Welche Anforderungen ergeben sich für die Kinder- und Jugendhilfe aus der zunehmenden kulturellen Vielfalt? Fachkräfte arbeiten mit Menschen verschiedenster Wertvorstellungen und Kulturen zusammen und es ist davon auszugehen, dass die Anforderungen an die Sensibilität im Umgang mit Diversität und Andersartigkeit zunehmen werden. Soll sich die Praxis der Erziehungshilfen also am aktuellen Bedarf orientieren, muss sowohl ein angemessener professioneller Umgang mit kultureller Vielfalt und Differenz gefunden werden als auch die Familie in der steigenden Komplexität ihrer Lebenslagen unterstützt werden. Insbesondere die Gestaltung der Arbeitsbeziehung zu den Adressat*innen als zentrale Grundlage für den Hilfeprozess rückt hierbei in den Fokus der Debatten. Für Fachkräfte stellt sich die Frage, wie diese vor dem Hintergrund der zunehmenden kulturellen Diversität ihrer Adressat*innen gelingend gestaltet werden kann.
Um dieser Frage nachzugehen, soll im Folgenden zunächst nach einem für die Erziehungshilfe passenden Kulturverständnis gesucht werden, auf dessen Basis es möglich wird zu begreifen, wie sich Kulturen in einer postmodernen Gesellschaft begegnen. Anschließend werden die im Zuge der Globalisierung veränderten Lebensrealitäten von Familien betrachtet und die Frage beantwortet, welche Anforderungen sich daraus für die Familien und auch für die Kinder- und Jugendhilfe ergeben. Im zweiten Teil der Arbeit soll sich dem Themenkomplex „Gestaltung von Arbeitsbeziehungen in den Erziehungshilfen“ genähert werden, wobei die Relevanz von Arbeitsbeziehung dargestellt und deren Konstitutionsbedingungen besprochen werden.
Daraufhin wird das Konzept der Kultursensibilität als Lösungsansatz zur gelingenden Gestaltung von Arbeitsbeziehungen mit Adressat*innen unterschiedlicher kultureller Hintergründe diskutiert. Das Nachdenken über Methode und Kultur und die Berücksichtigung kultureller Dimensionen im Kontakt erweist sich als komplexe Aufgabe, zeigt sich jedoch von erheblicher Relevanz für die professionelle Weiterentwicklung des Arbeitsfelds. So soll im dritten Teil der Arbeit die Methode Video-Home-Training (VHT) als methodischer Zugang zur kultursensiblen Gestaltung von Arbeitsbeziehungen diskutiert werden. An eine Darstellung der Grundlagen der Methode schließt der empirische Teil der Arbeit an, in dem eine Antwort auf die Frage gefunden werden soll, inwiefern VHT die kultursensible Gestaltung von Arbeitsbeziehungen unterstützen kann.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Das Phänomen Kultur - Versuch einer Einordnung
2.1 Natur und Kultur
2.2 Der Kulturbegriff wissenschaftshistorisch betrachtet
2.3 Kultur als Bedeutungskomplex
2.4 Wie begegnen sich Kulturen? - Transkulturalität als Beschreibung veränderter Realitäten
3 Familien unterschiedlicher Kulturen als Adressatinnen der Hilfen zur Erziehung
3.1 Familienbilder im Wandel
3.2 Anforderungen an Familien in der Postmoderne
3.3 „Kulturell andere“ Familien - Diskurs über die Kategorie „Migrationshintergrund“
4 Zwischenfazit - Die professionelle Arbeitsbeziehung als Lösungsansatz
5 Die professionelle Arbeitsbeziehung in den Hilfen zur Erziehung - Merkmale und Spannungsfelder
5.1 Professionelle Beziehungsmodelle nach Oevermann und Müller - eine Skizze
5.2 Merkmale von professionellen Arbeitsbeziehungen in den Hilfe zur Erziehung
5.2.1 Prozesshaftigkeit
5.2.2 Netzwerkförmigkeit
5.2.3 Zeitliche Begrenzung und spezifischer Gegenstandsbezug
5.3 Spannungsfeld Hilfe und Kontrolle
5.4 Spannungsfelder Asymmetrie der Arbeitsbeziehung sowie Abhängigkeit und Hilfe zur Selbsthilfe
5.5 Spannungsfeld Rollendiffusität sowie Nähe und D i stanz
5.6 Kritische Reflexion und Thesen zu Arbeitsbeziehungen in den Hilfen zur Erziehung
5.7 Spannungsfeld Kultur als Bezugsgröße und Gefahr der Kulturalisierung
6 Kultursensibles Arbeiten in den Hilfen zur Erziehung
6.1 Der professionelle Habitus
6.2 Kultursensibilität als Teil des professionellen Habitus
6.3 Ergänzung der Spannungsfelder durch den Blick durch die „Kulturbrille“
7 Zwischenfazit - Methodisches Vorgehen zur Unterstützung der Beziehungsarbeit
8 VHT als Methode in den Hilfen zur Erziehung
8.1 Zielsetzung von VHT
8.2 Gelingende Kommunikation und Interaktion als Kern von VHT
8.2.1 Das Kontaktritual
8.2.2 Die fünf Schritte der Basiskommunikation
8.3 Vorgehen und Ablauf von VHT
9 Empirischer Teil: VHT zur Unterstützung von kultursensibler Gestaltung von Arbeitsbeziehungen
9.1 Methodische Herangehensweise
9.1.1 Forschungsgegenstand
9.1.2 Eintritt ins Feld und Datengenerierung
9.1.3 Forschungsethik und Gütekriterien der Forschung
9.1.4 Forschungsmethode
9.1.5 Datenauswertung
9.2 Ergebnisse der Gruppendiskussion „VHT International“: Diskursbeschreibung
10 VHT als methodischer Zugang zur kultursensiblen Gestaltung von Arbeitsbeziehungen
11 Fazit und Ausblick - Institutionen in der Verantwortung
Literaturverzeichnis
Anhang
12.1 Dokumente teilnarrative Leitfadeninterviews
12.2 Dokumente problemzentrierte Gruppendiskussion
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Zusammenhänge der festgestellten Anforderungen und Lösungsmöglichkeiten
Abb. 2: Zentrale Erkenntnisse der Arbeit auf einen Blick
Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Zuordnung der Basiskommunikationsprinzipien in das Kontaktritual in Anlehnung an Schepers und König (2000: 39)
Tab. 2: Transkriptionsregeln für die teilnarrativen Leitfadeninterviews (Dresing und Pehl 2018: 21-24)
Tab. 3: Transkriptionsregeln für die problemzentrierte Gruppen diskussion (Bohnsack 2021: 255-257)
Tab. 4: Begrifflichkeiten der Diskursorganisation (Gruppendiskussion)
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Die Globalisierung und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft können als Wandel von historischem Ausmaß bezeichnet werden (Lüddemann 2019: 103-104). Dabei bleibt kein Lebensbereich von den immer schneller voranschreitenden Veränderungen unberührt und gesellschaftliche, ökonomische und auch kulturelle Aspekte im Prozess des Wandels greifen ineinander, bedingen und beeinflussen sich (Rehbein und Schwengel 2008: 13-14). Durch die Entstehung eines weltweiten Kommunikationsraums, einer Zunahme globaler Migrationsbewegungen und die Entgrenzung aller Lebensbereiche ergeben sich neue Fragen des Zusammenlebens, und Diskurse über Identität und Kultur treten in den Vordergrund (Rehbein und Schwengel 2008: 227-228; Borchardt 2012: 6).
„Die Gegenwart ist nicht mehr das, was sie einmal war, ist man versucht zu sagen, angesichts des rasanten Tempos gesellschaftlicher Entwicklung. In beschleunigtem Maße veraltet das gesellschaftliche Wissen, gleichzeitig verlieren tradierte Einordnungs- und Verhaltenshilfen in Form von Institutionen mehr und mehr ihre dienliche Funktion. Was im ,Großen‘ gilt, gilt auch für das alltäglich ,Kleine'.“ (Koziol 2003: 54)
Die widersprüchlich angelegten, fragmentarischen und vielfältigen Gegebenheiten einer postmodernen Gesellschaft verlangen sowohl der Gesellschaft als auch den Individuen entsprechende Leistungen ab (Abeld 2017: 151).
„Vielfalt ist noch vielfältiger geworden“ (Schröer 2016: 89), und Begegnungen mit Fremdheit und Andersartigkeit gehören inzwischen zum Alltag in der globalisierten Welt mit ihrer hohen Frequenz an Kulturkontakten (Lüddemann 2019: 30). Kultur hat vor diesem Hintergrund Konjunktur und soll als Begriff und schließlich als leitende Vorstellung dabei helfen, eine unübersichtliche Gegenwart zu ordnen (Lüddemann 2019: 1). Gleichzeitig ist aber festzustellen, dass parallel zur steigenden Frequenz kultureller Fremdkontakte das Bewusstsein dafür wächst, „dass auch die eigene Kultur keine für alle Zeiten stabilisierte und restlos vertraute Harmonie ist“ (Lüddemann 2019: 4). Kultur befindet sich im Prozess, im Wandeln und ist für die*den Einzelne*n demnach keine Matrix der Vertrautheit mehr.
„You have to find a way how to live with it. It's many kind of political issues, many kind of opinions and many kind of people. Really diversed people.“ (Pos. 30, Expert*inneninterview B)
In dieser entgrenzten Welt wird das Verlangen nach Sicherheit und Orientierung immer größer. Die Familie - einst eine der wichtigsten Orientierung und Halt vermittelnden Institutionen - unterliegt gegenwärtig auch einem drastischen Wandel und Familien sehen sich neuen Anforderungen und Erwartungshaltungen gegenübergestellt (Dornheim und Greiffenhagen 2003: 14). Im Kontakt mit anderen Kulturen kann die erlebte kulturelle Diversität dabei auch Grund für Missverständnisse, Unzufriedenheiten und Konflikte sein. In der sich zunehmend verändernden Gesellschaft werden so Kompetenzen zu gelingender Kommunikation, Interaktion sowie Reflexion auch vor dem Hintergrund möglicher Differenzen immer wichtiger (Gahleitner 2020: 12). Ob und wie Familien den multiplen Anforderungen gerecht werden, entscheidet letztendlich über die Partizipationsmöglichkeiten ihrer Mitglieder in der Gesellschaft. Zeigen sich dabei einzelfallspezifische oder auch allgemeine Defizite oder Problemlagen im Leben oder in der Entwicklung junger Menschen, werden Familien zu Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe, genauer der Erziehungshilfen (Tabel 2020: 170).
Im Zuge von Globalisierungsprozessen kann demnach auch eine Zunahme kultureller Vielfalt bei Familien als Adressatinnen der Hilfen zur Erziehung konstatiert werden.
„I work with children of different cultural backgrounds every day. That (..) is something so normal that I sometimes forget, but sometimes it's also a challenge.” (Pos. 31, Expert*inneninterview A)
So stellt sich auch für die Kinder- und Jugendhilfe die Frage, welche Anforderungen sich aus der zunehmenden Vielfalt ergeben. Fachkräfte arbeiten mit Menschen verschiedenster Wertvorstellungen und Kulturen zusammen und es ist davon auszugehen, dass die Anforderungen an die Sensibilität im Umgang mit Diversität und Andersartigkeit zunehmen werden (Wahl und Ullrich 2014: 369).
Soll sich die Praxis der Erziehungshilfen also am aktuellen Bedarf orientieren, muss sowohl ein angemessener professioneller Umgang mit kultureller Vielfalt und Differenz gefunden werden als auch die Familie in der steigenden Komplexität ihrer Lebenslagen unterstützt werden (Gahleitner 2014: 57; Duhn 2018: 40). Insbesondere die Gestaltung der Arbeitsbeziehung zu den Adressat*innen als zentrale Grundlage für den Hilfeprozess rückt hierbei in den Fokus der Debatten (Gahleitner 2020: 12). Für Fachkräfte stellt sich die Frage, wie diese vor dem Hintergrund der zunehmenden kulturellen Diversität ihrer Adressat*innen gelingend gestaltet werden kann.
