memento“ und den literarischen Werken ,,1984“ und ,,Vor dem Gesetz“ geschlagen haben. Nebenbei deuteten wir auf den gegenseitigen Effekt der Literatur mit der Philosophie. Da wir die Literatur aus dem Lichte der Philosophie interpretierten, bedienten wir uns der literaturphilosophischen Methode. Sie lieferte uns ebenfalls eingehende Interpretationsmöglichkeiten, die zum Beleuchten der ausgewählten Werke führten.
Schlüsselwörter: Existentialismus, Zeug-Ding-Analyse, Komparatistik
VORWORT
Tränen im Regen. Die Emotionen kommen zum Ausdruck. Doch fast niemand kann sie sehen. Sie sind beinahe unsichtbar. Nichtsdestotrotz sind sie echt, man erlebt sie, fühlt sie im Innern. Und bei wissenschaftlichen Arbeiten verläuft das ähnlich. Die Mühe im Prozess des schöpferischen Arbeitens wird meist unbewusst ausgeklammert, da das Endprodukt in den Händen gehalten wird. Für uns ist das Ausgelassene wesentlich. Warum die Arbeit mit Schmerz verbunden ist? Weil der Weg zum Endergebnis durch einen beschwerlichen, schmalen Pfad führte. Doch die einsamen langen Nächte im Kampf mit sich selbst und der zermürbenden Lage konnte stets voller Hoffnung überwunden werden. Der antike griechische Dichter Aischylos (525 v. Chr.-456 v. Chr.) sagte einmal, dass Weisheit durch Schmerz komme. Ohne Zweifel haben wir der Wissenschaft unseren Tribut gezollt.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei meiner Betreuerin Frau Ass. Prof. Dr. Cavidan ÇÖLTÜ IMREN bedanken, die mich beim Anfertigen dieser Arbeit begleitet und unterstützt hat. Ihre Beiträge erinnerten mich an meine Kräfte, die ich fast gänzlich auszuschöpfen vermochte.
Ein besonderer Dank geht an Frau Prof. Dr. Munise AKSÖZ und Doz. Dr. Ismail SANBERK, die mit konstruktiver Kritik und sachlich wachem Geiste eine Parenthese in meine Gedankengänge öffneten, was zu mehr Objektivität zur Folge hatte.
Ebenfalls gilt mein Dank Frau Ass. Şirin SERPEN, die mir beim Korrekturlesen und Bewältigen von Bürokratiearbeit geholfen hat.
Zuletzt möchte ich Frau Mag. Zeynep Gözde TOKAT für ihre emotionale Unterstützung danken. Diese spendete mir Trost und erfüllte mich mit Zuversicht.
Die vorliegende Arbeit ist an alle von Wissensdurst erfüllten Menschen gerichtet, und insbesondere an Literatur- und Philosophieinteressenten. Wir haben möglichst darauf geachtet, unsere Gedanken in klare, einfache Worte zu kleiden, um sie nicht nur Rezipienten aus der Fachwelt, sondern auch dem breiten Publikum zugänglich zu machen.
TEIL I EINLEITUNG
1.1. Zur Fragestellung
Kann man in dieser Welt ungeschoren davonkommen, unbehelligt seines Weges gehen? Darf man je ohne Unrecht gestraft und gescholten werden? Menschen werden in die Welt gesetzt und müssen den Gefahren begegnen, die überall in ihr lauern. Im alltäglichen Ringen suchen sie einen Sinn in alldem. Gibt es ihn? Gibt es einen Sinn im Leben? Im ständigen Durchstehen und Ausharren. Fragen, die den Menschen durchgehend quälen und konkrete Antworten verlangen. Ein konzentriertes Nachdenken über diese Fragestellung verrichten die Existentialisten. Die Existentialisten sind Vertreter und Verfechter des Existentialismus. Das Wort ,,Existenz“ hat seinen Ursprung im Lateinischen ,,existentia“, das ,,Dasein“ oder ,,Vorhandensein“ bedeutet (Metzler Lexikon Philosophie, 2008, S.173; Wahrig, 2006, S.372). Der Mensch ist ,,da“ in der Welt und somit im Zentrum existenzieller Forschung, sein Lebensvollzug, seine Erfahrungen und Erlebnisse. Der Mensch steht im Mittelpunkt der Untersuchung, weil aus seinem Denken, seinem Bewusstsein heraus die Welt erfahren und wahrgenommen wird. Als Wegbereiter des Existentialismus wird der dänische Philosoph S0ren Kierkegaard (1813-1855) angesehen (Neidhart, 2007, S.635). Kierkegaard beschäftigte sich mit den Abgründen des menschlichen Lebens und sah die Theologie als Zufluchtsort. Angst, Verzweiflung und Tod sind dunkle, schauerliche Bereiche des Lebens, die ungern thematisiert werden. Das Leben besteht aber nicht nur aus Freude, Vergnügen und Glück. Es hat auch seine Schattenseiten. Diese werden meist intensiver verspürt, greifen ins Leben tiefer ein und beeinflussen es entscheidend. Wir möchten den Existentialismus, der sich vor allem in Frankreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert hat, nutzen, um drei Werke aus dem Licht dieser philosophischen Strömung zu beleuchten.
Das erste Werk mit dem wir uns befassen ist ,,1984“ (engl. Nineteen Eighty-Four) vom britischen Schriftsteller George Orwell (1903-1950). Der dystopische Roman wurde 1949 veröffentlicht. Im Roman geht es um eine Gesellschaft im Staat ,,Ozeanien“, die von einer organisierten Minderheit rund um die Uhr bewacht, ausgebeutet und geknechtet wird. Diese Minderheit agiert unter dem Namen einer symbolischen Figur ,,Großer Bruder“ und verübt jegliches Unrecht. Durch Fälschung der Tatsachen möchte diese Gruppe (Innere Partei) die Vergangenheit kontrollieren. Mit der Einführung einer Neusprache sollen Gedankenverbrechen verhindert, gar unmöglich gemacht werden. Personen, die die Rechtlosigkeit und Täuschung der Partei durchschauen, werden verhaftet, gefoltert und getötet. Einer von ihnen ist die Hauptfigur Winston Smith. Er ist Mitglied der Äußeren Partei und arbeitet in der Registrierabteilung, wo Zeitungsberichte und Meldungen revidiert werden. Winston äußert sein Unbehagen durch ein Tagebuch, das er führt. Er möchte einer Untergrundorganisation beitreten, die beabsichtigt das totalitäre Regime zu stürzen. Doch er kann sein Vorhaben nicht ausführen. Er wird verhaftet, gemartert und hingerichtet.
Das zweite Werk ist die Parabel ,,Vor dem Gesetz“, die vom deutschsprachigen Schriftsteller Franz Kafka (1883-1924) geschrieben und im Jahre 1915 veröffentlicht wurde.
In diesem Werk versucht ein Mann vom Lande in das Gesetz zu gelangen, dessen Tor offen steht, aber von einem Türhüter bewacht wird. Der Türhüter verwickelt den Mann in ein Gespräch und droht ihm indirekt, sodass dieser vorläufig davon ablässt, das Tor zu passieren. Es vergehen Jahre. Der Mann versucht alle Mittel und Wege, um in das Gesetz zu kommen. Er ersucht den Türhüter immer wieder um den Eintritt, macht Bestechungsversuche. Doch dieser meint, er könne ihn noch nicht reinlassen. Vor dem Sterben erfährt der Mann, dass das offene Tor nur für ihn bestimmt war und der Türhüter geht und schließt es.
Das dritte Werk ist der Film ,,Memento“, der vom britisch-US-amerikanischen Regisseur Christopher Nolan gedreht wurde. Der Psychothriller wurde im Jahre 2000 veröffentlicht.
In diesem Film geht es um Erlebnisse, die das Leben eines Menschen verändern. Manche Erlebnisse können das Leben völlig neu einordnen. Andere wiederum wandeln den Menschen fast gänzlich um. Er ist hinterher nicht mehr dieselbe Person. Leonard Shelby, Protagonist des Films, musste eine solche Erfahrung durchmachen. Eines Nachts brechen zwei Drogenjunkies in sein Haus ein und vergewaltigen seine Frau. Den einen Täter erschießt er. Bei der Auseinandersetzung mit dem anderen bekommt er einen Schlag auf den Kopf. Leonard fällt ohnmächtig zu Boden und der Verbrecher kann fliehen. Durch den Schlag verliert Leonard seine Merkfähigkeit. Er kann sich von da an keine neuen Erlebnisse mehr einprägen. Seine alten Erinnerungen sind aber stets intakt und er kann sie jederzeit abrufen. Auf eigene Faust macht er sich auf die Suche nach dem geflohenen Straftäter. Um seine Gedächtnisstörung zu kompensieren, macht er mit einer Polaroid- Kamera Fotos, notiert sich wichtige Informationen über Personen und tätowiert seinen Körper mit Fakten über den Mord an seiner Frau. Bei seinen Ermittlungen wird er wegen seines Handicaps von zwielichtigen Personen manipuliert. Verzweifelt darüber, sich an keine seiner neu ausgeführten Handlungen erinnern zu können, die Unsicherheit darüber, nach dem Vorfall den wirklichen Verbrecher gefasst und erledigt zu haben, bringen ihn in aussichtslose Lage. Vorstellung und Wirklichkeit gehen ineinander über. Der Film endet mit dem inneren Monolog Leonards, wo er sich glauben machen will, dass das, was er tut, einen Sinn hat. Ob Leonard je aus dem Teufelskreis seiner selbsterschaffenen Wirklichkeit ausbrechen kann, bleibt im Ungewissen.
1.2. Ziel der Arbeit
Der kurze Einblick in die Werke zeigt, dass sie etwas Gemeinsames haben, das man zum Vergleich heranziehen kann. In allen drei Werken ist Schmerz, Angst, Verlust, Verzweiflung und Tod zu finden. Alle drei Protagonisten begegnen dem Leid dieser Welt. Sie verspüren es in ihrem existenziellen Dasein.
Alle drei Werke haben aber auch einen unterschiedlichen Ausgang. In Orwells ,,1984“ endet die Existenz des andersdenkenden Individuums mit Exekution. In Kafkas ,,Vor dem Gesetz“ endet das Leben des Mannes vom Lande mit schleichend schleppender Marter. Und der Film ,,Memento“ von Nolan endet mit der Verzweiflung und der sinnlosen Existenz des Protagonisten, der seine eigene Wirklichkeit erzeugt.
Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Werke möchten wir anhand der Komparatistik und ihrer Methodik des Vergleichs erörtern. Die Komparatistik, dt. auch Vergleichende Literaturwissenschaft, frz. Littèrature Comparèe, engl. Comparative Literature, ist eine wissenschaftliche Disziplin, die sich von den einzelnen Nationalphilologien losgelöst die Literatur aus einer supranationalen Perspektive betrachtet und die Einzelliteraturen auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede analysiert (Dyserinck, 1991, S.23-24). Durch den Vergleich kann sowohl die fremde Literatur, als auch die eigene eingehender ergründet und durchleuchtet werden. Die Komparatistik ist international orientiert. Künstlerisches Schaffen fremder Kulturen, exotische Sprachen und ungewöhnliche Traditionen sind ihr Terrain. Ihre Methode ist in ihrem Namen. Der geht auf das lateinische Verb ,,comparare“ zurück, das ,,vergleichen“ bedeutet (Zelle, 2005, S.14). Es wird generell zwischen zwei Arten von Vergleichen unterschieden: dem genetischen und dem typologischen Vergleich. Mit dem genetischen Vergleich ist der direkte oder indirekte Kontakt und Einfluss der Künstler und Schriftsteller gemeint. Mit dem typologischen Vergleich hingegen wird eine Parallele in den Produktions- und Rezeptionsverhältnissen der Werke verstanden, die ohne Kontakt zustande gekommen sind (Zima, zitiert nach Hintz, 2007, S.587). Es können demnach ähnliche Motive und Themen behandelt worden sein, ohne dass zwischen den Autoren eine direkte Verbindung stattgefunden hat und sie sich z. B. mit diesen Erscheinungen in unterschiedlichen Epochen befasst haben.
Vergleichende Untersuchungen in akademischen Lehranstalten, die grenzüberschreitend und unabhängig von den Nationalliteraturen durchgeführt wurden, konnten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachtet werden (Dyserinck, 1991, S.24; Özgün, 2017, S.14). Erste Vorlesungen und neu gegründete Zeitschriften führten zur Etablierung einer autarken komparatistischen Disziplin. Ihre kosmopolitische Wesensart und ihre unbefangene Stellung den anderen Literaturen gegenüber, macht sie zu den wegweisenden Fächern der Zukunft und kann zur Völkerverständigung und Kulturaustausch beitragen.
Die Kontaktfreudigkeit der Komparatistik zu fremden Literaturen, ihr intertextuelles Konzept ist für unsere Untersuchung von Belang. Wir haben ein Werk aus der englischen Literatur (Nineteen Eighty-Four, dt. 1984) einem Werk aus der deutschen (Vor dem Gesetz) vergleichend gegenübergestellt. Dies soll uns zum einen zeigen, dass literarische Werke stets eine Verbindung zueinander haben und nicht isoliert betrachtet werden dürfen, zum anderen, dass die von uns zu untersuchenden Gefühlszustände des Menschen (Angst, Verzweiflung, Schmerz) in den Werken einen universalen Charakter haben, der keine nationalen Grenzen kennt. Was Winston Smith im Roman ,,1984“ empfindet, empfindet in ähnlicher Weise der Mann vom Lande in der Parabel ,,Vor dem Gesetz“. Wir werden neben der intertextuellen Ausrichtung der Komparatistik auch von ihrem intermedialen Zweig Gebrauch machen. Dies soll uns die variierende Ausdrucksweise der Kunst vermitteln und wiederum in einem anderen Medium die Universalität des Erfahrens und Erlebens in der Welt veranschaulichen. Was Winston Smith und der Mann vom Lande im literarischen Text durchmacht, durchläuft auf ähnliche Art Leonard Shelby im Film ,,Memento“.
Unsere Intention ist es als ersten Schritt die Handlung der drei Werke detailliert wiederzugeben, damit der Leser sich von Beginn an einen Überblick bezüglich des Themeninhalts verschaffen kann. Im Anschluss daran kommt der theoretische Teil der Arbeit, auf dessen Fundament wir unsere Thesen aufgestellt haben. In diesem Abschnitt fällt die Literatur mit der Philosophie zusammen. Die literaturphilosophische Methode kommt hier zum Einsatz, anhand derer wir unsere aufgestellten Hypothesen begründen und belegen werden, nämlich die Reflexion des einschneidenden Erlebens und Erfahrens des Menschen und die Hinterfragung seiner Existenz. Zum Schluss wird ein Vergleich der drei Werke im Hintergrund des gegebenen Vorwissens angestellt, um die bestmögliche Durchleuchtung und ein nachvollziehbares Verständnis der Werke zu erzielen und diese dann als Folgerung zu präsentieren.
1.3. Relevanz der Arbeit
Es ist darauf hinzuweisen, dass es eine ganze Reihe von Publikationen hinsichtlich der drei Werke gibt2. Die zeitlose, düstere Zukunftsvision Orwells, der dunkle, absurd groteske Stoff Kafkas, die bei den Filmfans Kultstatus erlangte Drehtechnik C. Nolans, jedes Werk auf seine eigene Art, hält das Interesse am Sujet lebendig.
Was wird unsere Arbeit ausmachen? Welchen Beitrag möchten wir für die wissenschaftliche Welt leisten?
Obschon eine große Anzahl veröffentlichter Werke und Interpretationsansätze existieren, gibt es u. E. Forschungslücken, die unsere Arbeit intendiert zu füllen. Da wir aus der philosophischen Sicht an die Werke herangehen, wird diese uns eine differenzierte Perspektive hinsichtlich der Auslegung der Werke eröffnen und eine tiefgreifende Interpretation ermöglichen.
Der dystopische Roman ,,1984“ wird öfters unter dem Aspekt des Machtmissbrauchs und dessen Vollzug (Überwachung, Unterdrückung, Sprachmanipulation) aufgegriffen. Doch wie kann eine Gesellschaft das Bewusstsein von gegenwärtig bestehenden Grundrechtseinschränkungen haben, wenn sie keinen Vergleichspunkt für eine Gegenüberstellung mit vergangenen sozialen Verhältnissen hervorbringen kann? Diese Frage nimmt die obige Zurhandnahme des Werks fast gänzlich in sich auf. Sie rückt die Vergangenheit als zentrales Motiv in den Vordergrund. Manche Gegenstände und Dinge im Roman treten als Repräsentation der Vergangenheit in Erscheinung. So stellen wir uns Fragen während des Lesens anhand der Geschehnisse im Werk, ob ein Tagebuch lediglich einer Selbstreflexion und Übertragung der Gedanken und Gefühle in die Zukunft dient. Nützt ein Briefbeschwerer bloß zum Hindern des Wegfliegens von losem Papier? Wird ein Kinderreim allein zur Unterhaltung oder pädagogischen Zwecken gebraucht? Diese Fragen führen uns eindeutig zur Analyse der Gegenstände und Dinge im Werk. Diese Analyse wird uns wiederum einen tieferen Einblick in den Roman verschaffen und uns eine von den gängigen Interpretationsansätzen abweichende Auslegung ermöglichen.
Kafkas ,,Vor dem Gesetz“ ist nicht nur ein bizarrer Austragungsort eines Größenverhältnisses zwischen Knecht und Sklavenhalter, einfachem Bürger und absoluter Autorität. Autobiografische und soziologische Parallelen zum Werk sind gewiss nicht von der Hand zu weisen. Diese sind aber eine gängige Annäherung zum Werk. Was unsere Arbeit ausmachen wird, ist der Einblick in die Gegenstände und Dinge im Text, die uns einen Zugang in seine Tiefenstruktur ermöglichen wird. Zählt der Schemel zum Inventar des Gesetzes oder gehört er zur persönlichen Ausstattung des Türhüters? Warum bietet der Türhüter dem Mann vom Lande einen Schemel an, statt einen Stuhl? Welche Rolle spielt die Tür und warum steht sie offen? Warum wacht der Türhüter über eine offene Tür? Schließen der Wächter und die offene Tür sich nicht gegenseitig aus? Auf diese Fragen werden wir Antworten suchen.
Der Film ,,Memento“ hebt sich nicht nur durch seinen speziellen Filmschnitt hervor, bei dem die Handlung in zwei Stränge geteilt ist, wo der eine dem anderen chronologisch entgegengesetzt verläuft. Ein herkömmlicher Ansatz ist es, diese technische Bearbeitung des Films mit der Gedächtnisstörung des Protagonisten in Beziehung zu setzen, um den Zuschauer von Beginn an in die verwirrte Lage der Hauptfigur zu bringen. Der Film gibt auch nicht bloß die Rache eines frustrierten Ehemannes wieder. Die eigentliche Frage lautet u. E., ob man die nüchtern illusionslose Welt durch einschneidende Erlebnisse erfährt? Kann jemand über einen Schicksalsschlag hinwegkommen, wenn er sich keine neuen Erinnerungen machen kann? Wie kann sich jemand in solch einem Zustand in seiner Umwelt orientieren? Gibt es eine Möglichkeit die
Merkfähigkeit des Gedächtnisses zu kompensieren oder womöglich zu ersetzen? Kann eine Kamera als Extension des menschlichen Gehirns dienen? Könnte der Körper des Menschen eventuell als mobiler Notizblock fungieren? Diese Fragen verlangen Klärung.
1.4. Verfahren und Durchführung
Um auf diese Fragen ausführliche Antworten zu erhalten, werden wir neben dem existenziell-komparativen Verfahren uns auch mittels einer philosophischen Arbeit den Werken nähern. Wir nehmen das philosophische Werk ,,Sein und Zeit“ in unsere Untersuchung auf.
Das Werk ,,Sein und Zeit“, das vom deutschen Philosophen Martin Heidegger (1889-1976) verfasst und im Jahre 1927 veröffentlicht wurde, versucht den Sinn vom Sein zu ergründen (Heidegger, 1967, S.1). Um dieses Bestreben zu realisieren, bedient Heidegger sich der phänomenologischen Methode. Die Phänomenologie, dt. Erscheinungslehre, ist eine philosophische Denkrichtung, die vom österreichischdeutschen Philosophen Edmund Husserl (1859-1938) begründet wurde. Husserl definiert Phänomenologie als ,,deskriptive Wesenslehre der reinen Erlebnisse“ (Husserl, 2020, S.198). Die Phänomenologie ist demnach eine beschreibende Wissenschaft, die die Dinge in ihrer puren Eigenheit erfassen möchte. Unser Bewusstsein muss vorgefertigte Urteile und Annahmen über die Umwelt außen vor lassen. Die Dinge müssen so aufgefasst werden, wie sie sich im Reinen von sich selbst aus zeigen. Heidegger, Schüler Husserls, versteht die Phänomenologie in ähnlicher Weise als ,,[...] äno^arvsoOai ra cpaivoLir.va [apophainesthai ta phainomena]: Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt [.]“ (Heidegger, 1967, S.34). Heidegger will zu den Dingen selbst gelangen, um den Sinn des Seins zu erreichen. Er legt den griechischen Begriff cpaivoLir.vov (phainomenon) ,,Phänomen“ als ,,das Sich-an-ihm-selbst-zeigende“ aus (Heidegger, 1967, S.28). Eine Erscheinung muss nicht das sein, als was es wahrgenommen wird zu sein. Sie könnte auch das sein, wonach sie nicht aussieht. D. h. das Phänomen weist eine Tiefenstruktur von Verborgenem und Verstelltem auf, das eine präzise Auslegung eines wachen Bewusstseins erfordert, um die eigentliche Sache selbst zu erfassen. Demgemäß gebraucht Heidegger die Wissenschaft des Phänomens, um an das ,,Sein des Seienden“ (ebd., S.35) heranzukommen. Das Sein, dessen Sinn Heidegger ausfindig machen möchte, entspricht der Auslegung des Phänomens. Jeder hat eine Meinung zum Sein, aber niemand kann genau sagen was es ist. Es ist der selbstverständlichste Begriff, aber dennoch eines der schwierigsten. Und weil man glaubt das Sein zu kennen oder es missverständlich als etwas anderes begreift, möchte Heidegger das Versäumte in der traditionellen Philosophie mit diesem Werk nachholen.
