In der Arbeit geht es um die Wirkung von Selbstmanagement-Programmen für Menschen mit chronischer Erkrankung am Beispiel der INSEA Gesund und aktiv leben-Kurse. Dabei werden folgende Fragen gestellt: Haben Selbstmanagementkurse eine langfristige (>1 Jahr) Wirkung auf Selbstwirksamkeit, Selbstmanagementfähigkeit, Lebensqualität und Gesundheitszustand? Zeigen sich für Subgruppen, die auf Grundlage von sozidemographischen und Persönlichkeitsmerkmalen gebildet werden, unterschiedliche Ergebnisse? Stehen diese Merkmale in Zusammenhang mit Veränderungen des Selbstmanagements und der Selbstwirksamkeit?
Die Prävalenz von chronischen Erkrankungen ist in den letzten Jahren angestiegen und gehört zu einer der größten Herausforderungen des Gesundheitssystems. Aufgrund der vermehrten Inanspruchnahme von medizinischen und pflegerischen Leistungen und den damit einhergehenden direkten und indirekten Kosten, haben sie eine große Bedeutung für die Gesellschaft. Menschen mit chronischen Erkrankungen und auch ihre Angehörigen sind mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert – dem Umgang mit der Erkrankung, Organisation von Arztbesuchen und Medikation, aber auch die Bewältigung des Alltags mit möglichen Einschränkungen. Die Fähigkeit zum Selbstmanagement und eine gute Selbstwirksamkeit können Menschen helfen, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Das Kursprogramm Gesund und aktiv leben von INSEA, das auf Basis des evidenz-basierten Konzepts CDSMP aus den USA durchgeführt wird, setzt an der Förderung dieser Kompetenzen an. Internationale Studien zu dem Konzept haben bereits gezeigt, dass Teilnehmende langfristig profitieren und auch Gesundheitskosten gesenkt werden können. Für Deutschland liegen ebenfalls positive Ergebnisse für den Zeitraum von 6 Monaten nach Kursabschluss, besonders bezogen auf die Selbstmanagementfähigkeiten, vor (t2). Die nach Abschluss des Kurses erzielten Verbesserungen der Selbstwirksamkeit hingegen bleiben im Verlauf der sechs Monate nach Kursabschluss nicht stabil, fallen jedoch auch nicht wieder auf das Niveau von Kursbeginn ab. Längerfristige Evaluationen fehlen bislang.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hintergrund
2.1. Chronische Erkrankungen
2.2. Patient*innenzentrierte Versorgung
2.2.1. Empowerment
2.2.2. Gesundheitskompetenz
2.2.2.1. Selbstwirksamkeit
2.2.2.2. Selbstmanagement
2.2.2.2.1. Förderung des Selbstmanagements
2.2.2.2.2. Patientenschulungen
2.2.2.2.3. Selbsthilfe
2.2.2.2.4. Selbstmanagementprogramme
2.2.3. Persönlichkeit und Selbstmanagement
3. Fragestellung
4. Methode
4.1. Studiendesign
4.1.1. Fragebogenelemente
4.2. Studienpopulation
4.3. Statistisches Vorgehen
5. Ergebnisse
5.1. Teilnehmende
5.2. Veränderung der Outcomevariablen (t0-t3)
5.3. Veränderung über den Zeitverlauf
5.4. Zusammenhänge
6. Diskussion
6.1. Limitationen
7. Fazit/Ausblick
8. Literatur
Über die Schriftenreihe
Die Schriftenreihe der Patientenuniversität an der Medizinischen Hochschule
Hannover wird herausgegeben von Prof. Dr. rer. biol. hum. Marie-Luise Dierks und Dr. rer. biol. hum. Gabriele Seidel vom Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).
Ziel der Schriftenreihe ist es, Forschungsergebnisse zur Patientenorientierung und Gesundheitskompetenz einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. In der Schriftenreihe werden Doktorarbeiten, Master- und Bachelorarbeiten sowie Forschungsberichte veröffentlicht.
