Gliederung
I. Einleitung
II. Rousseau - Gemeinwille und politische Freiheit
III. Madison - Das Übel der Parteiungen
IV. Toqueville - Die Allmacht der Mehrheit
V. Marx / Engels - Klassenherrschaft
VI. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Demokratie ist die Herrschaft des Volkes. Das demokratische Prinzip ist seinem Wesen nach darauf ausgerichtet eine Identität von Regierenden und Regie rten zu schaffen, wobei unterschiedliche Vorstellungen herrschen, auf welchem Wege dies zu erreichen sei. In der Praxis demokratischen Regierens stellt dabei das Mehrheitsprinzip eine wichtige Entscheidungsregel dar. Trotzdem ist Demokratie mit dem Prinzip der Mehrheitsherrschaft allein, nicht ausreichend beschrieben. Heutzutage zeigt sich freiheitliche, demokratische Herrschaft häufig als ein Wechselspiel zwischen dem Mehrheitsprinzip, Schutz von Minderheitsrechten und grundlegenden Individualrechten. Ich möchte in diesem Aufsatz am Beispiel ausgewählter Texte von Jean-Jacques Rousseau "Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts", James Madison "Federalist Paper Nr. 10", Alexis de Toqueville "über die Demokratie in Amerika", sowie Karl Marx und Friedrich Engels Das Kommunistische Manifest", Zur Kritik der politischenökonomie", "Zur Judenfrage" einige Konzepte politischer Ideengeschichte zum Verhältnis von Demokratie zur Mehrheit bzw. Minderheit umreißen. Dabei ist die Frage zentral, ob die Gefahr in einer Demokratie eher in der Tyrannei der Mehrheit oder der Minderheit liegt.
II. Rousseau - Gemeinwille und politische Freiheit
Jean- Jacques Rousseau entwirft eine Demokratievorstellung welche auf dem Konzept eines Gesellschaftsvertrages beruht. Ziel dieses Vertrages ist dabei die Überwindung des Naturzustandes und die Hervorbringung solch einer politischen Ordnung, welche eine größtmögliche soziale und politische Freiheit der Bürger gewährt. Auf dieser Basis kommt es zu einer Übereignung des Individuums in die Gemeinschaft, aus einer Anzahl von Einzelwillen wird ein übergeordneter Gesamtwille (volonté generale), so dass ein ganzer moralischer Gesellschaftskörper entsteht. Rousseau konzipiert eine direkte Demokratie; jeder Einzelne ist nach Vertragsschluss Gesetzgeber, d.h. Mitglied der Volkssouveränität. Gleichzeitig ist er Untertan, indem er sich dem Gemeinwillen unterordnet. Die wichtigste Gewalt ist dabei für Rousseau die gesetzgebende, während die Regierung nur eine untergeordnete Rolle spielt und nach Belieben vom Volk abgesetzt werden kann. Entscheidend ist für den Vertragsschluss, dass jeder Einzelne sich den gleichen Bedingungen unterwirft, also seine natürliche Freiheiten zugunsten der bürgerlichen Freiheit im Gesellschaftszustand abgibt. Es darf an diesem Punkt keinesfalls ein Mehrheits-, Minderheitsverhältnis entstehen, denn sobald auch nur ein einzelnes Individuum seine natürlichen Freiheiten nicht dem gemeinsamen Interesse im Vertragschluss unterordnete, würde der Vertrag null und nichtig, so dass "jeder wieder in seine ursprünglichen Rechte eintritt, seine natürliche Freiheit wiedererlangt und dadurch die auf Vertrag beruhende Freiheit verliert...". (Rousseau 1991: 17) Um überhaupt erst zur Demokratie zu gelangen, ist demnach eine vollkommene Gleichheit und Einstimmigkeit vonnöten.
Der Gemeinwille wird dabei nicht vom Willen der Mehrheit ausgemacht, sondern konstituiert sich aufgrund des spezifisch Gemeinsamen der Interessen aller. "Der Gemeinwille, um wahrhaft ein solcher zu sein, muss in seiner Auswirkung nicht weniger als in seinem Wesen allgemein sein, er muss von allen ausgehen, um sich auf alle zu beziehen." (Rousseau 1991: 33) Er entsteht demnach, wenn Jeder seine Stimme in völliger Freiheit und Gleichheit abgibt. Vom Gemeinwillen muss der Gesamtwille unterschieden werden. Im Gesamtwillen vereinigen sich die Privatinteressen aller, die Interessen der Einzelnen stehen dabei über dem Wohle der Gesellschaft. Solche Sonderwillen gefährden laut Rousseau demokratische Abstimmungen.
