Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Rolle der Medien während der Präsidentschaftskampagne 1996 von Boris El’cin.
Das Interesse besteht darin, dass trotz einer recht günstigen Literaturlage kaum wissenschaftliche Arbeiten zur Verfügung stehen, die der Frage nach der Rolle der Medien bei den Präsidentschaftswahlen von 1996 in einem breiteren Zusammenhang nachgehen. Der Kontext der russländischen Transition, die Dreiecksbeziehung zwischen Politik, Wirtschaft und Massenmedien, Geschichte und Wesenszüge der russländischen Medien, Grundzüge der Berichterstattung, Wahlkampfstrategie und Public Relations sowie viele andere Themen werden einzeln zwar zum Teil solide und tiefgründig behandelt. Das Zusammenspiel und das In-Beziehung-setzen dieser Faktoren, die von überragender Bedeutung für das Verständnis dieser komplexen und wenig übersichtlichen Ereignisse sind, finden jedoch selten eine notwendige Berücksichtigung.
Aus diesem Grund stellt sich diese Arbeit die Aufgabe, die Präsidentschaftswahlen von 1996, beziehungsweise die Wahlkampagne des amtierenden Präsidenten El’cin, mit besonderer Berücksichtigung der Medien interdisziplinär zu kontextualisieren und ihre Rolle im russländischen Transformationsprozess zu hinterfragen. Zunächst spielt die historische Entwicklung der Russländischen Föderation bis 1996 eine Rolle. Dazu werden die Grundzüge der politischen und wirtschaftlichen Transformation erläutert sowie ihre Meilensteine und Problemfelder markiert. Theoretische Denkansätze und Tendenzen der Transformationsforschung im osteuropäischen Kontext sollen dabei punktuell eingesetzt werden, um eine Hilfestellung bei der Erläuterung komplexer Erscheinungen zu liefern. Außerdem sind soziale Fragen ebenso wie kultur- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte einer demokratieunerfahrenen postkommunistischen Gesellschaft von Bedeutung.
INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung
1.1. Fragestellung
1.2. Literaturlage und Forschungsstand
2. Transformation in Russland bis 1995
2.1. Boris El’cin und die Anfänge der Transformation (bis 1991)
2.2. Erste Konsolidierungsversuche und der Verfassungskonflikt (1991-1993)
2.3. Etablierung des präsidentiellen Systems (1993-1995)
2.4. Zwischenbilanz
3. Massenmedien in Russland
3.1. Definition der Massenmedien
3.2. Medienlandschaft
3.3. Glasnost und die spätsowjetischen Medien
3.4. Entwicklung russländischer Massenmedien bis 1996
4. Präsidentschaftswahlen von 1996
4.1. Ausgangslage
4.2. Verlauf
5. Massenmedien im Wahlkampf Boris El’cins 1996
5.1. Politische Maßnahmen
5.2. Methoden des massenmedialen Einsatzes im Wahlkampf
5.3. Beispiele
6. Fazit: Instrumentalisierung der Massenmedien während der Präsidentschaftswahlen 1996 im Kontext der russländischen Transformation
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Russländische Föderation wird im Jahre 2011 zwanzig Jahre alt. Während dieser aus historischer Perspektive relativ kurzen Periode seit dem Zusammenbruch der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken veränderte sich Russland enorm. Sowohl die Gesellschaft als auch das politische Leben befanden sich in einem ständigen Wandel und gestalteten eine durchaus widersprüchliche Entwicklung des postkommunistischen Staates.
Die gleichzeitig ablaufende Transition hin zu einem liberal-demokratischen politischen System und zu einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung war nicht problemlos. Auf der einen Seite standen demokratische Wahlen, Recht auf Privateigentum und unternehmerische Tätigkeit und ein bis dahin unbekanntes Maß an bürgerlichen Freiheiten. Auf der anderen Seite sah sich die Bevölkerung mit schweren sozialen und ökonomischen Problemen, einer ungerecht verlaufenden Privatisierung und steigender Kriminalität konfrontiert.
Nachdem Vladimir Putin die Nachfolge Boris El’cins antrat, konsolidierte sich sowohl das politische System als auch die wirtschaftliche Situation des Landes. Gleichzeitig kam es zu drastischen Einschränkungen der Menschenrechte und bürgerlicher Freiheiten.
Die Bewertung der Person und Tätigkeit El’cins ist heutzutage alles andere als eindeutig. Besonders in Russland ist der erste Präsident, ähnlich wie auch der letzte Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (CK KPSS), Michail Gorbačëv, heftig umstritten. Die Befürworter El’cins Politik sehen demokratische und marktwirtschaftliche Reformen sowie zahlreiche bürgerliche Freiheiten, wie Redefreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, im Vordergrund und betrachten die politischen Tendenzen in den 1990er Jahren als überwiegend positiv. Für seine Gegner sind die enormen sozialen und wirtschaftlichen Probleme innerhalb der Gesellschaft, die Entstehung eines ‚räuberischen‘ Kapitalismus sowie der Zusammenbruch der Sowjetunion und die damit zusammenhängende ‚nationale Erniedrigung‘ des Landes die ausschlaggebenden Elemente der politischen Entwicklung.
Diese gesellschaftliche Spaltung existierte bereits 1996, da Russland in den fünf Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion politisch und gesellschaftlich weitgehend orientierungslos geblieben war.
Einerseits äußerte sich dies in einem schwer zu definierbaren politischen System, zu dem aus politikwissenschaftlicher Perspektive unterschiedliche Auffassungen herrschen. Dabei stehen Analysen von Demokratie über defekte Demokratie (dabei unterscheiden verschiedene Wissenschaftler zwischen imitierter Demokratie, quasi-Demokratie, ‚hybrid democracy‘ und weiteren theoretischen Konzepten) bis hin zum autoritären Regime zur Diskussion.1 Nach Meinung des Analytikers Michail Farkušin, war Russland Mitte der 1990er Jahre auf dem Weg von einer „nicht ausgetragenen Demokratie zum Autoritarismus.“2 In gewisser Weise kann nicht einmal von einem System gesprochen werden, da keine Gesamtheit von Institutionen mit entsprechender Legitimation existierte. Die Leitung der Gesellschaft erfolgte nicht durch die Kommunikation zwischen Institutionen, die stets schwach blieben, sondern mitunter als ein Konsens zwischen Oligarchen3, Technokraten, Günstlingen und politischen Eliten.4 Auf Grund dieser Widersprüche lässt sich das politische System in Russland in den 1990er Jahren nicht in ein traditionelles Klassifizierungsmuster einordnen.5
Vor diesem Hintergrund sprach der Osteuropaforscher Leszek Buszynski 1996 im Zusammenhang mit Russland von einem Staat, der „zwischen Vergangenheit und Zukunft wie in einem Aufzug zwischen zwei Stockwerken“ hänge.6
In dieser dramatischen Situation entschied sich die russländische Bevölkerung bei den Präsidentschaftswahlen von 1996 für den demokratischen Entwicklungsweg. Im zweiten Wahlgang setzte sich der amtierende Präsident Boris El’cin gegen den kommunistischen Herausforderer Gennadij Zjuganov durch und erhielt dabei 15% mehr Stimmen als sein Gegenkandidat. Auf den ersten Blick paradox erscheint deshalb die Einschätzung der anerkannten russländischen Politikwissenschaftlerin Lilija Ševcova, die die Präsidentschaftswahlen von 1996 als „das Ende der liberalen Demokratie in Russland, das sich nur über einen gewissen Zeitraum bis Putin hingezogen hatte”, bezeichnet.7
Hat sich der Aufzug also trotz der Entscheidung für den demokratischen Kandidaten in die falsche Richtung bewegt?
Diese gegensätzlichen Überlegungen unterstreichen die Widersprüchlichkeit des Ereignisses. Gleichzeitig handelt es sich hierbei möglicherweise um eine wichtige Zäsur oder gar um einen Wendepunkt innerhalb der gesamten Entwicklung der Transition in Russland. Diese Einschätzung findet einen eher geringen Anklang in der wissenschaftlichen Literatur, soll aber im Rahmen dieser Bachelor-Arbeit ebenfalls untersucht werden.
Die Wahlen waren allerdings bereits deshalb historisch, da El’cin als erster Präsident in der gesamten russischen Geschichte nicht nur gewählt, sondern auch wiedergewählt wurde. Außerdem war bemerkenswert, dass der Präsident auch nach den Wahlen im Amt blieb, obwohl seine Unterstützung in der Bevölkerung ein halbes Jahr vor dem Urnengang noch bei unter 8% lag.8 Die unterschiedlichen Gründe dafür sollen in dieser Arbeit erläutert werden.
Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Rolle der signifikantesten politischen und gesellschaftlichen Akteure im Wahlkampf zu analysieren. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Zusammenspiel dreier wichtiger demokratisch-marktwirtschaftlicher Akteure im Transformationsprozess – der demokratisch gewählte Präsident, die unabhängigen Medien und die aus der Privatisierung hervorgegangenen Wirtschaftseliten. Ihr Handeln ist unter dem Gesichtspunkt demokratischer Wahlen in der konkreten gesellschaftlichen Situation zu betrachten.
Die Wichtigkeit insbesondere der freien Wahlen und der freien Medien resultiert aus der Rolle dieser beiden demokratischen Institutionen während der Perestroika und der gesamten Transformation, zu deren herausragenden Errungenschaften sie zählen. So hatten die in Folge der Glasnost emanzipierten Zeitungen zu einem großen Teil zur Liberalisierung und schlussendlichen Auflösung des sowjetischen Systems beigetragen. Die ersten demokratischen Wahlen in der Geschichte Russlands, die am 12. Juni 1991 stattfanden, waren ein Meilenstein russischer demokratischer Entwicklung. 20 Jahre später stehen sowohl russländische Wahlen als auch russländische Medien, vor allem in Europa und den USA, in der Kritik. So wies auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im Rahmen des russländisch-deutschen Forums ‚Petersburger Dialog‘ im Juli 2011 auf die besondere Aufmerksamkeit hin, die den Medien in Russland bei den Präsidentschaftswahlen im März 2012 gewidmet werden müsse.9
Um eine wichtige Grundlage dieser Situation besser zu verstehen, geht diese Bachelor-Arbeit fünfzehn Jahre zurück und stellt die Frage nach der Rolle der Massenmedien während der Präsidentschaftswahlen von 1996 in der Russländischen Föderation.
1.1. Fragestellung
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Rolle der Medien während der Präsidentschaftskampagne 1996 von Boris El’cin.
Das Interesse besteht darin, dass trotz einer recht günstigen Literaturlage kaum wissenschaftliche Arbeiten zur Verfügung stehen, die der Frage nach der Rolle der Medien bei den Präsidentschaftswahlen von 1996 in einem breiteren Zusammenhang nachgehen. Der Kontext der russländischen Transition, die Dreiecksbeziehung zwischen Politik, Wirtschaft und Massenmedien, Geschichte und Wesenszüge der russländischen Medien, Grundzüge der Berichterstattung, Wahlkampfstrategie und Public Relations sowie viele andere Themen werden einzeln zwar zum Teil solide und tiefgründig behandelt. Das Zusammenspiel und das In-Beziehung-setzen dieser Faktoren, die von überragender Bedeutung für das Verständnis dieser komplexen und wenig übersichtlichen Ereignisse sind, finden jedoch selten eine notwendige Berücksichtigung.
Aus diesem Grund stellt sich diese Arbeit die Aufgabe, die Präsidentschaftswahlen von 1996, beziehungsweise die Wahlkampagne des amtierenden Präsidenten El’cin, mit besonderer Berücksichtigung der Medien interdisziplinär zu kontextualisieren und ihre Rolle im russländischen Transformationsprozess zu hinterfragen.
Zunächst spielt die historische Entwicklung der Russländischen Föderation bis 1996 eine Rolle. Dazu werden die Grundzüge der politischen und wirtschaftlichen Transformation erläutert sowie ihre Meilensteine und Problemfelder markiert. Theoretische Denkansätze und Tendenzen der Transformationsforschung im osteuropäischen Kontext sollen dabei punktuell eingesetzt werden, um eine Hilfestellung bei der Erläuterung komplexer Erscheinungen zu liefern. Außerdem sind soziale Fragen ebenso wie kultur- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte einer demokratieunerfahrenen postkommunistischen Gesellschaft von Bedeutung. Viele Probleme der russländischen Transformation kamen im Kontext der Präsidentschaftswahlen von 1996 in besonders scharfer Form zum Ausdruck und hatten schlussendlich einen großen Einfluss auf den Wahlverlauf und -ausgang. An dieser Stelle sind vor allem zu erwähnen:
- die niedrige Unterstützung El’cins in der Bevölkerung;
- enorme soziale und wirtschaftliche Probleme;
- die Integration wirtschaftlicher Eliten in das politische Leben;
- die Instrumentalisierung der Medien durch Politik und Wirtschaft;
- das mangelhafte Verständnis der Journalisten der Funktionsweise und Verantwortung unabhängiger Medien sowie die mangelhafte Erfahrung der Bevölkerung mit einer pluralistischen Medienlandschaft;
- die gesellschaftliche Desorientierung, der Wertewandel und die Spaltung zwischen Kommunismus und Demokratie.
Deshalb sollen erstens sowohl die Ursachen als auch die Grundzüge dieser Phänomene behandelt und gleichzeitig hinterfragt werden, in welchem Maße diese Faktoren verschiedene Wahlkampfergebnisse beeinflusst haben.
Zweitens soll die russländische Medienlandschaft vor dem Hintergrund sowjetischer Entwicklungen analysiert werden, wobei der Wandel der Massenmedien bis Mitte der 1990er Jahre dabei von zentraler Bedeutung ist. Zu verfolgen und kritisch zu hinterfragen sind Entwicklungen wie die Liberalisierung, Kommerzialisierung, Ausdifferenzierung sowie Pluralisierung des Medienangebots.
Drittens sollen die Wesenszüge des Wahlkampfes von Boris El’cin erfasst werden. Die Ausgangslage, wahlstrategische Überlegungen, Zielgruppen, Methoden und Wahlkampfaktivitäten sind dazu zu untersuchen.
Viertens ist das Zusammenspiel zwischen Medien, Wirtschaftseliten und Politik vor dem Hintergrund der Wahlkampagne von Bedeutung. Es ist wichtig herauszufinden, in welchem Maße die Medien zur Beginn und während des Wahlkampfes unter politischem oder wirtschaftlichem Einfluss standen bzw. wie unabhängig sie berichtet haben. Dadurch soll kenntlich werden, welche politischen Ambitionen die Vertreter von Wirtschaftseliten hatten, mit welchen Mitteln sie beabsichtigten diese zu erreichen und in welchem Maße die Medien dabei von Relevanz waren. Daraus sollen Mechanismen der Medienbeeinflussung abgeleitet und ihre Auswirkungen auf die Inhalte eingestuft werden. Medientheoretische Ansätze bezüglich klassischer Kontrollmechanismen sowie politischer Public Relations sind dabei als theoretische Grundlage von Bedeutung. All diese Faktoren sind ausschlaggebend für das Urteil über die Objektivität der Medien und ihre Bedeutung im Wahlkampf.
Fünftens ist aus den gewonnenen Erkenntnissen ein Fazit bezüglich der Rolle der Massenmedien bei den russländischen Präsidentschaftswahlen von 1996 zu ziehen. Die wichtigsten Faktoren, Ursachen und Einflusslinien sollen nochmals herausgestellt werden. Anhand der Bedeutung von Massenmedien wird abschließend die Rolle der Präsidentschaftswahlen im in der jüngsten russländischen Geschichte sowie ihre Auswirkungen in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Medien hinterfragt und ausblickend gewertet.
1.2. Literaturlage und Forschungsstand
Da das Thema dieser Arbeit relativ konkret gefasst ist, gibt es kaum wissenschaftliche Untersuchungen, die die gleiche Fragestellung explizit behandeln. Anhand der Komplexität der Problematik ist es außerdem sinnvoll, dieses Thema interdisziplinär zu behandeln. Deshalb müssen nicht nur verschiedene Kontexte und Blickwinkel, sondern auch unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze berücksichtigt werden.
Die Literaturlage bezüglich der politischen Entwicklungen in Russland in den 1990er Jahre sowie der Transformation im russländischen Kontext ist überaus günstig. Zu erwähnen ist hier vor allem ein aktuelles Werk ‚Ot SSSR k Rossii – avtoritarnaja transformacija rubeža XX-XXI vekov‘ des russländischen Politikwissenschaftlers Vladimir Krotkov, der eine umfassende und differenzierte Analyse des Transformationsprozesses in Russland anhand einer beachtlichen empirischen Basis durchführt.10 Die Münchener Politologin Margareta Mommsen setzt in ihrem Buch ‚Wer herrscht in Russland?‘11 den Schwerpunkt auf den für institutionell schwache Staaten wie Russland gut geeigneten akteurtheoretischen Ansatz. Dabei steht die Analyse der Zusammenhänge zwischen den einzelnen transistorischen Entwicklungen und den Handlungsweisen sowie Einstellungen beteiligter politischer Akteure im Vordergrund.
