Verlagerung der industriellen Produktion aus Deutschland in Entwicklungsländer
1. Einleitung
Lohn- und Steuerniveau, gewerkschaftliche Organisation, Exportquoten und Marktzugang - anhand einer Vielzahl von Kriterien entscheiden Unternehmen heute, welche Produktionsstätten auf der Welt eine Baumwollfaser vom Rohstoff bis zum Pullover durchläuft und in welcher Ecke der Welt aus Stahl und Aluminium ein Auto entsteht.
Die industrielle Produktion erfährt seit Jahren einen fundamentalen Wandel. Angesichts einer immer größer werdenden Mobilität von Waren und Kapital, angesichts der Neugliederung der Welt nach Beendigung des Ost - West Konflikts und dem damit verbundenen Wegfall von etlichen Handelszöllen und angesichts eines steigenden Konkurrenzkampfes unter den Konzernen, verlagert sich die industrielle Produktion in vielen Teilsektoren der Ökonomie. Was früher ein klassisches deutsches Produkt war, beispielsweise die Nähmaschine von Sinn, das Auto von Volkswagen oder der Schuh von adidas, diese Produkte werden längst nicht mehr alle und vor allem nicht komplett in der Bundesrepublik Deutschland hergestellt. Auch die Kleidung, die wir heute tragen, ist mehr oder weniger international produziert. Kaum eine Verkäuferin ist noch in der Lage, genau zu beantworten, woher die Ware stammt. ,,Made in Germany" gibt es fast nicht mehr, höchstens, dass das Muster oder der Zuschnitt aus deutschen Landen kommt.
Unternehmen, zu meist die der größeren Art, lassen ihre Produkte in sogenannten ,,Billigländern" produzieren. Der teure Transport der Waren um die halbe Welt und die oft mangelnde Infrastruktur in den neuen Produktionsländern, meistens in Asien oder Südamerika, wird durch die billigen Lohnkosten für Arbeiter und Kinder, durch billige Energie, durch fehlende Umweltauflagen, mangels zu zahlender Gewerbe- und Umsatzsteuer und dank der Möglichkeit Menschen, oftmals Kinder, unter katastrophalen Bedingungen 7 Tage die Woche und 10-15 Stunden am Tag arbeiten zu lassen, kompensiert. Es gibt weder, wie in Deutschland, nörgelnde Betriebsräte, die die Arbeiter schützen wollen, noch Lohnnebenkosten, kein Krankheitsgeld und auch keine Arbeitsverträge. Die Produktion von industriellen Fertigprodukten in Ländern mit relativer Armut, sei es nun Indien, Rumänien oder Brasilien, ist für deutsche, wie für andere westliche, Konzerne eine finanziell lukrative Angelegenheit. Der Lohn für einen einfachen Angestellten liegt oftmals bei unter einem Zehntel im Vergleich zu einem europäischen Arbeiter. Exemplarisch für den Prozess der Auslagerung von Produktion ist die Textilindustrie, an welcher sich die negativen Folgen aufzeigen lassen.
2. Geschichtlicher Überblick
Das Wirtschaftswunder der frühen Nachkriegsjahre trieb die Wachstumsrate der Textilindustrie auf die bis dahin ungekannte Rekordhöhe von 8,8%. Man befürchtete damals bereits eine Überhitzung der Konjunktur. Dementsprechend wuchs die Beschäftigung. Viele Betriebe suchten noch bis 1966, als die Branche ihren höchsten Beschäftigtenstand erreichte, oft händeringend Näherinnen, Büglerinnen, Schneider und Hilfsarbeiter. Daher wurden damals verstärkt türkische, portugiesische und jugoslawische Gastarbeiter angeworben. Anfang der siebziger Jahre begann der schleichende Niedergang der Textilindustrie, nachdem der kriegsbedingte Nachholbedarf der Bevölkerung nahezu komplett kompensiert war. Der Niedergang der Branche hat nie das Medienecho gefunden wie etwa der Kampf der Bergarbeiter und Stahlwerker um ihre Arbeitsplätze. Es gab keinen ,,Textilpfennig" oder sonstige Subvention. Das Sterben des wirtschaftlichen Stiefkindes abseits der großen Ballungsräume ging leise vonstatten. Vielleicht auch, weil weit über die Hälfte der Beschäftigen Frauen waren und weil die Löhne alles andere als Spitzenlöhne waren und sind. Parallel zum gesättigten Nachfragemarkt gesellte sich eine zunehmende Technisierung der Produktion in der Textil- und Bekleidungsindustrie. Die menschliche Arbeitskraft wurde in zunehmendem Maße überflüssig und allenfalls noch einfache Handlanger zum Bedienen der Produktio nsgeräte wurden benötigt. Aufgrund dieser Faktoren und eines großen Konkurrenzkampfes zwischen den einzelnen Fabrikanten und Konzernen der Textilbranche, begannen etliche Industriegesellschaften mit der Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland.
