Die vorliegende Masterthesis ist eine qualitativ empirische Arbeit und ergründet die diskursiven Machtebenen der digitalen Selbstvermessungspraxis. Dabei bieten insbesondere Foucaults machttheoretische Spätwerke über moderne Selbst- und Fremdführung, wie etwa seine Vorlesungen am Collège de France zwischen den Jahren 1977 und 1979 zur Geschichte der Gouvernementalität, ein hilfreiches Begriffswerkzeug. Deshalb werden im zweiten Kapitel zunächst die zentralen Begrifflichkeiten aus der foucaultschen Gouvernementalitätstheorie behandelt. Des Weiteren folgt im dritten Kapitel eine kurze Einführung in die Thematik des Self-Trackings, innerhalb derer ein Überblick über die Geschichte, Formen und Methoden der digitalen Selbstvermessung gegeben wird.
Auf Grundlage dieses theoretischen Rahmens beginnt im vierten Kapitel der empirisch machtanalytische Teil der Masterthesis. Es wird untersucht, inwiefern die Self-Tracking-Praxis von gewissen Machtdiskursen gesteuert und geprägt wird. Das erkenntnisleitende Interesse dieser Studie widmet sich somit vor allem der Frage nach dem ‚Wie‘ von Macht. Gemäß der foucaultschen Denkweise geht es dabei in erster Linie jedoch nicht darum herauszufinden, „wie Macht sich manifestiert, sondern wie sie ausgeübt wird, also was da geschieht, wenn jemand, wie man sagt, Macht über andere ausübt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zielsetzung und methodische Vorgehensweise
3. Die Gouvernementalitatstheorie nach Foucault
3.1. Die Biomacht
3.2. Die Technologien des Selbst
3.3. Die Gouvernementalitat
4. Self-Tracking
5. Machtanalytische & autoethnographische Ergrundung der Self-Tracking-
Diskursebenen
5.1. Die personliche Diskursebene: Das verdatete Selbst
5.2. Die techniksoziologische Diskursebene: Das Mensch-Technik-Interface 1
5.3. Die gemeinschaftliche Diskursebene: Die gemeinsame Verdatung
5.3.1. Die Quantified Self-Bewegung
5.3.2. Die Huawei Community
5.3.3. Zwischenfazit
5.4. Die gesellschaftliche Diskursebene: Das unternehmerische Selbst
6. Fazit : Die Smartwatch als digitales Update der Technologien des Selbst
Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis
Videografie
1. Einleitung
Digitale Selbstvermessung spielt in unserer heutigen Gesellschaft eine immer groBere Rolle und wurde insbesondere durch die Grundung der Quantified Self-Bewegung im Jahre 2007 bekannt (vgl. Wiedemann 2016, 65). Die Mitglieder sammeln Daten uber ihren Korper, um daraus Erkenntnisse uber die eigene Gesundheit, das eigene Wohlbefinden oder die eigene korperliche Leistung zu gewinnen (vgl. Heyen 2016, 237). Smarte Technologien, wie etwa Apps oder Wearables, helfen bei dieser Datenerfassung und erfreuen sich einer zunehmend groBen Beliebtheit (vgl. Boning et al. 2019, 2). Doch woher entstammt das steigende Interesse an dem zahlenbasierten Korperdiskurs? Und welche machtvolle Rolle kommen dabei technische Infrastrukturen, gemeinschaftlichen Sozialgefugen oder gesellschaftlichen Normen zu?
2. Zielsetzung und methodische Vorgehensweise
Die vorliegende Masterthesis ist eine qualitativ empirische Arbeit und ergrundet die diskursiven Machtebenen der digitalen Selbstvermessungspraxis. Dabei bieten insbesondere Foucaults machttheoretische Spatwerke uber moderne Selbst- und Fremdfuhrung, wie etwa seine Vorlesungen am College de France zwischen den Jahren 1977 und 1979 zurGeschichte der Gouvernementalitat, ein hilfreiches Begriffswerkzeug, um die „Vielfaltigkeit von Kraftverhaltnissen“ (Foucault 1977, 113) innerhalb der Self-Tracking-Diskurse offenlegen zu konnen. Deshalb werden im zweiten Kapitel zunachst die zentralen Begrifflichkeiten aus der foucaultschen Gouvernementalitatstheorie behandelt. Des Weiteren folgt im dritten Kapitel eine kurze Einfuhrung in die Thematik des Self-Trackings, innerhalb derer ein Uberblick uber die Geschichte, Formen und Methoden der digitalen Selbstvermessung gegeben wird.