Wir möchten anders als Heidegger die Phänomenologie nicht zum Erschließen des Seins anführen, sondern ihr Untersuchungsfeld auf die Analyse des innerweltlich begegnendem Seienden eingrenzen. Wir gedenken die Phänomenologie zur Differenzierung von Zeug und Ding zu gebrauchen, so wie Heidegger sie in ,,Sein und Zeit“ vornimmt. Heidegger macht eine Unterscheidung zwischen Zeug und Ding. Er bezeichnet das Seiende, mit dem der Mensch umgeht als Zeug. Das Zeug hat eine Verweisstruktur. Es ist „etwas, um zu...“ (Heidegger, 1967, S.68). Und das Ding ist ein vorhandenes Material, das erst seinen ,,Wert“ durch den Umgang mit ihm erhält. Die Verwendung des Zeugs macht es zuhanden. Sobald es unbrauchbar wird, liegt es nur da und wird vorhanden (ebd., S.73). Das Dasein ist es, das dem innerweltlich Seienden eine Bedeutung beimisst. Mit seiner pragmatischen Sicht auf die zunächst erscheinenden Dinge, macht er die Welt zu seiner Umwelt. Ein Hammer ist kein bloßes Ding, bestehend aus Metallkopf und Holzstiel. Es ist ein Zeug, das zum Schlagen und Klopfen von Materialien dient. Es verweist auf anderes Zeug wie z. B. den Nagel, der in die Wand oder ins Holz geschlagen wird. Weitere Beispiele können angeführt werden. Ein Reifen verweist auf ein Auto, ein Fahrzeug, das zum Fortbewegen, zur Mobilität genutzt wird. Der Reifen kann gleichzeitig bis zu seinem Verweisursprung, dem Asphalt und zuletzt dem Fuß des Menschen zurückverfolgt werden. Mit diesem eigens umsichtigen Blick auf das Seiende möchten wir den Schleier des Seins des Seienden in den Werken aufheben.
Die Phänomenologie kommt so zum Einsatz, dass sie uns die Sachen in den Werken ,,1984“, ,,Vor dem Gesetz“ und ,,Memento“ als das zeigt, was sie nicht sind und als das offenbart, was sie sind. Diese phänomenologische Wahrnehmung, die das vertraut gewähnte Ding in seinem Ausgangspunkt erblickt, wird uns helfen die Dinge in den Werken näher zu bestimmen, ihre Funktion in der Handlung zu erläutern und den tieferen Sinn ihres Vorkommens zu ermitteln.
Dient das Tagebuch im Roman ,,1984“ allein zur Aufzeichnung von Erlebnissen? Ist ein Briefbeschwerer nicht mehr als ein Accessoire oder ein Gegenstand, der loses Papier am Wegfliegen hindert? Wird ein Kinderreim bloß zur Unterhaltung oder pädagogischen Zwecken verwendet? Die nähere Betrachtung dieser Sachen wird uns ein besseres Verständnis für den dystopischen Roman Orwells verschaffen.
Wenn die Tür in der Parabel ,,Vor dem Gesetz“ zur Abgrenzung und Sicherheit von Gebäuden dient, warum sollte sie offen stehen? Aus welchem Grund darf man eine offene Tür nicht betreten? Und weshalb wird eine offene Tür bewacht? Diese Fragen werden der Parabel Kafkas gestellt und ihnen auf den Grund gegangen.
Warum lässt sich die Hauptfigur im Film ,,Memento“ Tattoos unter die Haut stechen? Ist es ein Zeichen der Individualität, ein Symbol der Gruppenzugehörigkeit oder dient es dem Festhalten eines Erlebnisses? Oder könnte der Zweck einer Tätowierung andere Absichten haben, die der generellen Tendenz wiedersprechen und nicht direkt erkennbar sind? Im Film haben die Tattoos eine vom Gewohnten abweichende Bedeutung. Auch die Polaroid-Kamera, die benutzt wird, hat ihren eigenen Sinn in der Handlung.
Es ist deutlich zu erkennen, dass in den drei Werken Dinge bzw. Zeug vorkommen, die im Plot eine Relevanz darstellen. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb wir uns für diese Werke entschieden haben und sie im Rahmen Heideggers Magnum Opus untersuchen.
Ein weiterer Grund für die Wahl dieser Werke ist die Similarität des Handlungsablaufs, der mit aussichtslosem Unterfangen beginnt, zu Verzweiflung übergeht und im Tod mündet. Das Geschehen ist gekennzeichnet durch eine finstere Atmosphäre ohne Ausweg.
,,Sein und Zeit“ gab auch eine Anregung für den Existentialismus und wird oft als dessen theoretische Fundierung erachtet. Denn in seinem Hauptwerk versucht Heidegger mit Hilfe des Daseins (Mensch) zum Sein vorzustoßen. Nur der Mensch ist sich seiner Existenz bewusst, also seines Seins. Demnach liegt Heideggers Hauptaugenmerk auf dem Menschen und seinen Seinsmodi in der Welt. Er führt eine Daseinsanalyse durch. Der Mensch ist von Sorge geprägt, wird von Furcht und Angst geplagt und flieht in die Alltäglichkeit. Er ist vor allem stets mit seinem eigenen Tod konfrontiert, dem er nicht ausweichen, nicht entfliehen kann.
Da Angst, Verzweiflung, Verlust, Schmerz und Tod Themen sind, die sich wie ein roter Faden durch unsere drei Werke ziehen, haben wir auch die Daseinsanalyse Heideggers zu unserer Untersuchung herangezogen. Das Thema ,,Tod“ möchten wir in einem eigenen Kapitel behandeln. Die philosophische Betrachtungsweise seiner Bedeutung im Leben des Menschen werden wir erörtern. Der Mensch wird in die Welt gesetzt und ist schon mit dem ersten Atemzug zum Tode verurteilt. Er kann dem Tod nicht entrinnen. Mit jedem Augenblick seines Daseins nähert er sich ihm. Und diese unabänderliche Wirklichkeit, die er nicht kontrollieren kann, bringt ihn in Verzweiflung.
Unser inneres Konzept, unser Entwurf über das Leben, skizziert vom dauerhaften Hedonismus3, das aber ein tragisches Ende nimmt, mit dem Nicht-mehr-da-sein in der Welt.
Die Werke behandeln zeitlose Thematik wie Angst, Schmerz, Verlust, Verzweiflung, Verrat und Tod, die u. E. oftmals ignoriert, das Dunkle im Leben so weit als möglich verdrängt wird. Des Weiteren sind diese Themen untrennbar am Leben gebunden und greifen in dieses unmittelbar ein, sodass es zumindest beim Rezipienten einen Schockzustand erzeugt, vielleicht sogar das Vertraute im Alltäglichen zusammenbrechen lässt. Im Allgemeinen bricht für jemanden, dessen Frau vergewaltigt und ermordet wurde, die Welt zusammen. Er ist nicht mehr dieselbe Person. Wenn jemand vor dem Erreichen seines Ziels zu Tode kommt, ist es eine Tragödie. Ein Mann lässt alle Hoffnung fahren, wenn er verraten wird, keine Zukunft und Perspektive sieht. Er lebt aussichtslos dahin, bis ihn der Tod einholt. In solche prekäre Situationen kann jeder geraten.
Ziel dieser Arbeit ist es die Werke ,,1984“, ,,Vor dem Gesetz“ und ,,Memento“ existenziell-komparatistisch zu untersuchen, sie aus der literaturphilosophischen Sicht zu erörtern. Der Mensch wird in die Welt geboren und muss sich ihren Herausforderungen stellen. Er lebt in einer Gesellschaft, ist umgeben von Menschen, doch ist allein in dieser Welt. Er ist von Emotionen geprägt und muss unentwegt Entscheidungen fällen, die den Werdeprozess seines Daseins nachhaltig bestimmen. Wie begegnen die Protagonisten in den Werken dem philosophisch existenziellen Denken?
Was hätte Winston Smith im Roman ,,1984“ tun können, um zu überleben? Sah er keinen Sinn im Weiterleben? War er der ständigen Lügen, Manipulation und Unterdrückung überdrüssig? Empfand er den Tod als Erlösung, um so der anhaltenden, unerträglich grausamen Folter zu entkommen?
Warum durchquert in der Parabel ,,Vor dem Gesetz“ von Franz Kafka der Mann vom Lande das Tor des Gesetzes nicht ohne die Erlaubnis des Türhüters? Warum wartet er stattdessen sein Leben lang vor dem Gesetz? Ließ er sich täuschen? Ist der Tod die Strafe für Handlungsunfähigkeit?
Ist im Film ,,Memento“ Leonard Shelbys Suche nach dem Mörder seiner Frau sein einziger Lebensgrund? Wie kann er seinem Rachefeldzug ein Ende setzen, wenn er sich keine neuen Erlebnisse einprägen kann? Wie kann er seine Wunden heilen, wenn er die Zeit nicht empfindet? Dies sind eine Menge existentieller Fragen, auf die wir versuchen werden in dieser Arbeit Antworten zu finden.
Auch die Komparatistik wird auf die zu erörternden Fragen wesentliche Antworten liefern. Anhand der komparatistischen Disziplin und ihrer Methode des Vergleichs, wird eine Brücke zwischen den Werken gebaut. Die unterschiedlichen Handlungen werden nach Analogien und Differenzen untersucht. Schmerzen, die man empfindet sind im Endeffekt eins, sowie das Menschsein und die Lebenswelt eins sind. Da zwei literarische Werke mit dem Medium Film gegenübergestellt werden, werden wir auch auf die Subdisziplin der Komparatistik, der Intermedialität eingehen. Ausdruck von Kunst kann sich variieren. Die visuelle Darstellung von Orientierungslosigkeit und Verzweiflung spezifiziert unsere Fragestellung und weitet sie aus. Schrift und Bild werden zwar meist im Kontrast zueinander gesehen, aber ihre Kombination bei der Übermittlung der Botschaft an die Rezipienten ist effektiv.
So wirksam sind auch die phänomenologischen Analysen Heideggers in ,,Sein und Zeit“, die wir in unsere Arbeit einbeziehen werden. Die Abgrenzung zwischen Zeug und Ding wird uns bei der Deutung der Gegenstände in den Werken voranbringen. Die Intention dieser Arbeit ist es nicht eine ontologische Untersuchung durchzuführen oder die Genese und Forschungsbereiche der Phänomenologie als Wissenschaft zu erläutern.
Die Relevanz dieser Arbeit liegt in der Überschneidung der Literatur mit der Philosophie. Die Gedanken des Existentialismus übertragen sich auf die literarischen Werke und den Film. Die Komparatistik vergleicht die existenziellen Zustände in den Werken. Und die Zeug-Ding Analyse Heideggers zeigt den eigentlichen Sinn des Gebrauchs der Dinge durch die Protagonisten im existenziellen Befinden. Das fasst unsere Arbeit prägnant zusammen.
