Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit der Metanoia, die Jean-Jacques Rousseau im Jahr 1749 durchlebte und welche Folgen diese für sein weiteres Schaffen hatte.
Wenn wir Rousseau als den entscheidenden Vorbereiter der französischen Revolution hinnehmen, wie die Umstände es wohl vorschreiben, der Zusammenhang ist unabweisbar, so muss die Kritik an der klassischen bürgerlichen Revolution theoriegeschichtlich damit einsetzen, dass ihre theoretische Geburtsstunde von einem Schwindelgefühl umgeben war, dass die bürgerliche Revolutionstheorie Augenblicke der Verwirrung zu Hebammen hatte.
DIE IDEOLOGIE VON 1789 – AUS THEORETISCHEM CHAOS GEBOREN
JEAN JACQUES ROUSSEAUS METANOIA IM JAHR 1749
Das Jahr 1749 stellt einen entscheidenden Bruch in Rousseaus Leben dar. Ich kann dem anonymen Nachwort der Reclam-Ausgabe des zweiten Diskurses über die Entstehung der Ungleichheit unter den Menschen aus dem Jahr 2005 nicht folgen, die den entscheidenden Schicksalsschlag seines Lebens nach Genf verlegt, als er im Jahr 1728, als 16jähriger, abends nach einem Tagesausflug die Stadttore verschlossen vorfindet, seine Uhr wegwirft, die er als kleine Diktatorin empfindet, und mit dem Schicksalserwartung eines Landstreichers davonläuft. Er wurde deshalb doch kein anderer Mensch; aber 1749 bei einem Spaziergang auf dem Weg von Paris nach Vincennes. Er schildert dieses Ereignis zweimal, einmal in seinen Bekenntnissen, die nach seinem Willen erst im 19. Jahrhundert erscheinen sollten, derweil seine Schwiegermutter schon Textpassagen kopierte und verhökerte, einmal in einem Brief vom 12. Januar 1762 an den Präsidenten Malesherbes, den Sohn des Kanzlers von Frankreich und Vorsitzenden der Zensurbehörde. Ginge man irrig davon aus, dass Männer Geschichte machen, Rousseau als Theoretiker und Napoleon als Praktiker, so wäre die Metanoia nicht hochgenug einzuschätzen. Es ist aufschlussreich, beide Schilderungen zu vergleichen. Sie haben jeweils eine andere Färbung, einmal wird der objektive Gehalt betont, einmal der subjektive, aber so, dass der objektive als Grundzug beider Schilderungen bleibt. Vergegenwärtigen wir uns die Passage in den Bekenntnissen:
„In diesem Jahr 1749 war der Sommer übermäßig heiß. Man rechnet zwei Meilen von Paris nach Vincennes. Da ich keine Droschke zu zahlen vermochte, ging ich um zwei Uhr nachmittags, wenn ich allein war, und ging schnell, um früher anzukommen. Die Bäume am Wege, nach Landesart stets beschnitten, gaben fast keinen Schatten, und oft, von Hitze und Müdigkeit übermannt, streckte ich mich auf der Erde aus, da ich nicht mehr weiter konnte. Um meinen Schritt zu mäßigen, kam ich auf den Gedanken, ein Buch mitzunehmen. So nahm ich eines Tages den ‚Mercure de France‘, und während ich ihn im Gehen überflog, fiel mein Auge auf die von der Akademie von Dijon für den Preis des folgenden Jahres gestellte Aufgabe: ‚Ob der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zur Verderbnis oder zur Veredelung der Sitten beigetragen hat?‘ Im Augenblick, da ich dies las, sah ich eine andere Welt und ich wurde ein anderer Mensch. Obwohl ich eine lebhafte Erinnerung an den Eindruck habe, den ich davon empfing, sind mir doch seine Einzelheiten aus dem Gedächtnis geschwunden, seit ich sie in einem meiner vier Briefe an Herrn von Malesherbes niedergelegt hatte“. 1. Zunächst aber ist festzuhalten, dass dieses Vincennes Erlebnis als unabänderlich nachgezeichnet wird. Alles ergibt sich als dem Objektiven ausgeliefert: Der übermäßig heiße Sommer, zwei Meilen, kein Geld für eine Droschke, beschnittene Bäume, die nicht genug Schatten geben, ein Buch wird mitgenommen, es ist nicht ausgewählt worden, es soll auch nicht eigentlich studiert werden, sondern nur den Schritt mäßigen … Alles läuft zwanghaft auf dieses Erweckungserlebnis zu. Doch wenden wir uns jetzt der noch lebhafteren Schilderung im Brief zu:
„Ich wünschte, Monsieur, ich könnte Ihnen den Augenblick schildern, der auf so einzigartige Weise in mein Leben eingriff und der mir, sollte ich auf ewig leben, stets gegenwärtig sein wird. Ich ging Diderot besuchen, damals Gefangener in Vincennes. Ich hatte ein Heft des Mercure de France in der Tasche, in dem ich unterwegs zu blättern begann. Da stoße ich auf die Frage der Akademie zu Dijon, die Anlaß zu meiner ersten Schrift gegeben hat. Wenn je etwas einer plötzlichen Erleuchtung glich, so ist es die Bewegung, die sich bei dieser Lektüre in mir vollzog. Auf einmal fühle ich, wie mein Geist von tausend Lichtern geblendet wird, Massen von lebhaften Gedanken boten sich mir mit einer Gewalt und in einer Unordnung dar, die mich in eine unaussprechliche Verwirrung stürzte, ich fühle, wie mein Kopf von einem Schwindel ergriffen wird, wie bei einem Rausch. Ein heftiges Herzklopfen macht mich beklommen, hebt meine Brust, und da ich im Gehen nicht mehr atmen kann, lasse ich mich am Fuß eines Baumes am Weg hinsinken und verharre dort eine halbe Stunde so erschüttert, daß ich beim Aufstehen entdeckte, daß meine Weste naß war von Tränen, ohne gemerkt zu haben, daß ich welche vergossen hatte. Ach, Monsieur, wenn ich je nur ein Viertel von all dem, was ich unter diesem Baum sah und empfand, niederschreiben könnte, wie deutlich hätte ich dann alle Widersprüche des gesellschaftlichen Systems aufgewiesen, wie kraftvoll hätte ich alle Mißbräuche unserer Institutionen dargelegt, wie einfach hätte ich gezeigt, daß der Mensch von Natur gut ist, und daß die Menschen allein durch die Institutionen böse werden. Das, was ich von dieser Fülle großer Wahrheiten, die mich eine Viertelstunde lang unter diesem Baum erleuchteten, behalten habe, ist in meinen Hauptschriften etwas verstreut erschienen, nämlich in jener ersten Abhandlung, in der Abhandlung über die Ungleichheit und in Traktat über die Erziehung, drei Schriften, die untrennbar sind und ein einziges Ganzes bilden. Alles übrige ist verloren, an dem Ort selbst habe ich nichts niedergeschrieben als die Rede des Fabricius. So wurde ich, als ich am wenigsten damit rechnete und fast ohne es zu wollen, zum Schriftsteller“. 2.
Zunächst ist der Konjunktiv am Anfang zu beachten. Rousseau hat das Original gesehen, kann es aber jetzt nicht mehr mitteilen, es ist ihm entglitten, heißt im Umkehrschluss, all seine Schriften sind nur Kopien, sein Gesamtwerk bleibt unvollendet und ist zur Unvollkommenheit verdammt. Das ist hier der Preis, wenn man das, was man zu sagen hat, für einen Wende- und Knotenpunkt der Geschichte ausgibt. Der Zwang höherer Gewalt wird auch hier verdeutlicht, dass nicht einmal das Weinen bemerkt wird. Das Objektive hat aber für Rousseau seine Wurzel im Subjektiven, es ist nicht dessen Überwindung über sich. Es gilt, das Schicksal darzustellen, durch ein einziges und einzigartiges Subjekt. Das ist das Timbre der Texte, die Einzigartigkeit Rousseaus steht für den objektiven Gehalt seines Denkens. Gedanken stürzen auf ihn ein, aber die Skizze eines Gebäudes bleibt, Rousseau kann immerhin noch einiges rekonstruieren, 13 Jahre später klingt die Metanoia noch im ‘Contrat social‘ nach. „Alle meine Gedanken hängen zusammen, aber ich kann sie nicht alle auf einmal darstellen“. 3. Auf ihn kommt es an. Diese Gestik ist ihm nicht fremd: Auf ihn kommt es an, denn nur er hat den Zusammenhang der Metanoia kurz, aber rasch vorüberhuschend, wie in einem Rausch, innegehabt. Auch angesichts der Gegenstimmen. Alle Autoren, die gegen ihn schrieben, hatten nicht sein Erlebnis, sie können nicht den Zusammenhang der Gedanken als Totalerlebnis gehabt haben. 