Auf Grundlage dieses theoretischen Rahmens beginnt im vierten Kapitel der empirisch machtanalytische Teil der Masterthesis. Es wird untersucht, inwiefern die Self-Tracking-Praxis von gewissen Machtdiskursen gesteuert und gepragt wird. Das erkenntnisleitende Interesse dieser Studie widmet sich somit vor allem der Frage nach dem ,Wie‘ von Macht. GemaB der foucaultschen Denkweise geht es dabei in erster Linie jedoch nicht darum herauszufinden, „wie Macht sich manifestiert, sondern wie sie ausgeubt wird, also was da geschieht, wenn jemand, wie man sagt, Macht uber andere ausubt“ (Foucault 2007b, 92).
Dabei wird sich unter Ruckgriff auf Foucault nicht auf die „Machtigkeit einiger Machtiger“ (Foucault 1977, 114) konzentriert, sondern es stehen vielmehr die diskursiven Machtbeziehungen im Vordergrund der vorliegenden Analysen: „Wir wahlen als Gegenstand der Analyse nicht Macht, sondern Machtbeziehungen [...]“ (Foucault 2007b, 95).
Denn Macht ist laut Foucault keine lokalisierbare GroBe mit zentraler Instanz, sondern unterliegt stetigen Veranderungen und ist deshalb auch niemals durch stabile Krafteverhaltnisse gekennzeichnet (vgl. Foucault 1977, 115f.). Deshalb gilt es, die Macht „in der Form von komplexen und beweglichen strategischen Relationen zu analysieren, in denen niemand dieselbe Position einnimmt und nicht immer dieselbe behalt“ (Foucault 2005b, 806).
Demnach ist Macht im Sinne von Foucault als eine allgegenwartige GroBe aufzufassen, die von uberall kommt und sich als „ein Netz von standig gespannten und tatigen Beziehungen“ (Foucault 1976, 38) durch die Gesellschaft zieht. Diese Beziehungen sind „in einem Feld von Moglichkeiten“ (Foucault 2007b, 97) verankert und wirken auf unterschiedliche Art und Weise auf die Entscheidungen oder Verhaltensweisen handelnder Subjekte ein (vgl. ebd.). So versteht Foucault die Machtbeziehungen als
Beziehungen, in denen der eine das Verhalten des anderen zu lenken versucht. Es sind also Beziehungen, die man auf unterschiedlichen Ebenen, in verschiedener Gestalt finden kann (Foucault 2007d, 267).
Auch die Praxis der digitalen Selbstvermessung ist von vielfaltigen Krafteverhaltnissen gepragt, die sich nur in der Perspektive eines weitgefassten kulturellen Kontextes erfassen lassen. So konstatiert etwa die australische Soziologin Deborah Lupton:
Self-tracking as a phenomenon has no meaning itself. It is endowed with meaning by wider discourses in technology, selfhood, the body and social relations that circulate within the cultural context in which the practice is carried out (Lupton 2014, 78).
In Anlehnung an dieses Zitat thematisiert die vorliegende Masterarbeit die Machtbeziehungen digitaler Selbstvermessungsprozesse deshalb auf vier unterschiedlichen Diskursebenen, respektive der personlichen, techniksoziologischen, gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Ebene. Um dabei von einer kleinen zu einer groBen Forschungsperspektive zu gelangen, werden die einzelnen Ebenen gemaB der foucaultschen Methodik der aufsteigenden Machtanalytik behandelt (vgl. Foucault 1999a, 39f.). Beginnend mit der personlichen und techniksoziologischen Diskursebene soll ergrundet werden, wie sich die einzelnen Krafteverhaltnisse in der situativen Vollzugswirklichkeit der digitalen Selbstvermessung konstituieren. Um dabei den Blick auf die Innenwahrnehmung von Machtprozessen zu offnen, wird sich der Autoethnografie bedient. Die Autoethnografie ist ein Forschungsansatz der performativen Sozialwissenschaft, welcher die personlichen Erfahrungswelten des Forschenden als Ausgangspunkt fur die Analyse und Dokumentation soziokultureller Praktiken nimmt (vgl. Adams et al. 2020, 472f.).
Das subjektive Erleben der digitalen Selbstvermessung ist demnach konstitutiv fur den Erkenntnisprozess der ersten beiden Teile dieser Studie. Innerhalb dieses Erkenntnisprozesses werde ich mich uber den Bearbeitungszeitraum meiner Masterarbeit hinweg ab dem 01. Juni 2021 zehn Monate lang mit den sensorischen Sinnen einer Smartwatch versehen, meinen Korper zum Analyseinstrument transformieren und die Prozesse des Self-Trackings in meine alltaglichen Lebensvollzuge integrieren. Da jener autoethnografische Zugang niemals voreingenommen moglich ist, wird die eigene soziale Bedingtheit als Studierende mit wissenschaftlichen Forschungsabsichten stets sichtbar gemacht und kritisch reflektiert. Als Mittel zur kritischen Selbstreflexion dient mir dabei ein Forschungstagebuch, aus welchem in der gesamten Arbeit immer wieder Passagen in der Erzahlperspektive der ersten Person zitiert werden. Um die zitierten Passagen dabei in einen zeitlichen Kontext zu setzen, wird jeder Tagebucheintrag mit einem entsprechenden Datum in eckigen Klammern versehen.
