Vor dem Hintergrund steigender Prävalenzzahlen für Übergewicht und Adipositas ergibt sich dringender Handlungsbedarf hinsichtlich primärpräventiver Maßnahmen zur Veränderung des Ernährungsverhaltens. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen soll die Arbeit untersuchen, welche Ursachen diesem Sachverhalt zugrunde liegen und wie beziehungsweise ob Präventivarbeit geleistet wird. Gerade die Grundschulzeit nimmt eine bedeutende Rolle in der allgemeinen Entwicklung eines Kindes ein, daher stellen sich hinsichtlich der Ernährung im Kindesalter folgende Leitfragen, die im Laufe der Arbeit beantwortet werden sollen:
Welche Einflussfaktoren wirken sich auf das Ernährungsverhalten eines Kindes aus?
Inwiefern beeinflusst die Ernährung die kognitive Leistungsfähigkeit im Kindesalter?
Welche Entwicklungen lassen sich bezüglich des Themas Ernährung feststellen?
Wie vollzieht sich Ernährungserziehung im schulischen Kontext aktuell?
Wie schätzen Eltern von GrundschülerInnen die Relevanz von Ernährungserziehung ein?
Wo und wie wird Ernährungserziehung realisiert?
Diese sechs Leitfragen dienen dazu, die Bedeutung von Ernährungserziehung, gerade im Kindesalter, umfänglich aufzuarbeiten.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Erkenntnisinteressen
1.2 Vorgehensweise
I Theoretischer Teil
2. Grundbegriffe
2.1 Essen und Ernährung
2.2 Ernährungserziehung vs. Ernährungsbildung
2.3 Fehlernährung
2.3.1 Unterernährung
2.3.2 Überernährung
3. Ernährung im Wandel der Zeit
4. Einflussfaktoren auf das kindliche Ernährungsverhalten
4.1 Soziales Umfeld
4.2 Bildung
4.3 Lebensmittelindustrie
4.4 Medien
4.5 Individuelle Faktoren
5. Stellenwert von Ernährung im Kindesalter
5.1 Anforderungen an die kindliche Ernährung
5.2 Bedeutung von Ernährung im schulischen Kontext
6. Ernährung in der Grundschule
6.1 Essensangebote
6.2 Ernährung im Schulunterricht
7. Studien zum Thema Ernährung bei Kindern und Jugendlichen
7.1 EsKiMo-Studie
7.1.1 Aufbau und Design
7.1.2 Ergebnisse der EsKiMo-Studie
7.2 DONALD-Studie
7.2.1. Aufbau und Ziele
7.2.2 Ergebnisse der DONALD-Studie
7.3 Einordnung der Studienergebnisse
7.4 Ernährungsbezogene Bildungsarbeit in Kitas und Schulen (ErnBildung)
7.4.1 Forschungsdesign der Studie
7.4.2 Durchführung und Analysearbeit
7.4.3 Ergebnisse der ErnBildung-Studie
8. Lösungsansätze
8.1 Die aid-Ernährungspyramide als didaktisches Ernährungsmodell
8.2 Der Ernährungsführerschein als Unterrichtskonzept
8.3 Ernährung als eigenständiges Schulfach
8.4 Ernährungserziehung durch Schulessen
9. Zwischenfazit
II Empirische Analyse
10. Methodisches Vorgehen
10.1 Untersuchungsdesign
10.2 Erhebungsinstrumente der Online-Befragung
10.3 Stichprobe und Durchführung der Online-Befragung
10.4 Auswertungsverfahren
11 Befragungsergebnisse
11.1 Darstellung
11.2 Interpretation der Ergebnisse
11.3 Reflexion über Verlauf und Ergebnisse der Umfrage
12. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Schuleingangsuntersuchung 2019
Abbildung 2: Nachhaltige Ernährung
Abbildung 3: Der Goldene Windbeutel 2019
Abbildung 4: Curriculum Lernfeld Ernährung
Abbildung 5: Bildungsziele REVIS
Abbildung 6: Berliner Rahmenlehrplan
Abbildung 7: Stundentafeln Sachunterricht ErnBildung
Abbildung 8: Ernährungspyramide
Abbildung 9: Diagramm Stellenwert Ernährung
Abbildung 10: Diagramm Auseinandersetzung Thema Ernährung
Abbildung 11: Diagramm Einflussfaktoren
Abbildung 12: Diagramm Medien negativ
Abbildung 13: Diagramm Medien positiv
Abbildung 14: Diagramm Ernährungserziehung Aufgabe der Schule
Abbildung 15: Diagramm Thematisierung im Schulunterricht
Abbildung 16: Diagramm Integrieren von Ernährung in Schulunterricht
Abbildung 17: Diagramm Ernährung als eigenständiges Schulfach
Abbildung 18: Diagramm Thematisierung im Elternhaus
Abbildung 19: Diagramm Thematisierung in Schule & Elternhaus
Abbildung 20: Mindmap Ziele von Ernährungserziehung
Abbildung 21: Diagramm Zufriedenheit mit Essensangeboten
Abbildung 22: Diagramm Stellenwert der Qualität der Essensangebote
Abbildung 23: Diagramm Stellenwert der Kosten der Essensangebote
Abbildung 24: Diagramm Mithilfe bei Zubereitung
Abbildung 25: Diagramm Mithilfe beim Einkauf
Abbildung 26: Diagramm Frühstück zuhause
Abbildung 27: Diagramm Frühstück zur Schule
Abbildung 28: Diagramm Gemeinsames Essen
Abbildung 29: Diagramm Verzehr von Fertigprodukten
Abbildung 30: Diagramm Kochen mit frischen Zutaten
1. Einleitung
1.1 Erkenntnisinteressen
„Vor dem Hintergrund steigender Prävalenzzahlen für Übergewicht und Adipositas ergibt sich dringender Handlungsbedarf hinsichtlich primärpräventiver Maßnahmen zur Veränderung des Ernährungsverhaltens.“ (Müller et al. 2006, zitiert nach Pötting & Eissing 2013, S.240). Was die AutorInnen hier 2006 bzw. 2013 andeuten, zeigt sich auch in aktuellen Entwicklungen. Bei einer Schuleingangsuntersuchung des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, welche 2019 durchgeführt wurde, waren in der Mehrheit der deutschen Bundesländer über 10% der eingeschulten Kinder übergewichtig oder adipös (Robert Koch-Institut 2020, S.3).
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen soll die vorliegende Arbeit untersuchen, welche Ursachen diesem Sachverhalt zugrunde liegen und wie bzw. ob Präventivarbeit geleistet wird. Da Ernährungserziehung sich unmittelbar auf die Ernährungsweise eines Kindes auswirkt, ist Silke Geest-Rack, welche eine gesunde Ernährungsweise als wichtige Säule zur Gesunderhaltung des Körpers sieht, beispielsweise der Meinung, dass Schulunterricht einen Beitrag dazu leisten muss, dass fundierte Kenntnisse im Bereich gesunder Ernährung vermittelt werden (Geest-Rack 2013, S.16). Gerade die Grundschulzeit nimmt eine bedeutende Rolle in der allgemeinen Entwicklung eines Kindes ein, daher stellen sich hinsichtlich der Ernährung im Kindesalter folgende Leitfragen, die im Laufe der Arbeit beantwortet werden sollen:
- Welche Einflussfaktoren wirken sich auf das Ernährungsverhalten eines Kindes aus?
- Inwiefern beeinflusst die Ernährung die kognitive Leistungsfähigkeit im Kindesalter?
- Welche Entwicklungen lassen sich bezüglich des Themas Ernährung feststellen?
- Wie vollzieht sich Ernährungserziehung im schulischen Kontext aktuell?
- Wie schätzen Eltern von Grundschülerinnen die Relevanz von Ernährungserziehung ein?
- Wo und wie wird Ernährungserziehung realisiert?
Diese sechs Leitfragen dienen dazu, die Bedeutung von Ernährungserziehung, gerade im Kindesalter, umfänglich aufzuarbeiten. Wie dahingehend vorgegangen wird, soll nun näher erläutert werden.
1.2 Vorgehensweise
Zu Beginn der Arbeit werden zunächst einige Grundbegriffe definiert und erläutert. Diese dienen dazu, eine Basis für das Verständnis der weiteren Ausführungen zu schaffen. Wenn man sich mit dem Thema Ernährung befasst, muss klar sein, was man unter Ernährung versteht und wie sich der Begriff von dem des Essens unterscheidet. Daraufhin werden jeweils die Begriffe Ernährungserziehung und Ernährungsbildung untersucht und gegenübergestellt, um zu prüfen, was die Begriffe voneinander unterscheidet bzw. ob man sie unterscheiden muss. Um Rückschlüsse auf das Ernährungsverhalten von Kindern zu schließen, muss weiterhin klar sein, was Fehlernährung ist und welche Arten von Fehlernährung es gibt.
Interessant ist es anschließend, zunächst einmal einen Blick auf das Thema Ernährung zu werfen und zu untersuchen, wie man sich dem Thema früher genähert hat und wie es heutzutage, also ca. ab dem 21. Jahrhundert, thematisiert wird. Es soll also klargemacht werden, wie und ob sich ein Wandel im allgemeinen Ernährungsverhalten vollzogen hat.
Dieses Wissen liefert Grundlagen, welche im vierten Kapitel benötigt werden. Hier werden Einflussfaktoren betrachtet, die sich auf die kindliche Ernährung auswirken. Um nachforschen zu können, wie sich das Ernährungsverhalten auf die Entwicklung eines Kindes auswirkt, muss zunächst untersucht werden, durch welche Faktoren das kindliche Ernährungsverhalten beeinflusst wird. Wichtige Faktoren stellen hier das soziale Umfeld des Kindes, Bildung, die Lebensmittelindustrie, Medien, aber auch individuelle Aspekte dar. Welchen Stellenwert das durch diese Faktoren beeinflusste Ernährungsverhalten im Kontext Schule hat, wird im fünften Kapitel beleuchtet. Dazu muss zunächst klargestellt werden, welche Anforderungen die kindliche Ernährung erfüllen sollte und welche Auswirkungen eine vorteilhafte bzw. unvorteilhafte Ernährung auf das Wohlbefinden und die Gesundheit eines Kindes hat.