Um dieser Frage nachzugehen, soll im Folgenden zunächst nach einem für die Erziehungshilfe passenden Kulturverständnis gesucht werden, auf dessen Basis es möglich wird zu begreifen, wie sich Kulturen in einer postmodernen Gesellschaft begegnen. Anschließend werden die im Zuge der Globalisierung veränderten Lebensrealitäten von Familien betrachtet und die Frage beantwortet, welche Anforderungen sich daraus für die Familien und auch für die Kinder- und Jugendhilfe ergeben.
Im zweiten Teil der Arbeit soll sich dem Themenkomplex „Gestaltung von Arbeitsbeziehungen in den Erziehungshilfen“ genähert werden, wobei die Relevanz von Arbeitsbeziehung dargestellt und deren Konstitutionsbedingungen besprochen werden.
Daraufhin wird das Konzept der Kultursensibilität als Lösungsansatz zur gelingenden Gestaltung von Arbeitsbeziehungen mit Adressat*innen unterschiedlicher kultureller Hintergründe diskutiert. Offen bleibt bis dahin immer noch die Frage nach der konkreten Ausgestaltung der Arbeitsbeziehung in der Praxis. Das Nachdenken über Methode und Kultur und die Berücksichtigung kultureller Dimensionen im Kontakt erweist sich dabei als komplexe Aufgabe, zeigt sich jedoch von erheblicher Relevanz für die professionelle Weiterentwicklung des Arbeitsfelds (Jagusch 2014: 37; Eppenstein 2010: 96; Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik 2021: 10). So soll im dritten Teil der Arbeit die Methode Video-Home-Training (VHT) als methodischer Zugang zur kultursensiblen Gestaltung von Arbeitsbeziehungen diskutiert werden. An eine Darstellung der Grundlagen der Methode schließt der empirische Teil der Arbeit an, in dem anhand der Analyse einer Gruppendiskussion und durch intensive Auseinandersetzung mit der Fachliteratur eine Antwort auf die Frage gefunden werden soll, inwiefern VHT die kultursensible Gestaltung von Arbeitsbeziehungen unterstützen kann.
In der Schlussbetrachtung sollen die gewonnenen Erkenntnisse der Arbeit und deren Bedeutung für die Hilfen zur Erziehung aufgeführt sowie ein Ausblick für das Arbeitsfeld dargelegt werden.
2 Das Phänomen Kultur - Versuch einer Einordnung
Vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Globalisierung auf die Gesellschaft erlangt der Diskurs um Kultur neuen Aufschwung. Überlegungen zu neuer Vielfalt und Differenz finden dabei auch Einzug in Diskurse und pädagogische Selbstverständnisse der Kinder- und Jugendhilfe (Mecheril 2010b: 10). Der Kulturbegriff, so Lüddemann (2019: V), wird dabei zum Zentrum vieler Ansätze und wandert seit den 70er Jahren aus seiner vermeintlichen Randposition in den Fokus aktueller (politischer) Debatten. Die Unschärfe und Abstraktheit des Begriffs bedingt dabei eine ständige Revision und Diskussion, wobei Definitionsversuche stets wissenschaftshistorischen Rahmenbedingungen unterworfen sind (Lüdde- mann 2019: 57; Klein 2018: 893).
„Even after decades of research and theoretical examination [.] ‘culture' [.] remain[s] [an] intriguing, albeit controversial and fuzzy, categorie [.] of description and analysis. [This categorie is] entangled within and between different contexts of practice, theoretical approaches, and academic disciplines, as an ever growing body of research literature shows.” (Lutter 2014: 155)
Auch Klein (2018: 893) konstatiert, dass Kultur „kein eindeutig zu identifizierender Gegenstand“ ist und in seiner Vieldeutigkeit sowohl Vor- als auch Nachteile für eine sozialpädagogische Auseinandersetzung mit dem Begriff mit sich bringt. Zum einen kann festgestellt werden, dass die Unbestimmtheit auch die Offenheit zulässt, kulturelle Begrifflichkeiten auf ganz verschiedene Theorien und Arbeitsbereiche der Sozialen Arbeit anzuwenden. Zum anderen wird hierdurch aber auch verhindert, Klarheit in die Verwendung der Begriffe zu bringen. Diese Suche nach Orientierung und systematischer Ordnung spiegelt auch die historisch gewachsene Debatte um mögliche Bedeutungsvarianten von Kultur wieder (Klein 2018: 893).
Mayer und Vanderheiden (2014: 29) stellen dabei fest, dass „Diskurse um Kultur [.] schon lange nicht mehr alleiniger Bestandteil der Ethnologie und der Kulturwissenschaften [sind].“ Sie verweisen auf die Interdisziplinarität der Diskussion und die damit zusammenhängende breite Fächerung an Deutungen und Theoriekonzepten. So kann Kultur als diskursives Konstrukt begriffen werden, das auf unterschiedlichste Weise definiert und erforscht werden kann (Nünning 2009: 1).
Im Folgenden soll nun eine Betrachtung des Kulturbegriffs unter wissenschaftshistorischer Perspektive stattfinden und dabei der Fokus auf das Zusammenleben von Kulturen gelegt werden. Vor diesem Hintergrund solle ein für die Kinder- und Jugendhilfe geeignetes Verständnis von Kultur und Kulturkontakten gefunden werden.
2.1 Natur und Kultur
Die Definition und der Bedeutungsumfang des Kulturbegriffs ergibt sich zunächst aus der Abgrenzung und im Vergleich zu Bezugsbegriffen wie Natur, Zivilisation oder auch Kunst und Bildung (bspw. Elias 1969). Dabei erlangen die Termini nicht gleichzeitig, sondern im historischen Nacheinander an Bedeutung und prägen somit den Wandel im Diskurs um den Kulturbegriff. „Während etwa der Gegensatz von Kultur und Natur am Anfang der Begriffsgeschichte steht, entwickelt das Nebeneinander von Kultur und Zivilisation erst deutlich später seine Relevanz, während das reibungsvolle Miteinander von Kultur und Kunst gerade in der Moderne seine volle Schubkraft entfaltet hat“ (Lüddemann 2019: 55). Schiemann (2011: 60) führt an, dass in der Vielzahl der Kontrastmöglichkeiten vor allem der Naturbegriff eine ausgezeichnete Stellung einnimmt, da er die eigentliche Negation von Kultur benennt und somit einen Gegenpol darstellt.
Bereits die Herkunft des Wortes „Kultur“ impliziert eine Abgrenzung zum Naturbegriff. Das aus dem lateinischen „cultura“ (Anbau, Bebauung, Pflege und Veredlung von Ackerboden) entlehnte und von „colere“ (pflegen, urbar machen) abgeleitete Wort bezieht sich zunächst auf den Landbau und verweist auf einen zentralen Aspekt von Kultur. Kultur wird hier als das „Menschgemachte“ bzw. „Gestaltete“ als Gegensatz zu dem, was von Natur aus vorhanden ist definiert (Nünning 2009: 1).
Kultur kommt so als Gegenpol zur Natur in den Blick, wobei sich die ursprüngliche, engere Bedeutung, die sich auf Praktiken und Techniken des Landbaus bezog, durch metaphorische Übertragung auf andere Bereiche zum Modell für andere mentale und soziale Formen der Kultivierung einer Gesellschaft erweitert (Nünning 2009: 1; Lüddemann 2019: 36). Im weitesten Sinne meint Kultur daher die vom Menschen durch die Gestaltung der Natur selbst geschaffene Welt der geistigen und materiellen Güter sowie sozialen Gefüge (Reckwitz 2008: 20; Nünning 2009: 1).
2.2 Der Kulturbegriff wissenschaftshistorisch betrachtet
Mit dem steigenden Bewusstsein der Kontingenz menschlicher Lebensformen lässt sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Entwicklung und Verbreitung eines modernen Kulturbegriffs beobachten. Im Zuge des Kontingenzgedankens „es könnte auch anders sein“, wird Kultur zum Gegenstand von Interpretation und Diskussion. Reckwitz (2008: 19-20) unterscheidet dabei vier systematisch verschiedene Kulturbegriffe: den historisch früher datierten normativen und den totalitätsorientierten Kulturbegriff und im 20. Jahrhundert schließlich den differenzierungstheoretischen und den bedeutungsorientierten Kulturbegriff. Erst der bedeutungsorientierte Kulturbegriff stellt eine Radikalisierung des Kontingenzgedankens dar.
Der normative Kulturbegriff bildet sich nach Reckwitz (2008: 20) im Kontext der Aufklärung und reicht teilweise bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts hinein. Auch im gegenwärtigen Alltagsverständnis von Kultur lassen sich oft normative Tendenzen des Kulturbegriffs erkennen.
Unter einem normativen Verständnis wird Kultur als eine ausgezeichnete menschliche Lebensweise beschrieben, was mit einer Bewertung von und Abgrenzung dieser Lebensweise zu Anderen führt. Im historischen Kontext der Aufklärung bezog sich die erstrebenswerte Lebensweise auf jene des aufstrebenden Bürgertums, welche sich in kulturell-moralischer Abgrenzung zum Adel und dem Proletariat konstruierte (Reckwitz 2008: 20). Kultur als normative und homogene Lebensweise einer Gruppe vertritt dabei universalistische Wertmaßstäbe und lehnt jede Form der Abweichung ab (Goebel 2015: 138; Lüddemann 2019: 11). Begleiterscheinung dieser bis heute propagierten Auffassung von Kultur ist der Überlegenheitsanspruch bestimmter Bevölkerungsgruppen gegenüber den scheinbar unzivilisierten Anderen und Fremden und die vehemente Abwehr von Allem, was Standards in Frage stellen könnte (Klein 2018: 893-894; Lüdde- mann 2019: 11).
Aufbauend auf den normativen Kulturbegriff entwickelt sich im 18. Jahrhundert der totalitätsorientierte Kulturbegriff, der Kultur nun nicht mehr exklusiv einer sich abhebenden Gruppe zuschreibt, sondern ein ganzheitlicheres Verständnis anlegt. Kultur wird demnach als in sich geschlossenes Ganzes einer sich territorial, ethnisch und sprachlich abgrenzenden Gruppe definiert (Klein 2018: 894). Kultur bezeichnet so keine ausgezeichnete Lebensform mehr, sondern umfasst ein komplexes Ganzes aus Wissen, Glauben, Werten, Gebräuchen und anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten einzelner Kollektive wie beispielsweise Völker, Ethnien oder Nationen. Kultur wird damit zu einem holistischen Konzept, das sich zum Vergleich von unterschiedlichen Kulturen eignet (Reckwitz 2008: 22).
Reckwitz (2008: 22-23) merkt an, dass sich auch im totalitätsorientierten Verständnis von Kultur normative Tendenzen erkennen lassen und stellt fest: „Nun ist es die »unvergleichliche« Individualität eines Kollektivs, die prämiert wird und die den jeweiligen normativen Maßstab in sich selbst trägt.“ So entsteht ein Nebeneinander an unterschiedlichen, nach außen geschlossenen Kulturen, wobei interne Differenzen nicht beachtet oder bewusst homogenisiert werden (Klein 2018: 894). Ein Austausch oder eine Kombination der unterschiedlichen Kulturen erscheint nicht möglich (Reckwitz 2008: 23).
Dabei sollten die Schwierigkeiten und Gefahren einer totalitätsorientierten Auffassung von Kultur nicht außer Acht gelassen werden. Das Verständnis von Kultur als Nation und die vermeintliche kulturelle Überlegenheit der eigenen Kultur bzw. Nation über andere, „primitivere“ Kulturen bildete die Legitimationsgrundlage für die Kolonisierung vieler Länder und Völker der Welt (Lüddemann 2019: 51). Auch das in aktuellen politischen Debatten umstrittene Konzept der Nationalkultur gründet seine Ideen auf dem totalitätsorientierten Verständnis von Kultur (Hall 1994: 202; Lutter 2014: 164), welches jedoch „spätestens nach dem Bewusstwerden der Existenz einer globalisierten Welt als unzeitmäßig entlarvt werden müsste“ (Goebel 2015: 137).