Erganzend zu der korperlich ausgefuhrten Praxis und den subjektiven Erlebnissen nehmen dann analytische Uberlegungen ihren Ausgangspunkt, die innerhalb der Untersuchung der gemeinschaftlichen sowie gesellschaftlichen Diskursebene durch eine systematische Literaturrecherche weitergefuhrt und verdichtet werden. Das abschlieBende Fazit dient der Zusammenfassung und Reflektion der gewonnenen Erkenntnisse.
Um den machtanalytischen Ausarbeitungen im ersten Schritt einen theoretischen Rahmen zu verleihen, wird im folgenden Kapitel zunachst die Gouvernementalitatstheorie nach Foucault sowie die Thematik des Self-Trackings behandelt.
3. Die Gouvernementalitatstheorie nach Foucault
Wie bereits im einleitenden Teil erwahnt, ermoglicht insbesondere die Behandlung von Foucaults Gouvernementalitatstheorie einen machtanalytischen Zugriff auf die dynamische Verflechtung der Selbst- und Fremdfuhrung innerhalb digitaler Selbstvermessungspraktiken (vgl. Wiedemann 2016, 66f.). Deshalb setzt die vorliegende Masterthesis ausdrucklich an den foucaultschen Begriffskonzepten der Gouvernementalitat, derBiomacht und denTechnologien des Selbst an, die im Folgenden naher erlautert werden sollen.
3.1. Die Biomacht
Foucault bezeichnet mit dem Begriff der Biomacht Machttechniken, die sich nicht direkt auf den einzelnen Korper, sondern auf den kollektiven Gesellschaftskorper und auf das menschliche Leben im Allgemeinen beziehen (vgl. Moller 2008, 2772). Als „Macht zum Leben“ (Foucault 1977, 166) wirkt die Biomacht demnach „nicht individualisierend [.], sondern massenkonstituierend“ (Foucault 1999a, 280), indem sie die Bevolkerung regulierend kontrolliert und organisiert (vgl. Foucault 1977, 166f.). Fur solch eine Regulierung muss die Bevolkerung zunachst als messbare GroBe fassbar werden. Dies gelingt durch eine „ganze Reihe von Beobachtungstechniken“ (Foucault 2005a, 236), wie etwa Statistiken oder Demografien. Denn durch die Auswertung der erhobenen Bevolkerungsdaten konnen in der Folge gesamtgesellschaftliche Entwicklungen beobachtet und entsprechende biopolitische InterventionsmaBnahmen abgeleitet werden (vgl. Mamecke 2016, 106). Es geht darum, das Leben der Menschen so „zu sichern, zu verteidigen, zu starken, zu mehren und zu ordnen“ (Foucault 1977, 164f.), dass der Staat aus der Bevolkerungsentwicklung den bestmoglichen Nutzen hinsichtlich einer gesamtheitlichen Funktionssteigerung und Kraftemaximierung des Lebenden ausschopfen kann (vgl. Foucault 1977, 171): [D]ie Mechanismen der Macht zielen auf den Korper, auf das Leben und seine Expansion, auf die Erhaltung, Ertuchtigung, Ermachtigung oder Nutzbarmachung der ganzen Art ab (Foucault 1977, 176).
Die Mechanismen der biopolitischen Macht beruhen dabei nicht auf unmittelbarem Zwang, sondern auf unterschwellig regulierende Lenkungsmechanismen. Denn indem die Bevolkerung als statistische GroBe erfassbar wird, etablieren sich allgemeingultige MaBstabe, die als biopolitische Normalisierungsinstanzen unbemerkt die Denk-, Wahrnehmungs- sowie Handlungsweisen der Individuen tangieren und in der Gesamtheit die gesellschaftliche Ordnung regulieren (vgl. Foucault 1999a, 292):
Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souverans scheidet, richtet sie die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet (Foucault 1977, 172).
Diese Normen werden von den Individuen innerhalb ihres Subjektivierungsprozesses so sehr internalisiert, dass jedwede Anpassungsleistung an dem biopolitisch instruierten „Ideal der Normalitat“ (Wehrle 2020, 13) als Ausdruck des eigenen Willens erscheint.