Über die Autorin
Lisa Macasero, MPH, geb. 1989 in Langenhagen, machte eine Ausbildung zur Logopädin und studierte den Bachelor of Science SLT an der HAWK in Hildesheim und Public Health an der MHH. Sie ist als Lehrlogopädin an der MHH tätig.
Über das Buch
Die vorliegende Arbeit ist die Masterarbeit in Public Health von Lisa Macasero, verfasst im Studienschwerpunkt Gesundheitsförderung und Prävention, eingereicht bei Prof. Dr. rer. biol. hum. Marie-Luise Dierks (1. Gutachterin) und Dr. Iris Brandes (2. Gutachterin) am 25.09.2020 im Ergänzungsstudiengang Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen (Public Health) an der MHH, angenommen am 18.02.2010. Die Arbeit entstand im Rahmen der „INSEA Gesund und aktiv leben- Kurse“ unter der Leitung von Prof. Dr. Marie-Luise Dierks im Auftrag des Instituts.
Zusammenfassung
Wirkung von Selbstmanagement-Programmen für Menschen mit chronischer Erkrankung am Beispiel der INSEA Gesund und aktiv leben -Kurse.
Hintergrund: Die Prävalenz von chronischen Erkrankungen ist in den letzten Jahren angestiegen und gehört zu einer der größten Herausforderungen des Gesundheitssystems. Aufgrund der vermehrten Inanspruchnahme von medizinischen und pflegerischen Leistungen und den damit einhergehenden direkten und indirekten Kosten, haben sie eine große Bedeutung für die Gesellschaft. Menschen mit chronischen Erkrankungen und auch ihre Angehörigen sind mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert – dem Umgang mit der Erkrankung, Organisation von Arztbesuchen und Medikation, aber auch die Bewältigung des Alltags mit möglichen Einschränkungen. Die Fähigkeit zum Selbstmanagement und eine gute Selbstwirksamkeit können Menschen helfen, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Das Kursprogramm Gesund und aktiv leben von INSEA, das auf Basis des evidenz-basierten Konzepts CDSMP aus den USA durchgeführt wird, setzt an der Förderung dieser Kompetenzen an. Internationale Studien zu dem Konzept haben bereits gezeigt, dass Teilnehmende langfristig profitieren und auch Gesundheitskosten gesenkt werden können. Für Deutschland liegen ebenfalls positive Ergebnisse für den Zeitraum von 6 Monaten nach Kursabschluss, besonders bezogen auf die Selbstmanagementfähigkeiten, vor (t2). Die nach Abschluss des Kurses erzielten Verbesserungen der Selbstwirksamkeit hingegen bleiben im Verlauf der sechs Monate nach Kursabschluss nicht stabil, fallen jedoch auch nicht wieder auf das Niveau von Kursbeginn ab. Längerfristige Evaluationen fehlen bislang.
Forschungsfragen: Haben Selbstmanagementkurse eine langfristige (>1 Jahr) Wirkung auf Selbstwirksamkeit, Selbstmanagementfähigkeit, Lebensqualität und Gesundheitszustand? Zeigen sich für Subgruppen, die auf Grundlage von sozidemographischen und Persönlichkeitsmerkmalen gebildet werden, unterschiedliche Ergebnisse? Stehen diese Merkmale in Zusammenhang mit Veränderungen des Selbstmanagements und der Selbstwirksamkeit?