4. Diderot spürte noch im Gefängnis die Erregung, die noch vier bis fünf Jahre, sich aber immer mehr abschwächend, andauern sollte. Er animierte, sich um den Preis zu bewerben, und als Rousseau dem folgte, fiel er in die unendliche Nacht der Verlorenheit. „All mein übriges Leben und meine Leiden waren die unvermeidliche Folge dieses Augenblicks der Verwirrung“ 5. Eigentümlich ist, dass an einem Nachmittag, in einem Augenblick des Lebens, die höchste philosophische Einsicht den Untergang des Menschen einleitet, der allein ihrer Wahrhaftigkeit teilhaftig werden konnte. Sein Leben kippt total um. In dem Positiven steckt hier das Negative, aber nicht vice Versa, sein Lebensglück ist für immer zerstört, es bleibt dunkel, denn die Helligkeit wesentlicher Einsicht in die großen Wahrheiten war einmalig. Bringt man die großen Wahrheiten auf dem Weg zum Gefängnis, in dem ein Aufklärer einsaß, dieses Erweckungserlebnis in Zusammenhang mit den großen Ideen der französischen Revolution, so sind gewisse religiöse Züge nicht von der Hand zu weisen.
Kant schreibt über Rousseau, er sei ein strenger Richter seiner selbst und anderer, „und nicht selten seiner sowohl als der Welt überdrüssig“ 6. Ohne Zweifel war Rousseau schizophren wie alle religiösen Menschen, aber in seinen Biografien sind die falschen Tasten angeschlagen worden. Er war gottgläubig, und das hellste Merkmal seiner Schizophrenie ist doch das quasireligiöse Erweckungserlebnis auf dem Weg nach Vincennes selbst, Gott hat ihn blitzartig, „plötzlich“ zum Messias des die Menschen erlösenden Gesellschaftsvertrages auserkoren. Wir alle brauchen Wegweiser, heißt es im Gesellschaftsvertrag. Und er ist diesen ganz nahe, er liest in einem Augenblick Geschichte. Die gewichtigste Erkenntnis, die der Verdorbenheit der Institutionen, überfällt ihn plötzlich, so ist der Umstand der Erleuchtung und Erlösung, der nicht ein beliebiger sein kann. So erklärt Rousseau, dass er durch seine persönliche ‘Enlightment‘ seinen Mitmenschen voraus ist und den Aufklärern gegenüber als deren Aufklärer auftreten kann. Auf Rousseau und Hegel, nicht auf Adorno und Horkheimer, geht die Überlegung zurück, dass die Aufklärung nicht über sich selbst aufgeklärt ist.
Wenn ein Hund in einer Pariser Gasse bellt, so kann man in diesem Bellen keinen Gesellschaftsvertag vernehmen, ebenso wenig aus dem Zwitschern der Vögel im Bois de Boulogne, auch wenn man ihnen von einer Parkbank aus stundenlang zuhört. Es muss eine totale Erschütterung vorliegen, herausgerissen aus der Alltagspraxis, aus der Ordnung der Dinge. Denn es handelt sich um „große Wahrheiten“ und um eine wirklich knifflige Sache. Wer aus dem Volk soll ihm dessen Gesetze geben, denen sich alle Volksgenossen unterzuordnen haben? Der Gesetzgeber müsste alle Leidenschaften des Volkes kennen; selbst aber keiner von ihnen verfallen sein. Um Akzeptanz und Stabilität zu erreichen, neigt die Politik dazu, den Gottesglauben des Volkes, der nicht aus einer Priesterverschwörung, sondern aus seinem Elend herrührt, zu missbrauchen. So bringt Elend noch mehr Elend hervor. Die Gesetze seien in einem göttlichen Ausnahmezustand auf die Welt gekommen, seien eben von oben abgesegnet. In Rousseaus Schicksalsattacke gibt es keine Gotteserscheinung, ihm genügt einstweilen, dass die Ausnahmesituation da ist, um dann das Situative, das Moment des Plötzlichen hineinzubringen.
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- Citation du texte
- Heinz Ahlreip (Auteur), 2012, Jean-Jacques Rousseaus Metanoia im Jahr 1749, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/995901
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