Um eben diesen Selbststeuerungseffekt in der Gesellschaft machtvoll erwirken zu konnen, muss die Regierung zunachst eine Ordnung schaffen, in der die Freiheit jedes Einzelnen und jeder Einzelnen zur Selbstfuhrung gewahrleistet ist: „Macht kann nur uber ,freie Subjekte‘ ausgeubt werden, insofern sie ,frei‘ sind [...]“ (Foucault 2007b, 97, Herv. im Orig.).
Selbstregierung markiert demnach nicht die Grenze des biopolitischen Regierungshandelns, sondern sie ist „Existenzbedingung von Macht“ (Foucault 1999b, 194). Denn nur durch die Freiheit zur Selbstfuhrung kann das Individuum verschiedene Eingriffe „an seinem Korper, seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise“ (Foucault 2007e, 289) vornehmen, die im Dienst biopolitischer Regierungsziele stehen. Um die Techniken der Selbstfuhrung, die Foucault als Technologien des Selbst bezeichnet hat, wird es in dem nachsten Abschnitt gehen.
3.2. Die Technologien des Selbst
Wie bereits im vorherigen Kapitelabschnitt erlautert, wird Macht nach Foucault nicht nur repressiv, sondern strategisch-produktiv gedacht. Auch wenn Machtbeziehungen demnach nicht von hierarchischen Strukturen zwischen Herrschenden und Beherrschten gepragt sind, kann dennoch jede individuelle Freiheit auf regulative Regierungspraxen zuruckgefuhrt werden (vgl. Foucault 1977, 115). Das Individuum selbst ist demnach ein Mittel zur Erreichung von Regierungszielen und fugt sich durch permanente Selbstregulation in die aktivierungspolitische Gesamtstrategie des Staates ein (vgl. Wehrle 2020, 14). Dabei verhelfen ihm die von Foucault bezeichneten Technologien des Selbst. Diese stehen, wie schon im vorherigen Kapitel angedeutet, ubergreifend fur zielgerichtete und bewusste Eingriffe des Individuums „an seinem Korper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise“ (Foucault 2007e, 289) zum Zwecke der Selbsttransformation und Effizienzsteigerung. Diese Eingriffe beinhalten „das Nachdenken uber Lebensweisen, die Wahl einer Lebensform, die Regulierung des eigenen Verhaltens, die Selbstzuweisung von Zielen und Mitteln“ (Foucault 2007a, 76). Auf diese Weise wird die eigene Identitat konstituiert, aufrechterhalten oder verandert (ebd., 74): „Die Technologien des Selbst [...] sind Wege der Selbstwerdung“ (Capurro 1995, 25).
Das Selbst ist also nicht einfach gegeben, sondern bringt seine eigenen Transformationen erst durch verschiedene Operationen hervor: „Der Mensch wird geformt, indem er sich selbst formt“ (Wiedemann 2016, 67).
Das Individuum ist demnach gleichermaBen Ziel sowie Mittel der eigenen Selbstgestaltung und Ausgangspunkt aller durch die Technologien des Selbst gesteuerten, dynamischen Werdungsprozesse (vgl. Foucault 2007a, 74). Dabei tritt das Selbst nicht nur in Beziehung zu sich selbst, sondern auch zu der Gesellschaft (vgl. Reigeluth 2015, 26). So sind den Technologien des Selbst gesellschaftliche Ideale, Normen und Werte eingeschrieben, die von den Individuen innerhalb ihres Selbstfindungsprozesses verhandelt werden mussen, um „aus ihrem Leben ein Werk zu machen [...], das gewisse asthetische Werte tragt und gewissen Stilkriterien entspricht“ (Foucault 1986, 18).
Das Individuum wird somit einerseits von Machttechnologien bedingt, ist aber andererseits zugleich auch eine essentielle „Produktionsbedingung von Macht“ (Neubauer 2016, 8):
Die Technologien des Selbst sind insofern immer auch ein Element der Technologien des Regierens, der Herrschaft, als sie auf das Verhaltnis von Selbst- und Fremdfuhrung der Individuen einwirken (Hirseland/Schneider 2008, 5643).
Um das Verhaltnis von Fremd- und Selbstfuhrung theoretisch fassen zu konnen, fuhrte Foucault den Begriff der Gouvernementalitat ein, der im Folgenden naher erlautert wird.
3.3. Die Gouvernementalitat
Wie bereits im vorherigen Kapitel erwahnt, vollzieht sich die Konstitution des Selbst in einem Spannungsfeld aus Fremd- und Selbstfuhrung (vgl. Reigeluth 2015, 26). Den Kontaktpunkt, an dem sich die regulativen Machtmechanismen des Staates mit den Technologien des Selbst beruhren, begreift Foucault dabei als Gouvernementalitat: „Diese Verbindung zwischen den Technologien der Beherrschung anderer und den Technologien des Selbst nenne ich ,Gouvernementalitat‘“ (Foucault 2007e, 289, Herv. im Orig.).