Der politische Aspekt der russländischen Medienlandschaft ist ebenso relativ gut erforscht. Das zentrale Buch über Medien und Politik in Russland kommt von Ivan Zasurskij12. Das erste eigenständige Werk des Enkelsohns des bekannten russländischen Medienwissenschaftlers Jasen Zasurskij liefert eine detaillierte und zusammenhängende Darstellung, die aus mediensoziologischer Perspektive die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Medien sowie Staat und Medien unter die Lupe nimmt.
Den Zusammenhang zwischen Wahlen und ihrer medialen Darstellung erläutert Sarah Oates in ihrem Buch ‚Television, Democracy and Elections‘.13 Die mediale Darstellung der Wahlen sowie die Einflussnahme der politischen Eliten auf die Medien werden in erster Linie auf Basis von Interviews und Auswertungen von Fernsehsendungen getätigt. Mit einem ähnlichen Kontext arbeitet auch die russländisch-deutsche Soziologin Anna Amelina14, die einen mediensoziologischen Ansatz wählt und anhand von Kommunikationstypen und massenmedialen Logiken den Wandel der sowjetischen und russländischen Medien analysiert.
Was die Problematik der Wahlen in Russland betrifft, so existieren zahlreiche ‚Case Studies‘, vor allem bezüglich früher Duma-Wahlen von 1993 und 1995. Vladimir Gel’man15 hingegen geht dem Institut der Wahlen aus der Sicht der Verfassungstheorie und –praxis auf den Grund. Von den Werken, die sich unmittelbar mit den Präsidentschaftswahlen von 1996 auseinander setzen, ist vor allem eines hervorzuheben. Yitzhak Brudny16 rekonstruiert in seinem Artikel „In Pursuit of the Russian Presidency: Why and How Yeltsin Won the 1996 Presidential Election” detailliert sowohl die gesamtgesellschaftlichen Zustände als auch die Wahlkampfstrategie. Außerdem stellt er als einer der wenigen Wissenschaftler die Wahlen, ihren Verlauf und Folgen in den Kontext der weiteren Entwicklung Russlands.
Was den Bereich der Medien betrifft, so hatte es sich im Laufe der Recherche als schwierig herausgestellt, Zeitungen oder gar Fernsehaufnahmen aus dem Jahr 1996 zu finden. Am Ende konnte zumindest die Recherche im Bereich der Printmedien mit Hilfe der Datenbank russischsprachiger Presse ‚Integrum‘ durchgeführt. Außerdem konnte das Internet bei der Recherche nach Zeitungsartikeln aus dem Jahr 1996 behilflich sein.
Darüber hinaus wurden Umfragen der russländischen Meinungsforschungsinstitute verwendet, um die Entwicklung der Popularität der Kandidaten sowie die öffentliche Meinung während des Wahlkampfes besser erfassen zu können.
2. Transformation in Russland bis 1995
Der Begriff ‚Transformation‘ wird im Rahmen dieser Arbeit nach Wolfgang Merkel als ein „Oberbegriff für alle Formen, Zeitstrukturen und Aspekte des Systemwandels und Systemwechsels“ definiert.17
Grundsätzlich unterscheiden sich osteuropäische Transformationen sowohl von den Systemwechseln der ersten und zweiten Demokratisierungswelle als auch von den Transformationen der dritten Welle in Südeuropa (ab 1974), Lateinamerika (ab 1983) und Ostasien (ab 1983). Der größte Unterschied liegt im so genannten ‚Dilemma der Gleichzeitigkeit‘. Das bedeutet, es vollziehen sich mehrere gleichzeitige Transformationsprozesse, die in den westeuropäischen Staaten meistens evolutionär und schrittweise ablaufen. In Bezug auf die Russländische Föderation handelt es sich dabei um drei Prozesse:
- die politische Transformation im Zuge des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie;
- die wirtschaftliche Transformation im Zuge des Wechsels von der Plan- zur Marktwirtschaft;
- die staatliche Transformation im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion und der darauffolgenden Gründung eines neuen Nationalstaates.18
Die Herausforderung bei diesem Transformationstypus liegt darin, dass die „nachholenden Modernisierungsprozesse“ zwar einer „evolutionären Eigenlogik folgen“, jedoch „gleichzeitig ablaufen und in ihrer Entfaltung aufeinander angewiesen sind.“19
2.1. Boris El’cin und die Anfänge der Transformation (bis 1991)
Als Boris El’cin aus den Wahlen vom 12. Juni 1991 als Präsident der Russländischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) hervorging, war er ein populärer demokratischer Anführer und symbolisierte die Hoffnungen der Reformbefürworter. Er hatte einen langen Kampf gegen die Parteiführung und anschließend gegen Gorbačёv hinter sich. Seine Wahl zum Präsidenten der RSFSR mit 57,3% der abgegebenen Stimmen schien eine logische Konsequenz zu sein.20
Als Bauernsohn aus einem kleinen Ort im Ural stieg El’cin nach dem Studium des Bauingenieurwesens innerhalb weniger Jahre zum leitenden Ingenieur und Leiter eines Baukombinats auf. Seinem Wechsel in den Parteiapparat folgte 1976 der Posten des Ersten Gebietsparteisekretärs von Swerdlowsk und 1981 die ZK-Mitgliedschaft, bevor er Ende 1985 zum Ersten Sekretär des Stadtparteikomitees in Moskau ernannt wurde. Seine mutige und entschlossene Haltung gegenüber Reformen ließen aus ihm schnell einen der beliebtesten Politiker und wichtigsten Hoffnungsträger für die demokratische Entwicklung des Landes werden.
Bis zum Frühjahr 1987 waren Gorbačёv und er Verbündete, bis die Unterschiede zwischen den Auffassungen und Charakteren beider Politiker immer deutlicher wurden. Gorbačёv zielte auf eine Perestroika21 mit der Kommunistischen Partei ab, während El’cin einen Frontalkampf gegen die Parteibürokratie führen wollte. Infolge dessen kam es auf Grund politischer und privater Differenzen zum Konflikt, der nicht nur Züge einer politischen Auseinandersetzung, sondern auch eines persönlichen Machtkampfes trug.22
Zum ersten Bruch kam es allerdings bereits im Herbst 1987. Nachdem El’cin in einer scharf formulierten Rede das Politbüro-Mitglied Ligačёv für das langsame Tempo der Perestroika und Gorbačёv für den Verfall in die Selbstzufriedenheit kritisierte, wurde er als Kandidat des Politbüros und als Moskauer Parteisekretär abgesetzt. Seine Unterstützung in der Bevölkerung verlor er indes nicht und kam wenige Monate später im Mai 1989 bei den ersten halbfreien Wahlen zum Volksdeputiertenkongress, bei denen er 89,4% der Stimmen erhielt, spektakulär zurück.23 Als Volkstribun und wichtiger Oppositionsführer stand er gemeinsam mit dem Dissidenten Andrej Sacharov an der Spitze der ‚Interregionalen Deputiertengruppe‘. Im Januar 1990 bildete sich daraus die Bewegung ‚Demokratisches Russland‘.24
Obwohl nur wenige Jahre als führender Politiker tätig, entwickelte sich El’cin schnell zu einem bedeutsamen Oppositionellen und verwandelte sich in eine Person, die in der Lage war, die Macht der Partei zu zerschlagen. Prägend für seine persönliche Entwicklung in einen demokratischen Politiker war dabei vor allem sein USA-Besuch im September 1989, infolgedessen er nach eigener Aussage seine antikapitalistische Einstellung vollständig revidierte. Von der traditionsreichen US-amerikanischen Demokratie und einem großen Warenangebot beeindruckt, entschied er sich ebenso in diesen Tagen, die KPdSU zu verlassen. El’cin selbst bezeichnete diese Reise als ein Schlüsselereignis für die Entwicklung seiner politischen Persönlichkeit.25
Seine USA-Reise ermutigte El’cin dazu, auch weitere Länder des westlichen Auslandes zu besuchen. Bezeichnend für die Dynamik seiner Wandlung ist unter anderem die Tatsache, dass er sich im Dezember 1989, also nur drei Monate nach dem Besuch der Vereinigten Staaten, während eines Griechenlandaufenthaltes folgendermaßen äußerte: „Diejenigen, die noch immer an den Kommunismus glauben, bewegen sich in einer Phantasiewelt. Ich betrachte mich selbst als Sozialdemokraten.“26