Nachdem ausführlich erläutert wurde, welche Faktoren das Ernährungsverhalten eines Kindes beeinflussen und welchen Stellenwert Ernährung für Kinder hat, widmet sich die Arbeit der Grundschule als Bildungsinstitution und Vermittler für ernährungsbezogenes Wissen. Wichtig ist dabei vor allem, wie Kinder in der Schule allgemein an das Thema herangeführt werden und in welchem Maße Ernährungserziehung stattfindet. Ein wichtiger Punkt dahingehend sind Essensangebote in der Schule. Untersucht wird, auch unter Zuhilfenahme der Qualitätsstandards für die Verpflegung in Schulen, welche von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) veröffentlicht wurden, inwiefern die Essensangebote diesen Standards entsprechen. Einen weiteren Schwerpunkt dieses Kapitels bildet die Behandlung des Themas Ernährung im Schulunterricht. Hier richtet sich der Blick auf curriculare Richtlinien wie die des europäischen Kerncurriculums für Ernährungsbildung und dessen Erweiterung REVIS (Reform der Ernäh- rungs- und Verbraucherbildung in Schulen). Anhand dieser Richtlinien werden aktuelle Lehrpläne des Faches Sachunterricht hinsichtlich ernährungsbezogener Inhalte überprüft.
Um all die in der Arbeit beschriebenen Entwicklungen noch einmal wissenschaftlich fundiert aufzuarbeiten, werden im Anschluss, in Kapitel 7, Studien zum Thema Ernährung herangezogen. Die Studien EsKiMo (Ernährungsstudie als KIGGs-Modul) und DONALD (DOrtmund Nutritional and Anthropometric Longitudinally Designed Study), die sich mit dem Ernährungsverhalten von Kindern und Jugendlichen befassen, werden eingehend beschrieben und anschließend bezüglich der Ergebnisse verglichen. Außerdem soll die Studie ErnBildung genau betrachtet werden, die sich mit ernährungsbezogener Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche befasst. Im Zentrum des Interesses stehen dabei immer die Untersuchungen und Ergebnisse im Grundschulbereich.
Um den theoretischen Teil der Arbeit abzuschließen, werden im achten Kapitel Lösungsansätze vorgestellt. Die hier vorgestellten Modelle, Projekte und Ansätze sollen zeigen, ob es Bemühungen gibt, die Ernährungssituation nachhaltig zu verbessern und wie diese realisiert werden. Dazu zählen die Ernährungspyramide, der Ernährungsführerschein und weitere Ansätze wie die Betrachtung von Ernährung als eigenständiges Schulfach sowie die Einbettung von Schulessen in theoretische Unterrichtsinhalte. In einem Zwischenfazit werden die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse resümiert.
Der empirische Teil der Arbeit befasst sich mit einer Online-Umfrage zum Thema „Relevanz und Bewertung von Ernährungserziehung im Grundschulkontext“, bei welcher Eltern von Grundschulkindern befragt werden sollen. Zunächst werden die Fragestellungen, Hypothesen und Zielsetzung dieser Befragung geschildert. Danach folgt eine Erläuterung des methodischen Vorgehens. Hierzu gehören Punkte wie das Untersuchungsdesign, die Erhebungsinstrumente, Durchführung der Studie und die Vorgehensweise bei der Auswertung. Im Anschluss werden die Ergebnisse vorgestellt und interpretiert. Es folgt eine Reflektion über den Verlauf und die Ergebnisse der Studie. Im Fazit werden die Erkenntnisse der gesamten Arbeit zusammengefasst und in den Kontext Grundschule eingeordnet.
I Theoretischer Teil
2. Grundbegriffe
2.1 Essen und Ernährung
„Gegessen wird mit den Sinnen, ernährt wird mit dem Verstand“ (Lauff 1991, S.34). Dieses Zitat zeigt zwei unterschiedliche Beschreibungen für die oft als Synonym verwendeten Begriffe Essen und Ernährung. Auch Ines Heindl unterscheidet die beiden Begriffe. Für sie ist Essen ,sinnlich-emotional besetzt und steht für Genuss, Freude, Lust, aber auch Völlerei‘(vgl. Heindl 2003, S.29). Ernährung hingegen sei auf Empfehlungen von Experten bezogen und würde eher mit Verzicht und Unlust verbunden werden (vgl. ebd.). Vergleicht man die Bedeutung des Themas Ernährung im antiken Griechenland mit der Bedeutung des Themas heute, so stellt man fest, dass es in unserer modernen Gesellschaft, so Ekmekcioglu, noch eine zusätzliche Bedeutung als Lifestyle-Faktor bekommen hat (vgl. Ekmekcioglu 2006, S.9). Generell scheint sich also auch der Blick auf Essen und Ernährung im Laufe der Zeit geändert zu haben und nicht umsonst hat bei ,einem Teil der Bevölkerung ein Umdenken hin zu einer alternativen, gesundheitsbewussteren Ernährungsweise stattgefunden‘ (vgl. Wittkowske et al. 2017, S.8). Im Detail wird dieser Wandel in Kapitel 3 beschrieben.
Auffällig ist, dass hier nicht etwa von „Essensweise“, sondern von „Ernährungsweise“ gesprochen wird. Das liegt sicherlich auch daran, dass ,Menschen mit „Ernährung“ die Deckung des Nährstoffbedarfs, der durch Körperkonstitutionen, Alter, Geschlecht, Bewegungsverhalten und physiologischen Status beeinflusst und rational besetzt ist,‘ verbinden, während ,mit dem Begriff „Essen“ Gefühle, Emotionen, Genuss und Geschmack, Symbole und Routinen einherge- hen‘ (vgl. Pudel 2002 und Brombach 2011, zitiert nach Mörixbauer et al. 2019, S.10). Deckungsgleich zu den bisher genannten Unterschieden zwischen den Begriffen Essen und Ernährung stellen auch Wittkowske et al. klar heraus, dass es sich bei den Begriffen Essen und Ernährung nicht um Synonyme handelt. Ernährung werde mit kognitiven und gesundheitsbezogenen Aspekten assoziiert, Essen hingegen mit emotionalen Prozessen und Genuss (vgl. Wittkowske et al. 2017, S.8).
Mit Blick auf die frühkindliche Ernährungserziehung und -bildung machen Anke Oepping und Astrid Francke klar, dass der Begriff des Essens als Prozess und Akt des Kauens, Schluckens, der Nahrungsaufnahme und der Magenfüllung, außerdem als Produkt in Verbindung mit dem Begriff des Trinkens zugänglicher für Kinder ist. Im Gegensatz dazu sei der Begriff „Ernährung“ nicht besonders greifbar, da er ,je nach Zusammenhängen und Zielsetzung, Unterschiedliches meine. Ernährung würde eher .mit Empfehlungen von Experten, mit Aufklärung, Beratung und Erziehung“, nicht aber mit der Alltagshandlung des Essens verknüpft werden (Oepping und Franke 2009, S.8).
Daher raten Oepping und Franke in der frühkindlichen Erziehung dazu, den Begriff Ernährung durch „Essen und Trinken“ zu ersetzen, so wird aus „Ernährungsberatung“ beispielsweise „Ess- und Trinkberatung“ (vgl. ebd. S.8). Der Begriff oder die Tätigkeit des Essens wird hier also nicht nur als Bestandteil des Ernährungsbegriffs verstanden sondern sogar dazu genutzt, diesen zu ersetzen, um Kindern einen besseren Zugang zum Thema zu verschaffen.
2.2 Ernährungserziehung vs. Ernährungsbildung
Um den Begriff der Ernährungserziehung eingehend definieren zu können, lohnt es sich, zunächst einmal den Erziehungsbegriff im Allgemeinen zu betrachten. Bartsch et al. formulieren diesen so: .Erziehung ist eine beabsichtigte, normengeleitete und gelenkte Vermittlung von Wissen und Verhaltensregeln, z. B. in der Familie, der Schule, im Beruf, in der Freizeit.“ (Bartsch et al. 2013, M85). In eine ähnliche Richtung geht Wolfgang Brezinka, der Erziehung als jene sozialen Handlungen bezeichnet, durch die versucht wird, das psychische Dispositionsgefüge anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder (hinsichtlich jener Bestandteile, die als wertvoll angesehen werden, aber gefährdet sind) zu erhalten (vgl. Brezinka 1990, S.97).
Erziehung scheint also grundsätzlich eine positive, gezielte Einflussnahme auf das Verhalten anderer Menschen und somit insbesondere auch auf Kinder zu sein. In Bezug auf Brezinkas Definition lässt sich jedoch kritisch anmerken, dass er unter anderem nicht erläutert, ,welche sozialen Handlungen erlaubt sind oder wie Erziehung legitimiert werden kann‘ (vgl. Kiel 2019, S.46). Generell lässt sich aber festhalten, dass durch Erziehung ,Lernprozesse bewusst und absichtsvoll herbeigeführt werden‘ (vgl. Barlösius 2019, S.574).
Diese allgemeinen Definitionen des Begriffs der Erziehung sind natürlich eng mit dem Begriff der Ernährungserziehung verbunden und liefern somit die Grundlage dafür, ebendiesen zu verstehen. Eine eingehende Definition liefert beispielsweise die D-A-CH-Arbeitsgruppe zur Er- nährungs- und Verbraucherbildung: „ Ernährungserziehung sind alle intendierten bzw. gelenkten Lernprozesse, die im Zuge der Ernährungssozialisation (Übernahme von Werten und Normen) im familiären, schulischen, beruflichen oder freizeitlichen Kontext ablaufen.“ (EVB-on- line 2010).
Diese Lernprozesse können gezielt auf die Beeinflussung des Ernährungsverhaltens gerichtet sein oder andere Lernprozesse begleiten (z.B. Gemeinschaftserziehung: Erziehung zu regelkonformem Verhalten bei Tisch) (vgl. Schlegel-Matthies et al. 2010, zitiert nach Mörixbauer et al. 2019, S.139). Aus dieser Definition geht schon hervor, dass Ernährungserziehung nicht an einem bestimmten Ort oder in einer bestimmten Umgebung stattfindet, sondern nahezu in allen Lebenssituationen vollzogen werden kann.