Gouvernementalitat bezeichnet laut Foucault also eine moderne Form der Macht, die „von der ,Regierung des Selbst‘ zur ,Regierung der anderen‘ reicht“ (Lemke 2000, 33, Herv. im Orig.) und die Grenzen zwischen Staat und Subjekt aushebelt. Der Staat ist somit nicht mehr als zentrale, administrative Regulierungsinstanz zu verstehen, sondern als ein
Uberbauphanomen hinsichtlich einer ganzen Reihe von Machtnetzen, die durch die Korper, die Sexualitat, die Familie, die Haltungen, die Wissensarten und die Techniken hindurchgehen (Foucault 2003, 201).
Politische Entwicklungen sind unter diesem Blickwinkel eng an gesellschaftlichen
Krafteverhaltnissen und individuellen Subjektivierungsprozessen gebunden: Es kommt
zu einer „Ko-Formierung von modernem souveranen Staat und modernem autonomen
Subjekt“ (Lemke 2000, 33) an den diskursiven Schnittstellen der „gouvernementalen
Vernunft“ (Foucault 2006a, 415). Bei dieser Ko-Formierung verhandelt die
gouvernementale Vernunft zwischen der gegenwartigen „Interessenmechanik“
(Foucault 2006b, 504) einer Gesellschaft und den strategischen Zielen eines Staates.
Somit ist die gouvernementale Vernunft als eine „regulative Idee“ (Foucault 2006a,
416) zu verstehen, mittels derer einerseits die Bevolkerungssubjekte zu einer
okonomisch systemkonformen Selbstfuhrung gelenkt und andererseits politische
Entscheidungen in Einklang mit gesellschaftlichen Entwicklungen getroffen werden, die
es fur die Regierung jeweils „zu achten oder [.] zumindest zu berucksichtigen“
(Foucault 2006b, 505) gilt.
Inwiefern digitale Selbstvermessungstechnologien als Schnittstellen zwischen
Selbst- und Fremdfuhrung agieren, wird in den folgenden Kapiteln durch eine
autoethnographische und machtanalytische Ergrundung der einzelnen Self-Tracking-
Diskursebenen unter dem methodischen „Raster der Gouvernementalitat“ (Foucault
2006c, 261) untersucht. Zuvor wird jedoch noch Bezug auf die Thematik des Self-
Trackings genommen, um den Analysekontext vollends uberblicken zu konnen.
4. Self-Tracking
Unter Self-Tracking werden verschiedenste Formen digitaler Selbstvermessung und
Lebensprotokollierung verstanden, die korperbezogene Phanomene und Alltagspraxen
auf messende und zahlende Weise sichtbar machen (vgl. Pritz 2016, 127). So konnen
beispielsweise Fitnessverhalten, Ernahrungsgewohnheiten, Schlafqualitat sowie
Stimmungen und Emotionen durch die Selbstquantifizierung in statistische Daten
transformiert werden: „Self Tracking ist [.] ein Prozess der Auseinandersetzung des
Selbst mit (den Daten von) sich selbst“ (Duttweiler/Passoth 2016, 28, Herv. im Orig.).
Dabei ist die Praktik der Selbstquantifizierung kein neues Phanomen des
digitalen Zeitalters, sondern reicht Jahrtausende zuruck. Bereits im antiken
Griechenland waren die Techniken der Diatetik dazu bestimmt, das Selbst zu
analysieren (vgl. ebd., 14). Foucault beschreibt die antike Diatetik in seiner Analyse als
lauter Dinge, die ,gemessen‘ sein mussen. [...] Die ganze Zeit uber [...]
problematisiert die Diat das Verhaltnis zum Korper und entwickelt eine
Lebensweise, deren Formen, Entscheidungen, Variablen von der Sorge um den
Korper bestimmt sind (Foucault 1986, 131f., Herv. im Orig.).