Eventuell kann diese wissenschaftliche Untersuchung als Impuls fungieren, existentiell-philosophisches Wissensgut über das Übliche hinaus in die Literatur zu integrieren, was zu weiterführenden Abhandlungen und Aktualisierung bestehender Forschungen in diesem Bereich beitragen kann.
TEIL II 1984
2.1. Inhaltsangabe und Interpretation
Der dystopische Roman „1984“ (orig. engl. Nineteen Eighty-Four)4, der im Jahre 1948 vom britischen Schriftsteller Eric Arthur Blair5, besser bekannt als George Orwell (1903-1950) verfasst und im Jahre 1949 veröffentlicht wurde, handelt von einer düsteren Zukunftsvision der Welt, in der ein unerbittlich, kontinuierlicher Krieg ausgetragen wird und die Völker von einer totalitären Machtordnung regiert werden und das Leben der Menschen unter absoluter Kontrolle steht. Der Ort der Handlung ist die Stadt London, verändert als Luftflottenstützpunkt Nr.1, die von der Supermacht Ozeanien eingenommen wurde.
Das seinen Platz in den Weltkanon etablierte Werk ist für seine zeitüberdauernde Thematik, Terminologien und für seine Aktualität in Bezug auf Politik und Verwaltung bekannt.
Warum George Orwell seinem Roman den Titel ,,1984“ gegeben hat, darüber gibt es eine weitgehend gängige Sichtweise. Der Roman wurde 1948 fertiggestellt und die letzten beiden Ziffern verdreht, um womöglich auf eine Zukunft zu verweisen, die mit der Verfassungszeit des Buches eng verbunden war (Neuroth, 2014, S.75; Brauer, 2019, S.205). Was heute geschieht, kann auch morgen passieren. Orwell wollte u. E. entweder auf die Omnipräsenz der Unterdrückung und ihren zeitlosen Charakter hinweisen, die wenn man nicht acht gibt, überall und jederzeit aufkeimen kann, oder aber er sah, dass die Zeit des Totalitarismus sich in seiner Gegenwart entfaltete und seine volle Wirkung erst in der Zukunft sich herausstellen würde. Die letztere Vermutung sieht den Zahlendreher als einen Entwicklungsprozess totalitärer Herrschaft an.
Im Roman wurde Anfang des 20. Jahrhunderts die kapitalistische Herrschaftsform auf der Welt durch eine Revolution der Proletarier zerschlagen. Es kamen neue Ordnungen und Bewegungen zustande, die gleichzeitig auch die physischen Grenzen der Länder veränderten. Aus diesem Wandel traten 3 große Supermächte hervor (Ozeanien- Eurasien-Ostasien), die den ganzen Globus beherrschten, jeder seinen eigenen Machtbereich. Eurasien beherrschte den nördlichen Teil Europas und Asiens. Ozeanien regierte in Nord- und Südamerika, Australien, England und den südlichen Teil von Afrika. Ostasien als die dritte Supermacht dominierte in China, Japan, Mandschurei, Mongolei und Tibet. Die restlichen Gebiete sind strittige Regionen, um die es ständig gekämpft wird und der Besitzer dieser Territorien sich permanent wechselt. Es werden auch innerhalb der drei Weltmächte 2 zu 1 Allianzen gebildet, die sich je nach Lage ändern kann, aber dieses Bündnis nie im Stande ist den entsprechenden Kontrahenten vollkommen auszulöschen. Keines der Supermächte ist in der Lage die restlichen Widersacher zur völligen Kapitulation zu bewegen. Und so entwickelt sich die Geschichte mit dauernden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den drei feindlichen Mächten weiter.
Die Handlung des Romans spielt im Jahre 1984 in der Stadt London ab, die eine Provinz in Ozeanien ist und auch als Luftstützpunkt Nr.1 bezeichnet wird.
Es existiert in der realen Welt ein Gebiet mit dem Namen ,,Ozeanien“. Damit wird eine Inselwelt bezeichnet, die sich vom Osten Australiens bis zum Nord- und Südpazifik erstreckt (von Heintze, 2006, S.267). George Orwells Ozeanien hingegen ist der Name für einen fiktiven Staat, in dem eine totalitäre Partei die Menschen überwacht und unterdrückt (Popp, 2011, S.24).
Ozeanien wird von einer radikalen Partei regiert deren Anführer der Große Bruder ist. Die Partei versucht mit sogenannten „Televisorn“ (audiovisuelle Aufnahmegeräte), die in Häusern und überall in der Stadt angebracht wurden, die Bürger Ozeaniens rund um die Uhr zu überwachen und jedes Ungehorsam ihr gegenüber, das als „Gedankenverbrechen“ bzw. als Hochverrat angesehen wird zu unterbinden und zu eliminieren. Durch eingerichtete Ministerien (Wahrheitsministerium, Friedensministerium, Liebesministerium und Ministerium für Überfluss) werden die Prinzipien der Partei durchgeführt und ihre Ordnung sichergestellt.
Das Volk Ozeaniens ist in drei Klassen unterteilt, in eine Oberschicht, eine Mittelschicht und eine Unterschicht. Die Oberschicht bildet der Große Bruder und die Inneren Parteimitglieder, die die absolute Macht über das Land haben. Die Mittelschicht besteht aus den Äußeren Parteimitgliedern, die aus Arbeitern zusammengesetzt ist und in den 4 Ministerien im Dienst der Partei steht. Die Unterschicht, die auch als „Die Proles“ bezeichnet wird, stellt 85% der Bevölkerung dar und hat keine Rechte. Diese Menschen leben in Elendsvierteln, wo es keine gesellschaftliche Normen und Werte existieren und die Kriminalität auf hohem Niveau herrscht und Glücksspiele, Kneipenschlägereien und Prostitution alltägliche Routine ist.
Der Protagonist des Romans ist der 39-jährige Winston Smith, der als Mitglied der Äußeren Partei in der Registrierabteilung des Wahrheitsministeriums tätig ist und sich dort mit veröffentlichten Zeitungsberichten, Büchern und schriftlich aufgezeichneten Reden des Großen Bruders befasst. Dabei revidiert er die unstimmigen Zahlen, Äußerungen und Prophezeiungen, die sich mit den gegenwärtigen Ereignissen auf der Welt und in Ozeanien nicht überdecken. Dieses Verfahren soll die jetzige Zeit mit der Vergangenen in Einklang bringen, um die Unfehlbarkeit und Alwissenheit der Partei zu demonstrieren.
Smith hatte seine Eltern und seine kleine Schwester seit seinem 11. Lebensjahr nicht mehr gesehen und weiß seit den politischen Säuberungsaktionen nicht, ob sie am Leben sind. Er lebt allein, in Londons Stadtviertel „Victory-Block“, wo die Lebensumstände miserabel sind. Tägliche Reparaturarbeiten, verstopfte Abwasserleitungen und die abgestellten Heizsysteme in den kalten Jahreszeiten gehören zum Alltag. Das Beschaffen einfacher Gegenstände wie Rasierklingen, Knöpfe und Schnürsenkel ist mühselig, da die Partei sie nicht liefern kann. Auch Lebensmittel wie Schokolade und Getränke wie Kaffee oder Tee sind eine Rarität im Viertel. Die Menschen sind meist unterernährt, hungern und sind in sozialen Notlagen. Auch was die kriegerischen Konflikte mit den feindlichen Staaten betrifft, so fallen permanent Raketenbomben auf die Stadt, sodass in London ein beständiger Kriegszustand herrscht.
Winston ist kein treuer Parteimitglied. Er ist mit der Situation seines Lebens und seines Umfelds unzufrieden und mit der Herrschaft der Partei in Gegensätzlichkeit. Er verabscheut die unbegrenzte Überwachung und die widersprüchliche Doktrin der Partei, ihre Intoleranz gegenüber Andersdenkende, sowie ihre Verhaftungen gegen die sogenannten „Gedankenverbrecher“. Er lehnt innerlich ihre Folter und Exekutionen gegen mutmaßliche Spione, Verräter und Feinde ab. Er verspürt ein Hassgefühl gegen die erschaffene Lügenwelt der Partei. Mit der Einführung einer Neusprache, die den Wortschatz der Altsprache dezimiert und ungewünschte bzw. der Parteipolitik schadende Begriffe wie Freiheit oder Frieden ausgemerzt werden, wird das Denken und Kommunizieren der Bürger Ozeaniens eingegrenzt und schablonisiert, sodass ein Gedankenverbrechen, ein Zwiedenken im Voraus verhindert werden kann.
Winston hat schon seit längerer Zeit eine Unstimmigkeit im System entdeckt, das ihm Kopfzerbrechen bereitet. Er versucht mit Hilfe seiner Erinnerungen aus der Vergangenheit die aufgetichten Lügen der Partei und ihrer Ordnung aufzudecken. Er sucht in einem Lokal im Prolesviertel einen alten Mann auf, spendiert ihm Bier und möchte von ihm über das Leben und Vergangenheit vor der Machtübernahme der Partei erfahren. Doch dieser kann ihm nicht weiterhelfen.
Ein Gefühl der Hilflosgikeit überkam Winston. Die Erinnerung des alten Mannes war weiter nichts als ein Kehrichthaufen von Einzelheiten. Man hätte ihn den ganzen Tag ausfragen können, ohne eine einzige vernünftige Auskunft zu bekommen (Orwell, 1973, S.138).
Also gibt er sein Vorhaben auf und verlässt das Lokal. Er wollte einen anderen Weg finden, Informationen über die vorrevolutionäre Zeit zu erhalten.
Winston möchte einer Untergrundorganisation mit dem Namen ,,Brüderschaft“ beitreten. Diese wurde von Immanuel Goldstein, einem Abtrünnigen der Partei gegründet. Sie verfolgt im Geheimen das Ziel den Großen Bruder und die Partei zu stürzen. Doch diese Organisation existiert nur in Gerüchten, die heimlich von Mund zu Mund umhergingen. Es taucht im ganzen Roman kein einziges Mitglied dieser Organisation auf. Winston denkt, dass O’Brien aus der Inneren Partei ein Verschwörer und Mitglied der Brüderschaft ist. Er glaubt an einem flüchtigen Blick seine Parteiuntreue erkannt zu haben.
Er fing flüchtig O’Briens Blick auf. O’Brien war aufgestanden. Er hatte seine Brille abgenommen und war gerade im Begriff, sie wieder mit seiner charakteristischen Geste aufzusetzen. Aber dazwischen lag der Bruchteil einer Sekunde, währenddessen sich ihre Augen begegneten, und in diesem winzigen Zeitraum wußte [sic!] Winston [.] daß [sic!] O’Brien das gleiche dachte wie er. Eine unmißverständliche [sic!] Botschaft war zwischen ihnen ausgetauscht worden. Es war, als hätten ihre beiden Denkwelten sich aufgetan und als strömten durch ihre Augen die Gedanken von dem einen in den anderen über. »Ich halte es mit dir«, schien O’Brien zu ihm zu sagen. »Ich weiß genau, was in dir vorgeht. Ich kenne deine ganze Verachtung, deinen Haß [sic!], deinen Abscheu. Aber hab keine Angst, ich stehe auf deiner Seite!« - Dann war der Blitz des Einverständnisses erloschen, und O’Briens Gesicht war ebenso undurchdringlich wie das aller anderen (ebd., S.29-30).