Entscheidend ist für Rousseaus Demokratiekonzept dabei nicht, dass eine Entscheidung die Stimme aller Bürger erhält, solange frei und gleich abgestimmt wurde und kein Sonderwille der volonté generale entgegengesetzt ist. Falls jedoch in dieser Stimmenabgabe ein Mehrheits-, Minderheitsverhältnis entsteht, dann deshalb, weil Partikularinteressen das Urteilsvermögen der Bürger verfälschten. Solche Minderheiten mit Partikularinteressen sind problematisch, denn sobald sich diese Bürger in Parteiungen organisieren, ist dies Ausdruck eines Sonderwillens. Dieser Sonderwille vertritt zwar den gemeinsamen Willen der Glieder der Vereinigung, aber nicht den Gemeinwillen des gesamten Volkes. "Aber wenn Parteiungen entstehen, Teilvereinigungen auf Kosten der großen, wird der Wille jeder dieser Vereinigungen ein allgemeiner hinsichtlich seiner Glieder und ein besonderer hinsichtlich des Staates..." (Rousseau 1991: 31), so Rousseau. Da er auf ökonomische, soziale oder politische Vorteile derjenigen, die der Parteiung angehören, ausgerichtet ist, wird der Sonderwille also das Unabhängigkeits- und Gleichheitsprinzip in der Stimmenabgabe verletzen. Die Bindung der Individuen innerhalb einer Parteiung aneinander untergräbt somit die volonté generale, die Ziele der Gesellschaft werden gefährdet: "Nichts ist gefährlicher als der Einfluss von Privatinteressen auf die öffentlichen Angelegenheiten, und der Missbrauch von Gesetzen durch die Regierung ist ein geringeres Übel als die Verderbtheit des Gesetzgebers, unfehlbare Folge von Sondermeinungen." (Rousseau 1991:73)
Die abweichende Minderheit, die einen Sonderwillen vertritt, müsste deshalb zu ihrem 'wahren Glück' gezwungen werden, denn das Gemeinwohl, welches nur die volonté generale verwirklichen kann, ist ja per Vertragsschluss mit dem Wohl des Einzelnen identisch. Hier zeigt sich Rousseaus Demokratiekonzept als radikale, ja totalitäre Demokratie.
Ein Sonderwillen ist jedoch solange nicht wirklich existenzbedrohend für die Demokratie, wie er nur eine Minderheit darstellt. Laut Rous seau, ließe sich diese Gefährdung des Gemeinwohls nicht nur durch Zwangsanpassung der Minderheit sondern auch durch Ausgleichen noch kompensieren. Dazu ist es notwendig, darauf zu achten, dass eine Vielzahl unterschiedlicher kleinerer Minderheiten existieren, die einander ausgleichen können. Durch diese Voraussetzungen wäre das Gleichheitsprinzip als Grundlage des Gemeinwillens und damit das Gemeinwohl weiterhin existent, obwohl einer potentiellen Gefährdung ausgesetzt. Dieser Ausgleich stellt aber nur eine n Kompromiss an die defizitäre Natur des Menschen dar, denn Rousseau ist sich stets darüber im klaren: "Eine so vollkommene Regierung [wie die direkte Demokratie] passt für Menschen nicht." (Rousseau 1991: 74)
Sobald jedoch eine Parteiung und der von ihr vertretene Sonderwille eine klare Überhand über alle Anderen gewinnen, wäre dies eine ernsthafte Bedrohung der Demokratie: "Wenn schließlich eine dieser Vereinigungen so groß ist, dass sie stärker ist als alle anderen, erhält man als Ergebnis nicht mehr die Summe der kleinen Unterschiede, sondern einen einzigen Unterschied; jetzt gibt es keinen Gemeinwillen mehr, und die Ansicht, die siegt, ist nur eine Sonderanschauung." (Rousseau 1991: 31) In diesem Fall würde also der Gemeinwille untergraben, die Volkssouveränität veräußert. Ohne diesen Ausdruck des verbindenden gemeinsamen Interesses jedoch, käme es zur Auflösung des Gesellschaftsvertrages. Um es deutlich zu sagen: jeder von einer Mehrheit vertretene Sonderwille zerstört die Demokratie, führt zur Tyrannei; dazu "die einen zu Knechten der anderen und alle zu Knechten der herrschenden Meinung zu machen." (Rousseau 1991: 73)