So rasch, wie seine politische Veränderung erfolgte, so energisch und konsequent führte er mittlerweile den Kampf gegen Gorbačёv. El’cin wurde infolgedessen zu Recht als der erste Politiker bezeichnet, der „freiwillig von der Nomenklatura-Leiter sprang“, um den Kampf gegen den Einparteienstaat und die kommunistische Ideologie aufzunehmen.27
Ein wichtiger Erfolg war dabei die Übernahme des Vorsitzes im Obersten Sowjet der russländischen Teilrepublik Ende Mai 1990 gegen den Willen seines Rivalen. Einen weiteren Vorteil gegenüber Gorbačёv sicherte sich El’cin im April 1990, als er zum einberufenen Referendum über den Fortbestand der Sowjetunion die Frage bezüglich der Wahl des Präsidenten der Russländischen Sowjetrepublik hinzufügte.28 Seinen Austritt aus der KPSS inszenierte El’cin geschickt und öffentlichkeitswirksam auf dem 28. Parteitag im Juli 1990. In den Wochen zuvor griff er die sozialistischen Grundsätze an und forderte das Recht auf Privateigentum, finanzielle Unabhängigkeit der Industriebetriebe und Kolchosen sowie Vereinigungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. Der Frage, ob er noch Sozialist sei, wich er aus, indem er rhetorische Gegenfragen über die Definition des Sozialismus stellte.29
Nachdem Boris El’cin in Folge des am 18. August 1991 begonnenen Putsches der geplanten Verhaftung entging und auf einem Panzer stehend die Bevölkerung dazu aufrief, den Putschisten eine entschiedene Antwort zu geben, stand er im Zenit seiner Popularität.30
2.2. Erste Konsolidierungsversuche und der Verfassungskonflikt (1991-1993)
Wie die Transformationsforschung betont, ist es für einen erfolgreichen Übergang zur Demokratie notwendig, einen breiten Konsens unter den Eliten zu erzeugen, die Unterstützung der Gesellschaft zu sichern und klare verfassungsrechtliche Grundlagen zu schaffen. Auch wenn eine Verfassung zunächst nicht herausgearbeitet war, schien die Lage 1991 erfolgsversprechend. Für El’cin hatte bei den ersten demokratischen Präsidentschaftswahlen eine große Mehrheit der Bevölkerung gestimmt und auch unter den politischen Eliten war nach der Niederschlagung des Putsches im August 1991 ein allgemeiner Konsens geschaffen worden – es herrschte weitgehend Einigkeit über eine demokratische Staatsordnung der RSFSR sowie grundlegende Reformen der Wirtschaft als langfristige Ziele.31
Die Niederschlagung des kommunistischen Putsches im August 1991 führte dazu, dass viele das ‚demokratische Zeitalter‘ als bereits angebrochen sahen. Der Durchbruch zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schien gelungen und die Anhänger der Bewegung ‚Demokratisches Russland‘ sowie der ‚Interregionalen Deputiertengruppe‘ bezeichneten sich bereits als ‚Demokraten‘.32
Der Weg zum Erreichen des Ziels war jedoch umstritten. Grund dafür war vor allem die mangelhafte Erfahrung und das Fehlen einer konkreten Strategie für den Systemwandel. Der liberale Politiker Sergej Filatov schrieb in seinen Memoiren:
„Wir wußten lange Zeit nicht, worin radikale Reformen bestanden, und selbst die Urheber der Reformen wußten dies nicht und der Präsident auch nicht. Wir wußten nur, daß wir laufen mußten. Über das Ergebnis der Reformen wurde nur wild gerätselt, und offenkundig stellte sich jeder darunter etwas anderes vor.“33
Die Übereinkunft der ‚Augustsieger‘ war aus diesem Grund schnell wieder brüchig.
Auch in der Gesellschaft war Anfang der 1990er Jahre eine gewisse Orientierungslosigkeit zu spüren. Die ‚alten‘ politischen Werte schienen verworfen, die ‚neuen‘ noch nicht richtig verstanden geschweige denn angeeignet. Gleichzeitig wurde die ökonomische und soziale Lage immer schwieriger und auch die Versorgungsprobleme spitzten sich zu. Diese Umstände erschwerten die Überzeugung der Bevölkerung von der Richtigkeit der demokratischen Ideen.
Zudem war das Land hinsichtlich der Auflösung der Sowjetunion sowie den demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen gespalten. Beispielhaft für diese gesellschaftlichen Widersprüche war die Tatsache, dass eine relativ große Bevölkerungsgruppe gleichzeitig für die Erhaltung der UdSSR beim Referendum im März 1991 und für El’cin als Präsidenten im Juni 1991 stimmte. Unter den Gegnern des Umbruchs konnte vor allem zwischen zwei großen Gruppen unterschieden werden: der nationalistischen und der kommunistischen bzw. neokommunistischen.
Die Kommunisten formierten sich unter Gennadij Zjuganov als ‚Kommunistische Partei der Russländischen Föderation‘ (KPRF) neu und traten als eine wiedererstarkte Kraft auf. Am anderen Ende des Parteienspektrums entstand die rechtsnationale bzw. rechtsradikale ‚Liberaldemokratische Partei der Russländischen Föderation‘ (LDPR) mit dem Populisten Vladimir Žirinovskij an der Spitze.
Das Fehlen fester Überzeugungen bei breiten Teilen der Bevölkerung sowie auch innerhalb der Parteien führte dazu, dass sich kein stabiles Parteiensystem herausbilden konnte. Hinzu kam fehlende Erfahrung mit den liberal-demokratischen Werten und Uneinigkeit bezüglich der Vergangenheitsaufarbeitung. Auch die schnell herauskristallisierte starke Rolle des Präsidenten sowie zahlreiche durch ihn erschaffene Strukturen sorgten dafür, dass sich die Parteien während der ersten Präsidentschaft El’cins als politische Institutionen nur begrenzt etablieren konnten.34
Andererseits muss festgestellt werden, dass sich die Polarisierung in der Gesellschaft zunächst in Grenzen hielt. Die Sowjetunion war weitgehend ohne Blutvergießen zerfallen und die Wahlen im Jahre 1991 relativ friedlich verlaufen. Dazu hatte auch der in der Bevölkerung populäre Wunsch nach Wahlen beigetragen, resultierend aus der Furcht vor einem Bürgerkrieg. Erst 1993 forderte die im September eskalierte Verfassungskrise zahlreiche Menschenleben.35
Bei der Regierungsbildung nach dem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen zeigte sich El’cin erstmals weniger als ein radikaler Kämpfer für die Demokratie, sondern knüpfte vielmehr an die Idee des ‚russischen Sonderweges‘ sowie der Nationalidee an. Zwar sprach sich El’cin gegen die kommunistische Ideologie und für „den Weg zur Demokratie, der Wiedergeburt der Würde der Menschen“ aus und erklärte, Russland solle sich zu einem „demokratischen, friedliebenden, souveränen Rechtsstaat“ entwickeln.36 Gleichzeitig propagierte er aber auch die Besinnung auf die „universellen menschlichen Werte und Lebensnormen“. Eine ideologische Parallele zu Gorbačёvs ‚neuem Denken‘, das die ‚allgemeinmenschlichen Werte‘ als einen Ersatz für die kommunistische Ideologie sah, ist hier deutlich erkennbar.37
Der wichtigste Grund für diesen Wandel war die Bestrebung El’cins, der Präsident ‚aller Russländer‘ zu sein. Aus dieser Überlegung heraus beschloss er nach dem Austritt aus der KPSS keiner anderen Partei beizutreten. Entgegen der Annahme, ‚Demokratisches Russland‘ wäre der am besten geeignete Pool zur Rekrutierung von reformwilligen Politikern für den Übergang, bezog El’cin deren Vertreter nur begrenzt mit ein, da er vor allem die Entstehung einer ‚Präsidentenpartei‘ auf der Basis des ‚Demokratischen Russlands‘ fürchtete. Seiner Überzeugung nach würde eine solche Partei zwangsläufig früher oder später die Züge der KPSS annehmen.