Der akademische Verlag „Spektrum“, welcher in seinem online aufrufbaren Lexikon den Begriff Ernährungserziehung als einen Prozess sozialer Beeinflussung des Ernährungsverhaltens bezeichnet, unterteilt diesen Prozess noch einmal. Die Zielsetzung einer „gesundheitsfördernden Ernährungsweise zur Erhaltung und Förderung von Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden“ gelinge primär in der Familie, welche sich auf die Weitergabe von Esskultur und Tischsitten beschränke. Sekundäre Ernährungserziehung erfolge in Kindergärten und Schulen und würde didaktisch in verschiedenen Themenbereichen behandelt (vgl. Spektrum 2001).
Interessant ist bei diesem Ansatz die unterschiedliche Rolle bzw. Gewichtung der Ernährungserziehung in verschiedenen Sozialisationsinstanzen. In der Familie wird der Erstkontakt des Kindes mit dem Thema Ernährung hergestellt, die Schule wiederum ergänzt diese Erziehung noch einmal mit einem didaktischen Ansatz.
Nun, da der Begriff der Ernährungserziehung geklärt ist, soll der Begriff der Ernährungsbildung eingehend untersucht werden. Beim Begriff „Ernährungsbildung“ wird zunächst der Bildungsbegriff herangezogen, um Ernährungsbildung eingehend definieren zu können. Jürgen Raithel et al. führen Bildung als eine pädagogische Grundkategorie auf (vgl. Raithel et al. 2009, S.36) und zitieren eine von Theodor W. Adorno geprägte, moderne Definition. Er versteht unter Bildung die Förderung der Eigenständigkeit und Selbstbestimmung eines Menschen, die durch die intensive sinnliche Aneignung und gedankliche Auseinandersetzung mit der ökonomischen, kulturellen und sozialen Lebenswelt entsteht (vgl. Adorno 1970, zitiert nach ebd. 2009, S.36). Bartsch et al. gehen in eine ähnliche Richtung und bezeichnen Bildung „als Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und seiner kulturellen, materiell-dinglichen, sozialen Umwelt“. (Bartsch et al. 2013, M85) Weiterhin fände Bildung nicht nur in bildungsrelevanten Institutionen, sondern auch im Alltag statt (vgl. ebd.). Hier lässt sich eine Parallele zum Erziehungsbegriff ziehen, denn auch Erziehung ist nicht orts- oder institutionsgebunden.
In der Wissenschaft werden oft drei Formen der Bildung unterschieden, nämlich formale Bildung, nonformale Bildung und informale Bildung. Nach Tippelt findet formale Bildung in bildungsrelevanten Institutionen, also unter anderem auch in der Primarstufe statt. Nonformale Bildung entfernt sich von diesen Institutionen und umfasst „jede organisierte Erziehungs- und Bildungsakivität außerhalb des ausgebauten formalen Systems, die auf identifizierbare Zielgruppen gerichtet ist und der Erreichung bestimmter Lernziele dient“ (Tippelt 2010, S.254255). Informale Bildung umfasse weniger spezifizierte erzieherische Interaktionen, beispielsweise in Peergroups aber auch unter Einfluss der Massenmedien (vgl. ebd.).
Anschließend an diese Definitionen lässt sich nun auch der Begriff der Ernährungsbildung bestimmen. Gerade die zuletzt genannten Formen der Bildung und die damit verbundenen Bildungsorte legen nahe, dass auch Ernährungsbildung an diesen Orten stattfinden kann. Dies zeichnet sich auch in der Definition der D-A-CH-Arbeitsgruppe ab, nach welcher Ernährungsbildung in einem lebenslangen Prozess biographisch angeeignet wird, der durch das soziokulturelle (familiale, soziale und institutionelle) Umfeld beeinflusst wird. Diese Aneignung erfolgt „in interaktiver Auseinandersetzung mit der umgebenden Gesellschaft“ (Schlegel-Matthies et al. 2010, zitiert nach Mörixbauer et al. 2019, S.139). Während Ernährungserziehung also gezielte, geplante und aktive Prozesse der Wissensvermittlung beschreibt, handelt es sich bei Ernährungsbildung eher um einen Prozess, welcher den jeweiligen Menschen auch unbewusst beeinflussen kann. Dieser Prozess beginnt nach Bartsch et al. mit der Geburt und vollzieht sich lebensbegleitend (vgl. Barsch et al. 2013, M84).
Als Ziel der Ernährungsbildung nennt Ines Heindl beispielsweise die Fähigkeit, alltägliche Entscheidungen für eine bedarfsgerechte Ernährung treffen zu können (vgl. Hendl 2009, S.571). Ergänzend dazu bezieht sich Bildung zum Thema Ernährung nach Daniela Dietrich et al. besonders auf die Haltung und Einstellung. Sie betonen, dass jeder die Verantwortung für seinen eigenen Körper übernehmen muss und Gesundheitsförderung nicht einfach an andere Personen abgegeben werden kann (vgl. Dietrich et al. 2019, S.144). Dieses Ziel, nämlich die Übernahme von Verantwortung für seinen eigenen Körper, wird nicht nur in Kindertageseinrichtungen, sondern, wie sich im Verlauf der Arbeit zeigen wird, auch in der Grundschule verfolgt.
Generell findet man ambivalente Meinungen dazu, in welchem Verhältnis die Begriffe Ernährungsbildung und Ernährungserziehung zueinander stehen. Strotkamp beispielsweise vergleicht die beiden Begriffe in einer von Fröleke zitierten Tabelle (Tabelle 1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Tabelle 1: Vergleich Ernährungserziehung - Ernährungsbildung (Strotkamp 1999, zitiert nach Fröleke 2003, S. 57)
Betrachtet man diese Tabelle, so lässt sich zusammenfassen, dass Ernährungserziehung nach Strotkamp wissenschaftsorientierte, gezielt herbeigeführte Lernprozesse beschreibt. Diese Lernprozesse, so der Autor, sind auf das Klassenzimmer beschränkt, beziehen Eltern nicht mit ein und werden mit Genussfeindlichkeit und Verzicht in Verbindung gebracht. Ernährungsbildung sei schülerorientiert und verfolge durch Alltagsbezug einen handlungsorientierten Ansatz. Dieser beziehe die Eltern mit ein (Tabelle 1).
Die Schule wird in diesem Zusammenhang zwar als wichtige Institution genannt, aber auch die Schulumgebung spielt nach Strotkamp eine wichtige Rolle für die Ernährungsbildung. Meth- fessel verfolgt eine ähnliche Richtung und verbindet mit dem traditionellen Begriff der Ernährungserziehung ,eine alltagsrelevante, praxisorientierte Vermittlung von Grundwissen, das in streng gelenkten Lernprozessen vermittelt wird‘. Die Lehrperson trete dabei als Vermittler des für alle SchülerInnen gleichmäßig gültigen Wissens auf und arbeite mit Geboten und Verboten. Ernährungsbildung hingegen markiere „die Anleitung und Begleitung von Selbstlernprozessen, fasst die Schüler/innen als Menschen mit eigener Erfahrung auf und betont dabei die Fähigkeit zum Umgang mit komplexen (Konsum)Entscheidungen“ (Methfessel 2002, S.8).
Die Zeitschrift Lynx-Druck bezeichnet Ernährungserziehung als „ Pädagogik mit erhobenem Zeigefinger“ und ersetzt den Begriff, mit dem der Ernährungsbildung, welche im Gegensatz zur Ernährungserziehung individuelle Essbiographien berücksichtige (Marek et al. 2009, S.18). Zu den eingangs erwähnten Parallelen zwischen den beiden Begriffen ist mit Blick auf Strotkamps Tabelle besonders das Ziel des Gesundheitserhalts hervorzuheben. Dies soll durch ein gesundes Ernährungsverhalten erreicht werden, welches auch aus einer Aufklärung darüber, was unvorteilhaftes Ernährungsverhalten bedeutet, resultiert (Tabelle 1).
Schaut man sich nun an, wie die Begriffe Ernährungserziehung und Ernährungsbildung in der Literatur verwendet werden, stellt man fest, dass sie, wie auch schon herausgestellt wurde, teilweise unterschieden werden. Oftmals werden sie jedoch auch im gleichen Zusammenhang genannt und kaum unterschieden. Das lässt sich an Aussagen wie „unabhängig, ob wir nun von Ernährungsbildung oder -erziehung sprechen...“ (Barlösius 2019, S.574) oder „Ernährungserziehung und -bildung setzt allerdings mehr voraus als das mehr oder weniger zufällige Alltagswissen“ (Methfessel et al. 2016, S.19) erkennen.
Die D-A-CH - Arbeitsgruppe zur Ernährungs- und Verbraucherbildung merkt dahingehend an, dass, wenn Ernährungserziehung einen Prozess sozialer Beeinflussung des Ernährungsverhaltens mit dem Ziel einer gesundheitsfördernden Ernährungsweise zur Erhaltung und Förderung von Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden meint, die Begriffe Ernährungserziehung und -bildung in der öffentlichen Diskussion selten differenziert würden (vgl. Schlegel- Matthies et al. 2010). Man sieht also, dass die Begriffe Ernährungserziehung und Ernährungsbildung teilweise voneinander abgegrenzt werden, sich aber in vielerlei Hinsicht in ihrer Bedeutung überschneiden und daher nicht immer klar voneinander unterschieden werden. In dieser Arbeit werden die Begriffe so verstanden, wie sie von der D-A-CH - Arbeitsgruppe beschrieben werden und als gleichbedeutend betrachtet.