Mitte des 20. Jahrhunderts wurde ein differenzierungstheoretischer Kulturbegriff vertreten, der die Herrschaftsansprüche des normativen Kulturbegriffs erneut aufgreift und die Ausweitung des Kulturbegriffs im holistischen, totalitätsorientierten Verständnis wieder einschränkt.
„Der Kulturbegriff lässt den Bezug auf ganze Lebensweisen hinter sich und bezieht sich nunmehr auf das enge Feld der Kunst, der Bildung, der Wissenschaft und sonstiger intellektueller Aktivitäten: auf ein sozial ausdifferenziertes Teilsystem der modernen Gesellschaft, das sich auf intellektuelle und ästhetische Weltdeutungen spezialisiert.“ (Klein 2018: 894-895)
So entsteht die Aufteilung in eine ästhetisch-emanzipatorische Hochkultur, in der die „Produktion, Verteilung und Verwaltung von Weltdeutungen intellektueller, künstlerischer, ästhetischer, religiöser Art in institutionalisierter Form stattfindet“ (Reckwitz 2006, zitiert in Klein 2018: 894), und eine standardisierte Massenkultur mit als nicht kultiviert eingestuften Alltagspraxen. Klein (2018: 895) konstatiert, dass diese Begriffsdefinition in nahezu alle Gesellschaftsanalysen dieser Zeit einfließt und auch heute noch Auswirkung auf Wissenschaft und Lehre zeigt.
In den 60er und 70er Jahren kommt es dann zu einer Reflexion und Redefinition des Kulturbegriffs, welche den Beginn des Cultural Turns kennzeichnen (Bach- mann-Medick 2016: 9). In dieser theoretisch-methodischen Neuorientierungsphase entgrenzt sich das Feld der Kulturtheorien zunehmend, und Begrifflichkei- ten, Kategorien und Konzepte werden in das Vokabular anderer Disziplinen überführt (Bachmann-Medick 2016: 7; Goebel 2015: 146). Der Cultural Turn setzt sich dabei aus verschiedenen Turns zusammen, welche transdisziplinär wirken und von der rein beschreibenden Natur der bisherigen Begrifflichkeiten zu einer operativen Anwendung dieser übergehen (Bachmann-Medick 2016: 16).
An dieser Stelle soll nur beispielhaft der Postcolonial Turn skizziert werden. Reflexiv wird hier eine politische Dimension von Kultur eingeführt und die eurozent- ristische Haltung und der universalisierende Herrschaftsdiskurs über die „Anderen“, nichtwestlichen Kulturen kritisiert (Klein 2018: 897). Die eurozentrische Konstruktion von Identität vollzieht sich bisher durch die Abgrenzung zu den ehemals kolonialisierten Ethnien anhand polarisierender, binärer Kategorien wie beispielsweise Hautfarbe, Geschlecht oder Sexualität. Im postkolonialen Diskurs wechselt der Fokus jedoch auf die Dezentrierung, Entortung und Diskontinuität von kultureller Identitätsarbeit als ein in Bewegung und Aushandlung stehender Prozess, welcher in einem zwischenräumlichen Ort der Differenz, Überlagerung und Vernetzung entsteht. Durch diesen kulturellen Raum, dem „beyond“, werden normative Identitätsschubladen aufgelöst, Veränderungsspielräume geschaffen und kulturelle Hybridität als Gegenkonzept zu einer geforderten Herrschaftsoder Leitkultur etabliert (Bhabha 2004: 5-6; Bachmann-Medick 2016: 142).
„Der Cultural Turn in der Sozialtheorie und Sozialphilosophie, aber auch in den empirischen Disziplinen der Soziologie, Geschichtswissenschaft und Ethnologie hat die Grundannahme befördert, dass in den sozialen Praktiken symbolische Ordnungen zum Einsatz kommen, die die soziale Wirklichkeit kognitiv organisieren. Der Cultural Turn betreibt eine konsequente Herme- neutisierung und Historisierung sozialer Phänomene.“ (Reckwitz 2008: 52)
2.3 Kultur als Bedeutungskomplex
Die entstandene „Totalperspektive Kultur“ ermöglicht neue Sichtweisen und Ansatzpunkte zur Entwicklung des bedeutungsorientierten Kulturbegriffs, der den Kontingenzgedanken menschlicher Lebensformen weiter aufgreift und radikalisiert (Reckwitz 2008: 16, 27).
Diese vierte Begriffsbestimmung von Kultur überwindet die starke Grenzziehung des differenzierungstheoretischen Kulturbegriffs und definiert nun auch Alltagspraxen und die tägliche Lebensführung als ästhetischen Prozess jeder*s Einzelnen (Klein 2018: 894-895). Lüdemann (2019: 57-58) definiert Kultur dabei als ein komplexes Zusammenspiel aus Wissen und Erfahrung, Anschauung und Verstehen. Unter diesem bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriff wird Kultur erneut als ganzheitlich betrachtet und dabei das Augenmerk auf deren durch Symbolisierung, Diskursivität und Repräsentation geprägte Sinnkonstitution gerichtet (Bachmann-Medick 2016: 7).
So wird Kultur als symbolische Ordnung begriffen, die der Mensch in Aneignung sowie aktiver Gestaltung in der Interaktion mit Anderen konstruiert und für sein Handeln nutzen kann (Reckwitz 2006, zitiert in Klein 2018: 895). Als „Werkzeug“ zur Sinnkonstitution und Interpretation der Umwelt fungiert Kultur dabei als Mittel der Lebensbewältigung, um zentrale Fragen zu bearbeiten und in (gelingenden) Kontakt mit anderen zu treten (Lüddemann 2019: 7; 5; Basáñez 2016: 14-15).
Kultur ist demnach ein internalisiertes Gefüge aus Bedeutungskomplexen und besitzt mit „einem Themenvorrat sein Archiv, mit Präsentationsweisen seine mediale Oberfläche und mit fortlaufender Umbauaktivität seine prozessualen Fertigkeiten“ (Lüddemann 2019: 5).
Kultur bedarf dabei konkreter Ausformung, um ihre mentale, theoretische Ebene erfahrbar und erlernbar zu machen (Lüddemann 2019: 59). Lüddemann (2019: 61) schlägt in diesem Sinne vier Elemente bzw. Ausformungen von Kultur vor. Objekte sind dabei kulturell relevante Dinge, wie beispielsweise Denkmäler, Reliquien oder auch Fanartikel, die als Bedeutungsträger fungieren können. Sie vermitteln einen spezifischen Sinn, transportieren Erinnerungen und Geschichte (Lüddemann 2019: 61-62). Orte können diese Objekte beinhalten, wichtig für die Ausführung von sozialen Praktiken sein oder selbst Bedeutung tragen. Auch Orte tragen Erinnerungen und sind mit einer bestimmten Bedeutungszuweisung verbunden (Lüddemann 2019: 62). Diskurse besitzen im Gegensatz zu Objekten und Orten einen Ausführungscharakter. Als verbalisierte Kommunikation reichen sie bis in den Bereich abstrakter Vorstellung und fungieren als Mittel der Kritik und Reflexivität innerhalb der Kultur (Lüddemann 2019: 63-64). „Diskurse kommentieren Praktiken, beschreiben Orte und interpretieren Objekte. [...] In Diskursen artikuliert sich vor allem, was Kultur auszeichnet: Bedeutung“ (Lüddemann 2019: 63).
Als letztes Element von Kultur sind die sozialen Praktiken zu nennen. Hörning (2011: 139) konstatiert, dass „Sinn- und Bedeutungssysteme [.] nicht unabhängig von einem Geflecht von Praktiken [existieren], die sie in Gang halten, reproduzieren und sie dabei auch transformieren.“ Praktiken können dabei sowohl gefestigt und formalisiert wie auch spontan und informell gestaltet werden, sich auf Orte beziehen und Objekte involvieren. Praktiken entwickeln dabei eine mobilisierende Kraft in der Interaktion und machen Kultur erlebbar und erlernbar (Lüddemann 2019: 62-63). Lüddemann (2019: VIII) fasst zusammen: „Die Bedeutungen, die eine Kultur ausmachen, sind nicht in fernen Speichern abgelegt, sie gewinnen Sichtbarkeit in praktischen Vollzügen. Diese Vollzüge aktualisieren die Bedeutungen und formen sie zugleich um.“
In diesem Zuge weist Hörning (2011: 145) auf den Prozesscharakter von Kultur hin. Soziale Praktiken basieren immer auf Vorhandenem, bekannten Möglichkeiten und Repertoires von bedeutungsvollen Vollzügen, setzen aber gleichzeitig auch Veränderungen in Gang. Indem Subjekte Praktiken ausführen, Orte prägen, Objekte auswählen und verwenden, Diskurse eingehen und kommentieren und dabei Differenz- und Kontingenzerfahrungen machen, kommen sie in Berührung mit Bedeutungskomplexen von Kultur, eignen sich diese an, interpretieren sie neu und wirken somit gleichzeitig als Fortsetzungs- und Veränderungsorgan von Kultur: produzierend und transformierend (Lüddemann 2019: 67). Kultur kann demnach auch als offener, instabiler Prozess bezeichnet werden, indem die Bedeutungskomplexe und Sinnhaftigkeiten der Elemente von Kultur durch die Vergangenheit konstruiert, in der Gegenwart angeeignet und interpretiert werden und offen in die Zukunft gewandt sind (Lüddemann 2019: 81; Schmidt- Lauber 2013: 180-184).
Hörning (2011: 141) sieht in diesem konstruktivistischen, bedeutungsorientierten Verständnis von Kultur vor allem Vorteile für ein gelingendes Zusammenleben in modernen Gesellschaften. Statt den Fokus auf Abgrenzung und Unterschiedlichkeiten zu legen, stellt der bedeutungsorientierte Kulturbegriff Fragen nach den Prozessen, den Verwicklungen, den Reinterpretationen und den Übergängen von Kultur. Das Verständnis ermöglicht dabei einen besseren Umgang mit Kontingenz, die innerhalb des sozialen und kulturellen Alltagslebens auftaucht.
Zusammenfassend kann für ein bedeutungsorientiertes Kulturverständnis in der Kinder- und Jugendhilfe festgehalten werden:
- Kultur wird ganzheitlich betrachtet und umfasst die Alltagspraxen und die tägliche Lebensführung als ästhetischen Prozess jeder*s Einzelnen.
- Kultur wird als symbolische Ordnung begriffen, bestehend aus internen Bedeutungskomplexen.
- Der Mensch eignet sich (neue) Bedeutungskomplexe in der Interaktion mit Anderen an.
- Kultur dient dabei als „Werkzeug“ zur Interpretation der Umwelt und fungiert deshalb als Mittel zur Lebensbewältigung.
- Kultur bedarf konkreter Ausformung, um sie erfahrbar und erlernbar zu machen (bspw. Objekte, Orte, Diskurse, Praktiken).
- Kultur entwickelt sich stets weiter und kann als Prozess betrachtet werden.
Weshalb dieses Verständnis von Kultur für die Kinder- und Jugendhilfe gewinnbringend erscheint, lässt sich durch die Betrachtung von Kulturkontakten spezifizieren.
2.4 Wie begegnen sich Kulturen? - Transkulturalität als Beschreibung veränderter Realitäten
Die gestellten Fragen nach den Prozessen, den Verwicklungen, den Reinterpre- tationen und den Übergängen von Kultur führten zur Reflexion und Diskussion über „das Zusammenleben“ und die „Begegnung“ von Kulturen. Statt Differenzen zu reproduzieren, sollte hier der Fokus auf die Verflechtungen und Überschneidungen von Kulturen gelegt werden (Abu-Lughod 1991: 141-146).