Zahlreiche Vertreter der ‚Demokraten‘ unterschätzten ebenfalls enorm die Wichtigkeit der Situation und bevorzugten die Rolle der ‚konstruktiven Opposition‘ anstatt sich an der Regierung zu beteiligen. Die Abneigung gegen Parteien auf der einen und die fehlende Kenntnis über die Wirkungsweise liberal-demokratischer Institutionen westlicher Prägung auf der anderen Seite führte dazu, dass Kräfte, die am besten dafür geeignet waren die demokratische Transformation zu gestalten, nur in unzureichendem Maße involviert waren.38
Um neues Personal bemüht, suchte El’cin in der frühen Phase der Transformation vor allem nach einem liberal denkenden Ökonomen, der die Gestaltung des Wirtschaftssystems schnell vorantreiben konnte. Die Entscheidung fiel auf Egor Gajdar, den 35-jährigen Leiter des Moskauer ‚Instituts für Wirtschaftspolitik‘, der neuer Regierungschef wurde.39 Allerdings fanden sich ebenfalls Akteure, die dem liberalen und neokonservativen Lager zuzuordnen sind genauso wie überzeugte Demokraten und Bürokraten aus der Zeit des Kommunismus. Vor allem war es für El’cin wichtig, dass die Mitglieder der Regierung berechenbar sind und seine Verbindung zu den Demokraten nicht behindern. Daher repräsentierte die Regierung ein breites politisches Spektrum, so dass die Losung ‚Die Demokraten sind an die Macht gekommen‘ angesichts dieser Personalzusammensetzung stark übertrieben wirkt.40
Tatsächlich entstammten alle beteiligten politischen Akteure, also auch die Demokraten, dem sowjetischen System, weshalb ihre Kenntnisse liberaler politischer Systeme westlicher Prägung sehr limitiert waren. Erschwerend kam hinzu, dass sich viele Kader neben zahlreichen Anhängern der demokratischen Bewegung in der Sowjetunion auch aus der kommunistischen Nomenklatura rekrutierten. Ganz unabhängig von der politischen Herkunft der Akteure, ist jedoch fraglich, ob sie überhaupt mit demokratischen Prinzipien vertraut waren und wie weit ihre Bereitschaft reichte sich bei deren Umsetzung an demokratische Spielregeln zu halten.41
Aus diesem Grund stellte sich auch die Arbeit an der neuen Verfassung als schwierig heraus. Obwohl die Verfassungsväter bereits Mitte 1990 mit der Herausarbeitung angefangen hatten, gab es keine Einigkeit über ein zu favorisierendes Modell. In der Praxis gingen jedoch die Verfassungsexperten dazu über, die mittlerweile stark veränderte Verfassung der Sowjetunion von 1978 weiter anzupassen. Beispielsweise wurden das Präsidentenamt und das Verfassungsgericht in die ‚alte‘ Verfassung integriert. Als die UdSSR 1991 zerfiel, war die Verfassung nicht realitätstauglich, da sie zahlreiche Widersprüche und Kompetenzüberschreitungen enthielt.42 Bis zum Frühjahr 1993 erlebte sie deshalb über 300 Änderungen und glich einem „zentaurenartigen Ungestüm aus sowjetischem Unterbau und aufgesetzten Rechtsstaatsprinzipien.“43
Wie weit die Widersprüche der Verfassung reichten, zeigt die Tatsache, dass die „Annahme einer neuen Verfassung erst durch ein neu gewähltes Parlament zu erwarten war, vorgezogene Parlamentswahlen aber erst nach der Verabschiedung der neuen Verfassung möglich erschienen.“44
Gleichzeitig kennzeichneten Machtkämpfe das Verhältnis zwischen dem Präsidenten und dem Parlament. Auch die Situation zwischen dem Präsidenten und seinem Stellvertreter Aleksandr Ruckoj verschlechterte sich zunehmend. Letzterer kritisierte unter anderem den radikalen Übergang zur Marktwirtschaft und die Unterzeichnung des ‚Vertrages über die Schaffung der Union der Unabhängigen Staaten‘45, der die Sowjetunion liquidierte, scharf. Außerdem fehlten eine klare Aufgabenteilung zwischen dem Präsidenten und dessen Stellvertreter, sowie generell eine Vorstellung über die institutionelle Aufteilung der Macht. Zwar wurde das US-amerikanische System des Vizepräsidenten übernommen, ohne jedoch die nötigen Kenntnisse über die institutionellen Rollen des Präsidenten und seiner rechten Hand.46
Als das Parlament die Maßnahmen des Präsidenten offen zu hindern begann, löste El’cin es im September 1993 auf und beschloss, Anfang Oktober bewaffnete Gewalt einzusetzen, obwohl es dazu keine rechtliche Grundlage gab.47
Dieser Konflikt zwischen Parlament und dem Präsidenten in der frühen Phase postsowjetischer Transition war nichts typisch Russländisches. Im Gegenteil ereigneten sich vergleichbare Auseinandersetzungen, aus denen bemerkenswerterweise immer der Präsident als Sieger hervorging, in allen ehemaligen GUS-Staaten außer Turkmenistan. Die russländische Besonderheit war der blutige Charakter des Konfliktes.48 Ähnlich wie auch in anderen GUS-Staaten, sah die neue Verfassung von 1993 keinen Posten des Vize-Präsidenten mehr vor.49
Die Bevölkerung verfolgte diese Ereignisse als eine Auseinandersetzung zwischen zwei rivalisierenden Cliquen, nicht aber als einen Konflikt zwischen reformerischen und revanchistischen Kräften. El’cin hatte seinen Sieg nicht der Unterstützung seiner Anhänger, sondern den Elitetruppen zu verdanken. Somit war er auf die Loyalität der Armeeführung angewiesen, und musste Konzessionen machen. Angesichts der gewaltsamen Niederschlagung des Putsches waren die demokratisch-reformerischen Kreise erstmals ernsthaft uneinig, ob El’cin weiterhin zu unterstützen sei. Der Präsident strebte daher die schnellstmögliche Annahme der neuen Verfassung an, um seine Macht zu legitimieren und zu festigen.50
2.3. Etablierung des präsidentiellen Systems (1993-1995)
Die russländische Verfassung wurde am 12. Dezember 1993 mit 58,4% der abgegebenen Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 54,8% angenommen und trat am 25. Dezember 1993 in Kraft, am Tag ihrer Veröffentlichung in der ‚Rossijskaja Gazeta‘.
Der Verfassungsentwurf war von der Verfassungskommission bereits am 12. Juni 1993 verabschiedet worden, jedoch ließ El’cin diesen nochmals überarbeiten, vor allem hinsichtlich der Stärkung der Stellung des Präsidenten.51
Auf dem Papier ähnelt die russländische Verfassung von 1993 den europäischen Verfassungen, sieht allerdings weitreichendere Kompetenzen für den Präsidenten vor. Die Russländische Föderation räumt als eine „demokratische, föderative und rechtsstaatliche Republik“ den Bürgern demokratische Rechte und Freiheiten ein und garantiert die Gewaltenteilung. Die wichtigsten Werte seien der Mensch, seine Würde, sowie seine Rechte und Freiheiten. Gewährleistet werden die Freizügigkeit hinsichtlich der Wahl des Wohnortes und des Arbeitsplatzes, die Garantie des Privateigentums und der wirtschaftlichen Betätigung. Ideologischer, politischer und religiöser Pluralismus sind wichtige Grundrechte, die nur eingeschränkt werden können, wenn sich die Tätigkeit der Vereinigungen gegen die Verfassungsordnung richten beziehungsweise soziale, ethnische, nationale oder religiöse Konflikte schüren. Freie Informationsbeschaffung und Freiheit von Masseninformation sind mit einem Zensurverbot verknüpft. Auch politische Partizipationsrechte gehören zu den garantierten Rechten des Bürgers, ebenso wie das aktive und passive Wahlrecht.52
Nach dem Vorbild des deutschen Grundgesetzes werden die Grundrechte an den Anfang des Verfassungstextes platziert, außerdem wählt die Bevölkerung die Hälfte der Abgeordneten aus den Vertretern der Wahlkreise und die andere Hälfte aus den Vertretern der Parteien. Darüber hinaus übernahm die russländische Verfassung auch die Fünfprozenthürde, die auch für Bundestagswahlen gilt.53 Der Institutionsaufbau erinnert ansonsten an das französische Modell, wobei die Rechte der Parlamentskammern zugunsten des Präsidenten deutlich beschnitten sind.54
Aus zwei Kammern bestehend – dem Föderationsrat und der Staatsduma – steht die Föderale Versammlung als das legislative Organ da. Der Föderationsrat wird aus je einem Vertreter der Exekutive und Legislative der 89 Föderationssubjekte gebildet.55 Die Staatsduma – das Unterhaus des Parlaments – besteht aus 450 Abgeordneten, die auf vier Jahre vom Volk gewählt werden. Die Duma bestätigt oder lehnt den Regierungschef ab, der vom Präsidenten vorgeschlagen wird.56
Auch die im Artikel 10 festgelegte Gewaltenteilung entspricht den in den liberalen Demokratien westlicher Prägung anerkannten Werten. Den wesentlichen Unterschied der russländischen Verfassung zu ihren westlichen Vorbildern, und gleichzeitig auch den größten Widerspruch zum Prinzip der Gewaltenteilung, bildet die starke Stellung des Präsidenten. Vom Volk auf vier Jahre gewählt, ist der Präsident Staatschef der Russländischen Föderation sowie „Garant der Verfassung“ sowie der Einhaltung der Menschenrechte und Freiheiten. Er verfügt über weitreichende Kompetenzen, die von der Zustimmung der Staatsduma über das Befugnis, die Regierung zu entlassen bis hin zur Bildung und Leitung des Sicherheitsrats gehen. Außerdem ernennt er auf Vorschlag des Regierungschefs die einzelnen Minister und darf sie von ihren Ämtern entlassen. Ebenfalls gehören Ernennung und Entlassung des Oberkommandos der Streitkräfte zu seinen Kompetenzen.57
Auf dem Papier entspricht die russländische Verfassung einem nahezu idealtypischen präsidentiell-parlamentarischen Regierungssystem.58 Verfassungsrecht und Verfassungspraxis gerieten jedoch stets sowohl in den Demokratisierungsprozessen allgemein, insbesondere aber während der Transition in den osteuropäischen Staaten, in Konflikt.