Dieser kurze wechselseitige Blick ist es auch, weshalb Winston O’Brien als Vertrauensperson ansieht und Erwartungen hegt, bestimmte Nachrichten oder Zeichen von ihm zu erhalten, um Mitglied der angeblich verdeckt agierenden Organisation beizutreten.
Endlich war es soweit. Die erwartete Botschaft war gekommen. Sein ganzes Leben lang, schien es ihm, hatte er darauf gewartet. [.] Es war O’Brien. Endlich standen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber und sein erster Impuls war davonzulaufen. Sein Herz klopfte heftig. Er hätte kein Wort hervorbringen können. O’ Brien jedoch war ruhig weitergegangen, er legte einen Augenblick freundlich die Hand auf Winstons Arm, so daß [sic!] sie jetzt nebeneinander hergingen (ebd., S.231-232).
Im weiteren Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass O’Brien gar kein Mitglied der Brüderschaft war, sondern ein treuer Parteifunktionär mit viel Macht. Demnach können die späteren Angaben O’Briens über Immanuel Goldstein und die Brüderschaft als unzuverlässig angesehen werden. Vielleicht dienten diese Geschichten nur dazu, Antagonisten zu schaffen, um die Relevanz der herrschenden Partei zu festigen, um die Schuld des selbst verursachten Elends auf eine imaginäre Struktur zu schieben, der Bevölkerung glauben zu machen, dass ohne die Partei das Volk seinen gesamten Wohlstand verlieren würde.
Winston kauft sich aus einem Altwarengeschäft, das in einem der Elendsviertel in der Stadt liegt und dessen Besitzer ein Mann namens Mr. Charrington ist, ein Tagebuch. Diesen legt er an, um seine Gedanken in Worte zu fassen und seinen Hass gegenüber dem Großen Bruder auszudrücken.
Er lernt im Geheimen eine junge Dame namens Julia kennen, die im selben Ministerium an der Produktion von Romanbüchern in der Literaturabteilung beschäftigt ist. Sie verliebt sich in ihn und möchte mit ihm Kontakt aufnehmen. In einem der langen Gänge des Wahrheitsministeriums begegnen sich Julia und Winston. Julia stolpert und fällt auf den Boden. Winston bleibt stehen und hilft ihr auf. In diesem kurzen Moment drückt sie Winston unbemerkt einen kleinen Zettel in die Hand.
[.] in den zwei oder drei Sekunden, in denen er ihr aufhalf, hatte das Mädchen ihm etwas in die Hand gedrückt. [.] Es war ein viereckig zusammengefaltetes Stückchen Papier. [.] In einer großen, unbeholfenen Handschrift stand darauf: Ich liebe Sie (ebd., S.159-161).
Erst eine Woche nach der Nachricht Julias konnten sie zusammen ein Treffen ausmachen. Sie treffen sich regelmäßig heimlich an bestimmten versteckten Orten (auf dem entlegenen Land, im Glockenturm einer Kirchenruine), um ihre Liebe zueinander und ihre intime Beziehung auszukosten. Denn die Unzucht zwischen Parteimitgliedern gilt als Verbrechen. Die Partei will enge Beziehungen, die Liebe, die Begierde und den sexuellen Akt verhindern. Die Eheschließung wird nur genehmigt, um Kinder für den Dienst der Partei zu zeugen. ,,Der einzig anerkannte Zweck einer Heirat war, Kinder zum Dienst für die Partei zur Welt zu bringen” (ebd., S.100). Ansonsten wird eine gesellschaftlich verbreitete Enthaltsamkeit begrüßt.
Um sich öfter mit Julia zu treffen, mietet Winston ein kleines Zimmer im oberen Stock des Altwarengeschäfts von Mr. Charrington. Das Zimmer wird von nun an ihr Treffpunkt, an dem sie keine langen Wege mehr zurücklegen müssen und sich durch die herrkömmliche Prolesviertel-Umgebung in Sicherheit fühlen.
Verrückt, verrückt, hämmerte sein Herz unaufhörlich: Es war eine bewußte [sic!], unverantwortliche, selbstmörderische Verrücktheit. Von allen Verbrechen, die ein Parteimitglied begehen konnte, war keines so unmöglich geheimzuhalten wie dieses. [.] Wie vorausgesehen, hatte Mr. Charrington keine Schwierigkeiten beim Vermieten des Zimmers gemacht. Er war offensichtlich erfreut über die paar Dollar, die ihm das einbringen würde. Auch nahm er keinen Anstoß daran, noch wurde er unangenehm vertraulich, als sich herausstellte, daß [sic!] Winston das Zimmer für ein Liebesabenteuer benötigte (ebd., S.204).
Im Zimmer erzählt Winston Julia von einem Mitglied der Inneren Partei namens O’ Brien, zu dem er sich hingezogen fühlt und von dem er seit längerem durch die Art seines Verhaltens denkt, dass er im Geheimen die Partei verachte und ein Mitwirkender der geheimen Brüderschaft ist. Unter dem Vorwand die 10. Ausgabe des NeusprachWörterbuches abzuholen, die die aktuellen Neuerungen der Sprache enthält, gehen Winston und Julia zusammen zum Wohnsitz O’Briens. Dort angekommen stellen sie verblüfft fest, dass O’Brien den Televisor abschalten kann. ,,»Sie können ihn ja abstellen!« [.]. »Ja«, sagte O’Brien, »wir können ihn abstellen. Wir haben dieses Vorrecht.«“ (ebd., S.249). Aber kurze Zeit später erklärt er ihnen, dass es selbst für ein Mitglied der Inneren Partei unüberlegt wäre, den Televisor für eine längere Zeit ausgeschaltet zu lassen. ,,Er sah auf seine Armbanduhr. »Es ist unklug, sogar für Mitglieder der Inneren Partei, den Televisor länger als eine halbe Stunde abzustellen“ (ebd., S.253).
Winston und Julia erklären O’Brien ihren wahren Standpunkt zur Partei und zum Großen Bruder, dass sie sie hassen und stürzen wollen. Sie bitten deshalb O’Brien sie in die Brüderschaft zu akzeptieren. Nach einigen Fragen nimmt O’Brien sie in die verdeckte Untergrundorganisation auf und gibt ihnen einige Informationen über die geheime Vereinigung, über die momentane Sachlage, über ihre Ziele und Aufgaben. O’ Brien teilt ihnen zudem mit, dass er ihnen später das Buch von Immanuel Goldstein „Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus“ mit einer Mappe überbringen wird und sie es lesen und innerhalb von 2 Wochen zurückbringen sollen. Warum O’Brien Winston das Buch Goldsteins aushändigen wollte, ist nicht angegeben. Es ist u. E. sehr unwahrscheinlich, dass er ihm damit eine Möglichkeit bieten wollte, seinen ziellosen Gedanken Klarheit zu schaffen, diese theoretisch zu fundieren. Wahrscheinlicher ist die Vermutung, dass er ihn glauben machen wollte, Immanuel Goldstein existiere und sein Buch auch, damit Winston annimmt, O’Brien sei ein Mitglied der Brüderschaft, was sich später herausstellt, dass er es in Wirklichkeit nie war.
Winston liest bei einer gefundenen Gelegenheit im Zimmer des Altwarenladens das verbotene Buch und stößt auf keine neuen Informationen, die er nicht selbst schon aus eigenen Erkenntnissen beobachtet und erschlossen hat. Sie versicherten ihm nur, dass er nicht verrückt war und dass er sich all die Dinge nicht bloß eingebildet hatte. Darin waren Hinweise über die Anfänge der Revolution, die unterschiedlichen Ideologien, die Machtstruktur in Ozeanien und die Aufgaben und Ziele der Partei festgehalten.
Julia trifft nach einer Zeit auch im Zimmer ein und gesellt sich zu Winston ins große Doppelbett, das sich neben dem Fenster befindet und er liest ihr aus dem Buch vor. Beide schlafen für eine Weile ein und als sie wieder zu sich kommen, unterhalten sie sich bis ihr Gespräch mit einer Stimme aus dem Televisor, der hinter dem antiken Kirchengemälde versteckt war, unterbrochen wird. ,,»Ihr seid die Toten«, sagte eine eiserne Stimme hinter ihnen. [.] »Bleibt genau da stehen, wo ihr seid. Macht keine Bewegung, ehe es euch befohlen wird«“ (ebd., S.327). Beide geraten in einen Schockzustand. Männer mit schwarzer Uniform stürmen das Zimmer durch die Tür ein und mit der Leiter durch das Fenster. Julia wird geschlagen und aus dem Zimmer weggetragen. Mr. Charrington betritt das Zimmer und sein verändertes Aussehen überrascht Winston. Es stellt sich heraus, dass Mr. Charrington ein Agent der Gedankenpolizei ist und zur Verhaftung von Winston beigetragen hat. Winston wurde 7 Jahre lang beobachtet und verfolgt, ohne das er davon mitbekam. Winston wird in einen geschlossenen Gefängniswagen gesteckt und in ein vorübergehendes Gefängnis gebracht, wo er mit ca. 15 weiteren Personen für einige Stunden verweilt. Im Verlies sind Verbrecher aller Art zu finden, von Rauschgifthändlern, Betrügern bis hin zu Prostituierten und Killer. Der wesentliche Unterschied zwischen den Gefangenen war der, dass die politischen Straftäter (Partei-Häftlinge) wie Winston sich ängstlich und ruhig verhielten, während die gewöhnlichen Straftäter wie die Proles randalierten und das Wachpersonal beschimpften.
Winston verliert seit seiner Verhaftung das Zeitgefühl und verspürt einen großen Hunger, den er durch die Schmerzen in seinem Magen wahrnimmt. Er denkt an die Brüderschaft und an O’Brien. Er wusste, dass sie ihm nicht helfen würden, aber ihm wenigstens eine Rasierklinge in die Gefangenenzelle einschmuggeln konnten, damit er Suizid begehen konnte.
Er würde ungefähr fünf Sekunden Zeit haben, ehe die Wachen in die Zelle hereinstürmen konnten. Die Klinge würde mit schneidender Kälte in ihn eindringen, und sogar die Finger, die sie hielten, würden bis auf den Knochen durchgeschnitten werden. Alles hing von seinem hinfälligen Körper ab, der zitternd vor dem kleinsten Schmerz zurückschreckte. Er war nicht sicher, ob er die Rasierklinge benützen würde, sogar wenn sich ihm die Möglichkeit bot. Es war natürlicher, von einem Augenblick auf den anderen zu leben, weitere zehn Minuten Leben mit der Gewißheit [sic!] hinzunehmen, daß [sic!] ihn am Ende die Folterung erwartete (ebd., S.338339).