Entscheidend ist also nicht, ob es in einem Entscheidungsprozess zu einer Spaltung der Gesellschaft in Minderheit und Mehrheit kommt, sondern die Gefahr definiert sich über den Inhalt des von der Mehrheit vertretenen Willens. Ist er Ausdruck des Gemeinwillens stärkt der Sieg der Mehrheit in einer Volksabstimmung den Staat. Der Gemeinwille kann niemals eine falsche Entscheidung treffen. Stellt die Mehrheit aber einen Sonderwillen dar, steht sie den elementaren Freiheitsrechten der Anderen entgegen: "Es geht gegen die natürliche Ordnung, dass die Mehrzahl regiert und die Minderzahl regiert wird." (Rousseau 1991: 72)
Zur Lösung des Proble ms der Diktatur der Mehrheit zeigt Rousseau einige essentielle Grundsätze auf. Er verfolgt ein identitätstheoretisches Konzept der Demokratie. Um die Demokratie zu erhalten und die Freiheit ihrer Bürger zu sichern, ist es notwendig, dass der betreffende Staat überschaubar klein, seine Bevölkerung problemlos zum Plebiszit zu versammeln ist, zugunsten des Gemeinwohls müssen Sonderwillen abgewehrt und eine möglichst homogene Gesellschaft geschaffen werden. Nur dann wird es laut Rousseau trotz der moralischen Unvollkommenheit des Menschen eventuell möglich sein, eine Demokratie davor zu bewahren in die Tyrannei abzufallen.
III. Madison - Das Übel der Parteiungen
In gleicher Weise wie Rousseau, sieht auch James Madison die Verwirklichung und den Schutz der Freiheiten der Bürger als wesentliche Aufgabe des Staates an. Seine Analyse der Gefahr einer Mehrheits- bzw. Minderheitstyrannei bezieht sich dabei im Gegensatz zu Rousseau nicht auf ein theoretisches Konstrukt einer möglichen Gesellschaft, sondern auf empirische Beobachtungen der Probleme, welche zu seiner Zeit in der amerikanischen Demokratie auftraten.
Seine Beobachtungen zeigten Madison, dass die Demokratie gefährdet ist. Die Ursache dieser Gefährdung sind Parteiungen. Diese bilden sich zwangsläufig, der menschlichen Natur wegen. Menschen haben Leidenschaften und Interessen, die sie durchzusetzen versuchen. Findet sich eine "Anzahl von Bürgern, sei es die Mehrheit, sei es eine Minderheit, die von gemeinsamen Leidenschaften oder Interessen getrieben und vereint sind, welche im Gegensatz zu den Rechten anderer oder den ständigen Gesamtinteressen der Gemeinschaft stehen" (Madison 1993: 94) entsteht eine Parteiung. In solchen Parteiungen stehen Partikularinteressen über dem Gemeinwohl. Der häufigste Grund für Menschen sich zu vereinen ist dabei die unterschiedliche Verteilung von Eigentum in der Gesellschaft. Aufgrund der großen Anzahl von verschiedenen Interessen unter denen sich Menschen zusammenschließen können, hält Madison einen homogenen Volkskörper wie Ro usseau ihn dachte, für nicht realisierbar. Stattdessen verursachen Partikularinteressen Spaltungen innerhalb der Gesellschaft eines Staates.
In einer Demokratie bestehen Regierung, Gesetzgeber und Richter aus den Bürgern, welche allesamt solchen Eigeninteressen unterworfen sind und mit den Parteiungen sympathisieren, die diese Interessen teilen. Somit wird das politische Kalkül von Parteiungen zur Grundlage staatlichen Handelns. Entscheidungen werden dementsprechend nicht mit der nötigen Weitsicht und Vernunft von 'aufgeklärten Staatsmännern' geleitet werden, welche ein Gemeinwohl erkennen und durchsetzen könnten. Stattdessen besteht die Möglichkeit, dass "sich in einer Parteiung die Mehrheit der Bürger [findet, und] dann versetzt sie andererseits die Form der Volksregierung dazu in die Lage, ihren Leidenschaften und Interessen sowohl das Gemeinwohl als auch die Rechte anderer Bürger zu opfern." (Madison 1993: 96f) Daher folgt aus dem Wesen des Menschen, dass es in direkten Demokratien notwendig zu einer Tyrannei der Mehrheit über die Minderheit kommen muss.