In der Russländischen Föderation war die Diskrepanz zwischen dem präsidentiell-parlamentarischen Wesen der Verfassung und dem tatsächlich herrschenden Superpräsidentialismus besonders auffällig. Im Mittelpunkt der Verfassung steht die Rolle der Duma, die aber zu keinem Zeitpunkt in der Lage war, ein Gegengewicht zum Präsidenten zu bilden.59
El’cin erklärte im Interview der Zeitung ‚Kommersant‘ im September 1993 die Notwendigkeit eines starken Präsidenten in der Russländischen Föderation folgendermaßen:
„Aber was wollen Sie? In einem Land, das an Zaren und Führer gewöhnt ist; in einem Land, in dem sich keine klaren Interessengruppen herausgebildet haben, in dem die Träger der Interessen nicht bestimmt sind, sondern gerade erst normale Parteien in der Entstehung begriffen sind; in einem Land, in dem der rechtliche Nihilismus überall zu Hause ist – wollen sie in einem solchen Land das Hauptgewicht allein oder in erster Linie auf das Parlament legen? […] Jede Zeit hat ihr eigenes Machtgleichgewicht in einem demokratischen System. Heute schlägt in Russland dieses Gleichgewicht zugunsten des Präsidenten aus.“60
Allerdings hätte El’cin enorm zur Entwicklung einer stabilen Parteistruktur beitragen können. Nach seinem Austritt aus der KPRF wollte er ein parteiloser Präsident bleiben, da er der Meinung war, eine Präsidentenpartei würde sich automatisch zu einer Partei sowjetischen Typs entwickeln. Dadurch wurden die demokratischen Kräfte nicht in einer Partei hinter ihrem Reformanführer vereint und die demokratische Bewegung blieb infolgedessen zersplittert, was nicht nur das Parteisystem an sich schwächte, sondern auch den Parteien wie KPRF und LDPR in die Hände spielte.
Diese Probleme kamen bei den ersten Parlamentswahlen, die ebenfalls am 12. Dezember 1993 stattfanden, deutlich zum Tragen. Die Pro-El’cin-Partei ‚Wahl Russlands‘ (die El’cin unterstützte, deren er aber nicht angehörte) erhielt nur 15% der Stimmen hinter der rechtsextremen LDPR von Žirinovskij (22,8%) und der KPRF Zjuganovs (12,3%), die im Parlament einen Block mit der ‚Agrarpartei‘ (8%) bildete.61
Nach diesen Wahlen begann die politische Entwicklung El’cins in eine national-autoritäre Richtung, was anschaulich an seiner Rhetorik verdeutlicht werden kann. Demokratische Freiheiten, Menschenrechte und Marktwirtschaft wurden als Zielstellungen immer seltener erwähnt. An ihre Stelle traten Begriffe, wie ‚Russlands Stärke‘, ‚Sicherheitsinteressen‘, ‚Russlands führende Rolle im GUS-Raum‘, ‚nationale Mission‘ oder ‚Sonderweg Russlands‘.“62
Gleichzeitig kapselte sich El’cin, der sich früher stets volksnah gab, immer weiter von der Bevölkerung ab. Parallel zu dieser Abkapslung vollzog sich eine radikale Veränderung in der Umgebung des Präsidenten. In seine Nähe rückten Vertreter der Polizei und Sicherheitsdienstes, die zwar El’cin absolut loyal gegenüber standen, jedoch zum überwiegenden Teil nichts mit der demokratischen Reformbewegung zu tun hatten. Dazu gehörten Generäle, ehemalige Geheimdienstmitarbeiter und Apparatschiks, allen voran der Chef des Sicherheitsdienstes Aleksandr Koržakov.. Dieser war ein enger persönlicher Freund El’cins und gewann im Hintergrund zunehmend an politischem Einfluss.63
Die formellen politischen Institutionen blieben dabei schwach. El’cin löste Personalfragen willkürlich und rief zahlreiche politische Körper ins Leben, die die institutionelle Struktur des Staates nur weiter schwächten. Konkurrenz, Kompetenzüberschreitungen und Parallelismen zwischen den einzelnen politischen Akteuren und Institutionen waren die Folge. Hinzu kamen oft persönliche Machtambitionen der einzelnen Politiker, so dass ein Konkurrenzkampf zwischen den Institutionen und ihnen zugehörigem Personal entstand.64 In diesem Zusammenhang schrieb der bekannte liberale Journalist Oleg Popcov ironisch: „Bei uns gibt es jetzt einen eigenen Staatssekretär wie in Amerika, einen eigenen Staatsrat wie in China und einen eigenen Sicherheitsrat wie bei den Vereinten Nationen.“65
Zu enormen soziale Missständen, wirtschaftlichen Problemen und hohen Kriminalitätsraten kam nach 1994 der unpopuläre Krieg in Tschetschenien, der zahlreiche Opfer forderte und von der Bevölkerung weitgehend abgelehnt wurde. Die Reformen kamen während dessen nur schleppend voran. So war es nicht verwunderlich, dass bei den Duma-Wahlen von 1995 KPRF (22,3%) und LDPR (11,18%) vor der El’cin gegenüber loyalen Partei ‚Unser Haus Russland‘ (‚Naš Dom Rossija‘, NDR), die auf 10,13% kam, abschnitten.
2.4. Zwischenbilanz
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vollzogen sich bis 1996 zahlreiche politische Veränderungen in der Russländischen Föderation. Die demokratischen Kräfte waren in der Lage, sich gegen autoritäre und reformfeindliche Kräfte zu behaupten. Eine neue Verfassung, die liberal-demokratische, marktwirtschaftliche und bürgerlich-freiheitliche Werte enthielt, wurde verabschiedet, und definierte Russland als einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Es entstand ein breites Parteienspektrum, und freie Wahlen wurden regelmäßig abgehalten. Die Presselandschaft war lebendig, thematisch vielseitig und weitgehend unabhängig. Auch insgesamt war das Maß an sozial-politischem Pluralismus sowohl ‚oben‘ (im Bereich der politischen Macht) als auch ‚unten‘ (auf sozialer Ebene) Anfang der 1990er Jahre recht hoch, was auf demokratische Züge des politischen Systems hinweist.66
Demokratische Streitkultur, Hegemonie des Gesetzes und die höchste Priorität der individuellen und Minderheitenrechte konnten sich als dominierende Prinzipien allerdings nur zum Teil durchsetzen.