Reckwitz (2008: 34) führt an, dass spätestens seit dem Zeitalter der Postmoderne und unter den Bedingungen der Globalisierung eine unübersehbare kulturelle Pluralität zum Normalfall geworden ist. Welsch (1997: 68) ergänzt, dass vor diesem Hintergrund soziale Homogenisierung, ethnische Fundierung, eine vereinheitlichende Kultur eines Volkes und interkulturelle Abgrenzung keine zeitgemäßen Konzepte mehr sind. So weisen moderne Gesellschaften eine hohe innere Komplexität und eine Vielzahl an unterschiedlichen Lebensweisen- und formen auf. Gesellschaften sind dabei vertikal innerhalb der Milieus und auch horizontal bspw. anhand des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung hochgradig differenziert (Welsch 1997: 68).
Durch diese Erkenntnis entwickelte Welsch bereits Ende der 90er das Konzept der Transkulturalität um zu erklären, wie sich Kulturen zueinander verhalten und welche Dynamiken entstehen. Das Konzept der Transkulturalität orientiert sich dabei an einem konstruktivistischen Kulturverständnis und versteht Kulturen als vernetzt und hochdynamisch sowie hybride und heterogen. Der Fokus wird dabei auf die Durchlässigkeit und das Überschreiten konstruierter kultureller Grenzen gesetzt (Mayer und Vanderheiden 2014: 31).
Im Folgenden soll Transkulturalität in Abgrenzung zu den seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch diskutierten Konzepten der Inter- und Multikulturalität erklärt werden und dabei auf die von Welsch thematisierten Ebenen der Gesellschaft sowie des Individuums eingegangen werden (Welsch 1997: 72; Mayer und Vanderhei- den 2014: 30).
Welsch entwickelt sein Konzept der Transkulturalität als Kritik und Weiterentwicklung der Konzepte der Inter- und Multikulturalität (Sandbothe 2011: 124). Multikulturalität bezieht sich auf die sozialen Strukturen einer Gesellschaft und konstatiert eine Koexistenz unterschiedlicher Kulturen innerhalb dieser. Unter Interkulturalität versteht man dabei das Aufeinandertreffen zweier abgegrenzter, unterschiedlicher Kulturen, wobei der Fokus auf das Erlernen der Unterschiede und das Verstehen der Andersartigkeit gesetzt wird. Beide Konzepte bedienen sich dabei aus normativen und differenztheoretischen Kulturverständnissen und vertreten einen starken Homogenisierungsgedanken (Mayer und Vanderheiden 2014: 30; Welsch 1997: 69).
Welsch (1997: 71) führt an, dass bei dieser inselartigen, kugelartigen Vorstellung von Kulturen, Probleme der Koexistenz, Kooperation und Verständigung nicht gelöst werden können. Die Beschreibung von Kulturen in diesem Sinne ist außerdem deskriptiv falsch und normativ irreführend. Moderne Kulturen zeigen sich nicht mehr als separiert und homogen, vielmehr kann von einer neuartigen, transkulturellen Form ausgegangen werden, welche durch Vermischungen und Durchdringungen gekennzeichnet ist (Welsch 1997: 71).
Auf der Ebene der Gesellschaft kann eine Pluralität an Lebensformen und Kulturen festgestellt werden, die einander durchdringen und auseinander hervorgehen können (Welsch 1997: 71). Mayer und Vanderheiden (2014: 32) stellen fest: „Die ehemals relevante Unterscheidung zwischen »Eigenem« und »Fremdem« ist oft nicht oder kaum mehr möglich.“ Lebensauffassungen und Lebensentwürfe erscheinen globalisiert, indem sie soziale und geografische Grenzen überschreiten (Kaschuba 2011: 135). Moderne Kulturen sind nach Welsch demnach durch eine hohe Hybridisierung gekennzeichnet. „Fremd“ und „Eigen“ wird dabei vermischt und Kulturen vernetzen sich und gehen ineinander über (Welsch 1997: 72).
Daraus ergibt sich, dass Individuen in modernen Gesellschaften durch verschiedene kulturelle Herkünfte und Verbindungen geprägt sind. Kulturelle Identität kann dabei nicht mehr mit nationaler Identität gleichgesetzt werden (Welsch 1997: 73). Vielmehr ergibt sich für das Individuum eine Reihe von möglichen Identitäten, welche in kritischer Selbstreflexion und produktivem Neuentwurf der eigenen kulturellen Bedeutungskonzepte entstehen (Lüddemann 2019: 89). Inwiefern dies auch als Herausforderung für Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe gesehen werden kann, wird in Kapitel 3.3 diskutiert werden.
Lüddemann (2019: 66) weist dennoch auf die Vorteile einer solchen Auffassung von Kulturkontakten hin: „Das [.] [Konzept der Transkulturalität] erlaubt es [.], Identitäten mit wechselnden Gewichtsverlagerungen auszubilden oder gleich mehrere, unterschiedliche Identitätsentwürfe in einem Bedeutungshorizont miteinander zu verbinden. Schließlich eröffnen die Positionen des Formats auch die Möglichkeit, sehr unterschiedliche soziale Rollen, kulturelle Praktiken und subjektive Haltungen so miteinander zu konzertieren, das Austausch und Kontakt zustande kommen, weil sie einfach lohnender erscheinen als die konfrontative Abschließung.“
Das Konzept der Transkulturalität bezieht sich demnach auf ein inklusives, nicht separatistisches Kulturverständnis, welches auf Prozess und Übergangsfähigkeit fokussiert ist. So entstehen im Kulturkontakt nicht nur Differenzen sondern auch Anschlussmöglichkeiten und Gemeinsamkeiten in den Bedeutungskomplexen (Welsch 1997: 75). Dabei geht es vor allem um eine gelingende Beziehung und Interaktion auch vor dem Hintergrund möglicher Differenzen. So sollen diese nicht „blind“ übergangen werden, sondern als Anlass der Weiterentwicklung und Herausforderung gesehen werden, eigene Bedeutungskonstrukte innovativ zu verändern (Lüddemann 2019: 89). Sein System an Bedeutungskomplexen bildet, dekonstruiert und erweitert der Mensch in der Beziehung und Interaktion, das heißt im Kulturkontakt mit anderen.
„Culture is a context phenomenon, a shared system of meanings. [.] The first term 'shared' reveals culture as the product of human action and social interaction [.]. ‘System' implies that culture is not a static and incoherent sum of unrelated parts; it is not just a list of values. On the contrary, it is an integrated, interconnected whole, whose parts are in constant exchange. [.] Therefore the phrase shared system emphasizes that the locus of culture is not the individual, but the interaction between individuals. Culture occurs outside the individual's mind and then becomes internalized.“ (Basáñez 2016: 14-15)
In Kulturkontakten findet nach Kaschuba (2011: 128-129) immer eine Suche nach Bedeutung und Verstehen statt, um jeweilige Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen anzupassen und in eine gelingende Beziehung miteinander zu treten. Voraussetzung hierfür ist die passende Interpretation der in der Beziehung enthaltenen Bedeutungskomplexe (Bhabha 2004: 53). Ähnliche oder gleiche Teile der „Landkarte an Bedeutungen“ ermöglichen es Individuen, die Sinnkonstitution von Objekten, Orten, Diskursen und Praktiken ähnlich oder gleich zu verstehen und gemeinsam darüber in den Austausch zu kommen (Eppenstein und Kiesel 2008: 109; Abels 2007: 22).
Anschlussfähig an ein bedeutungsorientiertes Kulturverständnis wird das Individuum in einem transkulturellen Verständnis von Kulturkontakten als diskursfähig, reflexiv und mündig gesehen (Welsch 1997: 77; Eppenstein und Kiesel 2008: 74). Diese ressourcenorientierte und empowernde Sichtweise auf Adressat*in- nen als Gestalter*innen und Produzent*innen im eigenen Leben findet sich auch in Theorien der Sozialen Arbeit, wie beispielsweise der für die Kinder- und Jugendhilfe richtungsweisende Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch (Ep- penstein und Kiesel 2008: 93; Thiersch 2014).
Eppenstein und Kiesel (2008: 84) sehen demnach in einem bedeutungsorientierten Kulturverständnis in Verbindung mit dem Konzept der Transkulturalität einen großen Mehrwert für die Praxis der Hilfen zur Erziehung. In der Reflexion der möglichen „Nebenwirkungen“ unterschiedlicher Kulturverständnisse zeigt sich, dass ein normativer sowie totalitätsorientierter Kulturbegriff zu einem „Kampf der Kulturen“ und der (gewaltsamen) Verteidigung der jeweiligen abgegrenzten kulturellen Identität gegenüber Fremden führt (Huntington 2002). Wird Kultur im Kontext differenztheoretischer Überlegungen verortet, zeigen sich starke Distinktionsinteressen, welche sich in Exklusion und Entmündigung der Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe manifestieren. Im Gegensatz dazu eröffnet eine bedeutungsorientierte Sichtweise auf Kultur als Prozess und sinngebende menschliche Tätigkeit Möglichkeitsräume, welche Individuen inklusiv in die Gestaltungsprozesse von Kultur einbeziehen (Eppenstein und Kiesel 2008: 84).
Welsch (1997: 75) konstatiert, dass Kulturbegriffe dabei „Wirkfaktoren bezüglich ihres Gegenstandes“ sind und als operative Begriffe Einfluss auf sich selbst haben. Dies bedeutet, dass sich Individuen entsprechend ihrer Auffassung von Kultur verhalten und somit die implizierten Überzeugungen reproduzieren. Umso wichtiger erscheint es für die Kinder- und Jugendhilfe ein geeignetes Kulturverständnis zu definieren, um im Kontakt mit Adressat*innen gelingende Interaktion zu gestalten (Goebel 2015: 154).
Die Globalisierung und die damit in Zusammenhang stehenden Veränderungen der Gesellschaft haben aber nicht nur Auswirkungen auf die Diskurse in der Kinder- und Jugendhilfe, sondern zeigen sich auch ganz konkret als neue Anforderungen in der Praxis. Zum einen ergeben sich neue Herausforderungen für die Adressat*innen, weshalb hier die Forderung nach einer passenden Praxis der Erziehungshilfen laut wird, um Adressat*innen zu befähigen mit den vielfältigen Problemlagen umzugehen. Zum anderen stellt sich die Frage, wie diese Praxis gestaltet werden kann, um einen sensiblen Umgang mit den aufkommenden Themen zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund soll zunächst geklärt werden mit welchen Adressat*innen in den Hilfen zur Erziehung zusammengearbeitet wird.
3 Familien unterschiedlicher Kulturen als Adressatinnen der Hilfen zur Erziehung
Für die rechtlichen Rahmenbedingungen der Kinder- und Jugendhilfe ist das seit 1991 geltende Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG, SGB VIII) zuständig (Bernzen und Bruder 2018: 133). Das SGB VIII ist ein Bundesgesetz und wird auf kommunaler Ebene umgesetzt. So liegt die Verantwortung für die Leistung bei den Trägern auf kommunaler Ebene, wobei Bund und Länder zuständig für Gesetzgebung und Förderung sind. Die Verwaltung findet dabei auf kommunaler wie auf Landesebene statt (Böllert 2018: 6). Nach dem Subsidiaritätsprinzip werden die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe vorrangig von freien Trägern erbracht (Krüger und Zimmermann 2009: 127).