Material und Methoden: Mittels eines Eingruppen-Pretest-Posttest Designs wurde zu vier Testzeitpunkten eine Befragung der Kursteilnehmenden durchgeführt. Es erfolgt eine Auswertung der Daten zu allen vier Testzeitpunkten (t0 = Kursbeginn; t1 = Kursende; t2 = 6 Monate nach dem Kurs; t3 = >12 Monate nach dem Kurs), um nicht nur den langfristigen Effekt (t0 zu t3), sondern auch mögliche Veränderungen im Zeitverlauf darzustellen. Die Daten der in den Fragebögen vorkommenden Befragungsinstrumente (HeiQ, Self-Efficacy for Managing Chronic Disease Six-Item Scale, Self-Rated Health, Social/Role Activities Limitaion Scale) werden auf Basis deskriptiver Statistik (Statistik- und Analyse-Software SPSS) ausgewertet. Zur Standardisierung und besseren Einordnung der Ergebnisse sollen aus den Mittelwerten und den dazugehörigen Standardabweichungen für die Selbstmanagementkompetenzen und Selbstwirksamkeitserwartung der Teilnehmenden unter Beachtung der verschiedenen Subgruppen Cohens D Effektstärken berechnet werden. Zusammenhangsmaße zwischen Outcomevariablen und verschiedenen Merkmalen werden mittels Pearsons Korrelationskoeffizienten oder der Rangkorrelation nach Spearman berechnet.
Ergebnisse: Im Vergleich zu den Werten zu Kursbeginn zeigen sich zum dritten Testzeitpunkt für die Lebensqualität (D=-0,36), den Gesundheitszustand (D=-0,32) und den Gesamtscore Selbstwirksamkeit (D=0,22) kleine Effekte, die Verbesserung der Selbstmanagementfähigkeit weist nach wie vor einen mittleren Effekt auf. Bezogen auf ihre Selbstmanagementfähigkeiten profitieren eher Teilnehmende mit einem niedrigeren Bildungsabschluss (D=0,68-0,75), einer höheren Verträglichkeit (D=0,73) und einem niedrigeren Neurotizismus (D=0,73). Bei den Selbstmanagementfähigkeiten profitieren Männer (D=0,61) mehr als Frauen, in der Verbesserung der Selbstwirksamkeit hingegen Frauen (D=0,22) mehr als Männer. Bei der Verbesserung der Selbstwirksamkeit zeigen sich die größten Effekte bei Personen mit Fachhochschul-/Universitätsabschluss (D=0,44) und unter 40-Jährigen (D=0,73). Es können nur sehr wenige kleine Zusammenhänge festgestellt werden, der größte Zusammenhang besteht dabei zwischen Neurotizismus und den Selbstmanagementfähigkeiten (r=-0,206).
Fazit: Die Gesund und aktiv leben -Kurse zeigen auch nach über einem Jahr noch eine positive Wirkung auf ihre Teilnehmenden. Besonders die Selbstmanagementfähigkeiten zeigen weiterhin eine zum Teil deutliche Verbesserung, während Selbstwirksamkeit und Lebensqualität deutlich abfallen. Einzelne Subgruppen profitieren dabei jedoch unterschiedlich stark. Zusammenhänge zwischen den sozidemographischen und Persönlichkeitsmerkmalen können nur wenige festgestellt werden, diese sind zudem sehr gering. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass eine erfolgreiche Teilnahme an Gesund und aktiv leben-Kursen zum Teil von Persönlichkeits- und soziodemographischen Merkmalen abhängt. Eine Anpassung der Kursinhalte dahingehend kann sinnvoll sein.
Abstract
Effect of self-management programs for people with chronic illnesses using the example of the INSEA Gesund und aktiv leben- classes.
Background: The prevalence of chronic diseases has increased in recent years and is one of the greatest challenges facing the health system. Due to the increased utilization of health-care services and the associated direct and indirect healthcosts, they are also of great importance for society. People with chronic diseases and their relatives are confronted with diverse challenges - dealing with the disease, organizing healthcare appointments and medication, but also coping with everyday life despite of possible restrictions. Self-management skills and a good self-efficacy can help people deal with these challenges. INSEA's Gesund und aktiv leben -course program, which is based on the evidence-based CDSMP concept from the USA, aims to promote these skills. International studies on the concept have already shown that participants benefit in the long term and that health costs can be reduced, too. For Germany, there are also positive results for the period of six months after completion of the course, particularly with regard to self-management skills (t2). The improvements in self-efficacy achieved after completing the course, on the other hand, do not remain stable over the six months, but do not fall back to the baseline level either. There are no long-term evaluations so far.