Bei der antiken Diatetik handelte sich also um eine Lehre zur Erreichung einer selbstsorgsamen Lebensweise, die vor allem korperbezogene und krankheitsvermeidende Regelungen umfasste. Aber auch anderer Lebensbereiche, wie Kleidung, sexuelle Aktivitat, Reinigung, Schlaf oder das Umfeld wurden in den antiken Schriften behandelt (vgl. Wascher 2007, 158). Im 18.Jahrhundert entwickelte der US- Amerikanische Staatsgrunder Benjamin Franklin diese Techniken anhand seiner Tabellen zur moralischen Vervollkommnung weiter (vgl. Duttweiler/Passoth 2016, 14). Darin protokollierte er jeden Tag die Einhaltung der insgesamt dreizehn von ihm festgelegten Wertvorstellungen, notierte sich VerstoBe sowie Erfolge und versuchte Wege zu finden, um zu einer moralischen Perfektion zu gelangen (Cetkovic 2016, 2). Damit setzte er den Grundstein fur eine ethische Selbstvermessung, dessen tabellarisches System von der Ratgeberliteratur der 1920er Jahre ubernommen und ausgeweitet wurde (vgl. Duttweiler/Passoth 2016, 14f.). Wahrend diese Art der moralischen Vermessung fur die breite Offentlichkeit zuganglich war, wurden korperbezogene Messtechniken uber Jahrhunderte hinweg zunachst nur der Medizin zugeschrieben. Mit der Erfindung der Personenwaage, des Fieberthermometers sowie des Blutdruckmessgerats weitete sich ab Ende des 19.Jahrhunderts die systematische Vermessung des Korpers allmahlich auf den offentlichen Bereich aus (vgl. Duttweiler/Passoth 2016, 15). Durch die Entwicklung fortschrittlicher
Informationstechnologien wie Smartphone, Apps & Co. erfuhr das digitale SelfTracking innerhalb der Jahrhundertwende einen rasanten Aufschwung (vgl. Kemper o.D.).
Inzwischen existieren fur fast jeden Bereich des individuellen als auch gesellschaftlichen Lebens freizugangliche, digitale Self-Tracking-Anwendungen. Die Reichweite dieser Technologien ist nahezu unuberschaubar (vgl. Selke 2016a, 6). Auch die Anzahl der verfugbaren Gesundheits- und Fitness-Apps ist hoch. Laut einer Studie des Statista Research Departements standen im Google Play Store im dritten Quartal 2020 insgesamt 101.344 Apps (vgl. Statista 2020a) und im Apple App Store rund 82.633 Anwendungen zur Verfugung (vgl. Statista 2020b). Um jene Komplexitat methodisch fassen zu konnen, begrenzt sich meine autoethnographische Studie deshalb auf das digitale Messwerkzeug der Smartwatch sowie auf die Gesundheits-App Huawei Health.
5. Machtanalytische & autoethnographische Ergrundung der Self-Tracking- Diskursebenen
Wie bereits erwahnt, ist mittlerweile eine groBe Bandbreite an Self-Tracking-Gadgets und -Apps auf dem Markt. Immer mehr Menschen greifen auf die digitalen Selbstvermessungstechniken zuruck, um die eigene Lebensweise, Leistungsfahigkeit oder Gesundheit anhand von Zahlenwerten besser bewerten und optimieren zu konnen. Doch geschieht diese Selbstoptimierung wirklich immer aus dem eigenen Willen heraus? Oder sind innerhalb der Self-Tracking-Praxis gewisse Machtbeziehungen eingelagert, die sich indirekt auf das selbstvermessende Subjekt und dessen mogliches Handeln auswirken? Welche Chancen ergeben sich fur die Subjektivierung einzelner Individuen sowie fur die Gesellschaft im Allgemeinen? Und welche Risiken bringt der neuartige „Kult der Selbsterforschung“ (Mau 2017, 172) mit sich?
Um diese Fragen ergrunden zu konnen, wird die personliche, technologische, politische sowie kulturelle Diskursebene der digitalen Selbstvermessung in den folgenden Unterkapiteln machtanalytisch in den Blick genommen.
5.1. Die personliche Diskursebene: Das verdatete Selbst
Die machtanalytische Untersuchung der digitalen Selbstvermessung beginnt zunachst mit der Ergrundung der personlichen Diskursebene. Ziel hierbei ist es, die Auswirkungen von Self-Tracking auf Korper- und Selbstwahrnehmung innerhalb der alltaglichen Ausfuhrung zu erforschen. Im Hinblick auf die autoethnographischen Anwendungskontexte meines Selbstexperiments gilt es zu hinterfragen, inwiefern der Diskurs mit den erhobenen Korperdaten die alltaglichen Erfahrungswelten der Nutzenden tangiert. Dabei werden personliche Erkenntnisse aus dem Selbstexperiment mit sozialwissenschaftlichen Ansatzen abgeglichen, kontrastiert und zu einem ganzeinheitlichen Forschungsbild verknupft.