Madison kritisiert nun, dass es keine Kontrollmechanismen gibt, die eine Regierungsmehrheit daran hindern könnten, ihre Ziele auf Kosten der Freiheit anderer durchzusetzen: "Treffen Antrieb und Gelegenheit ungehindert zusammen, dann sind bekanntlich weder moralische noch religiöse Motive verläßliche Kontrollinstanzen." (Madison 1993: 97) Infolgedessen wird ständig "für die gerade herrschende Partei {...} Gelegenheit und auch Versuchung bestehen, die Gerechtigkeit mit Füßen zu treten." (Madison 1993: 96) Ebenso wird es nicht nur zu ungerechten, dem Gemeinwohl entgegenstehenden Gesetzen kommen, auch ist zu erwarten, dass sich jeder Bürger je nach Sachgebiet opportunistisch immer derjenigen Parteiung anschließt, von welcher er für sich selbst einen größtmöglichen Vorteil erhoffen kann. Madisons Konzept zur Vermeidung einer Tyrannei ist ein vollkommen anderes als das Rousseaus, nämlich ein konkurrenztheoretisches. Das einzig vorstellbare Mittel zur Schadensbegrenzung ist für Madison eine republikanische Regierung in einem größeren Staat. In einem solchen würden dann die Regierungsgeschäfte von einer kundigen Elite geleitet. Diese Repräsentanten unterlägen im Gegensatz zum Volk nicht dem Übel der Parteiungen, sondern entschieden zum Wohl der gesamten Gesellschaft. Desweiteren ist es für Madison in einem Staat unerläßlich die größtmögliche Meinungspluralität zu ermöglichen. Deshalb schlägt er den föderalen Staatsaufbau einer Union vor, in welchem eine Vielzahl vo n Parteiungen miteinander konkurrieren. Dies verhindert, dass eine Parteiung zu mächtig werden, also zur tyrannischen Mehrheit verkommen kann. Er geht also nicht von einem a priori feststehenden Gemeinwohl aus, wie Rousseau, sondern setzt auf einen sinnvollen Ausgleich der Interessen in einer pluralistischen Gesellschaft zum Wohle aller.
IV. Toqueville - Die Allmacht der Mehrheit
Auch Alexis de Toquevilles Überlegungen zum Thema Demokratie und Tyrannei der Mehrheit / Minderheit fußen auf Beobachtungen des Zustandes der US-amerikanischen Demokratie. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Überzeugung, dass das einzig demokratische Prinzip einer Entscheidungsfindung, sprich Gesetzgebung, das Mehrheitsprinzip ist: "Es gehört zum Wesen der demokratischen Regierungen, dass die Macht der Mehrheit unbedingt gilt." (Toqueville 1976: 284) Gerechtfertigt wird dieses Prinzip durch die Annahme der sittlichen Überlegenheit der Mehrheit und der größeren Legitimität ihrer Interessen: "Die sittliche Herrschaft der Mehrheit gründet sich teilweise auf den Gedanken, dass in vielen Menschen mehr Einsicht und Weisheit beisammen seien als in einem allein" (Toqueville 1976: 285) und "ferner auf den Grundsatz, dass die Interessen der großen Zahl denen der kleinen Zahl vorgehe n." ( Toqueville 1976: 286)
In den USA werden diese Grundsätze laut Toqueville deshalb allgemein akzeptiert, weil eine sehr große Gleichheit der Menschen untereinander besteht, die Interessensgegensätze nicht zu ausgeprägt sind und jede Minderheit Hoffnung haben kann die Mehrheit zu erlangen. Dieser Machterwerb geschieht dann auch dementsprechend häufig. Toqueville beobachtet, dass zwar die Mehrheit, welche die gesetzgebenden Gewalt gerade innehat, ihr jeweiliges Interesse durchsetzt, sie allerdings binne n kurzem wieder durch eine andere Mehrheit ersetzt wird: "Sie [die Legislative] kann rasch und ungehindert jedem ihrer Wünsche folgen, und jedes Jahr gibt man ihr andere Vertreter." (Toqueville 1976: 287) Dadurch, so kritisiert Toqueville, wird indes die Demokratie geschwächt, denn eine ständig wechselnde Legislative verhindert eine kontinuierliche Politik, infolgedessen destabilisiert sich der Staat selber: "Die amerikanische Demokratie ist zwar in ihrem Wesen keineswegs unbeständiger als eine andere, aber man hat ihr die Möglichkeit geboten, bei der Bildung der Gesetze ihrer natürlichen Neigung zur Unbeständigkeit nachzugeben." (Toqueville 1976: 287)