Eine wichtige Ursache dafür waren die schweren Herausforderungen mit denen sich die politische Führung Anfang der 1990er Jahre konfrontiert sah. Die Notwendigkeit, parallel zu politischen Reformen eine neue Wirtschaftsstruktur zu übernehmen, stellte ein enormes Problem dar. Diese doppelte Belastung brachte erhebliche soziale Probleme mit sich, die bei der Bevölkerung eine Assoziativkette zwischen Demokratie auf der einen und Armut sowie ‚Räuberkapitalismus‘ auf der anderen Seite auslöste. Wie erheblich die wirtschaftlichen Probleme der Bevölkerung waren, belegen folgende Zahlen:
Das Bruttoinlandsprodukt sank zwischen 1992 und 1995 um 42% und die Industrieproduktion ging während des gleichen Zeitraumes um 33% zurück. Nur im Jahr 1995 sank das Realeinkommen um 13% und das Durchschnittsgehalt um 24%. Zwischen 1992 und 1995 wuchsen die Arbeitslosenzahlen von 4,7% auf 8,3% an. Zudem wuchs die Kluft zwischen Arm und Reich dramatisch. Der Anteil des Einkommens der ärmsten 40% der Bevölkerung ging zurück von 17,6% im Jahre 1992 auf 15,7% drei Jahre später. Die reichsten 20% verdienten 1995 bereits 46,9% von den Gesamteinnahmen der Bevölkerung gegenüber 38,3% im Jahre 1992.67 Millionen werktätiger Menschen wurden die Gehälter monatelang nicht ausgezahlt. Selbst nach offiziellen russländischen Statistiken befand sich 1992 ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der relativen Armutsgrenze.68 Durch das ganze Land ging 1994 und 1995 eine Welle von Demonstrationen und Streiks bis hin zu Hungerstreiks.69
Der Verlauf der Privatisierung wurde von der Mehrheit der Bevölkerung gleichzeitig als ungerecht empfunden. Staatliche Betriebe im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar wurden für einen Bruchteil dieser Summen an einige wenige Wirtschaftsunternehmer verkauft, sogenannte ‚Oligarchen‘. Daher fragten sich viele Russländer, warum die Reichtümer in den Händen einiger Weniger sind, während die in der Sowjetunion anerkannten Gruppen, wie ‚Helden der Arbeit‘ oder Akademiker zum Teil unter schweren finanzielle Problemen zu leiden hatten. Gleichzeitig kam es zu einem „Verlust von Vertrauen in Demokratie und Marktwirtschaft“, weil die Oligarchen in den Augen der Bevölkerung eher die eigenen Wirtschaftsinteressen als liberale Ideale vertraten.70
Außerdem schwächte die autoritäre Vergangenheit die Bildung von Institutionen. Unter Institutionen werden in diesem Zusammenhang nach Wolfgang Merkel „relativ dauerhafte Muster und normative Regelwerke sozialer Beziehungen, die als legitim angesehen werden und Problemlösungs- und Regulationspotentiale für menschliches Verhalten erhalten“ verstanden.71 Die autoritären Tendenzen des Herrschaftsstils El’cins trugen dazu bei, dass demokratische Reformen und ein konsequenter Aufbau liberal-demokratischer Institutionen nach 1993 nicht mehr energisch genug vorangetrieben wurden. Im Gegensatz dazu blieb eine personifizierte Führung das prägende Merkmal des politischen Systems der Russländischen Föderation in den 1990er Jahren. Somit wurde die für Russland traditionelle Vorstellung von Herrschaft, nach der sich das Volk eher einer führenden Persönlichkeit unterordnet als einer Institution, nicht überwunden.72 Hinzu kam die Entstehung informeller Machtinstitutionen, die sich auf allen Ebenen bildeten und eine typische Erscheinung für die Staaten im Übergang darstellt. Die Transformationsforschung versteht darunter das „Vorherrschen partikularer, informeller Institutionen […], die universale, formale Institutionen politischer Verfahrensweisen verdrängen und deren Geltung untergraben.“73
Während in den Regionen einflussreiche Wirtschaftsmagnaten immer mehr in die Nähe des Machtzentrums rückten, bildeten sich auch in der Umgebung des Präsidenten ähnliche Strukturen. Der Chef seines Sicherheitsdienstes Koržakov und seine Verbündeten konnten immer mehr Einfluss ausüben. Des Weiteren bildete sich bereits die sogenannte ‚Kreml-Familie‘, die aus Vertrauten El’cins, Oligarchen und anderen dem Präsidenten nahe stehenden Personen bestand und nach den Präsidentschaftswahlen von 1996 ihre Macht ausbauen konnte.
Diese autoritären Tendenzen äußerten sich auch in der fehlenden Bereitschaft der politischen Klasse zur Kommunikation untereinander und mit der Bevölkerung. Somit entstand kein allgemeingültiger gesellschaftlicher Konsens über gemeinsame politische ‚Spielregeln‘. Die Schwäche der Zivilgesellschaft und die paternalistischen Züge im Dialog zwischen Politik und Bürgern erschwerten die Lage zusätzlich.74
Trotz demokratischer Defizite unter den politischen Eliten war die Transformation eines Einparteienstaates in ein qualitativ neues pluralistisches Modell eine der wichtigsten Errungenschaften der Transformation.75 Wie das gesamte politische Leben, lieferte das Parteiensystem Russlands ein Spiegelbild einer jungen, noch nicht ausgereiften demokratischen Kultur. Die Organisationsstruktur blieb klein und bei den meisten Parteien handelte es sich um Bewegungen im Umfeld einzelner politischer Protagonisten. Gleichzeitig war die Fragmentierung der Parteilandschaft enorm, bei zudem geringer Lebensdauer der Parteien. An den Parlamentswahlen vom 12. Dezember 1993 nahmen 13 Parteien und Gruppierungen teil. Zwei Jahre später, im Dezember 1995 lag die Anzahl der teilnehmenden Parteien bereits bei 43.76 Problematisch war eine solche Fragmentierung insofern, als dass beispielsweise bei der Wahl von 1995 47,1% der Wählerstimmen unter den Tisch fielen, weil die meisten Parteien an der Fünfprozenthürde scheiterten.77
Das parteipolitische Spektrum wurde Mitte der 1990er Jahre von kommunistischen, national-konservativen und russisch-nationalistischen Kräften dominiert. Dies war Ausdruck einer schweren sozialen Lage und allgemeingesellschaftlicher Enttäuschung.78 Sozialdemokratische, christ-demokratische Parteien, sowie die Grünen, die in Russland im Zuge der Perestroika nach europäischem Vorbild gegründet worden waren, besaßen kaum nennenswerte Relevanz. Eben diese schwach ausgebildeten Parteien des Zentrums sowie Randparteien, die eine starke Unterstützung der Bevölkerung genießen, sind für transitorische Gesellschaften typische Eigenschaften.79
Die gesellschaftliche Krise sowie die weit verbreitete Orientierungslosigkeit und Unsicherheit der Bevölkerung Mitte der 1990er Jahre erwuchs allerdings nicht nur aus wirtschaftlichen und politischen Problemen. Auch subjektive Wahrnehmungen und Vergleiche des Lebens mit der Situation in der Sowjetunion besaßen einen großen Einfluss. Zur Ungerechtigkeit der Privatisierung gesellte sich verletzter Nationalstolz, da das fehlende internationale Ansehen Russlands von großen Teilen der mit viel Patriotismus erzogenen Bevölkerung als schmerzlich empfunden wurde. Außerdem waren die russländischen Bürger enttäuscht von der mangelhaften Sittlichkeit und Moral in Politik und Wirtschaft, die während der Perestroika bei den kommunistischen Funktionären heftig kritisiert wurden. Schließlich weckte die Instabilität und Unsicherheit des Lebens in den 1990er Jahren in den Bürgern das Gefühl der Ungewissheit und bisweilen Existenzängste. Diesen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umständen entsprechend, veränderte sich die Gesamteinstellung der Bevölkerung gegenüber demokratischen Reformen drastisch.
Insgesamt ist die Momentaufnahme Ende 1995-Anfang 1996 eher ernüchternd: Die Transformation in ein pluralistisches und rechtsstaatliches System in Russland bis zum Jahr 1996 wurde nicht erreicht. Auch wenn es kurze Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anzeichen für eine Entwicklung der Russländischen Föderation hin zu einer liberalen Demokratie gab, entstand unter El’cin vielmehr ein unübersichtliches Gebilde aus autokratischen, oligarchischen und demokratischen Elementen. Es fällt aus diesem Grund schwer, das politische System Russlands unter El’cin pauschal zu definieren.80 Wie die Assistenten des Präsidenten im Werk ‚Ėpocha El’cina‘ bemängelten, ist es in den 1990er Jahren nicht gelungen, „eine klare historische Wasserscheide zwischen der UdSSR und dem postkommunistischen Rußland zu errichten.“81
Russland befand sich damit de facto in zwei Epochen. Während eine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene ideologische Orientierungslosigkeit ein Grund für die „politische Doppelnatur“ des Staates war, fehlte außerdem eine klare, konsequent zu verfolgende Entwicklungsstrategie. Diese beiden Gründe waren ausschlaggebend dafür, dass Russland nicht auf „einen geraden demokratischen Entwicklungsweg“ einbog.82 Das schwer definierbare politische System stellte im Jahr 1996 „eine widerspruchsvolle Mischung aus einem autoritärem Präsidialsystem und parlamentarisch-demokratischen Ansätzen“ dar.83
[...]