2.3 Fehlernährung
Laut Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt Fehlernährung .eine im Vergleich zum Bedarf zu hohe oder zu niedrige Aufnahme von Nahrungsenergie (Kalorien), die dann zu Überoder Unterernährung führt“ (Weingärtner 2014). Auch Teuteberg nennt Unter- und Übernährung als Formen der Fehlernährung, wobei er herausstellt, dass Unterernährung besonders ein Phänomen der Entwicklungsländer und Überernährung ein Phänomen der Industrieländer ist (vgl. Teuteberg 1986, S.2). Vor dem Hintergrund dieser Definitionen sollen im Folgenden die beiden Formen der Fehlernährung, nämlich Unter- und Überernährung genauer erläutert werden.
2.3.1 Unterernährung
Während Mangelernährung nach Christian Löser et al. Zustände beschreibt, „bei denen es zu einem Ungleichgewicht zwischen Nahrungszufuhr und Nährstoffbedarf, einer gestörten Nährstoffverwertung oder einem unkontrollierten Abbau von Körpersubstanz kommt“, beschreibt Unterernährung konkret ,einen Zustand, bei dem eine unzureichende Kalorienzufuhr stattfindet und primär die Körperfettmasse reduziert wird (vgl. Löser 2012, S.13). Lioba Weingärtner von der Bundeszentrale für politische Bildung sieht Unterernährung als Resultat unzureichender Nahrungsaufnahme oder mangelhafter Gesundheits- und Hygienebedingungen, aus deren Folge der Körper die aufgenommene Nahrung nicht angemessen verwerten kann. Weiterhin könne Unterernährung ein chronischer oder akuter Zustand sein (Weingärtner 2014).
Mangel- und Unterernährung werden oft synonym benutzt und so wird Mangelernährung in der Literatur u.a. als „unzureichende Aufnahme von Energieträgern - und insbesondere Proteinen.“ bezeichnet, wodurch laut Kaiser und Sieber folgende Sequenz ausgelöst werden kann: .unzureichende Nahrungsaufnahme - unbeabsichtigter Gewichtsverlust - Verlust von Muskelmasse und Muskelkraft - Verschlechterung der Muskelfunktion - Gangunsicherheit und Stürze, letztlich chronische Erkrankung, Immobilität und Behinderung“ (Kaiser & Sieber 2011, S.125). Diese Unausgewogenheit von bestimmten Nährstoffen, also u.a. von Inhaltsstoffen wie ,Koh- lenhydraten, Proteinen, Fetten, Mineralien, Spurenelementen, Vitaminen, sekundären Pflanzenstoffen, Ballaststoffen und Wasser‘ (vgl. Hölz & Wagner 2010, S.288) unterteilen Kahla- Witzsch und Platzer noch einmal in die Extremformen Marausmus, also reduziertes Körpergewicht, ,reduzierte Eiweiß- und Fettdepots bei verminderter Energiezufuhr und Kwashiorkor, also eine signifikante Reduktion des Körpereiweißes mit reduzierter Körperzellmasse bei normalem Körpergewicht‘ ein (vgl. Kahla-Witzsch & Platzer 2007, S.151). Unter- oder Mangelernährung kann also in vielfältiger Weise auftreten und unterschiedlich stark ausfallen.
Dennoch lässt sich bisher festhalten, dass Unter- oder Mangelernährung ein eindeutig gesundheitsschädigendes Phänomen darstellt. Dieses Phänomen, welches nach Teuteberg, wie oben beschrieben, überwiegend in Entwicklungsländern auftritt, ist scheinbar jedoch nicht nur dort, sondern weltweit und damit auch in Deutschland ein Problem. Auch wenn man bei westlichen Ländern eher an Überernährung und Adipositas denkt, so stellt Löser klar, dass das Thema Unter-/Mangelernährung eine Herausforderung für die Mitgliedsstaaten der EU darstellt und in seiner Relevanz und medizinischen und ökonomischen Bedeutung dem Problem Überge- wicht/Adipositas gleichkommt. Das Thema sei deshalb relevant, weil es in westlichen Ländern ein zunehmendes Problem darstelle, ein Risiko- und Kostenfaktor sei und in Deutschland ca. 25% aller Patienten zum Zeitpunkt einer stationären Krankenhauseinweisung unter- oder mangelernährt wären (vgl. Löser 2010, S.2).
Dabei handelt es sich aber nicht wie meist angenommen nur um Senioren, sondern besonders auch um Kinder, was der Leiter der Abteilung Stoffwechsel- und Ernährungsmedizin der Universitäts-Kinderklinik München und Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit Prof. Dr. Berthold Koletzko betont. In einem Newsletter der Stiftung Kindergesundheit sagt er Folgendes:
„Beim Stichwort Untergewicht denkt man unwillkürlich zuerst an die vielen Kinder in Entwicklungsländern, die unter Hunger und schlechten Lebensbedingungen leiden. [...] Dabei kommt Untergewicht bei Kindern und Jugendlichen auch in Deutschland häufiger vor als meist angenommen. Mit einem großen Unterschied: Das Untergewicht der Kinder in der Dritten Welt ist in aller Regel eine Folge von Armut und Unterernährung. Bei den Kindern hierzulande hat sie dagegen oft nichts mit einem Mangel an Nahrung zu tun: Sie ist häufig ein Begleitsymptom von länger dauernden oder chronischen Erkrankungen“ (Koletzko 2020).
In diesem Zusammenhang ist, auch im Hinblick auf weitere Kapitel dieser Arbeit, wichtig, dass gerade Kinder vor den Folgen einer Unter- oder Mangelernährung geschützt werden können. Kinder, die aufgrund einer Erkrankung wie Mukoviszidose, welche eine unzureichende Nahrungsverwertung zur Folge hat, mangelernährt sind, so Lise Eliot, tragen keine kognitiven Defizite davon, wenn sie in einem anregenden und fördernden Umfeld aufwachsen (vgl. Eliot 2001, S.74).
Unterernährung ist also keineswegs nur ein Problem von Entwicklungsländern und betrifft uns in Deutschland, wenn auch in anderen Formen, ebenso. Nicht nur Senioren leiden darunter, sondern auch sich im Wachstum befindende Kinder, welche wir mit einer gesundheitsfördernden Umgebung unterstützen können.
2.3.2 Überernährung
.Mittlerweile sind in Deutschland schon mehr als 10% der Grundschulkinder zu dick“, sagen Christine Graf et al. schon im Jahre 2007 (Graf et al. 2007, Klappentext). Die Frage, die sich nun stellt ist, was man unter „zu dick“ verstehen kann. Es geht dabei um eine weitere Form der Fehlernährung, nämlich die Überernährung. Weingärtner von der Bildungszentrale für politische Bildung stellt heraus, dass Überernährung und Übergewicht (Adipositas) dann auftreten, wenn die Aufnahme von Nahrungsenergie kontinuierlich den Bedarf überschreitet (vgl. Weingärtner 2014). Aus Überernährung resultiert Übergewicht und wenn ,der Fettanteil an der Gesamtkörpermasse in gesundheitsschädigendem Maße ansteigt, spricht man von Adipositas‘. Ob ein Kind oder ein Erwachsener übergewichtig oder adipös ist, so Schauder et al. weiter, erfährt man durch die Bestimmung bzw. die Schätzung der Körperfettmasse. Besonders werde dies durch den BMI[I], bei Kindern durch BMI-Perzentilen ermittelt. Dabei spreche man bei BMI- Werten oberhalb der 90. Perzentile von Übergewicht und ab einem Wert, der gleich oder oberhalb der 99,5 Perzentile liegt, von Adipositas (vgl. Schauder et al. 2006, S.88).
Besonders die Einführung des BMI und die damit verbundene Festlegung der Grenzwerte für Übergewicht und Adipositas sind nach Friedrich Schorb und Uwe Helmert der Grund dafür, dass Adipositas und Übergewicht seit einigen Jahren zu den wichtigsten weltweiten Gesundheitsproblemen gezählt werden und deshalb im weltweiten Diskurs sogar von einer „Übergewichts-Epidemie“ die Rede sei. Diese Adipositas- oder Übergewichts-Epidemie bewerten die beiden Autoren jedoch aus dem Grund als problematisch, weil ihrer Meinung nach die gesundheitlichen Folgen von Übergewicht und Adipositas überschätzt würden und Analogien zu tödlichen Infektionskrankheiten unangebracht seien (vgl. Schorb & Helmert 2011, S.31-34).
Dennoch macht Malu Dreyer schon 2003 klar, dass in diesem Jahr nach Schätzungen des Berufsverbands Kinderheilkunde und Jugendmedizin in Deutschland rund 20% der Kinder und Jugendlichen übergewichtig waren. Weiterhin wäre der Ernährungsbericht 2000 mit einer für Deutschland repräsentativen Studie zu dem Ergebnis gekommen, dass 18-20% der 6- bis unter 17-Jährigen als übergewichtig bzw. adipös einzustufen wären (vgl. Dreyer 2003, S.22). Dass das Thema auch heute noch aktuell ist, zeigt eine Schuleingangsuntersuchung des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit aus dem Jahre 2019:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Schuleingangsuntersuchung 2019 (RKI 2020, S.3)
In dieser Untersuchung lässt sich erkennen, dass Schulkinder in Bundesländern wie Bayern und Baden-Württemberg mit 8-9% Übergewicht deutschlandweit weniger betroffen sind als beispielsweise Mecklenburg-Vorpommern, wo im Jahre 2019 13-14% der Einschulungskinder entweder übergewichtig oder adipös waren. In Rheinland-Pfalz waren 10-12% der eingeschulten Kinder betroffen. Dennoch stellt das Robert Koch-Institut im Themenblatt, in welchem man diese Untersuchung findet, auch klar: Die Daten ermöglichen Aussagen über die Verbreitung von Übergewicht und Adipositas bei Einschulungskindern in den Bundesländern, Vergleiche zwischen den Bundesländern und Rückschlüsse bezüglich Übergewichts- und Adipositasprä- velenzen auf Bundesebene sind aber aus methodischen Gründen nur eingeschränkt möglich‘ (RKI 2020, S.2). Erwähnenswert ist darüber hinaus, dass diese Schuleingangsuntersuchung nach Referenzwerten von Kromeyer-Hausschild et al. von Übergewicht aufgestellt wurde. Dieser hat sich die Daten aus ,17 Studien, die zwischen 1985 und 1999 in unterschiedlichen Regionen durchgeführt wurden, zu Nutze gemacht und dadurch Größenperzentile zur Ermittlung von Gesundheits- und Ernährungszustand sowie möglichen Wachstumsstörungen ermittelt‘ (vgl. Neuhauser et al. 2013, S.12).