Sie gehörten zu den ersten Unternehmen, die sich seit Ende der sechziger Jahre wachsender Zahl an Freien Produktionszonen (FPZ) in den Entwicklungsländer ansiedeln. Auf Sri Lanka, Mauritius, in Bangladesch, Taiwan, Südkorea und Mittelamerika genossen sie weitgehende Steuer- und Abgabenfreiheit und profitierten von den billigen Arbeitskräften. Eine ganze Industriebranche begann von Billigstandort zu Billigstandort zu pilgern. Zunächst verlagerte man vorzugsweise ganze Produktionsstätten ins Ausland. Später ging man mehr und mehr zur passiven Lohnveredelung (PLV) über. Heute1 ist PLV mit 46% vom gesamten Umsatzvolumen die wichtigste Beschaffungsform der deutschen Bekleidungsindustrie Ähnliche Wanderungen von Billigstandort zu Billigstandort schlugen auch US-amerikanische und japanische Textil- und Bekleidungsherrsteller ein. Nach der Beendigung des Kolonialismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts entstand durch die Verlagerung von Produktionsstandort ein ,,struktureller Imperialismus"2 der westlichen Welt gegenüber den Staaten der Südhalbkugel.
3. Konsequenzen in den Entwicklungsländern
Sie werden geschlagen, belästigt und zu Überstunden gezwungen - für max. 220 DM Monatslohn. Wer krank ist, muss mit Lohnausfall rechnen, bei Schwangerschaft mit Entlassung und wer die Arbeitsquote nicht erreicht, wird sowieso vor die Türe, das heißt in die bittere Armut, gesetzt. So sieht der Alltag der Arbeiterinnen und Arbeiter in der dritten Welt aus, die für europäische und US-amerikanische Konzerne arbeiten. Die Arbeitsbedingungen in den Produktionsstätten in den ,,Billigländern" sind mit denen in Westeuropa nicht zu vergleichen. In den meisten Fällen verstoßen die Arbeitsbedingungen gegen die Menschenrechte, da es weder Sozialversicherungen, also finanzielle Absicherung in Krankheits- oder Todesfällen gibt, da es keine geregelten Arbeitszeiten gibt und die Angestellten, besser gesagt die Lohnabhängigen in der Regel 7 Tage die Woche und 12-15 stunden am Tag arbeiten müssen, da minderjährige Kinder zum Arbeiten herangezogen werden. Die Arbeiter müssen unter katastrophalen hygienischen Bedingungen arbeiten. Es werden, beispielsweise in der Textilindustrie in Europa längst verbotene synthetische Chemikalien eingesetzt, denen die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Entwicklungsländern schutzlos ausgesetzt werden. Des weiteren gibt es keine Arbeitsverträge, so dass die Lohnabhängigen jederzeit und völlig beliebig aussortiert und entlassen werden können. Einer der Hauptgründe die Produktion in die dritte Welt zu verlagern, die billige Arbeitsweise, entpuppt sich bei genauem Hinschauen als moderne Ausbeutung der ehemaligen Kolonien.
Aber nicht nur die Arbeiter werden ausgebeutet, das heißt unter ihrem eigentlichem Wert beschäftigt, sondern auch die einzelnen Staaten müssen sich dem Diktat der Konzerne bedingungslos beugen. Die hoch verschuldeten Staaten der südlichen Halbkugel sind von den Devisen der westlichen Konzerne, von den Arbeitsplätzen für die eigene Bevölkerung abhängig. Es gibt einen regelrechten Wettbewerb zwischen den einzelnen Entwicklungsländern um den vermeintlich besten Standort, das heißt einen negativen Wettbewerb um die billigsten Arbeitsplätze, um die geringsten sozialen Standards, um die niedrigsten Umweltauflagen und um die fügigsten Arbeiter.
Ein weiterer Nachteil ist die Tatsache, dass der produzierte Mehrwert, der finanzielle Gewinn, nicht im Land bleibt, nicht an Ort und Stelle bleibt und beispielsweise zur Verbesserung der Lebensbedingungen benutzt wird, sondern dass der Gewinn komplett in den Westen abgezogen wird. Nutznießer sind die Kapitalgesellschaften der westlichen Nationen und nicht die betroffenen Länder. Fähige Arbeitskräfte in der dritten Welt, die eventuell die Möglichkeit hätten, für die eigene Volkswirtschaft, für eine wirtschaftliche Emanzipation der ehemaligen Kolonialstaaten und heutigen Entwicklungsländer einzutreten, lassen sich vor den Karren der neuen Ausbeuter spannen, anstatt in Richtung autarker Selbstversorgung zu schielen. Entwicklungsländer produzieren billig für uns Waren, die sie sich selbst nicht leisten können, anstatt ihre Energie darauf zu verwenden, sich selbst zu helfen.