Auf der rechtlichen Grundlage des SGB VIII (§ 1, § 2, § 7) ist die Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder, Jugendlichen, jungen Volljährigen und jungen Menschen im Alter von 0 bis 27 Jahren und deren Familien zuständig. Anspruchsinhaber, Anspruchsvoraussetzungen und Anspruchsinhalt der Hilfen zur Erziehung werden in § 27 Abs. 1 SGB VIII grundlegend bestimmt (Bernzen und Bruder 2018: 143). Personensorgeberechtigte haben demnach einen Anspruch auf Hilfen zur Erziehung, wenn eine Erziehung zum Wohl des Kindes ohne Hilfe nicht gewährleistet werden kann (Tabel 2020: 170). Bitzan und Bolay (2018: 45) stellen fest, dass Familien zu Adressatinnen der Kinder- und Jugendhilfe werden, „[...] wenn in allgemeiner Form oder individuell ein Hilfe-, Erziehungs- oder Bildungsbedarf konstatiert wird [...].“ Es zeigen sich also einzelfallspezifische oder allgemeine Defizite oder Problemlagen im Leben oder in der Entwicklung junger Menschen, die nur unter Inanspruchnahme der Angebote und Unterstützungsleistungen der Hilfen zur Erziehung bewältigt werden können (Bitzan und Bolay 2018: 45). Nach Bernzen und Bruder (2018: 143) muss die Hilfe dabei, geeignet wie auch notwendig sein, was es durch ein Hilfeplanverfahren zu prüfen gilt. In dieser Arbeit wird dabei vor allem auf ambulante Hilfeangebote Bezug genommen, wobei nach dem Gesetz die Erziehungsberatung, die soziale Gruppenarbeit, der Erziehungsbeistand und Betreuungshelfer und die sozialpädagogische Familienhilfe dazu gehören. „Diese ambulanten Hilfeformen verfolgen das Ziel, die Autonomie der Familien zu wahren und dennoch mögliche Gefährdungen des Aufwachsens der Kinder abzuwenden und eine fördernde Unterstützung zu ermöglichen“ (Köngeter 2013: 186). Dabei ist die Familie nach wie vor die einflussreichste Institution für das Aufwachsen junger Menschen. Sie ist ab der frühen Kindheit und über das gesamte Kindheits- und Jugendalter von zentraler Bedeutung als primärer Bildungsort und für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen (Böllert 2018: 26; Jähnert und Reisenauer 2020: 16).
Im Folgenden soll nun zunächst der Wandel des Familienbegriffs in der Postmoderne beleuchtet und ein Eindruck vermittelt werden, welche Familien die Unterstützung der Hilfen zur Erziehung in Anspruch nehmen. Anschließend werden die Herausforderungen für Familien in der Postmoderne skizziert, wobei ein spezieller Fokus auf „kulturell andere“ Familien und die Bezeichnungspraxis „Migrationshintergrund“ gelegt werden soll.
3.1 Familienbilder im Wandel
Bis ins späte 20. Jahrhundert existierte in Deutschland die Vorstellung der modernen bürgerlichen Kleinfamilie als „Normalfamilie“. Diese bestand im gemeinsamen Haushalt aus zwei Elternteilen - Mutter und Vater - und mindestens einem gemeinsamen Kind. Erst Mitte der 60er Jahre, unter anderem durch die Entwicklung der Antibaby-Pille und einer veränderten Einstellung zur Rolle der Frau, lockerten sich diese Strukturen und die konservative Vorstellung von Familie veränderte sich daraufhin in den letzten 40 Jahren grundlegend (Peuckert 2012: 16-17).
Anstelle der klassischen Mutter-Vater-Kind-Familie kann vielmehr eine Entwicklung zur Pluralisierung familialer Lebensformen konstatiert werden (Schwam- born und Hahnen 2018: 449; Böllert und Otto 2012: 25). Gründe hierfür sind unter anderem im sozialen Wandel der Gesellschaft zu finden. Als Indikatoren dieses Wandels lassen sich nach Schwamborn und Hahnen (2018: 449) vor allem ein Anstieg der Scheidungsraten und ein Rückgang der Eheschließungen festhalten. So sinkt laut Statistischem Bundesamt (2021: 51-52) die Anzahl der klassischen Kleinfamilien, wohingegen die Zahl Alleinerziehender und alternativer familialer Lebensformen stetig steigt.
Das konservative Verständnis von Familie befindet sich demnach im Umbruch, die Grenzen und klassischen Rahmenbedingungen von Familie verschwinden und ein neuer moderner, offenerer Familienbegriff muss definiert werden. Unter dem Stichwort „ doing family“ wird deshalb dem Familienbegriff seit dem 7. Familienbericht eine neue Dimension gegeben (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006: 128). Demnach kann Familie als alltäglich hergestellte Leistung ihrer Mitglieder betrachtet werden, welche sich über Prozesse und Aushandlungen tagtäglich neu konstituiert. Der Fokus wird hierbei auf die Tätigkeit und den Arbeitscharakter von Familie gelegt (Schier 2009: 56-57). So wird nach Schier und Jurczyk (2007: 10) Familie - genauer die konkreten Praktiken und Gestaltungsleistungen der Familienmitglieder - als Herstellungsprozess gesehen, um Familie im Alltag lebbar zu machen.
Schwamborn und Hahnen (2018: 441) stellen fest: „Diese Sichtweise impliziert eine Auffassung von Familie als aktiv hergestelltes Netzwerk, als ein gemeinschaftliches Ganzes, welches im Alltag immer wieder neu ausgehandelt werden muss.“ Dieses Netzwerk muss dabei weder auf einen Haushalt noch auf zwei Generationen beschränkt sein. Vielmehr kann Familie im Sinne von „ doing fa- mily “ als ein Netzwerk „emotionsbasierter, persönlicher Austauschbeziehungen“ (Schier und Jurczyk 2007: 11) gesehen werden. Auf Grundlage dieser Ausführungen sind für den Begriff der Familie in der Kinder- und Jugendhilfe mehrere Erkenntnisse festzuhalten:
- Es gibt nicht „die“ Familie als Normalfamilie
- Familien können in vielfältigen Lebensformen existieren
- Familien befinden sich als Netzwerk in tagtäglichen Aushandlungs- und Gestaltungsprozessen
Innerhalb dieser breit gefächerten Auffassung von Familie, lässt sich aber dennoch ein spezifischeres Bild der Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe zeichnen. So nehmen vor allem junge Menschen aus Schichten, die durch Arbeitslosigkeit und Armut in den Familien gekennzeichnet sind, die Erziehungshilfen in Anspruch (Bollweg 2018: 1163). Über die Hälfte der 2018 in den ambulanten Hilfen angebundenen Familien beziehen dabei Transferleistungen (Fendrich, Pothmann und Tabel 2021b). Auch eine geringe Schulbildung kann bei den Adressat*innen festgestellt werden (Bollweg 2018: 1163). Im Jahr 2018 werden 41 % aller Familien als „mit Migrationshintergrund“ statistisch erfasst, wobei 24 % aller Familien die deutsche Sprache zuhause nicht sprechen (Fendrich, Pothmann und Tabel 2021a).
Auch die vorwiegende Familienstruktur lässt sich bestimmen. „[So liegt die] [.] Inanspruchnahme [der Hilfen] bei Familien, in denen nur ein Elternteil lebt, [.] etwa fünfmal höher als die Inanspruchnahme bei Familien, in denen beide Elternteile zusammenleben“ (Richert 2018: 833).
Obwohl diese Feststellungen natürlich nicht auf alle Familien in der Kinder- und Jugendhilfe zutreffen, können sie jedoch repräsentativ genommen werden, um die weitere Analyse zu unterstützen.
3.2 Anforderungen an Familien in der Postmoderne
Die Familien in der Kinder- und Jugendhilfe sehen sich dabei multiplen Anforderungen und Erwartungshaltungen gegenübergestellt. Böhnisch, Lenz und Schröer (2009: 9-10) stellen fest: „Die Zweite Moderne fällt durch Entgrenzungen auf, die sie hervorbringt. Etablierte Strukturen lösen sich auf oder vermischen sich mit neuen, Grenzen verschwimmen, neue tun sich auf. [.] [So] ist das Sozialisationsregime der Zweiten Moderne durch Entgrenzungen und die Chance und den Zwang zur Selbstorganisation charakterisiert.“
Die fragmentarischen, vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen Gegebenheiten stellen zunehmende Erwartungen an die Leistungsfähigkeit jeder*s Einzelnen und an die Gestaltungsleistung des Familiensystems (Abeld 2017: 151; Faas, Landhäußer und Treptow 2017: 26-27).
Bezogen auf das Wirtschaftssystem stellen die gestiegenen Anforderungen des Arbeitsmarktes und die Beschleunigung der Digitalisierung eine Belastung für Familien dar (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2002: 153-154; Oelkers 2009: 77). „[.] [Die] Nachfrage nach flexiblen, hochmobilen anpassungsfähigen und fortbildungshungrigen ArbeitnehmerInnen [.] [ steigt und erhöht den] Druck auf familiale Arrangements [.]“ (Oelkers 2009: 77). Nach dem Motto „change or die“ werden Familien im Rahmen einer dynamisierten Wirtschaftsproduktion zur permanenten Selbstoptimierung und „Hyperflexibilität“ angehalten (Faas, Landhäußer und Treptow 2017: 24; Abeld 2017: 154).
Dabei müssen alle Familienmitglieder komplexe Raum-Zeit-Pfade bewerkstelligen und im Zuge sogenannter Multilokalität aufgrund der geforderten Mobilität für Ausbildung, Beruf oder aufgrund von getrennten Familienkonstelationen ein hohes Maß an Organisationstalent beweisen. Darüber hinaus müssen Familien mit immer mehr und komplexeren Bezugsumwelten kooperieren und umgehen können. Dies betrifft beispielsweise die sozialen und institutionellen Umwelten von Familien im Bereich Konsum und Lebensführung (Faas, Landhäußer und Treptow 2017: 25).
Obwohl die Pluralität der familialen Lebensformen und die Entgrenzung der Ge- schlechterrollen in der Gesellschaft überwiegend akzeptiert wird, bemerkt Oel- kers (2009: 81), dass die Bewältigung der Folgen den Familien meist selbst überlassen wird. Gahleitner (2020: 15) konstatiert: „Während in der Vergangenheit stark vorgegebene Sozialisationsverläufe üblich waren, sind lineare Lebensverläufe - im Zuge kultureller Freisetzungsprozesse aus traditionellen Lebensformen - heute selten geworden.“
„Aufgrund von Individualisierung und Pluralisierung wird die einzelne Biografie von den Entscheidungen und Handlungen des Individuums abhängig. Die Normalbiografie wird zu einer Wahlbiografie. Dabei geht es nicht nur um Entscheidungsfreiheit, sondern auch um Entscheidungsnotwendigkeit.“ (Hein 2006: 63)
Familien sehen sich deshalb auch innerhalb des Systems mit vielfältigen und widersprüchlichen Bedeutungs- und Handlungsstrukturen konfrontiert. Die Familienmitglieder müssen lernen, mit verschiedenen Deutungsmustern und Handlungsanforderungen umzugehen und die unterschiedlichen Orientierungsangebote zu einer Gesamtfigur zu artikulieren, um Kohärenz für ein gelingendes Miteinander herzustellen (Hein 2006: 62; Abeld 2017: 151). Neben einer Zunahme an Wahlmöglichkeiten als Chance der Entgrenzungsprozesse, kommt es auch zu einer Zunahme an Verhaltensunsicherheiten, in denen sich Familie im Sinne von „ doing family “ täglich neu verorten muss (Peuckert 2012: 26).
Böhnisch, Lenz und Schröer (2009: 18) führen an, dass in diesem Wechselspiel von Chancen und Risiken vor allem die Verfügungsmacht über personale, soziale und sozio-ökonomische Ressourcen zentraler Bezugspunkt für eine gelin- genden Herstellung von Familie ist. Familien in der Kinder- und Jugendhilfe haben dabei oft mit einer prekären Ausstattung dieser Ressourcen zu kämpfen. Die Autoren sehen hierin ein gesellschaftliches Dilemma, das sich in der Postmoderne noch verstärkt hat. „Die moderne Gesellschaft stellt die Chance zur Individualität bereit, ohne freilich eine institutionell wirksame, sozial verlässliche Garantie für den Erfolg der biografischen Projekte zu übernehmen“ (Böhnisch, Lenz und Schröer 2009: 18). Etwas umgangssprachlich kann zusammengefasst werden: „Ich muss schauen, dass ich sozial handlungsfähig, im psychosozialen Gleichgewicht bleibe und auf dem, was ich durchlebt habe, immer wieder einigermaßen aufbauen kann“ (Böhnisch, Lenz und Schröer 2009: 18).