Winston wird in eine andere Zelle verlegt, die hoch und fensterlos ist und sich im inneren Gebäude des Liebesministeriums befindet. Dort begegnet er einigen Personen aus seiner nächsten Umgebung, dem Dichter Ampleforth aus dem Wahrheitsministerium und seinem Nachbarn Tom Parsons. Auch sie wurden wegen Gedankenverbrechen verhaftet. Die Häftlinge sitzen auf einer schmalen Bank und werden von Televisorn überwacht. Manche Gefangene warten Stunden, andere Tage, bis schwarz6 uniformierte Männer in die Zelle kommen und sie einzeln abführen. Einige werden in das unheimliche Zimmer 101 weggebracht. Jeder Gefangene erstarrt und wird panisch, wenn er das Zimmer 101 hört. Später erfährt Winston, dass in diesem Raum jeden Häftling individuell das Schrecklichste auf der Welt erwartet.
»Das Schlimmste auf der Welt« [.] »ist individuell verschieden. Es kann lebendig begraben werden sein oder Tod durch Verbrennen, durch Ertränken, durch Aufpfählen, oder fünfzig andere Todesarten. Es gibt Fälle, bei denen es eine ganz nichtssagende, nicht einmal todbringende Sache ist.« (ebd., S.417).
Winston hört Schritte, wie sie sich dem Raum nähern. Plötzlich kommt O’Brien mit einem Wachmann in die Zelle und Winston stellt fest, dass O’Brien nicht der geheimen Brüderschaft angehört, sondern stets ein treuer Mitglied in den hohen Rängen der Partei ist.
Winston starrte auf seine Füße. Der Schreck des Anblicks ließ ihn alle Vorsicht außer acht [sic! ] lassen. Zum erstenmal seit vielen Jahren vergaß er, daß [sic!] ein Televisor da war. »Sie haben auch Sie erwischt!« rief er. »Sie erwischten mich schon vor geraumer Zeit«, sagte O’Brien mit einer sanften, fast bedauernden Ironie. Er trat beiseite, hinter ihm trat ein breitbrünstiger Wachmann mit einem langen schwarzen Gummiknüppel in der Hand hervor. Ja, erkannte er jetzt, er hatte es immer gewußt [sic!]. Aber jetzt war keine Zeit, daran zu denken. Alles, wofür er Augen hatte, war der Gummiknüppel in der Hand des Wachsoldaten. Er konnte überallhin treffen: auf den Scheitel, die Ohrspitze, den Oberarm, den Ellbogen - Den Ellbogen! Er war, fast gelähmt, auf die Knie gesunken, während er mit seiner anderen Hand den getroffenen Ellbogen umklammerte. Alles war zu gelbem Licht explodiert. Unfaßlich [sic!], einfach unfaßlich [sic!], daß [sic!] ein Schlag solchen Schmerz verursachen konnte! (ebd., S.352-353).
Obschon der physische Schmerz im ersten Moment die Oberhand gewinnt, trifft Winston der Verrat O’Briens umso härter. Winston hatte von Beginn an eine Ahnung, dass er in O’Briens Blicken zu viel hineininterpretierte. ,,Winston hatte nie genau herausfinden können - auch nach dem flüchtigen zweideutigen Blick [...] konnte er dessen nicht sicher sein -, ob O’Brien ein Freund oder ein Feind war“ (ebd., S.41). Bis zum Treffen in O’Briens Wohnung, hatte O’Brien nie behauptet, er wäre ein Mitglied der Brüderschaft. Doch Winston sah in dem großgewachsenen, autoritären Mann, der eine Position an der Spitze der Macht bekleidete, einen Beschützer, bei dem er Zuflucht suchte und bei dem er Trost finden wollte. Er glaubte an seinen Gesichtsausdrücken das Einfühlungsvermögen zu erkennen. O’Brien quälte Winston und linderte seine Schmerzen zugleich. ,,Er war der Peiniger, der Beschützer, der Inquisitor, der Freund“ (ebd., S.360).
Winston wird mit einem Gummiknüppel geschlagen und wälzt sich vor körperlichem Schmerz auf dem Boden. Er wird in ein Zimmer abtransportiert, wo er Tagelang verhört und gefoltert wird. Während der Faustschläge, Fußtritte und Stahlrute Hiebe, bekennt sich Winston für alle Verbrechen, die ihm vorgeworfen werden für schuldig und gesteht jegliche erfundene Verstöße gegen die Parteiordnung, die ihm angehängt werden. Die Prügeleien werden durch kleine, abwechselnde Erholungspausen unterbrochen und Winston bekommt während dieser Zeit etwas zu essen und in seine Arme werden Spritzen injiziert. Nach der Pause werden die schwarz uniformierten Männer durch Partei-Intellektuelle ersetzt und diese führen die Vernehmung fort. Die ständige Quälerei wird für Winston unerträglich. Er ist in kummervollem Zustand und verliert seine Nerven.
Diese ihn jetzt Vernehmenden sorgten dafür, daß [sic!] er ständig unter der Betäubung eines leisen Schmerzes stand, aber in der Hauptsache verließen sie sich nicht auf den Schmerz. Sie schlugen ihn wohl ins Gesicht, verdrehten ihm die Ohren, rissen ihn an den Haaren, ließen ihn auf einem Bein stehen, erlaubten ihm nicht, Wasser zu lassen, hielten ihm blendendes Licht vor das Gesicht, bis ihm die Tränen aus den Augen liefen; aber alles das diente nur dazu, ihn zu demütigen und ihm die Kraft zum Widerstand und zu vernünftigem Denken zu nehmen. Ihre wirkliche Waffe war das unerbittliche Verhör, das weiter und immer weiter ging, Stunde um Stunde, das ihn aus dem Konzept brachte, ihm Fallen stellte, alle seine Worte verdrehte, ihn bei jedem Schritt der Lügen und des Widerspruchs schuldig erklärte, bis er aus Beschämung sowie aus nervöser Erschöpfung zu weinen anfing. Manchmal weinte er ein halbes Dutzend Mal im Verlauf einer einzigen Vernehmung. Die meiste Zeit schrien sie ihn mit Schimpfnamen an und drohten ihm bei jedem Zögern, ihn wieder den Wachen auszuliefern. Manchmal aber änderten sie plötzlich ihre Tonart, nannten ihn Genosse, ermahnten ihn im Namen von Engsoz und dem Großen Bruder und fragten ihn kummervoll, ob er denn sogar jetzt noch nicht genügend Treue der Partei gegenüber aufbringen könne, um zu wünschen, das getane Unrecht wieder gutzumachen. Wenn seine Nerven nach stundenlangem Verhör in Fetzen waren, dann konnte ihn sogar diese Mahnung zu triefenden Tränen bringen. Am Schluß [sic!] erledigten ihn die quälenden Stimmen gründlicher als die Stiefel und Fäuste der Wachen. Er wurde nur noch zu einem Mund, der etwas stammelte, und einer Hand, die unterschrieb, was man von ihm wollte (ebd., S.357-358).
Die Verhörer konnten Winston mit Leichtigkeit töten. Doch stattdessen spielten sie zwischen der äußersten Belastbarkeit seiner Würde und den Grenzen seiner Reue. Die Dualität zwischen diesen zwei Extremen sollte seine innere Welt erschüttern, ein völliges Chaos erzeugen. Jegliche Menschlichkeit wollten sie aus ihm auspressen. Und wenn er am Ende noch lebte, so sollte er sich hassen, sich ekeln vor sich selbst. Man hatte ihm den Anspruch auf Leben genommen, die Würde, die das Menschsein ausmachte, sollte er durch diese Folter verlieren.
Winston erinnert sich halb narkotisiert in eine Zelle gebracht worden zu sein, in der er auf dem Rücken liegend auf einer Bahre festgeschnallt, neben ihm ein Apparat mit Skalen gestanden und von O’Brien einer Befragung unterzogen zu sein. Durch die Betätigung des Hebels durchflutet den Körper Winstons eine Schmerzenswelle. Je nach Regulierung des Schalters senkt oder erhöht sich die Intensität des Schmerzes. Je nach Antworten, die Winston auf die Fragen O’Briens gibt, ändert sich das Ausmaß des Leids. O’Brien bezweckt damit die Macht und Stärke der Partei zu demonstrieren. O’Brien versucht mit seinen Foltermethoden und seinen gezielten Fragen Winstons Willen zu brechen, seine Erinnerungen zu kontrollieren und ihm die Treue zum Großen Bruder einzuimpfen. O’Brien peinigt Winston so sehr, dass er ihm seine Hand vor das Gesicht hält und ihm vier Finger zeigt und ihn nötigt zu sagen, dass er fünf sieht. Winston hatte in seinen Tagebuchnotizen versucht, die Freiheit mit der Arithmetik zu erklären. ,,Freiheit ist die Freiheit zu sagen, daß [sic!] zwei und zwei gleich vier ist“ (ebd., S.122). Wenn die Addition als eine der vier Grundrechenarten eine universelle Gültigkeit hat und der logischen Beweisführung entspricht, O’Brien Winston hingegen zwingt statt vier fünf zu sehen, ergibt sich daraus, dass O’Brien und die Partei die Geschichte der Wissenschaft auf den Kopf stellt, der Logik und dem gesunden Menschenverstand den Kampf ansagt. Die Partei suhlt sich in der Ignoranz, die auf Realitätsverweigerung hinausführt und in Tyrannei ausartet.
O’Brien macht Winston klar, dass die Partei nicht die Absicht verfolge die Gefangenen zu einem Geständnis zu zwingen oder sie zu bestrafen, sondern sie bezwecke die Häftlinge zu bekehren und zu heilen. Die Partei habe aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und die Methoden der Inquisition aus dem Mittelalter, die Verfahren der Kommunisten und der Nazis aus dem 20. Jahrhundert wirkungslos empfunden und deshalb abgelehnt. Sie möchten keine Märtyrer erschaffen, die später als mutige Kämpfer und Revolutionäre in die Geschichte eingehen und vom Volk idolisiert werden. All die Folter und Quälerei, die Zeitinvestition und Bemühung O’ Briens diene nur dem Zweck, einen Fehler wie Winston im Muster des Systems auszumerzen. Ihre Methode zwinge keine Scheinreue, sondern bemächtige sich die Gedanken des Verräters, mache sie mit der Parteidoktrin eins, forme sie und vernichte sie als Letztes. Am Ende des Verhörs wird Winston erlaubt O’Brien einige Fragen zu stellen, von denen manche unbeantwortet bleiben.
Die nächsten Verhöre, die zu mehrmaligen Sitzungen werden, verlaufen meist schmerzfrei, tragen sich als Frage-Antwort Dialog zwischen Winston und O’Brien ab. Es handelt sich dabei um die Kausalität des Parteisystems, die Masse der Menschen und die absolute Macht. O’Brien schafft es nicht Winston mit seinen Argumenten zu überzeugen. Er versucht ihm zu beweisen, dass sie die Natur, die Materie und den menschlichen Geist kontrollieren können. Winston glaubt aber stets an die menschliche Tugend, die am Ende siegen und der Partei einen Strich durch die Rechnung machen wird. Um Winston seine prikäre Lage zu demonstrieren fordert ihn O’Brien auf, an einen dreiteiligen Spiegel zu gehen und sich dort zu betrachten. Winston ist wegen des Zustands seines Körpers bestürzt. Die Magerkeit, die ausgefallenen Haare und Zähne, die Verletzungen und Schmutz am ganzen Leib versetzen ihn in tiefe Hoffnungslosigkeit und er bricht in Tränen aus.