Fur mein Selbstexperiment verwende ich die Huawei Smartwatch GT-C46. Smartwatches zahlen zu der Kategorie der sogenannten ,Wearable Technology[[4]]. Wearables sind „mobile, sensor- oder computergestutzte elektronische Technologien“ (Boning/Maier-Rigaud 2020, 4), die am Korper der Nutzenden getragen werden. Wesentlich fur Wearables ist die hochentwickelte Mikro-Sensorik, durch die „eine meist vollautomatische, permanente Datenerfassung und -synchronisation mit Endgeraten und Cloud-Diensten“ (Gaentzsch 2018, 94) erfolgt und die die Basis fur die Optimierung gesundheitsbezogener Parameter wie beispielsweise Kalorienzufuhr, Gewicht, Schrittzahl, Puls oder Stresslevel bildet (vgl. Boning et al. 2019, 7).
Bevor die Huawei Smartwatch jedoch als ein solch gesundheitsforderndes Tool in Betrieb genommen werden kann, muss das Gadget zunachst via Bluetooth mit der kostenfreien Huawei Health-App gekoppelt werden. Diese Gesundheits-App dient als Schnittstelle fur Wearables oder anderweitige nicht tragbare Fitnessgerate und bereitet die durch die Smartwatch erhobenen Korperdaten, wie beispielsweise die Schritt- oder Kilometeranzahl, graphisch auf. Um dabei die Reliabilitat des Vermessungsvorgangs sicherstellen und in einen personlichen Diskurs mit der Smartwatch treten zu konnen, muss man sich der Software zunachst durch die Erstellung eines eigenen Profils personlich vorstellen (vgl. Wiedemann 2019, 195). Dies zeigt auch der erste autoethnografische Tagebucheintrag, den ich als Startpunkt meines Selbstexperiments kennzeichne:
[01.06.2021] Da ich uber ein Huawei Smartphone verfuge, ist die App dort bereits vorinstalliert. Ich stimme den Nutzungsbedingungen zum Zugriff auf Standort und Telefonspeicher zu und gelange direkt zum Startbildschirm. Dort werde ich aufgefordert, ein eigenes Profil zu erstellen, fur welches ich individuelle Informationen, wie etwa Gewicht, GroBe, Geburtsdatum oder Geschlecht, angeben muss.
Durch diese von der App verpflichtende Erfordernis zum Selbstbezug wird der eigene Korper zu einem Gegenstand der Verdatung und Kontrolle gemacht (vgl. Reichert 2016b, 62). Dieser Selbstbezug wird spezifiziert, indem vorgegeben wird, welche Informationen man dem Self-Tracking-Diskurs beisteuern soll. Die Nutzenden bekommen also eine gewisse Richtung fur die Verwaltung ihrer Daten vorgegeben. Problematisch ist dabei die Tiefe der Datenspuren, die man durch die Anwendung von Selbstvermessungstechnologien hinterlasst. Denn um am Self-Tracking-Diskurs teilnehmen zu konnen, mussen zunachst die Nutzungsbedingungen der Software akzeptiert werden. Mit der einmaligen Zustimmung gibt man seinen Korper jedoch fur eine kontinuierliche Datenerhebung frei und erlaubt der Software damit stetige intime Einblicke in das Privatleben (vgl. Ehlert et al. 2014, 8).
Zu welchem Zweck und in welchem Umfang die digitalen Messgerate diese gewonnenen Daten sammeln, ist den meisten Nutzenden trotz Einwilligung in die hinterlegten Datenschutzerklarungen oft nicht bewusst (vgl. Rey 2018, 14). Denn neben den offensichtlich erhobenen Gesundheitsdaten oder Korperwerten registrieren die Wearables oftmals auch noch weitere Informationen (vgl. ebd., 7). Huawei Health beispielsweise erfasst Profilinformationen, Gesundheits- und Fitnessdaten sowie Nutzungs- und Gerateinformationen, um den Anwendenden laut eigenen Angaben „sichere und zuverlassige Services anbieten zu konnen“ (Huawei Health 2021).
All diese erfassten Informationen verdichten sich in Folge zu tiefgreifenden, digitalen Nutzungsprofilen (vgl. Rey 2018, 7): Der eigene Korper wird zu einem wertvollen „Datenlieferant“ (Emmert 2013, 2), der nicht nur sich selbst, sondern auch die Software mit wertvollem Wissen versorgt (vgl. Rey 2018, 7). Die Prozesse der Wissensgenerierung durch die Hard- und Software laufen dabei meist im Hintergrund ab, ohne dass die Nutzenden aktiv etwas dazu beitragen mussen (vgl. Selke 2016a, 3). Das geschieht uber Biosensoren, wie beispielsweise GPS-Sensoren, Schrittzahler oder Pulsmesser. Diese Sensoren tasten ihre unmittelbare Umwelt automatisch in Echtzeit ab und sammeln die registrierten Zahlenwerte (vgl. Duttweiler/Passoth 2016, 10). Wahrend der Aufwand der Datenerhebung fur die Nutzenden sinkt, steigt der Grad der Messbarkeit des Menschen umso mehr an (vgl. Selke 2016a, 9). So kann man mit der Huawei-Smartwatch etwa die Herzfrequenz in Echtzeit uberwachen, das personliche Schlafverhalten analysieren oder die eigenen Bewegungen bemessen (vgl. Huawei 2022).