Die ausgeführten Anforderungen werden dabei an jede Form der Familie gestellt. Bei vielen Konstellationen allerdings, wie zum Beispiel bei Familien mit alleinerziehenden Elternteilen, kommen gemäß dem aktuellen Kinder- und Jugendhilfereport (2021: 7,11) zusätzliche, aus den Lebenszusammenhängen resultierende Belastungen und Herausforderungen hinzu. Auch Rauschenbach, Pothmann und Wilk (2009: 9) stellen fest, dass vor allem alleinerziehende Mütter mit strukturellen Anforderungen wie Armut, Arbeitslosigkeit und fehlende soziale Unterstützung im Alltag mit ihren Kindern zu kämpfen haben.
3.3 „Kulturell andere“ Familien - Diskurs über die Kategorie „Migrationshintergrund“
Im Zuge von Globalisierungsprozessen kann auch eine Zunahme kultureller Vielfalt bei Familien als Adressatinnen der Hilfen zur Erziehung konstatiert werden. Oft wird dabei auf Herausforderungen in der Arbeit mit „kulturell anderen“ Familien verwiesen, wobei darunter eine Arbeit mit Menschen verstanden wird, die einen anderen kulturellen Hintergrund haben als die Professionellen selbst (Hegemann und Oestereich 2009: 7). Oft und fast wie selbstverständlich wird die vermeintliche oder tatsächliche kulturelle Andersartigkeit auf die Kategorie „Migrationshintergrund“ zurückgeführt (Eppenstein 2010: 96-97).
Wer in Deutschland dabei als „mit Migrationshintergrund“ bezeichnet wird, ist jedoch nicht einheitlich definiert (Hegemann und Oestereich 2009: 21). Stosic (2017: 88-89) stellt fest, dass weder im wissenschaftlichen Kontext, noch im Bereich der amtlichen Statistiken und Bildungsberichterstattungen eine einheitliche Definition der Kategorie „Migrationshintergrund“ vorliegt. Der Begriff taucht zum ersten Mal 1998 im 10. Kinder- und Jugendbericht auf und wird dort ohne nähere Erklärung als neue Differenzkategorie eingeführt (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1998). Der „Migrationshintergrund“ wird lediglich aus dem Aufwachsen der Eltern in „anderen kulturellen Zusammenhängen“ als in „traditionell deutschen“ abgleitet und so unter Verwendung eines normativen, totalitätsorientierten Kulturbegriffs für eine scheinbar homogene, deutsche Einheitskultur ein Gegenüber konstruiert (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1998: 11).
In verschiedenen Berichterstattungen und Veröffentlichungen wird „Migrationshintergrund“ an Kombinationen aus diversen Merkmalen wie bspw. Staatsangehörigkeit, Geburtsland und auch Sprachgebrauch innerhalb der Familie festgemacht (StosiC 2017: 88-89), wobei die Staatsangehörigkeit als bedeutendster Ausdruck von (vermeintlicher) Migrationserfahrung gilt (do Mar Castro Varela und Mecheril 2010: 39). In aktuellen Statistiken des Statistischen Bundesamts und auch im Kinder- und Jugendmigrationsreport 2020 des Deutschen Jugendinstituts werden Bewohner*innen Deutschlands als Personen mit Migrationshintergrund klassifiziert, „wenn diese selbst oder ein Elternteil nicht seit Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen“ (Lochner 2020: 7). Laut dem Statistischen Bundesamt lebten nach dieser Definition im Jahr 2019 fast 7,3 Millionen unter 25-Jährige „mit Migrationshintergrund“ in Deutschland wobei nur 1,9 Millionen eine eigene Migrationserfahrung gemacht haben (Statistisches Bundesamt 2020).
Die Zuschreibung „Migrationshintergrund“ wird deshalb einerseits für ihren uneinheitlichen Gebrauch, aber auch für ihre mangelnde Erklärungskraft angesichts der Heterogenität der mit ihr erfassten Personengruppe kritisiert (Brake und Büchner 2012: 165). Dirim und Mecheril (2018: 175) stellen fest: „Die Gruppe, die durch die Bezeichnung ,mit Migrationshintergrund' konstruiert wird, ist so heterogen, dass dieses Merkmal [bspw.] keinen Rückschluss auf die tatsächliche Bildungsbiografie und die Sprachkenntnisse der Gruppenangehörigen zulässt.“ Lochner (2020: 6) ergänzt: „Je nach Migrationsgeneration, Herkunftsregion und Aufenthaltsstatus ergeben sich die unterschiedlichsten Voraussetzungen für die Lebenslagen und den institutionellen Rahmen dieser Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.“
Neben dem wissenschaftlichen Gebrauch der Differenzkategorie wird „Migrationshintergrund“ auch im alltäglichen Sprachgebrauch mit unterschiedlichen Akzentuierungen und Bedeutungen benutzt. Dabei fungiert die Bezeichnung als Sammelbegriff für vermutete Abweichung von Normalitätsvorstellungen und potentielle Fremdheit im Hinblick auf Biografie, Identität und Habitus (do Mar Castro Varela und Mecheril 2010: 38; Stosic 2017: 94). Das oft durch Fremdzuschreibung verliehene Merkmal entwickelt so eine Machtwirkung in Zugehörigkeitsdebatten um ein natio-ethno-kulturelles „Wir und die Anderen“ (Mecheril 2010b: 13; Lochner 2020: 8). Durch die Verbindung von Kultur, Nation und Ethnizität wird dabei auf die diffuse und mehrdeutige Weise aufmerksam gemacht, in der die drei Begrifflichkeiten zur Imagination des „Wir ohne und die Anderen mit Migrationshintergrund“ verwoben werden. Die Produktion der vermeintlich nicht zugehörigen und (potenziell) defizitären „Anderen“ über die Bezeichnung „Migrationshintergrund“ bietet dabei Nährboden für rassistische Positionen, um soziale Ungleichheit zu rechtfertigen und das Handeln und Können betroffener Menschen auf „ihre Kultur“ oder „ihren Migrationshintergrund“ zurückzuführen (Näheres zum Thema Kulturalisierung vgl. Kapitel 5.7) (Dirim und Mecheril 2018: 166, 172, 175).
Die kontroverse bis negative Aufladung des Begriffs „Migrationshintergrund“ hat zu Versuchen geführt, den Terminus durch positivere Bezeichnungen wie bspw. „Zuwanderungsgeschichte“, „Migrationsgeschichte“ oder auch „Migrationserfahrung“ zu ersetzen. „Freilich löst diese terminologische Differenzierung das Problem nicht, dass Hinweise auf (migrations-)gesellschaftliche Differenzordnungen, in der Personen als ,mit‘ und ,ohne‘ hervorgebracht und unterschiedlich verortet werden, auch in dieser positiven Besetzung letztlich nicht enthalten sind“ (Dirim und Mecheril 2018: 175-176).
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es sich bei „Migrationshintergrund“ als gruppenkonstituierende Kategorie um eine Bezeichnungspraxis handelt, die zunächst im Zuge der Anerkennung der gesellschaftlichen Migrationstatsache eingeführt wurde und diese auch zum Ausdruck bringt. Einerseits kann die Zuschreibungspraxis zur Erfassung und Sichtbarmachung von migrationsgesellschaftlichen Herausforderungen und Ungleichheits- sowie Diskriminierungsverhältnissen genutzt werden.
An dieser Stelle soll im Folgenden deshalb auf die sich aus Migrationsprozessen- und erfahrungen ergebenden Anforderungen und Herausforderungen für Familien in der Kinder- und Jugendhilfe verwiesen werden (Dirim und Mecheril 2018: 172).
Zum einen ergeben sich Herausforderungen durch den tatsächlichen Migrationsprozess und die in diesem Zusammenhang wirkenden Mechanismen, denn „Migration bedeutet eine gesellschaftliche, ökologische, kulturelle und ökonomische Wende im Leben der Betroffenen“ (Schönpflug 2008: 217). Der Ausdruck „Migration“ erfasst dabei eine Vielzahl an Phänomenen, die für Aus- und Einwanderungsprozesse, Entstehen von Zwischenwelten und für Fremdheit betreffende Diskurse von Bedeutung sind (Mecheril 2010b: 11). Dabei wirken sich die Migrationserfahrung und der folgende Akkulturationsprozess nicht nur auf die wandernde Person selbst aus, sondern können als generationenübergreifender Prozess beobachtet werden (Lochner 2020: 6).
Hegemann und Oesterreich (2009: 43, 45, 47) listen folgende, sich gegenseitig beeinflussende Herausforderungen für Familien „mit Migrationshintergrund“ auf:
„1. soziale Unterprivilegierung
2. Sprachbarrieren
3. kulturelle Fremdheit
4. rechtliche und gesetzliche Einschränkungen
5. Diskriminierung und Rassismus.“
An dieser Stelle sei erneut auf die große Heterogenität der Familien „mit Migrationshintergrund“ verwiesen. Das bedeutet, dass nicht alle Familien den selben Herausforderungen in gleicher Ausprägung begegnen. Durch den Migrationsprozess stehen jedoch alle Familien vor der Herausforderung, sich in einer neuen Gesellschaft zurechtzufinden und sich gegebenenfalls Veränderungsprozessen, der sogenannten Akkultulturation, zu unterziehen (Lochner 2020: 8; Hein 2006: 76-77). Diese kontinuierliche Anpassungsleistung erfordert ein hohes Maß an Aushandlung und Kommunikation wobei hier für einzelne Familienmitglieder und auch für das Familiensystem ein hohes Konfliktpotential besteht (Schönpflug 2008: 217).
Zum einen kann es zu einer Rollenverschiebung innerhalb des Familiensystems kommen. Meist akkulturalisieren sich Kinder und Jugendliche schneller als die Elterngeneration und übernehmen deshalb Aufgaben, wie bspw. die Außenprä- sentanz oder die Interkationen mit Bezugssystemen, welche sonst den Eltern zugesprochen werden. Auch kann es zu einem veränderten Verständnis und einer Neuaushandlung der Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern kommen, wobei ein Generationen- und Wertekonflikt entstehen kann (Schönpflug 2008: 223).
Erfahrungen der „Andersartigkeit“ können nach Söyler, Reimer und Kloha (2015: 185) auch zu einem Konflikt um den eigenen Identitätsbildungsprozess und somit gleichzeitig einen Zugehörigkeitskonflikt führen. Identität als internalisiertes Bild von sich selbst konstruiert und äußert sich in dialogischen Aushandlungsprozessen in Zusammenhang mit anderen Menschen fortlaufend (Abeld 2017: 156-157; Böhnisch, Lenz und Schröer 2009: 32; Gahleitner 2020: 19).
„Man wird nicht mit einer Identität geboren, sondern man entwickelt diese in einem lebenslangen Prozess. Dabei wird Identität nicht gelegentlich, sondern permanent konstruiert. [...] Dabei besteht Identitätsarbeit vorwiegend aus einer Verknüpfungsarbeit. Identitätskonstruktion meint in dieser Hinsicht die Verknüpfung von einzelnen Erfahrungen entlang einer Zeitachse (z. B. Vergangenheit oder Gegenwart) oder aus verschiedenen Lebensbereichen (z. B. Familie oder Arbeit). Andererseits bezieht sich Identitätsarbeit auch auf eine Aushandlung von Differenzen im Sinne einer Verhandlung zwischen widersprüchlichen Inhalten oder Anforderungen. Identität entsteht in dieser Hinsicht als Ergebnis einer Aushandlung von Differenzen und Konflikten zwischen dem Subjekt und seiner Umwelt, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder zwischen unterschiedlichen Lebenswelten.“ (Hein 2006: 65)
Im Kulturkontakt und in der Begegnung mit kultureller Differenz kommt es nach einem transkulturellen Verständnis dabei zu einer Vermischung von Traditionslinien, zu Verfahren wie Collage und Sampling, mit denen hybride kulturelle Identitäten ausgestaltet werden (Bhabha 2004: 233; Lüddemann 2019: 30-31). Das bedeutet, dass eine Person über mehrere „Teilidentitäten“ verfügt, die inhaltlich verschieden und widersprüchlich, sich aber auch ergänzen und überlappen können (Hein 2006: 65-66).