O’Brien macht Winston triumphierend klar, dass man ihn geschlagen habe, dass er alles und jeden verraten habe, jegliche Taten gestanden und sämtliche Demütigungen durchgemacht habe, sodass kein Funken Stolz mehr in ihm stecke.
»Wir haben Sie geschlagen, Winston. Wir haben Sie kleingemacht. Sie haben gesehen, wie Ihr Körper aussieht. Ihr Geist befindet sich in demselben Zustand. Ich glaube nicht, daß [sic!] noch viel Stolz in Ihnen stecken kann. Sie wurden mit Füßen getreten, geprügelt und beschimpft. Sie haben vor Schmerz gebrüllt, haben sich in Ihrem Blut und Ihrem eigenen Erborchenen auf dem Boden gewälzt. Sie haben um Gnade gewimmert, jeden und alles verraten (ebd., S.402).
Doch Winston weist darauf hin, dass er Julia nicht verraten hat und dass er sie immer noch liebt. ,,»Julia habe ich nicht verraten«, sagte er. [...] Er hatte nicht aufgehört sie zu lieben; sein Gefühl ihr gegenüber war das gleiche geblieben“ (ebd., S.403).
Winston wird in eine neue Zelle gebracht, wo er in eine Erholungsphase eintritt. Die Zeit vergeht mit Ruhe, Schlaf und Träumerei. Er nimmt von Tag zu Tag zu, bekommt neue Kleider, warmes Wasser, drei Mahlzeiten am Tag und ein Zahngebiss. Winston hat viel Zeit zum Nachdenken. Er lässt die vergangenen Ereignisse Revue passieren und macht sich Gedanken über seine Zukunft. Während seiner tiefen Gedanken kommen O’ Brien und schwarzuniformierte Wachen in die Zelle und O’ Brien befiehlt den Männern Winston in das Zimmer 101 abzuführen. Sie bringen ihn in den Raum und fesseln ihn an einen Stuhl. O’ Brien kommt rein und nach ihm ein Wachmann mit einem Drahtkäfig in der Hand, den er auf den Tisch legt. Es ist ein rechteckiger Käfig mit einem Hohlraum an der Vorderseite, der die Form eines Menschengesichts hat. Im Käfig befinden sich zwei hungrige Ratten, die durch ein Gitter voneinander getrennt in je eine Abteilung sich ruhelos hin- und herbewegen. O’Brien weiß die Angst Winstons vor Ratten, wie sehr er sie hasst und verabscheut. Er setzt Winstons Gesicht in den Hohlraum des Käfigs und Winston schreit auf und fleht O’Brien an sein Gesicht aus dem Käfig zu ziehen. In der Not fällt ihm Julia ein. Er bittet O’Brien Julia an seiner Stelle zu nehmen und ihm egal ist, was mit ihr geschiet. Er verrät sie, um seinem persönlichen Grauen zu entkommen. Daraufhin lassen sie ihn frei.
Eine Zeitlang nach der Entlassung begegnet er Julia im Stadtpark. Sie hatte sich verändert und zeigte Winston gegenüber wenig Interesse. Sie teilt ihm mit, dass sie ihn verraten hat. Er gesteht auch, dass er sie verraten hat. Nach einem kurzen Gespräch trennen sie sich.
Wie Julia Winston verraten hat, wird nicht angegeben. Es gibt lediglich die Aussage O’Briens, dass sie ihn augenblicklich und rückhaltlos verraten hatte.
Ich habe selten jemand so rasch zu uns übertreten sehen. Sie würden sie kaum wiedererkennen, wenn Sie sie sehen. Ihre ganze Widerspenstigkeit, ihre Tücke, ihre Narrheit, ihre niedrige Gesinnung - alles das wurde ihr ausgebrannt (ebd., S.382).
Was mit Julia nach der letzten Begegnung mit Winston geschieht, wird ebenfalls nicht angegeben. Der Erzählstrang des Romans konzentriert sich auf den Verlauf von Winston.
Winston macht es sich zur Gewohnheit sich im Café „Kastanienbaum“ zu betrinken. Niemand kümmert sich um seine Taten, auch nicht die Partei oder der Televisor. Nach seiner Freilassung wurde er in eine andere Abteilung des Wahrheitsministeriums zugeteilt, wo er ab und zu seine zugewiesene Arbeit verrichtet. Außer den kurzen Arbeitsaufträgen betrinkt er sich den ganzen Tag im Café und verfällt in tiefe Gedanken. Er wird wieder festgenommen und ins Liebesministerium gebracht. Auf einer öffentlichen Anklagebank gesteht er seine Schuld und belastet jede Person in seinem Umkreis. Nach dem Prozess wird er von einem Wachmann in einen Gang des Gebäudes hinuntergeführt und von hinten erschossen.
Der Ablauf der Festnahme verläuft im Allgemeinen gleich. Es muss keinen Grund geben, um wieder festgenommen zu werden, wie im Falle Winstons. Man wird entweder sofort liquidiert oder verschwindet für einige Zeit spurlos. In dieser Zeit wird man im Liebesministerium gefoltert. Nach der Marter wird man für eine Weile freigelassen um wieder festgenommen zu werden. In einem Schauprozess bekennt man sich für allerlei Dinge schuldig und wird dann hingerichtet. Warum man nach der ersten Festnahme freigelassen wird, hat u. E. etwas mit der parteilichen Öffentlichkeitsarbeit zu tun. Man lässt nach dem ersten öffentlichen Geständnis den Gefangenen frei, um die Güte und Gnade des Großen Bruders zu demonstrieren. Und die zweite Festnahme soll der Bevölkerung vermitteln, dass die Großherzigkeit des Großen Bruders von den Freigelassenen schamlos missbraucht wurde, um die Partei heimtückisch zu verraten und somit die Häftlinge es verdient hätten, hingerichtet zu werden.
George Orwell macht mit seinem dystopischen Roman auf die Freiheit des Menschen, seines Rechts auf Denken und seiner individuellen Meinung aufmerksam. Er zeigt die unbarmherzigen, systematischen Maßnahmen eines totalitären Staates, die mit uneingeschränkter Überwachung, Tyrannei und Einführung einer Neusprache, die absolute Macht über das Leben der Menschen ausdrückt. Die pessimistische Zukunftsvision des britischen Schriftstellers behandelt ein zeitübergreifendes Thema, das stets seine Gültigkeit bewahrt.
Der Roman ist in drei Abschnitte eingeteilt, von denen der erste Teil in 8 Kapitel, der zweite Teil in 10 und der dritte Teil in 6 Kapitel eingegliedert ist. Das Werk ist eine Übersetzung von Kurt Wagenseil und beträgt 438 Seiten. Es enthält zusätzlich Informationen zur Neusprache und ihrer Grammatik sowie den Lebenslauf Goerge Orwells.
Das Werk wurde mehrmalig verfilmt7 und in Theaterstücken aufgeführt. Überdies sind Wörter wie „ Big Brother “ oder „ Big Brother can see you “ im heutigen sprachlichen Repertoire zu Standardsprüchen geworden. Vor allem ist der Befremdungseffekt der orwellschen Wörter im kollektiven Gedächtnis der Menschen beständig. Die „Orwellsche Sprachverwirrung“, die insbesondere in den Parolen der totalitären Partei zu finden ist, wie ,,Krieg bedeutet Frieden“, ,,Freiheit ist Sklaverei“ und ,,Unwissenheit ist Stärke“ (ebd., S.11)8, und der Missbrauch der eigentlichen Wortbedeutung hervorsticht, stellt eine Bloßstellung sprachlicher Lügen und Manipulation dar und modifiziert sich aus dem Rahmen der Fiktion hinaus zum realen Machtwerkzeug. Hieraus lässt sich verstehen, dass man Krieg führt, um den Frieden zu schaffen, die Freiheit des Menschen seine Knechtschaft bedeutet und die Intoleranz ein Zeichen von Macht ist. Diese Irritation ist auch auf der Bezeichnung des Werktitels bemerkbar, worauf wir zu Beginn dieses Kapitels eingegangen sind. Der Roman wurde 1948 fertiggestellt. Doch die letzten zwei Ziffern sind vertauscht worden, sodass der Titel „1984“ wurde. Orwell wollte mit diesem Titel womöglich auch das Bild einer Zukunft zeichnen, welches der Veröffentlichungszeit des Romans ähnelt. Was 1948 passiert, kann auch im Jahre 1984 geschehen. Die immer wiederkehrende und im Kern gleichbleibende Struktur der Thematik unterliegt deshalb keiner Mode oder Epoche, sondern ist zeitlos.
Die Handlung des Romans ist mit der Zeitgeschichte und mit den Erlebnissen Orwells verknüpft. Die Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Untergang des britischen Imperiums, die Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929, der erste- und der zweite Weltkrieg und seine sozialen und politischen Folgen, der Aufstieg und Fall des Faschismus in Europa und die Bedrohung der Menschheit durch das nukleare Zeitalter wirken auf den Roman stark ein und geben ihm seine Form (Görke, 2017, S.4).
Den Einfluss der Zeitgeschichte und den Grund der literarischen Publikation, definiert Orwell in seinem Essay „Why I Write“ (1946) wie folgt:
When I sit down to write a book, I do not say to myself, ‘I am going to produce a work of art’. I write because there is some lie that I want to expose, some fact to which I want to draw attention, and my initial concern is to get a hearing (Orwell, 2015, Why I Write).
Wenn ich mich hinsetze, um ein Buch zu schreiben, sage ich mir nicht: „Ich werde ein Kunstwerk schaffen“. Ich schreibe, weil es eine Lüge gibt, die ich aufdecken möchte, eine Tatsache, auf die ich aufmerksam machen möchte, und mein erstes Anliegen ist es, Gehör zu finden (Orwell, 2015, Why I Write).
Orwell wird im Allgemeinen als einer der ersten Publizisten angesehen, der das Mysterium „Fake News“ mit den „alternativen Fakten“ separiert und auf sie aufmerksam macht. Seine Arbeit bei der BBC (Poller, 2016, S.65) könnte wahrscheinlich der Hintergrund für die Auseinandersetzung mit den divergierenden Wahrheiten sein, die sich besonders im Roman „1984“ reflektieren. Die Beschäftigung des Protagonisten Winston, die die Veränderungen der publizierten Zeitschriftenartikel beinhaltet und diese im Interesse der herrschenden Partei revidiert bzw. berichtigt, reflektiert die optionale Wahrheit. Man sieht die Maßnahmen der Partei, den menschlichen Verstand vollkommen zu kontrollieren. Sie verdrehen Fakten und ignorieren exakte Wissenschaften, sodass selbst die Naturgesetze und die Schwerkraft in Frage gestellt werden. Derartige Verzerrung der Wirklichkeit kann vor allem in der Berichterstattung auf die Existenz der „Fake News“ hin interpretiert werden.