Überernährung ist wie sich gezeigt hat eine gut untersuchte Form der Fehlernährung, die nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern immer häufiger auftritt. Warum das so ist, lässt sich evtl. in einem Wandel in den Ernährungsgewohnheiten erklären, der im Folgenden untersucht werden soll.
3. Ernährung im Wandel der Zeit
Die Ernährung vieler Menschen, speziell in den Industrienationen, hat in den vergangenen Jahren scheinbar einen negativen Wandel durchlaufen. So wurde auch bei weiteren Einschulungsuntersuchungen festgestellt, dass immer mehr Kinder an Übergewicht oder Adipositas leiden (vgl. Heseker 2006, S. 19). Zudem wurde ermittelt, dass die Anzahl der Kinder, die das Haus ohne Frühstück verlassen, gestiegen ist. Dies ist besonders bei ärmeren Familien zu beobachten und deutet gleichzeitig darauf hin, dass alle drei Hauptmahlzeiten immer weniger im familiären Beisammensein stattfinden. Besonders die negativen Auswirkungen eines nicht vorhandenen Frühstücks werden im Verlauf der Arbeit ausführlich dargelegt. Im folgenden Abschnitt sollen daher Unterschiede zwischen aktuellen Ernährungsweisen und dem Stellenwert des Themas Ernährung in der näheren Vergangenheit untersucht werden.
Laut Barlösius werden vergangene Zeiten vor allem bei dem Thema Ernährung idealisiert und als Richtwert betrachtet (vgl. Barlösius 2009, 574). Konkret beruhen solche Annahmen darauf, dass Mahlzeiten früher als „ Orte der Ernährungsbildung, der familiären Gemeinsamkeit und des Genusses “ eingeschätzt wurden (ebd. S. 574). Ähnlich argumentiert Geest-Rack, die der gemeinsamen Tischmahlzeit eine Verbundenheit mit Traditionen und gutem Benehmen zuspricht (vgl. Geest-Rack 2013, S. 62). Diese Annahmen sind laut Barlösius als kritisch zu betrachten. Sie beschreibt gemeinsame familiäre Mahlzeiten viel mehr als „ Ort autoritärer Erziehung “ (ebd. S. 574). Ein gewisses Maß an Ernährungsbildung fand zudem statt, dies betraf allerdings vor allem Mädchen und weniger Jungen (vgl. ebd. S. 574). Dennoch lässt dies vermuten, dass diese Form von Ernährungsbildung heutzutage nicht mehr stattfindet. Barlösius sieht dies zudem als äußerst kritisch, da in diesem Zusammenhang geschlechtsspezifische Unterschiede vorherrschten, die auf diese Art und Weise heutzutage nicht mehr als erstrebenswert gesehen werden sollten (vgl. ebd. S. 574). Der Hauptgrund für eine in früheren Jahren zum Teil vorhandene Ernährungsbildung war, dass viele Mütter nicht berufstätig waren und sich zumeist um die tägliche Essversorgung kümmerten (vgl. Zander & Köhler 2009, S. 166). Dadurch hatten viele Mütter ein hohes Wissen über die Essenszubereitung sowie die Beschaffung von Nahrungsmitteln. Familien waren daher nicht auf Fast Food oder besonders schnell zubereitete Mahlzeiten angewiesen und konnten ihr angeeignetes Wissen theoretisch in der Folge auch an ihre Kinder weitergeben. Ergebnisse des Ernährungsberichtes von 2004 ergaben, dass Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren weniger Zeit in Nahrungsmittelzubereitung investierten, als dies noch zehn Jahre zuvor der Fall war (vgl. Geest-Rack 2013 S. 60). Diese Entwicklung entstand laut Geest-Rack u.a. als Folge der ansteigenden Arbeitszeiten von Müttern (vgl. ebd. S. 60). Da die gemeinsame Nahrungsmittelzubereitung mit einem hohen Arbeitsaufwand verbunden war, konnte diese folglich nicht mehr so häufig stattfinden.
In Bezug auf die Einnahme von gemeinsamen Mahlzeiten merkt Barlösius an, dass diese schon vor 30 Jahren nicht der allgemeinen Norm entsprachen. Einer empirischen Studie zufolge, die in den 70er Jahren durchgeführt wurde, nahmen weniger als 10 Prozent aller Familien an Werktagen alle drei Hauptmahlzeiten gemeinsam ein (vgl. Barlösius 2009, S. 574). Anhand dieser Feststellung könnte vermutet werden, dass sich diese Entwicklung weiterhin fortgesetzt hat, und im Laufe der Zeit immer weniger Mahlzeiten gemeinsam eingenommen werden. Aus dem Ernährungsbericht von 2004 geht jedoch hervor, dass Essen auch zu diesem Zeitpunkt noch als „ ausgesprochene familien- und haushaltsbezogene Angelegenheit “ gesehen wird (Ernährungsbericht 2004, S. 78, zitiert nach Geest-Rack 2013, S. 60). Die gemeinsame Einnahme von Mahlzeiten ist demzufolge auch im heutigen Familienleben von hoher Bedeutung. Letzten Endes kann festgehalten werden, dass insbesondere die Zubereitung von Essen in den letzten Jahren einen Wandel durchlaufen hat, dennoch hat das gemeinsame Essen auch in der heutigen Gesellschaft größtenteils noch eine fundamentale Bedeutung.
In den letzten Jahren hat sich die Rolle des Themas Ernährung in Deutschland in verschiedenen Bereichen im Vergleich zu früheren Jahren gewandelt. Für diesen Wandel gibt es unterschiedliche Gründe, durch welche die Annäherung an das Thema Ernährung beeinflusst wurde. Ein Faktor, der eine andere Sichtweise auf das Thema bewirkt haben könnte, ist die Veränderung der Familienstruktur. Vor einigen Jahren waren Familien, so Geest-Rack, in der Form von klassischen Kleinfamilien vorherrschend. Nach Geest-Rack ist unter anderem der Zerfall dieser klassischen Kleinfamilien ein Faktor, der die heutigen Ernährungsweise beeinflusst (vgl. GeestRack 2013, S. 62). Dabei käme es letzten Endes zu einem Anstieg des „Außer-Haus-Verzehrs“ (vgl. ebd. S. 62). Zudem wurde bereits angesprochen, dass besonders Frauen in den Familien für die Bereitstellung des Essens verantwortlich waren. Durch die Zunahme an berufstätigen Frauen ist auch diese Konstellation heutzutage nur noch vereinzelt vorhanden (vgl. ebd. S. 62). Natürlich ist diese Emanzipation der Frau eine positive Erscheinung. Ein Resultat dieser Entwicklung ist jedoch auch, dass oftmals nicht mehr gemeinsam gegessen wird, vor allem das gemeinsame Mittagessen findet immer seltener statt, da sich viele Familienmitglieder über den Mittag hinaus in der Schule oder am Arbeitsplatz befinden (vgl. ebd. S. 60). Diese Entwicklung bestärkt laut Geest-Rack eine Verschiebung der Einnahme von Mahlzeiten vom Tisch zur Couch bzw. zum Fernseher (vgl. ebd. S. 62).
Laut Deak sind in Deutschland vor allem zwei Ernährungstendenzen erkennbar (vgl. Deak, 2005, S. 29 f, zitiert von Geest-Rack 2013, S. 62). Dazu gehört die Kultivierung, welche sich vor allem auf die Einnahme qualitativ hochwertiger Speisen, verbunden mit hohem Arbeitsaufwand, konzentriert (vgl. ebd. S. 62). Ebenso sei eine zunehmende Simplifizierung erkennbar, welche vor allem auf die Einnahme von reichhaltigen und einfachen Speisen abziele (vgl. ebd. S. 62). Tendenzen zur Simplifizierung sind vor allem durch den Verzehr von Fast Food geprägt, welches einerseits schnell verfügbar ist und andererseits zu einer gelungenen Appetitbefriedigung beiträgt (vgl. ebd. S. 62). Ein Großteil dieser Mahlzeiten enthält jedoch hohe Anteile an Fetten und Zucker, die oftmals in Kombination verzehrt werden (vgl. ebd. S. 62). Werden solche Mahlzeiten zu einem festen Bestandteil der Ernährung, ergeben sich in der Folge oftmals gravierende gesundheitliche Folgen.
Laut Prof. Dr. Volker Pudel haben nach 50 Jahren Ernährungsaufklärung in Bezug auf das Ernährungsverhalten der Deutschen keine wesentlichen Veränderungen stattgefunden (vgl. Pudel 2009, S. 34). Dennoch wäre festzustellen, dass viele Deutsche mittlerweile mit schlechtem Gewissen essen (vgl. ebd. S. 34). Aus dieser Annahme lässt sich folglich entnehmen, dass eine Aneignung von Wissen über gewisse Ernährungsthematiken stattgefunden haben muss (vgl. ebd. S. 34). Problematisch ist dabei, dass viele Deutsche dieses erworbene Wissen nicht an- wenden. Pudel erklärt dieses Verhalten über den Einbezug der Begriffsanalyse: Menschen erhalten ihre Informationen über die Nahrungsaufnahme durch Ernährungsaufklärung, dennoch wird der eigentliche Vorgang der Nahrungsaufnahme als „essen“ bezeichnet (vgl. ebd. S. 34). Somit werden Informationen über Ernährung kognitiv als Ernährung abgespeichert, wodurch das emotionale Verhalten, das den Essvorgang bestimmt, nicht beeinflusst wird (vgl. ebd. S. 34). Ein anderer Erklärungsansatz für die Diskrepanz zwischen erhaltenen Informationen und der Umsetzung dieser könnte, wie zuvor erwähnt, am Zeitmangel der Menschen liegen. Dadurch, dass viele Menschen einen Großteil ihrer Zeit außer Haus verbringen, bleibt letztlich weniger Zeit für Einkauf und Zubereitung von Lebensmitteln. Generell werden aus Mangel an Kompetenz und Zeit immer weniger Mahlzeiten selbstständig zubereitet, wodurch kindliche Geschmackspräferenzen hervorgehen, die durchaus als kritisch zu betrachten sind (vgl .DGE 2011, S. 27, zitiert von Rose & Seehaus 2019, S. 232).
