Annette Streeck-Fischer: „Geil auf Gewalt“. Psychoanalytische Bemerkungen zu Adoleszenz und Rechtsextremismus
-rechtsextreme Jugendliche entstammen häufig familiären und sozialen Umfeldern, die von anhaltender Traumatisierung geprägt sind
-rechtsextreme Gruppe dient als Elternersatz, wo die häusliche Gewalt übernommen wird und auf Minoritäten übertragen wird
-rechtsextreme Jugendliche repräsentieren abgespaltene oder verleugnete Anteile von Individuen sowie der ganzen Gesellschaft
-bisheriger psychoanalytischer Erklärungsversuch des Rechtsextremismus bei Jugendlichen über die Nachwirkungen des Nationalsozialismus bis in die dritte und vierte Generation reicht nicht mehr aus
-rechtsextreme Jugendliche projizieren ihre inneren Konflikte auf die Umwelt Was bestimmt den Verlauf von Adoleszenz?
-zentrale Kindheitskonflikte beeinflussen als Wiederholung alle Lebensphasen (z. B. frühe Erfahrungen, von der Mutter allein und fallengelassen worden zu sein)
-infantile Konflikte bestimmen die Weltanschauung des Heranwachsenden
-je weniger diese infantilen Konflikte gelöst wurden, desto eher neigt er zur Wiederholung. Oder aber er bewältigt sie, indem er eine soziale Rolle annimmt und anderen sozial Fallengelassenen hilft
-Auseinandersetzung der Jugendlichen mit den idealen Elternbildern ist wichtig, um die Fähigkeit zur Ablösung zu entwickeln
-Schule prägt den Jugendlichen auf seinem gesamten Lebensweg im Hinblick auf Integration oder Ausgrenzung
-Peergroup hat Brückenfunktion für den Übergang zwischen Familie und Gesellschaft Dies kann entwicklungsfördernde oder entwicklungshemmende Wirkungen zeitigen
Adoleszenz und Rechtsextremismus
-Ungleichheit des Menschen und Gewaltbereitschaft als Hauptideologien von rechtsextremistischen Einstellungen
-erschüttertes Selbstgefühl ist anfällig für Herrschaftsideologien
-labiles und unfertiges Ich ist mit der Intensität seines ödipalen Hasses überfordert.
-durch Entmutigung (Versagen in Schule, Familie und Beruf) und adoleszenzbedingte Verletzlichkeit stabilisieren sich die Jugendlichen mittels eines primitiven Größenselbsts, neigen zu Feindprojektionen und schließen sich Skinheads an
-Projektion von Konflikten mit Erziehungsautoritäten auf Gesellschaft und Politik.
-es entsteht der Wunsch nach Rache und Gewalttätigkeit, da so scheinbar das traumatisierte Selbstgefühl am ehesten repariert werden kann
-das Fehlen von familiärer Geborgenheit zieht oft Versagen in der Schule (Hyperaktivität, schlechte Noten, Ausgrenzung durch Mitschüler) nach sich
-oftmals anzutreffende Scheinanpassung als Strategie zur Vermeidung von erneuter Traumatisierung
-frühzeitiger Abbruch des Dialogs mit Mutter kann zu einer verfrühten Anpassung an eine mißverstandene Realität führen
-späterer Dialog mit Vater fällt oft unzureichend aus oder weg, es kann zu einem Abbruch familiärer Beziehungen kommen und die Fähigkeit zur Identifikation mit gesellschaftlichen Vorbildern und Strukturen wird gemindert
-Peergroup übernimmt im Fall des Abbruchs familiärer Beziehungen Elternersatzfunktion und Orientierung
-Gewaltkultur der Skinheadszene hilft, eigene Ohnmacht nach außen zu projizieren
-Schuldzuweisung von eigener Minderwertigkeit auf eine scheinbar homogene Gruppe (Ausländer, Behinderte, usw)
-rechtsextreme Accessoires (Springerstiefel, Bomberjacken, Glatzen etc.) dienen als Übergangsobjekte, die den Trennungsprozeß von infantilen elterlichen Objekten unterstützen (Bindeglieder auf dem Weg von kindlicher zu erwachsener Identität / Fetische, die den bedrohten Phallus sichern sollen)