Die sich daraus ergebende innere Ambivalenz und das Nebeneinander aus sich möglicherweise widersprechenden Rollenverständnissen, erfordert eine hohe Ambiguitätstoleranz von jeder*jedem Einzelnen (Abeld 2017: 159). Hybride Identitätskonzepte hängen dabei auch eng mit möglichen Zugehörigkeitskonflikten zusammen. Dabei geht es nicht nur um eine innere selbstbestimmte Aushandlung von Zugehörigkeit, sondern auch um eine Fremdzuschreibung zu bestimmten Gruppen.
„Es geht also nicht nur um das, was ich denke, sondern auch um das, was andere von mir denken. Das ist im Rahmen der kulturellen Identität besonders wichtig, da es dazu kommen kann, dass ich mich als Teil einer bestimmten Gemeinschaft betrachte, während andere diese Zugehörigkeit bestreiten. Der Widerspruch zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung kommt bei Personen in multikulturellen sozialen Kontexten oft vor und kann in manchen Fällen dramatische Ausmaße erlangen (z. B. Ausweisung). An dieser Stelle erhält der kulturelle Kampf um Repräsentation und Macht auch seine volle Bedeutung.“ (Hein 2006: 70)
Deutlich wird, dass die Bezeichnung eine imaginäre Differenzlinie forciert und zu Benachteiligung und Defizitorientierung gegenüber den betroffenen Menschen führen kann (Dirim und Mecheril 2018: 172). Hier zeigt sich nach Stosic (2017: 95-96) das „Paradox eines Differenzdilemmas“ (vgl. Kapitel 5.7). Kalpaka und Mecheril (2010: 78-79) betonen zwar die Wichtigkeit, „kulturelle Differenz“ in den Blick zu nehmen, um pädagogische Zusammenhänge und Mechanismen sozialer Ungleichheit zu erfassen, jedoch nur als allgemeine und nicht als spezifisch auf den Migrationshintergrund eingeschränkte Perspektive. Borke und Keller (2021: 20) verweisen in diesem Zusammenhang auf ein transkulturelles Verständnis von kultureller Differenz, wonach „[genau] genommen [.] jeder einzelne Mensch und jede einzelne Familie einen eigenen (sub)kulturellen Hintergrund [hat], da die Kontextbedingungen, in denen Menschen aufgewachsen sind, niemals identisch sein können“ (Borke und Keller 2021: 20). In diesem weiten Verständnis reduziert sich kulturelle Andersartigkeit also nicht allein auf vermeintliche Differenzlinien zwischen Menschen „mit und ohne Migrationshintergrund“, sondern gilt ganz umfassend für das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Lebensformen und umfasst auch Unterschiede des Geschlechtes, zwischen den Generationen, der sexuellen Orientierung, der körperlichen Ausstattung oder auch des sozioökonomischen Status (Schröer 2016: 87).
Für die Kinder- und Jugendhilfe sollte die „Gefahr der Kulturalisierung und die erforderliche Behutsamkeit in der Verwendung kultureller Perspektiven [.] nun jedoch nicht dazu führen, Unterschiede zu dethematisieren. Im Gegenteil, die kulturelle Praxis im Sinne von symbolischer Lebensweltaneignung und -transformation stellt eine wesentliche auch erziehungswissenschaftliche Analysedimension dar - allerdings nur unter der Voraussetzung, dass diese Dimension als allgemein bedeutsame Dimension verstanden wird“ (Kalpaka und Mecheril 2010: 92). Das bedeutet, dass sich Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe in der Arbeit mit Familien immer verschiedenen Bedeutungskomplexen bzw. potentieller kultureller Fremdheit und Andersartigkeit gegenübersehen können. Der Migrationshintergrund kann dabei als eine von mehreren wichtigen Kategorien herangezogen werden, um Lebensrealitäten zu beschreiben und damit zusammenhängende Mechanismen zu bedenken (Borke und Keller 2021: 10).
4 Zwischenfazit - Die professionelle Arbeitsbeziehung als Lösungsansatz
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich aus der Globalisierung und die in diesem Zuge aufkommenden Veränderungen der Gesellschaft für die Hilfen zur Erziehung vielfältige Herausforderungen ergeben (vgl. Abb. 1). Die Kategorie Kultur zieht sich dabei als Querschnittsthema sowohl durch die Diskurse als auch die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe. Themen der Vielfalt, Differenz und Kultur werden immer wichtiger und die Kinder- und Jugendhilfe muss sich darin verorten und für sich geeignete Begriffsdefinitionen finden, um an den öffentlichen Diskursen teilnehmen zu können und Gesellschaft und die eigene Praxis zu gestalten (Goebel 2015: 137). Lebensauffassungen und Lebensentwürfe erscheinen globalisiert, indem sie soziale und geografische Grenzen überschreiten. Moderne Kulturen sind demnach durch eine hohe Hybridisierung gekennzeichnet. „Fremd“ und „Eigen“ wird dabei vermischt und Kulturen vernetzen sich und gehen ineinander über. So verändern sich durch die Entgrenzungsprozesse auch die Lebenswelten der Adressat*innen und es ergeben sich vielfältige Anforderungen und Herausforderungen für die Familien (vgl. Abb. 1). Kulturelle Diversität kann dabei auch Grund für Missverständnisse, Unzufriedenheiten und Konflikte sein. In einer sich immer schneller verändernden Gesellschaft werden so Kompetenzen zu gelingender Kommunikation, Interaktion sowie Reflexion auch vor dem Hintergrund möglicher Differenzen immer wichtiger (Gahleitner 2020: 12). Ob und wie Familien den festgestellten multiplen Anforderungen und Belastungen gerecht werden, entscheidet über die Partizipationsmöglichkeiten ihrer Mitglieder in der Gesellschaft. Im Hinblick auf Kinder und Jugendliche kann demnach festgestellt werden: „Familien als zentrale Orte des Aufwachsens von Kindern ermöglichen und verhindern soziale Teilhabechancen der nachwachsenden Generationen“ (Schwamborn und Hahnen 2018: 459).
Soll sich die Hilfeleistung der Kinder- und Jugendhilfe also am aktuellen Bedarf orientieren, muss einerseits ein angemessener professioneller Umgang mit kultureller Vielfalt und Differenz gefunden werden, um andererseits Familien in ihren Lebenslagen zu unterstützen und für die Anforderungen der Postmoderne zu „wappnen“ (Gahleitner 2014: 57; Duhn 2018: 40). Insbesondere die Gestaltung der Arbeitsbeziehung zu den Adressat*innen als wichtige Grundlage für den Hilfeprozess rückt hierbei in den Fokus (Gahleitner 2020: 12).
Dabei wird in Fachkreisen und in der Praxis übereinstimmend eine gelingende professionelle Beziehung als Voraussetzung der Hilfe in der Sozialen Arbeit benannt. Die Arbeitsbeziehung scheint demnach „ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste“ (Abeld 2017: 13) Instrument oder Medium im Zugang zu Adressat*in- nen zu sein und stellt einen zentralen Wirkfaktor für die potentielle Verwirklichung von Hilfezielen dar (Oevermann 2013: 146; Gahleitner 2020: 12; Schäfter 2009: 41; Ebert 2012: 72-73; Staub-Bernasconi 2007: 20). Abeld (2017: 14) ergänzt: „Selbst wenn Beziehungsgestaltung je nach Klientel und Arbeitsfeld teilweise erheblich voneinander differiert und bedürfnisgerechte Akzentuierungen verlangt: Beziehung könnte als der Fluchtpunkt Sozialer Arbeit bezeichnet werden, stellt sie doch den zentralen Zugangsweg zur Lebenswelt des/der KlientIn und somit den „Ort“ [für die Umsetzung von Hilfeleistungen] [.] dar.“
In der Beziehung zur*m Adressat*in können wichtige Kompetenzen zu gelingender Kommunikation, Interaktion sowie Reflexion vermittelt werden (vgl. Abb. 1). Die Gestaltung der Arbeitsbeziehung durch die Fachkräfte kann dabei selbst eine Modell- und Vorbildfunktion für die Adressat*innen entfalten (Schäfter 2009: 41; Galuske 2013: 42-43). Die Arbeitsbeziehung „kann als soziale Beziehung mit besonderem Schutz als direktes Arbeits-und Lernfeld zum Einüben sozialen Beziehungsverhaltens genutzt werden [.]. Typische Verhaltens- und Erlebensmuster der KlientInnen werden [auch in der Arbeitsbeziehung] [.] sichtbar bzw. entstehen dort und können von der [Fachkraft] [.] als Metakommunikation oder auch Konfrontation aufgegriffen werden. Hier besteht die Chance, modifizierte Verhaltensweisen auszuprobieren und einzuüben“ (Schäfter 2009: 41).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Zusammenhänge der festgestellten Anforderungen und Lösungsmöglichkeiten
Abeld (2017: 90) bezeichnet die Arbeitsbeziehung zwischen Fachkraft und Ad- ressat*innen deshalb auch als gemeinsam geschaffenen, sicheren „dritten Ort“. Gahleitner (2020: 75) fasst zusammen: „Über eine gelungene professionelle Bindungsbeziehung kann die Möglichkeit zu Explorations- und gemeinsamen Ko- konstruktionsprozessen entstehen, die wiederum Selbstevaluation, Selbstrefle- xions- und Bildungsvorgänge befördern und damit Persönlichkeits-, Identitätsbil- dungs- und Transformationsprozesse anregen.“
Nach der Darstellung der Bedeutung einer gelingenden Arbeitsbeziehung muss nun die Frage nach deren konkreter Gestaltung erörtert werden. Wie sieht die Arbeitsbeziehung zwischen Fachkräften der Erziehungshilfen und den Familien aus und wie kann sie vor dem Hintergrund der festgestellten Herausforderungen gestaltet werden, um einerseits der kulturellen Vielfalt gerecht zu werden und andererseits Familien zu befähigen mit den gestiegenen Anforderungen umzugehen?
Im Folgenden soll deshalb die professionelle Arbeitsbeziehung von Fachkräften der Hilfen zur Erziehung zu ihren Adressat*innen näher beleuchtet werden. Dabei soll ein spezieller Fokus auf die Kategorie Kultur in der Beziehungsgestaltung gelegt werden. Anschließend werden die sich daraus ergebenden Gestaltungs- bedarfe in Bezug auf die Arbeitsbeziehung erläutert und in der Kultursensibilität als Haltung eine mögliche Lösung diskutiert.
5 Die professionelle Arbeitsbeziehung in den Hilfen zur Erziehung - Merkmale und Spannungsfelder
Es ist unumstritten, dass eine gelingende Arbeitsbeziehung zwischen Fachkraft und Adressat*in eine wichtige Orientierungsleistung in Bezug auf aktuelle gesellschaftliche Transformationsprozesse darstellt (Gahleitner 2020: 10-11). Wie sich die Beziehung zwischen den professionell Handelnden und den Adres- sat*innen gestaltet, ist in den Hilfen zur Erziehung demzufolge von großer Bedeutung. Obwohl die Wichtigkeit und Wirkmacht einer gelingenden Arbeitsbeziehung zu den Adressat*innen bekannt ist, gibt es Unklarheit darüber, wie sich eine professionelle Beziehung im Detail gestaltet bzw. gestalten müsste (Gahleitner 2014: 55). Auch Abeld (2017: 12) führt an, dass sich Beziehungen allgemein und insbesondere professionelle Beziehungen nur schwer in ein „Beschreibungskorsett“ zwängen lassen.