1 Vgl. Krotkov, S. 379.
2 Zit. in: ebenda, S. 393.
3 Als ‚Oligarchen‘ werden in Russland politisch einflussreiche Wirtschaftsmagnaten bezeichnet.
4 Vgl. Schewzowa, Lilija: Das neue Russland. Von Jelzin zu Putin. In: Höhmann, Hans-Hermann; Schröder, Hans-Henning (Hrsg.): Russland unter neuer Führung. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts. Münster 2001, S. 35-36. Nach der Definition von Jakov Pappe ist eine Gruppe von Menschen dann als Elite zu bezeichnen, wenn sie die drei folgenden Bedingungen erfüllt: „1. die Einnahme von Schlüsselpositionen in ökonomischen, politischen und sozialen Strukturen, welche über ausreichend sichere Zukunftsperspektiven verfügen; 2. ein Bewußtsein gemeinsamer Interessen; 3. ständige Interaktionen oder wenigstens regelmäßige Kontakte untereinander.“4 (Zit. in: Born, Peter: Sektorale Akteure und Finanz-Industrie-Gruppen in Rußland. In: Arbeitspapiere des Osteuropa Instituts der Freien Universität Berlin 20/1999, S. 23-24).
5 Vgl. Schewzowa, S. 34.
6 Zit. in: Mommsen, Margareta: Wer herrscht in Rußland? Der Kreml und die Schatten der Macht. München 2003, S. 7.
7 Zit. in: Krotkov, S. 161.
8 Vgl. Brudny, Yitzhak M.: In Pursuit of the Russian Presidency: Why and How Yeltsin Won the 1996 Presidential Election. In: Communist and Post-Communist Studies 3/1997, S. 255.
9 Vgl. RiaNovosti: Merkel: Pressefreiheit in Russland bedarf besonderer Aufmerksamkeit. In: http://de.rian.ru/politics/20110719/259817075.html, letzter Aufruf: 20.7.2011, 19:55.
10 Krotkov, Vladimir: Ot SSSR k Rossii – avtoritarnaja transformacija rubeža XX-XXI vekov. Moskau 2010.
11 Mommsen, Margareta: Wer herrscht in Rußland? Der Kreml und die Schatten der Macht. München 2003.
12 Zasurskij, Ivan: Mass-media vtoroj respubliki. Moskau 1999.
13 Oates, Sarah: Television, Democracy and Elections in Russia. New York 2006.
14 Amelina, Anna: Propaganda oder Autonomie? Das russische Fernsehen von 1970 bis heute. Bielefeld 2006.
15 Gel'man, Vladimir: Wahlen à la russe. Formale Normsetzung und informelle Methoden, in: Osteuropa 10/2005, S. 85-98.
16 Brudny, Yitzhak M.: In Pursuit of the Russian Presidency: Why and How Yeltsin Won the 1996 Presidential Election. In: Communist and Post-Communist Studies 3/1997, S. 255-275.
17 Merkel, Wolfgang: Systemtransformation. Opladen 1999, S. 77.
18 Vgl. ebenda, S. 378-379.
19 Ebenda, S. 378.
20 Vgl. Leonhard, Wolfgang: Spiel mit dem Feuer. Rußlands schmerzhafter Weg zur Demokratie. Bergisch Gladbach 1996, S. 51.
21 Unter ‚Perestroika‘ (russ. Umbau, Umgestaltung) wird die von Michail Gorbačëv ab 1985 verfolgte Politik der Demokratisierung und Modernisierung des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens verstanden.
22 Vgl. ebenda, S. 49-50.
23 Vgl. ebenda, S. 50.
24 Vgl. Mommsen 2003, S. 18-19.
25 Vgl. ebenda, S. 20.
26 Zit. in: ebenda, S. 21.
27 Zit. in: ebenda.
28 Vgl. ebenda, S. 22.
29 Vgl. ebenda.
30 Vgl. Leonhard, S. 51.
31 Vgl. Mommsen 2003, S. 26.
32 Vgl. ebenda, S. 23. Die Bezeichnung ‚Demokraten‘ bezieht sich deshalb im Rahmen dieser Arbeit je nach Kontext auf Personen, die der Bewegung ‚Demokratisches Russland‘ oder den aus ihr hervorgegangenen Bewegungen und Parteien angehören oder zu ihrem Elektorat gehören. Des Weiteren zählen dazu auch Bürger, die grundsätzlich gesellschaftliche und marktwirtschaftliche Reformen sowie bürgerliche Freiheiten befürworten. In diesem Sinn ist die Bezeichnung nicht wertend zu verstehen, sondern dient ausschließlich der politischen Zuordnung.
33 Zit. in: ebenda, S. 26.
34 Vgl. Rossijskaja Akademija Nauk, Institut Evropy: Izbiratel’nyj process v Rossii. Nacional’nye osobennoskti i evropejskij opyt. Materialy kruglogo stola, provedёnnogo v IE RAN 19.01.2004. Moskau 2004, S. 16-17.
35 Vgl. ebenda, S. 18.
36 Zit. in: Leonhard, S. 51.
37 Vgl. Mommsen 2003, S. 23.
38 Ebenda, S. 29
39 Vgl. ebenda, S. 30-31.
40 Vgl. ebenda, S. 32.
41 Vgl. ebenda, S. 16-17.
42 Vgl. ebenda, S. 28.
43 ebenda.
44 ebenda, S. 29.
45 Dieser Vertrag ist auch als Beloveža-Vertrag bekannt.
46 Vgl. ebenda, S. 27.
47 Vgl. Mommsen, Margareta: Russlands politisches System des „Superpräsidentialismus“. In: Höhmann, Hans-Hermann; Schröder, Hans-Henning (Hrsg.): Russland unter neuer Führung. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts. Münster 2001, S. 45.
48 Vgl. Krotkov, S. 385.
49 Vgl. ebenda, S. 387.
50 Vgl. Leonhard, S. 52-53.
51 Vgl. Leonhard, S. 38-40.
52 Vgl. ebenda.
53 Vgl. Rossijskaja Akademija Nauk, S. 10.
54 Vgl. Mommsen 2001, S. 46.
55 Vgl. Leonhard, S. 39-40.
56 Vgl. ebenda.
57 Vgl. ebenda, S. 38-40.
58 Vgl. Merkel, Wolfgang: Systemtransformation. Opladen 1999, S. 375.
59 Vgl. Mommsen 2001, S. 44.
60 Zit in: ebenda, S. 48.
61 Vgl. Leonhard, S. 53.
62 Vgl. ebenda.
63 Vgl. ebenda, S. 54.
64 Vgl. Mommsen 2003, S. 34.
65 Zit. in: ebenda S. 34.
66 Vgl. Krotkov, S. 381.
67 Vgl. Brudny, S. 256-257.
68 Vgl. Tichonova, Natalja E.: Armut in Russland. In: Russland-Analysen Nr.222 vom 17. Juni 2011. In: http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/Russlandanalysen222.pdf, letzter Zugriff: 1.7.2011, 13:00.
69 Vgl. Krotkov, S. 147.
70 Orlova, Alexandra: Korruption in Russland. Vom Mythos des Marktes und des Staates als Gegenmittel. In: Osteuropa 1/2008, S. 23, vgl. auch S. 25.
71 Merkel, Wolfgang; Croissant, Auriel: Formale und informale Institutionen in defekten Demokratien. In: Politische Vierteljahresschrift 1/2000, S. 18.
72 Vgl. Schewzowa, S. 34.
73 Zit. in: Gel’man, S. 85.
74 Vgl. Schewzowa, S. 37.
75 Vgl. Rossijskaja Akademija Nauk, S. 51.
76 Vgl. Leonhard, S. 40.
77 Merkel 1999, S. 462.
78 Vgl. auch die Ausführungen Michail Chodorkovskijs, nach Krotkov, S. 390-391.
79 Vgl. Leonhard, S. 46.
80 Vgl. Mommsen 2003, S. 16.
81 Zit. in: ebenda.
82 Ebenda.
83 Zit. in: Leonhard, S 36.
- Arbeit zitieren
- Slava Obodzinskiy (Autor:in), 2011, Präsidentschaftswahlen 1996 in der Russländischen Föderation. Massenmedien und die Wahlkampagne Boris El’cins im Kontext der Transformation in Russland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/996691
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