Über die Themen und Beweggründe seines Schreibens schildert Orwell: „Every line of serious work that I have written since 1936 has been written, directly or indirectly, against totalitarianism and for democratic socialism, as I understand it”9 (Orwell, 2015, Why I Write). Unter demokratischem Sozialismus verstand er eine klassenlose Gesellschaft, in der die Menschen solidarisch zueinander stehen und das staatliche Einkommen gerecht umverteilt wird. Deshalb kritisierte er auch das imperialistische Vorgehen der Briten in Burma und Indien, boykottierte sie und verließ seinen Posten aus der „Indian Imperial Police“.
[...]
1,,Die Grenzen der Seele könntest du nicht herausfinden, auch wenn du jeden Weg beschreitest: einen so tiefen Sinn (logos) hat sie“ (Heraklit, zitiert nach Wollek, 2022, S.18).
2 Wir möchten jeweils drei Werke als Beispiel anführen. George Orwells ,,1984“: ,,Die Welt von George Orwells ,,1984“: Zwischen fiktivem Schrecken und realer Bedrohung“ (2013) von Miriam Helisch, Carl Sulz und Oliver Trenk. ,,Methoden der Machtausübung in "1984". Zur Aktualität von George Orwells Dystopie“ (2017) von Josephine Görke. ,,The Idea of Big Brother and Its Psychological Impact on Winston in George Orwell's Nineteen Eighty- Four“ (2019) von Drije Noura. Franz Kafkas ,,Vor dem Gesetz“: ,,,,Vor dem Gesetz“. Einführung in Kafkas Welt“ (1993) von Hartmut Binder. ,,Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas »Vor dem Gesetz«“ (1993) hrsg. von Klaus-Michael Bogdal. „Wandel der Interpretation. Kafkas ,Vor dem Gesetz‘ im Spiegel der Literaturwissenschaft“ (1994) von Els Andringa. Christopher Nolans ,,Memento“: ,,Das Foto als identitätsstiftendes Medium in Christopher Nolans Film "Memento" (2005) von Alexander Monagas. ,,Memories can be distorted. Gedächtnis und Zeit in der Bildästhetik Mementos“ (2009) von Florian Norbert Bischof. ,,Cinematic Philosophy: Experiential Affirmation in Memento“ (2014) von Rafe McGregor.
3 Der Begriff „Hedonismus“ stammt aus dem altgriechischen Wort t]öovi'] (hedone), das „Freude“, ,,Vergnügen“, ,,Lust“ und ,,Genuss“ bedeutet. Hedonismus ist eine philosophische Anschauung, die die Freude und das Vergnügen als den höchsten Grundsatz im Leben erachtet (Finckler, 2017, S.223).
4 Übersetzt aus dem Englischen von Kurt Wagenseil (1904-1988).
5 Wir möchten an dieser Stelle die Biografie Orwells erläutern, da sein Lebenslauf mit den Werken, die er geschrieben hat eng miteinander verwoben ist und ohne diese Verbindung zu durchleuchten die Interpretation seiner Schriften unvollständig wäre. Eric Arthur Blair wird im Jahre 1903 als der Sohn eines hohen Kolonialbeamten in Motihari (Indien) geboren (Hagemus, 2002, S.4). Eric und seine Familie gehen ein Jahr nach seiner Geburt wieder in ihre Heimat nach England zurück. Im Jugendalter besucht Eric die Eliteschule Eton in Berkshire und beendet dort 1921 sein Studium (Saage, 2006, S.144). Nach dem Studium dient er als Offizier in der „Indian Imperial Police“ in Burma (Myanmar). In seinem 5 jährigen Aufenthalt dort macht er Beobachtungen bezüglich der Einsätze und der inhumanen Praktiken der britischen Kolonialverwaltung. Diese entsprechen nicht seinen Wertevorstellungen und er entscheidet sich 1927 aus der Kolonialpolizei auszutreten. Er kehrt nach England zurück, wo er sich in London im Armenviertel East End in mittellosen Umständen mit Gelegenheitsarbeiten durchschlägt. Er verbringt auch einige Zeit in Paris, wo er an einer schweren Lungenentzündung erkrankt und deshalb wieder nach London zurückkehrt. Es gelingt ihm im Jahre 1933 sich als Schriftsteller durchzusetzen und erste Romane unter dem Pseudonym George Orwell zu veröffentlichen (Bloom, 2006, S.9-10). Orwell entscheidet sich nach Spanien zu gehen, da dort ein Bürgerkrieg (1936-1939) herrscht und er als engagierter Schriftsteller sich an der Seite der Republikaner gegen die Faschisten am Widerstand beteiligen möchte. Die Erfahrungen, die Orwell im spanischen Bürgerkrieg macht, werden ein Wendepunkt in seinem Denken. Er ist fortan gegen den sowjetischen Kommunismus und Totalitarismus jeglicher Art und nimmt eine klare Stellung für den demokratischen Sozialismus, wie er ihn versteht (Gmehling, 2022, S.231). Orwell ist zwei jahrelang beim britischen Nachrichtensender BBC tätig. Er schreibt Artikel und und veröffentlicht sie bei verschiedenen Zeitungen wie Manchester Evening News und The Observer und Zeitschriften wie Tribune und Partisan Review (Rodden & Rossi, 2012, S.73). Die schwere Lungenkrankheit „Tuberkulose“, die ihn im Leben plagt, wird immer schlimmer bis Orwell an ihr im Alter von 46 Jahren erliegt (Rodden, 2020, S.50-51). Den dystopischen Roman ,,1984“ (1949) ausgenommen, der Teil dieser Untersuchung ist, möchten wir zuletzt drei wichtige Werke Orwells erwähnen, die sein schriftstellerisches Schaffen vorantrieben und ihn ferner zur internationalen Ikone verhalfen und bis heute bei der modernen Leserschaft weltweit ihren Beliebtheitsgrad beibehalten. Der Weg nach Wigan Pier (orig. engl. The Road to Wigan Pier) (1937) ist eine hautnahe Berichterstattung der Arbeitswelt von sozialer Unterschichtler und die Beschreibung der Lebensumstände von Arbeitslosen und Armen und ihre Reflexion in der sozialen Klasse. Auftauchen um Luft zu holen (orig. engl. Coming Up for Air) (1939) ist ein Roman, der von einem Familienvater namens George Bowling handelt, der seine alte Heimat besuchen will und dabei voller Enttäuschung bemerkt, dass sich vieles dort durch die moderne Entwicklung der Welt zum Schlechten verändert hat und er sich am Ort seiner Kindheit befremdet fühlt. Die idyllische, stille Welt aus der Vergangenheit stellt sich im Werk mit Erinnerung und Senhsucht gegen den industriell-modernen Fortschritt der Erde. Farm der Tiere (orig. engl. Animal Farm) (1945) ist eine dystopische Fabel, die in einem satirischen Stil die gescheiterte Revolution der Tiere gegen die Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen darlegt. Nachdem die Tiere die Herrschaft über die Farm von Mr. Jones übernehmen, bauen sie im Verlauf der Fabel ein ähnliches Knechtschaftssystem auf, in dem die Schweine die anderen Tiere knechten. Die Geschichte, die in einer einfachen, klaren Sprache geschrieben ist, attackiert im Wesentlichen die kommunistisch-stalinistische Diktatur und macht auf die Fehldeutung des Sozialismus aufmerksam, der im Kern auf einer wahren Gleichheitsidee basiert.
6,,Die Farbe der Nacht wird im europäischen Kulturkreis seit der Antike oft mit Tod, Bedrohung und ,dem Bösen‘ in Verbindung gebracht. [.] mit Schwarz [werden] Bedeutungsfelder wie jene von Nihilismus, Pessimismus und Negation, oder auch jene von Dunkelheit, Magie, Mysterium und Gefahr [assoziiert]. Als weitere wichtige inhaltliche Ebene kommt die Demonstration von Stärke, Autorität und Macht - beziehungsweise Machtanspruch - ins Spiel. Weit zurück reicht die Verwendung von Schwarz als Farbe herrschender oder aufstrebender Eliten“ (Haase, 2013, S.83). Im Theaterstück ,,Andorra“ (1961) vom Schweizer Schriftsteller Max Frisch (1911-1991) gibt es z. B. ein Land, dessen Bevölkerung als ,,Die Schwarzen“ bezeichnet werden. Sie sind ein Nachbarland des fiktiven Staates Andorra. Sie verfolgen und ermorden Juden. Auch hier steht Schwarz für militärische Macht und Angst. Sie assoziiert Krieg und Chaos (Özgün, 2017, S.61-62).
7 Die bekanntesten zwei Verfilmungen sind: 1. „1984“ aus dem Jahre 1956 vom Regisseur Michael Anderson mit den Schauspielern Edmond O’Brien, Michael Redgrave und Jan Sterling. 2. Der zweite Film ist mit dem gleichen Titel „1984“ aus dem Jahre 1984 vom Regisseur Michael Radford gedreht worden. Die Schauspieler sind John Hurt, Richard Burton und Suzanna Hamilton (Wienecke-Janz, 2008, S.125). Wir werden am Ende des Kapitels mehrere Szenen aus den beiden Filmen in Bildern vergleichend gegenüberstellen.
8 In den drei Parolen der Partei sind unvereinbare Wörter zusammengebracht worden (Oxymoron und Paradoxon), nicht nur um die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu erregen (Mackowiak, 2011, S.134), die über diese Widersprüche stolpern und ihr Interesse am Lesen geweckt werden soll. Sie sollen sie auch zum Nachdenken und tieferer Kontemplation anregen. Nehmen wir als Beispiel die dritte Parole der Partei ,,Unwissenheit ist Stärke“. Sie ist das Gegenteil vom bekannten Spruch ,,Wissen ist Macht“ (Simon, 2000, S.211). Für wen ist Unwissenheit Macht und Wissen Stärke? Das Vermögen selbstständig zu denken und zu handeln wird nicht immer begrüßt. Wenn man Menschen manipulieren und beherrschen will, dürfen diese zu keinem Wissen gelangen, das sie aufklärt. Für geschlossene, totalitäre Strukturen bedeutet die Unwissenheit der Masse Stärke. Diese stärkt und nährt die Willkür und Gewaltherrschaft der Regenten. Es gibt niemanden, der sie hinterfragt. Und wenn, wird dieser festgenommen, gefoltert und hingerichtet. Das ist u. E. das tiefere Verständnis, das aus den einander widersprechenden Worten zu entnehmen ist.
9 Dt. Übers.: ,,Jede Zeile ernsthafter Arbeit, die ich seit 1936 geschrieben habe, ist direkt oder indirekt gegen den Totalitarismus und für den demokratischen Sozialismus geschrieben worden, wie ich ihn verstehe.“
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- Dr. phil. Bekir Özgün (Author), 2022, Die komparative-existenzielle Reflexion der literarischen Werke "1984" von George Orwell, "Vor dem Gesetz" von Franz Kafka und des Films "Memento" von Christopher Nolan im phänomenologischen Zirkel der Zeug-Ding-Analyse Heideggers in "Sein und Zeit", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1272882
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