Research questions: Do self-management courses have a long-term (> 1 year) effect on self-efficacy, self-management skills, quality of life and state of health? Are there different results for subgroups that are formed on the basis of sociodemographic and personality traits? Do these traits show correlations to changes in self-management and self-efficacy?
Methods: A survey of the course participants was carried out at four test times using a one-group pre-test post-test design. The data is evaluated at all four test times (t0 = course start; t1 = course end; t2 = six months after the course; t3 = >twelve months after the course) in order not only to determine the long-term effect (t0 to t3), but also to show possible changes over time. The data from the survey instruments used in the questionnaires (HeiQ, Self-Efficacy for Managing Chronic Disease Six-Item Scale, Self-Rated Health, Social / Role Activities Limitaion Scale) are evaluated on the basis of descriptive statistics (statistical and analysis software SPSS). In order to standardize the results, Cohen's D effect sizes are computed from the mean values and the associated standard deviations for the self-management skills and self-efficacy expectations of the participants, taking into account the various subgroups. Correlations are built via Pearsons correlation coefficient Spearmans rank correlation.
Results: In comparison to the values at the beginning of the course, at the fourth test point the improvement of the quality of life (D = -0.36), the state of health (D = -0.32) and the total score self-efficacy (D = 0.22) show small effects, the improvement of the Self-management ability still shows a medium effect. In terms of their self-management skills, participants with a lower educational level (D = 0.68-0.75), higher tolerance (D = 0.73) and lower neuroticism (D = 0.73) are more likely to benefit. In terms of their self-management skills Men (D = 0.61) benefit more than women, in improving their self-efficacy women (D = 0.22) more than men. When it comes to improving self-efficacy, the greatest effects are seen in people with a technical college/university degree (D = 0.44) and under 40-year-olds (D = 0.73). Very few small connections can be established, the largest connection is between neuroticism and self-management skills (r = -0.206).
Conclusion: Even after more than a year, the Gesund und aktiv leben -courses still have a positive effect on their participants. In particular, self-management skills continue to show a sometimes significant improvement, while self-efficacy and quality of life decrease significantly. However, individual subgroups benefit to different degrees. Only a few correlations between the socidemographic and personality traits can be established, and these are also very low. The results show that successful participation in healthy and active living courses partly depends on personality and socio-demographic characteristics. An Adaptation of the course content is recommended.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Der Symptomkreislauf
Abbildung 2 : Stufen der Partizipation in der Gesundheitsförderung
Abbildung 3: Individuelle Fähigkeiten
Abbildung 4:Gesundheitskompetenz im Zusammenspiel von individuellen Fähigkeiten und Kontextfaktoren
Abbildung 5: Wirkung von Health Education Programmen
Abbildung 6 INSEA Wirkmodell
Abbildung 7: Erhebungszeitpunkte
Abbildung 8: Flussdiagramm Studienpopulation
Abbildung 9: Zugangswege der Teilnehmenden (Mehrfachnennungen möglich, Angabe in Prozent der Fälle)
Abbildung 10: Cohen’s D t0-t3 Selbstmanagement nach Altersgruppen in Jahren und Geschlecht
Abbildung 11: Cohen’s d t0-t3 des Gesamtergebnisses der einzelnen Dimensionen
Abbildung 12: Cohen’s D t0-t3 Selbstwirksamkeit nach Altersgruppen und Geschlecht
Abbildung 13: Cohen’s D t0-t3 Selbstwirksamkeit nach Zeitpunkt der Befragung t3