Wird der immer häufiger vorkommende Zeit- und Kompetenzmangel mit dem von Pudel angesprochenen emotionalen Verhalten während der Nahrungsaufnahme gepaart, wird der Verzehr von Fast Food für viele zur Routine. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass viele Menschen ein schlechtes Gewissen während des Verzehrs dieser Nahrung haben, welches jedoch nicht dazu ausreicht, der schnellen Verfügbarkeit und dem guten Geschmack, den das Fast Food mit sich bringt, entgegenzuwirken. Laut Prof. Dr. Eva Barlösius gibt es, im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten, immer mehr Familien, die sich mit den Themen Essen und Trinken auseinandersetzen (vgl. Barlösius 2009 S. 575). Die meisten Menschen hätten heutzutage alle Möglichkeiten, um sich gesund und angemessen zu ernähren (vgl. ebd. S. 575). Dennoch haben immer noch viele Menschen ein Problem, dies letzten Endes auch umzusetzen. Den Hauptgrund für diese Problematik sieht Barlösius in den steigenden Anforderungen an die heutige Ernährung, die in dieser Art und Weise vor einigen Jahrzehnten noch nicht existierten (vgl. ebd. S. 575). Dies geschieht konkret durch gesellschaftliche Normierungen und Moralisierungen: die heutige Ernährungsweise sollte ökologisch verantwortbar, klimaneutral und gleichzeitig auch bewusst und gemäß dem neuesten Stand der Forschung erfolgen (vgl. ebd. S. 575). Des Weiteren spielt das Thema Nachhaltigkeit in Bezug auf Ernährung eine entscheidende Rolle.
Der Begriff Nachhaltigkeit beschreibt „eine gesellschaftliche Entwicklung, in der die Bedürfnisse heutiger Generationen befriedigt werden sollen, ohne die Bedürfnisbefriedigung kommender Generationen zu gefährden.“ (vgl. von Koerber 2014, S. 261). Nachhaltigkeit in Bezug auf Lebensmittelkonsum gewinnt insbesondere durch die zunehmende Globalisierung immer mehr an Bedeutung. Somit haben die meisten Menschen heutzutage die Möglichkeit, Lebensmittel aus der ganzen Welt zu kaufen und zu verzehren, wodurch gleichzeitig viele Jugendliche in verantwortungsvolle Positionen gebracht werden (vgl. Bartsch 2016, S. 70). Werden Produkte aus weit entfernten Regionen gekauft, müssen diese in der Folge weite Strecken zurücklegen, um bei dem Verbraucher einzutreffen. Dies wäre aufgrund der durch den Transport entstehenden Umweltschäden nicht mit einer nachhaltigen Ernährungsweise vereinbar. Nachhaltige Ernährung zielt nicht nur auf die Schonung der Umwelt ab, sondern umfasst neben dieser Dimension auch noch die Themenfelder Gesundheit, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur (siehe Abb. 2).
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Abbildung 2: Nachhaltige Ernährung (von Koerber 2014, S.261)
Der Aspekt der Gesundheit spielt auch beim Thema „nachhaltige Ernährung“ eine zentrale Rolle. So kann eine nachhaltige Ernährung, die im Wesentlichen aus pflanzlichen Bestandteilen zusammengesetzt ist, positive Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben, während ein Übermaß an tierischen Lebensmitteln Belastungen für die Umwelt, sowie für die eigene Gesundheit haben kann (vgl. von Koerber 2014, S. 263). Neben den Aspekten Gesundheit und Umwelt ist die vorherrschende Kultur ausschlaggebend für die Umsetzung einer nachhaltigen Ernährungsweise. Laut von Koerber wurde Fleisch in Deutschland noch vor 60 Jahren nur einmal wöchentlich, an Sonntagen, serviert (vgl. ebd. S. 263). In den letzten Jahrzehnten hat sich der Fleischkonsum jedoch drastisch erhöht (vgl. ebd. S. 263).
Vielfältige Unterschiede zwischen heutiger Ernährung und der Ernährung vor einigen Jahrzehnten gehen aus unterschiedlichen Ursachen hervor. Insbesondere die vorherrschenden hohen Anforderungen an Nahrungsmittel machen es für viele Menschen schwieriger, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Gleichzeitig gewinnt der Verzehr von einfachen und reichhaltigen Lebensmitteln an Bedeutung, welcher jedoch oftmals noch im Gegensatz zur nachhaltigen Ernährung steht und in der Folge eines emotionalen Handelns entsteht. Veränderungen von Familienkonstellationen, sowie die fortschreitende Globalisierung, haben zu verschiedenen Ernährungstrends geführt, die das Thema einerseits vereinfachen, andererseits aber auch für viele schwer zugänglich machen. Unter diesem Einfluss stehen folglich auch Kinder und nun gilt es herauszufinden, von wem und wie genau Kinder in ihrem Ernährungsverhalten beeinflusst werden.
4. Einflussfaktoren auf das kindliche Ernährungsverhalten
4.1 Soziales Umfeld
.Es wurde festgestellt, dass die kindliche Fettleibigkeit mit dem Übergewicht der Eltern im Zusammenhang steht. Die Erklärung dafür ist sehr einfach: essen die Eltern reichliche Portionen, so werden sie Schwierigkeiten mit der Einschätzung der richtigen Menge an Nahrung, die den Kindern zu verabreichen ist, haben.“, schreibt Roberta Graziano zum Thema Ernährungserziehung in der Kindheit (Graziano 2020, S.9.). Dieses Zitat untermauert die Aussage, dass der Familie bzw. den Eltern als einer primären Instanz der Sozialisation eines Kindes (vgl. Bea & Haas 2019, S. 490) ,bei der Vermittlung von Ernährungsgewohnheiten, Werten und Einstellungen bezüglich der Ernährung im Kindesalter die größte Rolle zukommt‘ (vgl. Molderings 2009, S.84). Molderings fährt fort und nennt ,fünf nach der Erziehungsstilforschung zentrale, lenkende Verhaltensdimensionen der Eltern, welche die Ernährung des Kindes beeinflussen‘:
1. Lebensmittelmenge beeinflussen
2. Vielfalt des Lebensmittelangebots regeln
3. Sich-Ernähren vorleben
4. Esswünsche und Signale des Kindes beachten
5. Konflikte mit Lebensmitteln lösen (ebd. S.84)
Auch Koletzko et al. betonen die Vorbildfunktion der Eltern, da Kinder auf vielfältige Weise, nämlich besonders durch Beobachtung und Nachahmung der Eltern und anderen Bezugspersonen lernen. Dadurch würden sie ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten in Interaktion, Kommunikation und zusammen mit anderen entfalten (vgl. Koletzko et al. 2013, S.1188). Vor dem Hintergrund, dass, so Paul Gamber, ein sich noch entwickelndes Kind (und sein Gehirn) darauf reagiert, was es an Nahrungsstoffen zu sich nimmt (vgl. Gamber 2014, S.297), kann man also sagen, dass die Eltern durchaus auch eine falsche Ernährung des Kindes forcieren können. So lassen sich unter anderem Desintegration und Desorganisation in vielen heutigen Familien feststellen‘ (vgl. Peter 2011, S.138). Das führt laut Menne unter anderem dazu, dass die Mahlzeiten bei berufstätigen Eltern nicht mehr gemeinsam eingenommen werden, wodurch sich die Kinder selbst versorgen müssen. Durch diese Veränderung der Familienstruktur würden häufig auch Sozialisationsdefizite auftreten (vgl. Menne 2018, S.34). Hier findet man also weitere in der Familie auftretende Ursachen für die Fehlernährung eines Kindes.
Die Nahrungspräferenzen von Familie bzw. Eltern oder älteren Geschwistern übertragen sich, so Ulrike Philipps, auf die Kinder. Sie fährt fort: „Es zeigte sich, dass Kinder solche Speisen und Getränke ablehnen, die auch von den Eltern nicht gerne gegessen werden, meist schon allein deswegen, weil sie diese wenig oder gar nicht kennen“ (Philipps 2004, S.28). Das führt mitunter dazu, dass ,Familien immer weniger mit frischen Zutaten kochen und vermehrt zu Fertigprodukten greifen‘ (vgl. Effertz et al. 2015, S.95). Ute Gola bestärkt die bisher genannten Punkte und merkt außerdem an, dass jeder Tag im Leben eines Kindes von Lernen geprägt wird. Weiterhin ließen sich Kinder vom Erlebten beeinflussen. Die in der Kindheit gemachten Grunderfahrungen würden das ganze Leben als Standard dienen, was Eltern im Hinblick auf das Essen in der Familie nie vergessen sollten (vgl. Gola 2011, S.264).
Klar ist also, dass Eltern einen großen Einfluss auf die (Fehl)ernährung ihrer Kinder haben. Auf konkrete Folgen für die kindliche Entwicklung wird im Verlaufe der Arbeit noch genauer eingegangen. Zu den drei Aspekten der Elternrolle nach Schneewind, welche Sabine Walper zitiert, nämlich die Bedeutung der Eltern als Interaktions- und Beziehungspartner, die zentrale Funktion der Eltern als Erzieher und Bildungsförderer und Eltern als Arrangeure kindlicher Entwicklungsgelegenheiten durch die Wahl der Betreuung, Schulen und Freunde fügt sie eines hinzu: „[...] Dabei sind auch Eltern Lernende, wodurch die Familienbildung vor neu entdeckten Chancen und Herausforderungen steht“ (Walper 2012, S.10). Auch bei Eltern können sich hinsichtlich der Ernährung also durchaus noch Lernprozesse anstoßen lassen.