4. Konsequenzen für die BRD
Billige Produkte bei H&M, bezahlbare Turnschuhe im Sportgeschäft - auf den ersten Blick ist die Produktion von Konsumgegenständen, in unserem Beispielsfall von Textil- und Bekleidungsprodukten, eine lukrative Sache für die Bevölkerungen in der westlichen Welt. Beinahe jeder kann sich vermeintliche Luxusprodukte leisten, kann sich den neusten Modetrends anpassen. Textilien sind, dank der billigen Produktion in Entwicklungsländern, bezahlbar.
Erst auf den zweiten Blick und erst wenn man sich von den Vorzügen und Verlockungen des billigen Preises gelöst hat, bekommt man ein Auge für die Kehrseite der Medaille. Die Arbeitslosigkeit in der BRD ist durch die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland in ungeahnte Höhen geschraubt worden. Vom den einstigen 648 000 Arbeitsplätzen3 in der Textilindustrie im Jahre 1957 sind heute nicht einmal mehr 100 000 geblieben.
Arbeitslosigkeit schlägt sich aus die Volkswirtschaft und vor allem auf die Kaufkraft eines Landes nieder. Waren werden zwar billiger durch deren Fertigstellung im Ausland, aber parallel dazu verlieren hier etliche Menschen Arbeit und belasten damit die sozialen Kassen. Auslagerung von Produktion ist für den Fabrikant kurzfristig sicher lukrativ, langfristig aber für die heimische volkswirtschaftlichen Bedingungen schädlich. Wenn in der BRD die Arbeitslosigkeit im primären und sekundären Sektor weiter steigt, weil Unternehmen ihr Produktion mehr und mehr in südliche Gefilde verlagern, dann sinkt folglich auch die Binnennnachfrage und die Kaufkraft in der BRD, was den Absatz der Waren im großen Sinn verhindert. Die Unternehmen sägen selbst den Ast ab, auf dem sie selber sitzen, merken dies aber erst, wenn es zu spät ist!
Viel verheerender aber als die steigende Arbeitslosigkeit in den westlichen Ländern ist die
Umweltzerstörung in den Entwicklungsländern und somit des ganzen Erdballs. Anstatt Waren dort zu verarbeiten, wo sie herkommen und gebraucht werden, werden Produkte um die halbe Welt gefahren, geflogen und geschifft. Ein enormer Energieverbrauch und eine daraus folgende Erderwärmung sind die Folge. Die Umweltzerstörung in regionalen Gebieten und die Zunahme globalen Transportverkehrs und der damit verbundene Prozess der Umweltzerstörung sind Problematiken die unsere nachfolgenden Generationen noch ausbaden müssen.
5. Fazit und Aussicht
Der Nord, das heißt die westliche Welt, ist reich und mächtig. Basis seines Wohlstands und seiner Macht ist seine immer leistungsfähiger werdende Industrie, zu der im weiteren Sinne auch die zunehmend technisierte Landwirtschaft gehört. Diese Industrie ist längst in der Lage, den Bedarf eines erheblichen Teils der Bevölkerung, auch der südlichen Hemisphäre, zu decken. Dort existierende Betriebe sind meist nur noch Zulieferer; ihre Gewinne fließen in den Norden und finanzieren dort den ansteigenden Wohlstand mit all seinen negativen Begleiterscheinungen wie Umweltzerstörung, Waffenproduktion und Ungerechtigkeit. Der Süden bleibt weiterhin Lieferant wie in der Kolonialzeit. Der Prozess der Globalisierung, die Politik von Weltbank und IWF4 verschärfen die moderne Ausbeutung der dritten Welt noch weiter.
,, Die Natur hat genug, um uns alle zu ernähren, aber nicht genug, um die Gier weniger zu stillen." (Mahatma Gandhi)
6. Literatur
- Grubbe, Peter: Der Untergang der dritten Welt: Hamburg, 1991
- Datta, Asit. Welthandel und Welthunger: München 1993
- DGB Bildungswerk: Kleider aus der Weltfabrik: Düsseldorf, 1997
- Büro für Frieden und Gerechtigkeit: Profit ohne Grenzen: München 1998
- Trabold, Harald: Zum Verhältnis von Globalisierung und Sozialstaat: in: Das Parlament, Berlin, 48/2000
- Christliche Initiative Romero: ,,Todschicke Kleidung": Münster 1998
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1 Stand: 6/1997
2 Datta Asit: Welthandel und Welthunger: Seite 32
3 zahlen aus: Kleidung aus der Weltfabrik: DGB Bildungswerk, 1997
4 internationaler Währungsfond
- Arbeit zitieren
- Jörg Heeskens (Autor:in), 2000, Verlagerung industrieller Produktion in die Dritte Welt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99921
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