Im Folgenden werden Arbeitsbeziehungen anhand von vier konstitutiven Merkmalen dargestellt. Neben der Ko-Produktion, der Prozesshaftigkeit und dem Gegenstandsbezug spielt für die Erziehungshilfen vor allem die Netzförmigkeit von Arbeitsbeziehungen eine tragende Rolle. Dabei sollen auch die Spannungsfelder dargestellt werden, zwischen denen sich Arbeitsbeziehungen konstruieren. Im Zuge dessen werden zwei Modelle der professionellen Beziehungsgestaltung in der Sozialen Arbeit zunächst umrissen und vor dem Hintergrund der diskutierten Spannungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe reflektiert. Ein besonderes Augenmerk wird hierbei auf die Entstehungsbedingungen der Beziehung zwischen Fachkraft und Adressat*innen gelegt werden. Anschließend soll auf Basis eines relationalen Verständnisses professioneller Beziehungen nach Köngeter (2009) ein für die Erziehungshilfen passendes Modell gefunden werden.
5.1 Professionelle Beziehungsmodelle nach Oevermann und Müller - eine Skizze
Ulrich Oevermann (2013; 2002) entwickelt seine Theorie auf der Prämisse eines auf Freiwilligkeit basierendes dyadischen Arbeitsbündnisses zwischen Fachkraft und Adressat*in. Das Arbeitsbündnis wird durch die freie Entscheidung der*des Hilfesuchenden initiiert (Oevermann 2002: 27, 43). Aufgrund eines „Leidensdrucks“ erklärt sich die*der Adressat*in unter Einschränkung der eigenen Autonomie einverstanden, eine (meist therapeutische) Praxis zu beginnen, in der stellvertretend Problemlagen bearbeitet werden (Oevermann 2013: 127, 137; Köngeter 2013: 196). Der Leidensdruck ist deshalb sowohl Ausgangspunkt als auch „Energiequelle“ für den Prozess der Gestaltung der Arbeitsbeziehung (Cloos u.a. 2009: 25-26). Ziel des Arbeitsbündnisses ist grundsätzlich, die eingeschränkte Autonomie der*des Hilfesuchenden wiederherzustellen (Oevermann 2002: 26). Daraus folgt, dass diese*r nicht zur Hilfe gedrängt oder gezwungen werden darf, da dies automatisch eine De-Autonomisierung fördern würde (Köngeter 2009: 15-17).
Eine weitere Theorie zur professionellen Beziehungsgestaltung in der Sozialen Arbeit liefert Burkhard Müller (2011). Im Mittelpunkt des Modells stehen auch hier die Bedingungen, unter denen eine professionelle Beziehung zustande kommt. Müller (2011: 157) führt an, dass die professionelle Arbeitsbeziehung in der Sozialen Arbeit sowohl durch externe gesellschaftliche als auch interne pädagogische Machtansprüche gerahmt ist. Es geht für ihn deshalb darum, durch „Produktion von Ähnlichkeit“ einen „offenen Anfang“ für die Herstellung einer professionellen Arbeitsbeziehung zu ermöglichen. Dieses „vorpädagogische Problem“ soll dadurch gelöst werden, dass die Fachkräfte niederschwellige Gelegenheitsstrukturen für den Kontakt zu Adressat*innen schaffen (Müller 2011: 157) und ihre professionelle Distanz fallen lassen „zugunsten einer symmetrischen, Nähe erzeugenden, öffnenden Interaktion“ (Köngeter 2009: 31). Zusammenfassend kann festgestellt werden:
„Während bei Oevermann der Leidensdruck der KlientInnen eine notwendige Bedingung für das professionelle Handeln darstellt, erweitert Müller das Blickfeld und bezieht die Aufgabe des Eröffnens von Gelegenheiten und Gelegenheitsstrukturen für professionelles Handeln in sein Modell mit ein [...]. Er schließt zwar eine bereits bestehende Kooperationsbereitschaft als wünschenswert nicht aus, betont jedoch, dass sie nicht als prinzipiell gegeben angenommen werden kann. Vielmehr sieht er gerade in der Herstellung und Aufrechterhaltung von Kooperationen eine zentrale Aufgabe.“ (Köngeter 2009: 34)
Nach Bearbeitung des “vorpädagogischen Problems” geht es für Müller (2017: 20) um eine reflektierte Fallarbeit unter den Prämissen der Ganzheitlichkeit und Lebensweltorientierung (Thiersch 2014). Inwiefern ein enges Arbeitsbündnis im Oevermann'schen Sinne im Prozess entsteht, bleibt für Müller (2011: 158) offen.
5.2 Merkmale von professionellen Arbeitsbeziehungen in den Hilfen zur Erziehung
5.2.1 Prozesshaftigkeit
Das erste Merkmal professioneller Arbeitsbeziehungen liegt im Wesen von Beziehungen im Allgemeinen. Beziehungen bestehen aus Interaktionsreihen zwischen zwei Menschen und grenzen sich so von einmaligen Kontakten oder Begegnungen ab, die eine hohe Flüchtigkeit und Unverbindlichkeit aufweisen (Gahleitner 2020: 10). Das Entstehen von Beziehungen kann aus diesem Grund als Prozess angesehen werden, wobei Beziehungen sich in Dauer, (emotionaler) Intensität und dem Zweck unterscheiden können (Asendorpf, Banse und Neyer 2017: 12). Krappmann (2016: 40) versteht Beziehungen als „dynamische Systeme“, welche sich im Prozess und im Austausch mit angrenzenden Systemen verändern und weiterentwickeln. In gelingenden Beziehungen entsteht eine gemeinsame soziale Praxis, auf deren Basis Interkation gestaltet werden kann. Das bedeutet, dass hier ein geteiltes Set an Bedeutungen, Erwartungen und Einschätzungen enthalten ist (Gahleitner 2020: 11; Fuchs 2021: 206). Auch Müller (2011: 158) und Oevermann (2002: 27) erkennen die Prozesshaftigkeit von professionellen Beziehungen und sehen diese nicht als statische Entitäten an.
5.2.2 Netzwerkförmigkeit
Ergänzend dazu beschreibt Köngeter (2013: 194-195) die Bedeutung der Netz- werkförmigkeit von Arbeitsbeziehungen zwischen Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe und den Erziehungsberechtigten. Das bedeutet, dass die Arbeitsbeziehungen zwischen Adressat*innen und Fachkräften Teil eines sozialen Netzwerks von verschiedenen sich beeinflussenden Sozial- und Arbeitsbeziehungen darstellen (Franz und Sobocan 2018: 121). So kann festgestellt werden, dass durch Implementierung einer Erziehungshilfe strukturell immer die Etablierung einer Triade zwischen Erziehungsberechtigten, Kind(ern) und Fachkraft stattfindet (Köngeter 2013: 194-195). Durch die Netzförmigkeit und reziproke Eingebundenheit der Arbeitsbeziehungen in verschiedene andere Kontexte und Systeme entstehen darüber hinaus vielfältige Wechselwirkungen. Beispielsweise kann eine positive Arbeitsbeziehung zur Mutter sich belastend auf deren Sozialbeziehung zum Vater auswirken, was wiederum auf die Arbeitsbeziehung zwischen Fachkraft und Mutter wirken kann. Auch die Relation der Fachkraft zu verschiedenen institutionellen Akteur*innen kann sich auf die Beziehungsgestaltung zu den Adressat*innen auswirken. Arbeitsbeziehungen stehen demnach, wie bereits festgestellt, im ständigen Austausch mit angrenzenden Systemen und entwickeln sich prozesshaftig weiter (Krappmann 2016: 40). Sowohl Oevermanns (2002: 27) als auch Müllers (2011: 157) Modell basiert jedoch auf einem rein dyadischen Verständnis der Beziehung zwischen Fachkraft und Adressat*in. Köngeter (2013: 193) übt Kritik an der Modellen von Oevermann und Müller und stellt fest, „dass es innerhalb eines Falles mehrere, sich gegenseitig beeinflussende Arbeitsbeziehungen zwischen Eltern und Professionellen gibt, [...] [weshalb] die Frage nach einer Arbeitsbeziehung in den Erziehungshilfen immer im Hinblick auf das soziale Netzwerk dieser und weiterer Sozial- und Arbeitsbeziehungen reflektiert werden [muss]. Mit anderen Worten: Die Konzentration auf die Gestaltung eines dyadischen Arbeitsbündnisses - wie es aus einer psychoanalytischen Tradition heraus entwickelt wurde - erweist sich nur als bedingt tauglich, um die Arbeitsbeziehungen zu Eltern in den Erziehungshilfen zu rekonstruieren“ (Köngeter 2013: 193).
5.2.3 Zeitliche Begrenzung und spezifischer Gegenstandsbezug
Das dritte und vierte Merkmal professioneller Beziehungen ergibt sich aus der Abgrenzung zu alltäglichen Sozialbeziehungen. Im Gegensatz zu Alltagsbeziehung sind professionelle Arbeitsbeziehungen durch „Zweckgebundenheit“ oder auch Gegenstandsbezug und „zeitliche Begrenzung“ gekennzeichnet (Motzke 2013: 82). Der zeitliche Rahmen der Arbeitsbeziehung wird in der Regel durch institutionelle Vorgaben festgelegt und wird gemeinsam mit dem ausgehandelten Zweck „im Rahmen eines explizit oder implizit abgeschlossenen Vertrages festgelegt.“ Der Zweck oder auch der spezifische Gegenstandsbezug der Zusammenarbeit ist häufig nicht von Beginn an zu erkennen, sondern muss in einem Aushandlungsprozess der Aufträge der beteiligten Personen erst festgelegt werden (Schäfter 2009: 54-56; Köngeter 2009: 255-258).
Einen ersten Auftrag bringt die*der Adressat*in mit in die Arbeitsbeziehung ein. Sie oder er benennt mehr oder weniger deutlich ein Hilfegesuch und die damit verbundenen Interessen. Der staatliche Auftrag, der sich aus der Finanzierung der Hilfe begründet, ergibt sich aus den gesetzlichen Rahmenbedingungen und ggf. Ordnungs- und Kontrollinteressen der öffentlichen Hand (Böhnisch und Lösch 1979: 27,29,37). Der dritte Auftrag der in die Gestaltung der Arbeitsbeziehung eingebracht wird, kommt von Seiten der Profession der Sozialen Arbeit selbst (Staub-Bernasconi 2018: 114). Die Verpflichtung für die Fachkraft „nach bestem Wissen und Gewissen“ zu handeln, beinhaltet sowohl die „Wissen- schaftsbasierung der professionellen Praxis“ als auch die „Ethikbasierung aufgrund der nationalen und internationalen Ethikkodices der Profession“ (Staub- Bernasconi 2018: 114). Staub-Bernasconi konstatiert hier das für die Soziale Arbeit kennzeichnende „Tripelmandat“ als Rahmenbedingung zu Gestaltung von professionellen Beziehungen zu Adressat*innen (Staub-Bernasconi 2018: 112). Deutlich wird, dass die verschiedenen Aufträge innerhalb der professionellen Arbeitsbeziehung voneinander abweichen können, wodurch die Aushandlung eines gemeinsamen spezifischen Gegenstands der Beziehung erschwert wird (Schäfter 2009: 54-56).
Sowohl Oevermann (2013: 137) als auch Müller (2017: 21) führen den Gegenstandsbezug der professionellen Beziehung an. Bei beiden kommt die professionelle Beziehung zu einem bestimmten Zweck zustande. Müller (2012: 966) verweist darüber hinaus darauf, dass die professionelle Arbeitsbeziehung in der Sozialen Arbeit sowohl durch externe gesellschaftliche als auch interne pädagogische Machtansprüche gerahmt ist, wobei seine Ausführungen an dieser Stelle den Rahmenbedingungen des Tripelmandats ähneln.
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- Citar trabajo
- Lara Hein (Autor), 2021, Kultursensible Gestaltung von Arbeitsbeziehungen in den Hilfen zur Erziehung. Video-Home-Training (VHT) als methodischer Zugang, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1181556
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