Wenn man die Familie als Einflussfaktor für die Ernährung eines Kindes betrachtet, so muss man zwangsläufig auch den sozialen Status ebendieser Familie und damit des Kindes genauer betrachten. Der soziale Status wird nach Muff und Weyers durch Bildung, Einkommen und beruflichen Status definiert. In den daraus resultierenden sozialen Schichten, also „Bevölkerungsgruppen, deren Angehörige sich bezüglich der Merkmale des sozialen Status in einer vergleichbaren Lage befinden“ käme es nach den beiden Autorinnen dazu, dass sich Personen mit niedrigerem sozialem Status häufiger ungünstig ernähren als Personen mit hohem sozialem Status (Muff & Weyers 2010, S.84).So beeinflusst der sozioökonomische Status nach Lanfer et al. das Adipositasrisiko. Kinder aus niedrigeren Schichten seien einem höheren Übergewichts- und Adipositasrisiko ausgesetzt als Kinder höherer Schichten (vgl. Lanfer et al. 2010, S. 696).
Es wird also deutlich, dass nicht nur die Familie, sondern damit zusammenhängend auch der soziale Status sich negativ auf das Essverhalten von Kindern auswirken kann. Damit einhergehend verdeutlicht Muff in ihrer Dissertation, welche 2009 vom Lit Verlag in einem Band „Mediensoziologie“ veröffentlicht wurde, „dass in sozial benachteiligten Gebieten die Verfügbarkeit an energiedichten und somit ungesunden Nahrungsmitteln höher ist als in privilegierten Wohngegenden“ (Drewnowski 2003b zitiert nach Muff 2009, S.112). Auf dieser Basis verdeutlicht sie, dass das ,räumlich-soziale Umfeld einen Einfluss auf die Verhaltensweisen der darin lebenden Menschen in hohem Maße beeinflusst (ebd. S.113). Arme Haushalte leiden also, so Brunner et al., „oft weniger unter der materiellen Einschränkung der Ernährung als unter der Einschränkung der Wahlfreiheit und der Reduzierung der sozialen Ernährungsqualität, indem statushohe durch statusniedrigere Lebensmittel ersetzt oder Lebensmittel mit hohem sozialen oder emotionalen Gehalt eingeschränkt werden müssen bzw. kulturell übliche Mahlzeitenkonzepte nicht mehr praktiziert werden können“ (Charles/Kerr 1986, Feichtinger 1995, 1998 zitiert nach Brunner et al. 2007, S.23).
Der soziale Status einer Familie begrenzt also stark die Auswahl der Lebensmittel, zwischen denen diese Familie wählen kann. Das hat zwangsläufig auch Folgen für die Ernährung und das Ernährungsverhalten der Kinder und schafft womöglich eine Diskrepanz zwischen solchen Kindern, die in Familien mit hohem sozialem Status aufwachsen und Kindern, die in Familien mit niedrigem sozialem Status aufwachsen. Das liegt vor allem an Gründen wie fehlender finanzieller Ressourcen, armutsbedingter Lebensmittelknappheit, dem Erwerbsstatus und Einflüssen aus dem Wohnfeld‘, wie auch oben schon beschrieben wurde (vgl. Muff und Weyers 2010, S.85-86). Weitere Einflussfaktoren nach Muff und Weyers sind beispielsweise auch Ernährungswissen und Ernährungsbewusstsein (ebd. S.86). Das führt dazu, dass Seitz und Zwick die schon erwähnte „Adipositas-Epidemie“ als soziales Konstrukt bezeichnen, „an dessen Entstehung verschiedene Interessensgruppen und Akteure mit jeweils spezifischer Interessenslage mitgewirkt haben - angefangen von der Expertenschaft, über die Medien, bis hin zu politischen Institutionen“ (Seitz & Zwick 2011, S.275). Klar erkennen lässt sich hierdurch, dass die Vermittlung einer falschen Ernährung an Kinder kein eindimensionaler Prozess ist. So stellt Seib fest, dass ,neben der Familie auch andere Gemeinschaften wie Kindergarten, Schule und Freundeskreis die Ernährungsgewohnheiten eines Kindes bestimmen‘. Kinder äßen in der Kindertagesstätte oder bei Freunden teilweise Gerichte, die sie zu Hause ablehnen (vgl. Seib 2003, S.2). Das soziale Umfeld eines Kindes hat also direkte Auswirkungen auf dessen Ernährungsverhalten. Im Folgenden wird ein nächster, bedeutender Einflussfaktor untersucht, nämlich die Bildung.
4.2 Bildung
„Bildungsmangel macht dick“, schreibt „ZEIT Online“ am 24. Januar 2009 (Zeit Online 2009). Nach Hella Maria Innemann gibt es in der allgemeinen Förderung von Ernährungskompetenz, also der Fähigkeit, theoretisches Wissen sowie praktische Fertigkeiten in adäquatem Ernährungshandeln umzusetzen (vgl. Hayn 2007, S.79), einen Nachholbedarf. „Um diesem Bedarf auf möglichst breiter Ebene und explizit in den für späteres Ernährungshandeln stark prägenden jungen Lebensjahren zu begegnen“, schreibt sie, „ist schulische Bildung der zentrale Weg“ (Innemann 2013, S.66). Herauszustellen ist gleich zu Beginn, dass Bildung als Ganzes keine direkte Ursache für Fehlernährung ist, sondern vielmehr das Fehlen von dieser im Feld Ernährung oder eine falsche Herangehensweise an das Thema. So bleiben nach Oepping und Francke die Potenziale der Ernährungs- und Verbraucherbildung oft dadurch ungenutzt, dass die ,Lern- und Lebenswelt „Essen und Trinken“ und die damit verbundenen Lernbereiche durch einen fehlenden Rahmen oft nicht mit dem Bildungsbereich für die frühkindliche Bildung verbunden werden kann‘ (vgl. Oepping & Francke 2009, S.5).
Bartsch et al. machen ebenfalls auf die Relevanz des Themas Ernährungsbildung in der Schule aufmerksam und stellen fest, dass Kinder und Jugendliche mindestens zehn Jahre in allgemeinbildenden Schulen verbringen. Diese, so die AutorInnen, gelten als Lern- und Lebenswelten, sozialisieren, erziehen, bilden und prägen für die Auseinandersetzung mit der und die Aneignung von der Welt. Obwohl klar gemacht wird, dass Essen vor allem in der Kindheit beim und durch das Essen erlernt wird, steht für die Autorinnen auch eines fest: „,...im Unterricht der Grundschule mangelt es an praktischen Übungseinheiten und gemeinsamen Reflexionsgelegenheiten: Einkaufen, Essen, Nahrung zubereiten, Mahlzeiten einnehmen sowie Entsorgen ist im unterrichtlichen Zusammenhang der Primarstufe schlichtweg nicht vorgesehen“ (Bartsch et al. 2013, M88-M90). Ähnlich argumentiert auch Nicola Kluß. Sie fügt allerdings hinzu, dass der Genussumgang in vielen Fällen angst- und stressbesetzt ist und stellt fest, dass es zwischen den Begriffen Gesundheit und Genuss oftmals eine Diskrepanz gibt. Sie stellt sich die Frage, wie ,Genuss als individuelle Ressource den persönlichen Essalltag bereichern kann ohne das Gefühl zu haben, diesen bereuen zu müssen‘. Vor dieser Herausforderung stehe auch die schulische Ernährungsbildung und suche nach Wegen, bei Heranwachsenden in ihrer Altersphase der Orientierung Kompetenzen zu vermitteln, genussvoll mit der eigenen Lust umzugehen (vgl. Kluß 2019, S.17). Das Thema Ernährung sollte also nicht scheinbar bloß abstrakt, beispielsweise durch Modelle wie Ernährungskreis- und pyramide, zu einem gesundheitsförderlichen Lebensstil führen (vgl. Oepping & Francke 2009, S.5), sondern gerade für Kinder auch persönlich erfahrbar sein und Raum für Genuss bieten.
Auch Ulrike Kögel hat sich mit dem Thema Ernährungserziehung in der Grundschule beschäftigt und stellt die Zunahme von Übergewicht bei Schulkindern in einen Zusammenhang mit der Schulbildung. Der frühzeitige Einsatz präventiver Maßnahmen sei erforderlich, um zukünftiges Übergewicht bei Jungen und Mädchen zu vermeiden. Weiterhin werde das Ernährungsthema als eines der wichtigsten Themen der schulischen Gesundheitserziehung in vielen Grundschulen in Deutschland unzureichend behandelt und vermittelt (vgl. Kögel 2015, S.7). In der Literatur zum Thema Ernährung findet man also mehrere AutorInnen, die feststellen, dass dieses Thema nicht unbedingt mehr Eingang in den Unterricht finden sollte, sondern dass die bisherige Herangehensweise der steigenden Zahl an beispielsweise übergewichtigen Kindern nicht sonderlich entgegenwirkt.
Dahingehend stellt sich auch die Frage, wer im Kontext Schule für die Vermittlung von Ernährungsbildung- und erziehung verantwortlich ist. Schwarzenberger und Kustermann nennen drei Gruppen von schulischen Akteuren, die an der Ernährungsbildung bzw. Ernährungserziehung beteiligt sind, nämlich:
- „Die Lehrpersonen, die für den (Fach-)Unterricht verantwortlich sind und einen entsprechenden Bildungs-/Erziehungsauftrag haben,
- Schulleitungen und weitere Personen, die an der Gestaltung des Schullebens maßgeblich beteiligt sind und
- Anbieter von Schulverpflegung“ (Schwarzenberger & Kustermann 2006, zitiert nach Bartsch et al. 2013, M91)
Silke Bartsch et al. sprechen im Kontext der Ernährungsbildung in der Primarstufe davon, dass, LehrerInnen, wie oben beschrieben, Akteure sind, die an der Ernährungsbildung beteiligt sind. Dennoch sei in der Lehrerbildung für die Primarstufe in der Regel keine verbindliche ernährungsbezogene Grundbildung vorgesehen. Nach den AutorInnen ist die inhaltliche und didaktische Umsetzung ernährungsbezogener Bildung somit eher an die individuellen Interessen und Fähigkeiten der Lehrkraft als an eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung gebunden (ebd. M91).