-betonte Männlichkeit und Brutalität sollen labile männliche Identität stärken und vor tiefsitzenden Minderwertigkeitsängsten schützen
-in rechtsextremen Jugendgruppen werden unbewußt homoerotische Beziehungen gesucht bei gleichzeitiger massiver Abwehr sexueller Triebregungen (Angst vor Homosexualität)
-Projektion als böse empfundener Selbstobjektanteile auf Fremde, Andersartige und Frauen
-niedrige Bildungsabschlüsse und zunehmende Stärkung der Position der Frau lassen rechtsextreme Jugendliche in ihrer Zukunftsperspektive und materiellen Existenz von kompetenten Ausländern und starken Frauen bedroht sehen
-in Kindern begegnen uns eigene unbewußte und abgewehrte Persönlichkeitsanteile, in ihnen erkennen wir bittere Wahrheiten, die wir abgespalten oder verleugnet haben bzw. bekämpfen (familiäre und gesellschaftliche Spiegelfunktion) „Ihr könnt uns nicht vernichten, denn wir sind ein Teil von Euch“ (Skinheadspruch)
-Ungleichheitsideologien (Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnisse in vielen Familien) und unbewußt affirmatives Verhältnis zur Gewalt spielen in der Gesellschaft eine bisher unterschätzte Rolle
-Jugendliche erfahren sich nicht durch Selbstreflexion, sondern durch externalisierte Konflikte mit ihrer Umwelt
-Zugehörigkeit zur gewalttätigen Skinheadszene läßt auf Suche nach verloren gegangenen Kindheitsobjekten schließen
-fehlende oder mangelhaft präsente Vaterfigur läßt Wunsch nach scheinbar mächtigerem väterlichen Objekt reifen (z.B. in der Gestalt Hitlers)
-adoleszente Rettungs- und Omnipotenzphantasien (Ausgleich für real erlebte Unzulänglichkeit und das Selbstsystem stabilisierend) entwicklungsfördernd, wenn Abstand zwischen Real- und Idealselbst nicht zu groß
-bei Skinheads: keine entwicklungsfördernde Wirkung dieser Phantasien, da Grandiositätsvorstellungen bis hin zum Realitätsverlust die Oberhand gewinnen
-Gewalttätigkeit als Maßnahme gegen innere Notstände (Angstbewältigung, narzißtische Reparation)
-Gegnersymbiose (Notwendigkeit eines äußeren Feindes bei realer oder vermeintlicher Bedrohung des Gruppenzusammenhalts) zur Projektion negativer Selbstanteile auf andere (Feindgruppe: Personen mit geringen Unterschieden zu einem selbst => Nähe zum Feind:
jugendliche Ausländer haben ähnlich geringen gesellschaftlichen Status wie jugendliche Skins)
-Fremdheiten und Andersartigkeiten müssen zum Selbstschutz überzeichnet werden
-Freund-Feind-Denken wird durch primitive Weltbilder und paranoide Verkennungen („jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“) begünstigt
-Ausmaß der Gewalttätigkeit als Ausdruck tiefer narzißtischer Verwundungen und Beschämungen
-Fremdgruppe wird entmenschlicht („Ungeziefer“, „Kanacken“ etc.), was nur dem möglich ist, der selbst Menschlichkeit, Würde und Selbstrespekt verloren hat
-gegen Feindgruppen gerichtete Unterwerfungs- und Beschämungsrituale auch gruppenintern anzutreffen (streng hierarchische Hackordnung)
-sexualisierte Gewalttätigkeit durch Befriedigung sadistischer Triebwünsche (Gewalt als Liebesersatz)
-Parolen, die Jugendliche zu Ordnungshütern und Umweltschützern der Nation erheben, wecken in vorentmutigten Jugendlichen Retter- und Größenphantasien
- Quote paper
- Michael Haß (Author), 2001, Annette Streeck-Fischer - "Geil auf Gewalt". Psychoanalytische Bemerkungen zu Adoleszenz und Rechtsextremismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99670
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