Dadurch geben Self-Tracking-Gadgets einen umfassenden Einblick in den „Maschinenraum des eigenen Korpers“ (Niederer 2018), der jedes noch so kleine Zahnrad mit einer „davor nichtexistierenden Tiefenscharfe“ (Schwarz 2019a, 2) offenbart. Jegliche Form der digitalen Selbstvermessung erweist sich somit als eine Art Visualisierungspraktik, die etwas sichtbar macht, das sich zuvor der Wahrnehmung entzogen hatte (vgl. Duttweiler/Passoth 2016, 12): „Mit der Quantifizierung des eigenen Lebens beginnt eine Expedition in die letzten noch unerschlossenen Gebiete des Ichs“ (Selke 2016a, 3).
Das vermessende Subjekt ist bei diesem Prozess des digitalen Sich-Selbst- Entdeckens nicht mehr nur auf sein Korpergefuhl angewiesen, sondern kann sich unabhangig von der eigenen, „subjektiv verzerrten Selbstwahrnehmung“ (Schaupp 2016b, 159) auf die technologische Empfindsamkeit der sensorischen Sinne beziehen (vgl. Ehlert et al. 2014, 93f.). Diese technologische Empfindsamkeit war zu Beginn meines Selbstexperiments noch weitgehend subjektiv verzerrt: [15.06.2021] Irgendwie gelingt es mir momentan noch nicht, mich der SelfTracking-Praxis vollends hinzugeben. Jede Nachricht, jedes Signal und jede Vibration, die die Smartwatch aussendet, weckt in mir eine gewisse Skepsis, die mich immer wieder eine distanzierte Haltung einnehmen lasst.
Diese anfangliche Skepsis beruhte dabei auf meinem personlichen Standpunkt als Studierende sowie dem wissenschaftlich informierten Denken uber Fremd- und Selbstbestimmung. So hatte ich durch meine vorherige Recherche beispielsweise immer die Gefahr im Hinterkopf, dass ich mich durch die digitale Selbstvermessung von den eigentlichen Formen der Selbsterkenntnis entfremden konnte (vgl. Schulz 2016, 48f.). So konstatiert der deutsche Soziologe Stefan Selke etwa, dass Self-Tracking schlimmstenfalls zu einer Datenabhangigkeit fuhren konne, durch die die Nutzenden auf Dauer verlernen, auf die Gefuhle und Signale des eigenen Korpers zu horen: „Der Mensch wird zum Konformisten, blind fur die Moglichkeiten eigenen Denkens und [...] autonomer Entscheidungen“ (Selke 2016b, 148).
Ich versuchte jedoch dieses theoretische Vorwissen auBer Acht zu lassen und meinen Blickwinkel zu neutralisieren, um mich der Self-Tracking-Praxis vollends hinzugeben. Dabei naherte ich mich der Selbstvermessungsthematik nicht nur gedanklich, sondern auch physisch an. So platzierte ich die Smartwatch anfangs immer sichtbar auf meinem Nachttisch, damit ich das Umlegen des Armbands am nachsten Morgen nicht vergessen konnte. Dieser Vorgang pragte sich im Laufe der Zeit immer mehr in mein Unterbewusstsein ein und wurde zur Routine:
[05.08.2021] Nun, nach zwei Monaten der permanenten Selbstvermessung, greife ich jeden Morgen fast schon automatisch zur Smartwatch, ziehe sie uber mein Handgelenk und gehe dann erst zu meiner alltaglichen Morgenroutine uber.
Doch laut Anna Marta Potocka liegt gerade in der Routine die groBte Gefahr fur die Autonomie jedes einzelnen Selbstvermessenden. Denn „Automatismen haben ihren Anfang im bewussten Denken, verselbstandigen sich nach einiger Zeit“ (Potocka 2021, 124) und werden irgendwann nur noch unterbewusst ohne jegliche Reflexion ausgefuhrt. Zwischen der Eingewohnung und dem Automatismus steht dabei die Disziplin, die nach Foucault „den gesamten Korper zusammenhalt und verfugbar macht und sich insgeheim bis in die Automatik der Gewohnheiten durchsetzt“ (Foucault 1976, 173).
[...]
- Citation du texte
- Katrin Adler (Auteur), 2022, Self-Tracking zwischen Selbst- und Fremdführungstechnologie. Eine autoethnographische Studie der Machtdiskurse innerhalb der digitalen Selbstvermessung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1256693
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