Geht man auf die nächsten Akteure, nämlich Schulleitungen und andere Person, die am Schulleben beteiligt sind, ein, so sollte klar sein, dass auch sie eine große Rolle in der Vermittlung von Ernährungsbildung spielen. Dass das Thema an manchen Grundschulen sehr ernst genommen wird, zeigt beispielsweise das auf der Website der Alfred-Delp-Schule in SeligenstadtFroschhausen vorgestellte Ernährungskonzept. Die Schulleitung stellt ausführlich ihr Ernährungskonzept, das auch in Zusammenarbeit mit den Eltern entstanden ist, vor und man sieht, dass das Thema Ernährung von Klasse 1 an fest im Unterricht verankert ist. Die Schule beklagt aber auch das Fehlen einer Schulküche:
„Bisher gelang der Versuch, mit Kindern gemeinsam zu kochen, nur halbherzig oder gar nicht, da uns Raum und Ausstattung fehlen. Kochen — besser formuliert: kleinere, einfache Nahrungsmittelzubereitung — im Klassensaal scheitert daran, dass es eine immense Vor- und Nachbereitung erfordert. Utensilien müssen von zuhause mitgebracht, Tische und Stühle um- und leer geräumt werden. Das Arbeiten an Schultischen zwischen Arbeitsblättern und Tafelstaub ist manchmal unappetitlich und unhygienisch. Die Klassensäle sind nur mit jeweils einem Handwaschbecken ausgestattet. Zum Spülen müssen Kinder in die Toilette gehen oder Lehrer müssen im Lehrerzimmer die Spülmaschine benutzen. Geschirr muss also treppauf, treppab durch das ganze Schulhaus geschleppt werden. Die im Besitz der Schule befindliche doppelte Kochplatte kann nicht 20 Kinder beschäftigen, Backofen und Kühlschrank sind nicht vorhanden.“ (Website der Alfred-Delp-Schule).
Scheinbar fehlen manchen Schulen also auch die Mittel, um ihre Ernährungskonzepte umzusetzen. Im Hinblick auf die Schulverpflegung, nicht nur am Vormittag, sondern auch im Bereich der Ganztagsschulen stellte die Abgeordnete des rheinland-pfälzischen Landtags Christine Schneider von der CDU 2017 sechs Fragen zum Thema „Schulküchen an Ganztagsschulen und Kindertagesstätten“ an das Ministerium für Bildung Rheinland-Pfalz. Auf die Frage, wie viele Ganztagsschulen über eine eigene Schulküche verfügen, in der täglich mindestens ein Mittagessen für die Schülerinnen und Schüler frisch zubereitet wird, antwortete Staatssekretär Hans Beckmann. Nach ihm hätten von 1166 Schulen mit ganztägigem Angebot 139 Schulleitungen Angaben zur Küchenausstattung der Mensen gemacht. Ein Großteil dieser Mensen verfüge über Relaisküchen mit Gargeräten (41,0 Prozent) oder Ausgabe- bzw. Verteilerküchen (43,2 Prozent). 11,5 Prozent hätten eine voll ausgestattete Produktionsküche (Beckmann 2017). Eger und Lamm stellen heraus, dass es Aufgabe der Schulmensen sein muss, eine „ausgewogene und gesunde Mittagverpflegung für die betroffenen Schüler anzubieten“ Eger & Lamm 2010, S.277). Leider würden aber die Chancen, welche in der Schulverpflegung liegen, zu we- nig oder gar nicht genutzt, so auch eine Nestlé Studie in einer Befragung von 750 GanztagsSchülerinnen und -schülern inklusive ihrer Eltern. Das Problem liegt nach den Autoren darin, dass viele Schulen ihre Aufgabe auf die „Sättigung“ der SchülerInnen reduzieren (vgl. ebd. S.277). Im Verlauf der Arbeit wird das Thema der Essensangebote in Schulen noch genauer beleuchtet.
Wie man sieht, sind die Ursachen für die Fehlernährung von Kindern also auch in der Bildung und damit in der Institution Schule überaus vielschichtig. Auch wenn teilweise viel gemacht wird, um das Thema Ernährung in den Schulen mehr einzubetten und erfahrbarer zu machen, ist man sich in der Literatur weitgehend einig, dass es in vielen Bereichen Handlungsbedarf gibt.
4.3 Lebensmittelindustrie
Auch die Lebensmittelindustrie spielt eine große Rolle bei der Entwicklung des Essverhaltens von Kindern und ist damit auch eine Ursache von Fehlernährung. So ist Patrick Bolk der Meinung: „Die Lebensmittelindustrie tut eine ganze Menge dafür, dass wir uns nicht gesünder ernähren - denn dann würden wir ja ihre Produkte nicht mehr kaufen“ (Bolk 2017, S.27). Auch Dr. med. Matthias Riedl und Anna Cavelius suchen nach Verantwortlichen dafür, dass ,bislang als unheilbar geltende Krankheiten wie Typ-2-Diabetes oder Alzheimer in erschreckendem Maße zunehmen‘. Unter den Schuldigen nennen sie unter anderem eine „skrupellose Lebensmittelindustrie“ (Riedl & Cavelius 2019, S.19). In anderen Werken wird ebenfalls herausgestellt, dass die Lebensmittelindustrie einen negativen Einfluss auf das Ernährungsverhalten haben kann. Nach Endres und Klotter wird es in Deutschland mittlerweile als Selbstverständlichkeit angesehen, dass man der Lebensmittelindustrie in Deutschland misstraut. Nach weit verbreiteter Meinung wird sie unter anderem auch als ,Manipulationsmaschine begriffen, die für die Zunahme von Adipositas oder Diabetes verantwortlich ist‘ (vgl. Endres & Klotter 2020, S.1).
Das Ernährungsgewerbe zählte schon Ende 2005 mit einem Umsatzvolumen von 133,5 Milliarden Euro zu den wirtschafts- und beschäftigungspolitisch wichtigsten Industriezweigen in Deutschland, so Lars Czommer (vgl. Czommer 2007, S.144). Daniel Dietrich et al. begründen dies damit, dass die Ernährung in unserem Kulturkreis in engem Zusammenhang mit den Lebensbedingungen der Menschen steht. Während, so die AutorInnen, in der Urzeit auch Hungerperioden überwunden werden musste, sieht es heute anders aus. ,Durch das Wachstum der Lebensmittelindustrie in der Nachkriegszeit wurden Nahrungs- und Genussmittel immer weiter bearbeitet und verfeinert, wodurch das Ernährungsverhalten immer heterogener wurde‘ (vgl. Dietrich et al. 2019, S.160-161). Matthias Riedl und Anna Cavelius betonen hingegen aber auch, dass in Lebensmitteln heutzutage insgesamt 316 Zusatzstoffe, in Bioprodukten 44 zugelassen sind und schlussfolgert: „Überall, wo viele industriell verarbeitete Nahrungsmittel konsumiert werden und wenig selbst gekocht wird, folgen bald Fettleibigkeit, Diabetes und jede Menge Zivilisationskrankheiten“ (Riedl & Cavelius 2019, S.20).
Frauke Steffek relativiert diese Aussage etwas. Sie ist der Meinung, dass es ab und zu in Ordnung ist, Fertiggerichte zu konsumieren. Trotzdem akzentuiert sie das Problem, dass die Lebensmittelindustrie fast alles auch als Fertiggericht anbietet. Eine Untersuchung hätte gezeigt, dass dicke Kinder mehr Fast-Food-Produkte konsumieren, normalgewichtige Kinder hingegen mehr naturbelassene Produkte wie Obst, Gemüse und magere Milchprodukte. Auch hier tauchen wieder die Eltern als Einflussfaktor auf, denn nach Steffek können diese mit der Auswahl der Lebensmittel direkt Einfluss auf das Gewicht der Kinder nehmen (vgl. Steffek 2010, S.19). Was an dieser modernen Art der Ernährung ungünstig ist, erklärt wiederum Riedl. Nach ihm ist ein Grund von Übergewicht der, dass zu viele Kohlenhydrate, besonders schnell verdauliche, die nicht an den Verbrauch durch Bewegung angepasst sind konsumiert werden. Weiterhin würde zu viel Zucker, der besonders in Süßigkeiten, Getränken und Fertiggerichten stecke, verbraucht werden (vgl. Riedl & Cavelius 2019, S.20). In einem anderen Werk wird klar gemacht, dass dieser Zuckerkonsum zwar ,genetisch determiniert ist, aber auch durch frühe Gewöhnung an süße Nahrung nachhaltig verstärkt werden könne. Ebendiese Geschmackspräferenz, so die Autorin Mathilde Kersting weiter, wird auch durch die Lebensmittelauswahl reflektiert. Bei Befragungen von SchülerInnen würden Fast Food, Pommes frites und Süßigkeiten in der Beliebtheit vorne liegen (vgl. Kersting 2007, S.24).
Dantse Dantse betont, dass viele Studien die schlechte Ernährung in den Industrieländern belegen. Über die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland seien übergewichtig. Weiterhin macht er klar:
„Die deutsche Ernährung ist ungesund, tierische Fette haben das gesunde pflanzliche Fett vom Markt verdrängt. Die Menschen essen zu süß, zu säuerlich, zu viele Fertigprodukte, zu viele künstliche Zusatzstoffe und zu viele Milchprodukte. Fertiges Essen und verarbeitete Lebensmittel enthalten Unmengen an Chemikalien, die das Fettverbrennen unmöglich machen“ (Dantse 2015, S.5).
Nach Klotter und Endres sind unter anderem die Überflussgesellschaft und ein Rückgang von Ernährungskompetenz Voraussetzung für die Verbreitung von Adipositas (Klotter &Endres 2020, S.9).
[...]
1 Der BMI (Body-Mass-Index) ist der Quotient aus Gewicht und Körpergröße zum Quadrat (Klotter 2020, S.103).
Regionalität Bundesländer
Abbildung 1: Schuleingangsuntersuchung 2019 (RKI 2020, S.3)
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- Benjamin Thomas (Author), Sebastian Müller (Author), 2021, Ernährungserziehung in der Grundschule, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1128359
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