Problematischer allerdings ist die Tatsache, dass der Legislative und auch der Verwaltung Amerikas per Verfassung ein Zuviel an Macht verliehen wird. Er sieht eine strukturelle Schwäche im Staatsaufbau, die verhindert, dass die Mehrheit uneingeschränkt ihre Interessen auf Kosten der Minderheit durchsetzt. " Die Mehrheit hat (...) eine gewaltige tatsächliche Macht (...), so gibt es sozusagen keine Hindernisse, die sie (...) in ihrem Vordringen verzögern könnten, und die ihr die Zeit ließen, die Klagen derer anzuhören, die sie auf ihrem Wege erdrückt." (Toqueville 1976: 286) Obwohl Toqueville also das Mehrheitsprinzip als einzig legitime Möglichkeit der demokratischen Herrschaft betrachtet, fordert er eine Ergänzung dessen zugunsten eines Minderheitenschutzes, welcher verhindern könnte, dass die Demokratie in eine Tyrannei der Mehrheit ausufert. Eine solide Machtbasis der Mehrheit, um ihre Interessen durchzusetzen, ist sehr wohl notwendig. Doch "sehe ich also, dass irgendeiner Macht das Recht und die Befugnis, alles zu tun, eingeräumt wird (...), so sagte ich: hier ist der Keim zur Tyrannei, und ich trachte unter anderen Gesetzen zu leben." (Toqueville 1976: 291) Das grundlegendste dieser Gesetze, ist das der Gerechtigkeit, welches, manifest oder latent, Grundlage jedweder menschlichen Gemeinschaft sein sollte. Aber auch die persönliche und geistige Unabhängigkeit gehören für Toqueville zu den Werten, deren sich eine Gesellschaft nicht enthalten kann. Demokratie ist für ihn eben nicht nur eine politische, sondern im Wesentlichen auch eine gesellschaftliche Ordnung, ein 'way of life', dem gewisse Werte, Denkweisen und Sittlichkeit zugrunde liegen müssen. Und wenn er dann nirgendwo "weniger geistige Unabhängigkeit und weniger wahre Freiheit" (Toqueville 1976: 294) findet, als in dem Land, welches bei seiner Gründung gerade diese Werte verkörpern wollte, ergibt sich die Notwendigkeit einer Beschränkung der Allmacht der Mehrheit als evident.
Verwirklichen möchte Toqueville dies durch zwei Prinzipien. Erstens, indem die Staatsgeschäfte in die Hände einer politischen Elite, den sogenannten 'Rechtskundigen', gelegt werden. Diese Staatsmänner sollen dank ihrer Bildung gegen die Verlockungen einer Tyrannei einer Mehrheit gefeit sein. Diese Vorstellung teilen Madison und Toqueville demnach. Aber auch die zweite Auffassung, die der Verhinderung einer schädlichen Machtkonzentration mit Hilfe eines dezentralen Staatsaufbaus, verbunden mit einer konsequenten Gewaltenteilung, vor allem die Trennung der gesetzgebenden von der richterlichen Gewalt, teilen beide Autoren.
V. Marx / Engels - Klassenherrschaft
Marx und Engels unterscheiden sich in ihrem Ansatz grundlegend von den bisher beschriebenen Theoretikern. Im Gegensatz zu diesen lehnen sie eine bürgerliche Staats- und Gesellschaftsordnung konsequent ab. Ihrer Sicht nach, führt eine solche Ordnung unweigerlich zu einer tiefgreifenden Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen. "Die Geschichte aller bisherigen [d. h. bürgerlichen] Gesellschaften ist die Geschichte von Klassenkämpfen." (Marx/ Engels 1945: 5) Diese Spaltung in Klassen resultiert aus den ökonomischen Verhältnissen, die den politischen übergeordnet sind, darin dass "die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei". ( Marx/ Engels 1964: 8) In einer kapitalistischen Wirtschaft sind demnach laut Marx und Engels die Produktionsmittel zwangsläufig ungleich zwischen den zwei Klassen, der alles besitzenden Bourgeoisie und dem verelendeten, ausgebeuteten Proletariat verteilt.
Der Staat wird von der ökonomisch beherschenden Klasse entsprechend ihres Interesses, der ständigen Vergrößerung ihres Profits, instrumentalisiert. "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisie verwaltet."
(Marx/ Engels 1945: 7) Aus der ökonomischen Ungleichheit folgt unweigerlich die politische Unterdrückung des Proletariats. "Sie [die Bourgeoisie] hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation." (Marx/ Engels 1945: 9) Da die Proletarier in der "ungeheuren Mehrzahl" (Marx/ Engels 1945: 14) sind, die Bourgeoisie jedoch in der Minderheit ist, stellt eine kapitalistische Gesellschaftsordnung laut Marx und Engels stets eine Tyrannei der Minderheit über die Mehrheit dar. Wenn jedoch die Mehrheit zwangsläufig über die Minderheit herrscht, negiert sich die Demokratie selbst. Diese bürgerliche Pseudo-Demokratie kann also niemals demokratisch im Sinne einer Volksherrschaft sein. Eine solche Gesellschaftsordnung lässt daher nur einen Ausweg offen: "Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat." (Marx/ Engels 1945: 16)
Die Tyrannei der Minderheit ist da insofern positiv, als dass sie den Anstoß an die Arbeiterklasse gibt, sich zu vereinigen, woraufhin es zum Klassenkampf kommt. Denn Menschen, welche unter den denkbar unmenschlichsten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen leben, wie die Arbeiterklasse zur damaligen Zeit, haben nichts "zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen." ( Marx/ Engels 1945: 32) Dadurch, dass das ökonomische und auch moralische Gefüge, auf welches sich die Herrschaft der Bourgeoisie stützt, unweigerlich selbstzerstörerisch sein wird, ist die Vereinigung der proletarischen Mehrheit und ihre Machtübernahme ein unaufhaltbares, historisch notwendiges Faktum. Erst im Zuge dieser kommunistischen Revolution wird ein wahrhaft demokratischer Staat geschaffen. Auf dem Wege dahin ist eine Diktatur der Mehrheit der Arbeiterschaft notwendig. Diese ist, selbst wenn mit Gewalt verbunden, durch das Ziel der Erfüllung des einheitlichen, vorgegebenen Gemeinwohls legitimiert. "Wir sahen schon oben, dass der erste Schritt in der Arbeiter- Revolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist." (Marx/ Engels 1945: 22) Denn nur wenn sich die politische Macht in den Händen des Proletariats bündelt, kann das Privateigentum als Grundlage der Unterdrückung aufgelöst werden. Mit der Abschaffung des Privateigentums wird sich die Ungleichheit auflösen, die Klassenunterschiede verschwinden.
Erst diese Gesellschaft, in welcher keine Mehrheits-, Minderheitsverhältnisse mehr existieren, wird in Marx und Engels' Auffassung eine wahrhaft demokratische sein. "Wenn das Proletariat (...) sich zur herrschenden Klasse macht und (...) die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es (...) die Klassen überhaupt und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf." (Marx/ Engels 1945: 22f) Infolgedessen werden die Menschen erst dann ihr wahrhaftiges Wesen, das heißt die ihnen innewohnende menschliche Freiheit entwickeln können.
VI. Literaturverzeichnis
Madison, James, Federalist Paper Nr. 10. In: Alexander Hamilton, Die 'Federalist Papers'.
Übers., eingel. und mit Anm. vers. von Barbara Zehnpfennig. Darmstadt 1993.
Marx, Karl / Engels, Friedrich, Das kommunistische Manifest. Wurzen 1945.
Marx, Karl / Engels, Friedrich, Zur Kritik der politischenökonomie. In: MEW. Bd.13. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin (Ost) 1964.
Marx, Karl, Zur Judenfrage. In: MEW. Bd.1. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin (Ost) 1964.
Rousseau, Jean - Jacques, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Hrsg. und neu übers. von Hans Brockhard. Stuttgart 1991.
Tocqueville, Alexis de, Ü ber die Demokratie in Amerika. Hg. von Theodor Eschenburg und Hans Zbinden. München 1976.
- Quote paper
- Cathleen Bochmann (Author), 2001, Wo liegt die Gefahr der Demokratie - In der Tyrannei einer Mehrheit oder einer Minderheit?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99953
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