Abbildung 14: Cohen’s D t0-t3 Einzelitems Selbstwirksamkeit
Abbildung 15: Cohen’s D Entwicklung über den Zeitverlauf Lebensqualität und Gesundheitszustand
Abbildung 16: Cohen’s D Entwicklung der Selbstmanagementfähigkeiten über den Zeitverlauf nach Geschlecht
Abbildung 17: Cohen’s D Entwicklung der einzelnen HeiQ Dimensionen
Abbildung 18: Cohen’s D Entwicklung der Selbstwirksamkeit über den Zeitverlauf
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Unterschiede zwischen akuten und chronischen Erkrankungen
Tabelle 2 Fünf Faktoren Modell: Eigenschaften und Dimensionen
Tabelle 3: Inhalte der vier Fragebögen von INSEA (2017)
Tabelle 4: Interpretation der Effektstärke d nach Cohen
Tabelle 5: Interpretation der Stärke der Korrelation r nach Cohen
Tabelle 6: Outcomevariablen t0 und t3
Tabelle 7: Cohen’s D t0-t3 des Geamtscores Selbstmanagement nach Subgruppen
Tabelle 8: Cohen’s D t0-t3 des Geamtscores Selbstwirksamkeit nach Subgruppen
Tabelle 9: Ergebnisse der Korrelationsanalyse
Abkürzungsverzeichnis
AERA American Educational Research Association
APA American Psychological Association
ASMP Arthritis Self-Management Program
CDSMP Chronic Disease Self-Management Program
COPD Chronic obstructive pulmonary disease (Chronisch obstruktive Lungenerkrankung)
DAG SHG Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen
DMP Disease Management Program
G-BA Gemeinsamer Bundesausschuss
HAPA Health Action Process Approach Modell
HeiQ Health Education Impact Questionnaire
HLS-GER Health Literacy-Survey Germany
INSEA Initiative für Selbstmanagement und aktives Leben
IQWiG Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
MHH Medizinische Hochschule Hannover
NAKOS Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen
OECD Organisation for Economic and Co-operation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)
PEF Partizipative Entscheidungsfindung
RKI Robert Koch-Institut
SDM Schared Decision Making
SEKO Selbsthilfe Koordination
SGB Sozialgesetzbuch
SHILD Selbsthilfe in Deutschland
SVR Sachverständigenrat
WHO World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation)
1. Einleitung
Das zunehmende Auftreten von chronischen Erkrankungen und Multimorbiditäten zählt zu den größten Herausforderungen im Gesundheitssystem, in Industrieländern, aber auch immer mehr in ärmeren Ländern (Robert Koch-Institut, 2019, o. S.). Hierbei sind besonders die indirekten Kosten durch Lohnfortzahlungen/Ausfall der Arbeitsleistung und die direkten Kosten durch eine höhere Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen, die zum Teil aufgrund einer Über- oder Fehlversorgung entstehen, relevant (Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVR), 2001, S. 60). Menschen mit chronischen Erkrankungen und auch ihre Angehörigen sind jedoch auch individuell mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert – dem Umgang mit der Erkrankung, Organisation von Arztbesuchen und Medikation, aber auch der Bewältigung des Alltags mit möglichen Einschränkungen. Verschiedene Subgruppen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit eine chronische Erkrankung zu erleiden bzw. zeigen dabei stärkere Einschränkungen (Robert Koch-Institut, 2014, S.41; Maaz, Winter, Kuhlmey, 2007, S. 18). Die Versorgung von akuten Erkrankungen ist darauf ausgelegt, diese zu heilen, was meist ohne direktes Zutun der Erkrankten möglich ist. Im Anschluss sind die Betroffenen häufig ohne weitere Betreuung auf sich allein gestellt (Lorig et al., 2015, S. 3 ). Liegen aber chronische Erkrankungen vor, ist eine deutlich langfristigere Herangehensweise notwendig. Aufgrund der erhöhten Risikos einen hohen Pflegebedarf zu erleiden und des damit einhergehenden Einbezugs des sozialen Umfelds, haben sie nicht nur einen sehr viel komplexeren, sondern auch einen Verlauf, der oft das komplette Leben beeinflusst (Osborne et al., 2007, S. 192). Die Behandlung und das Management von chronischen Erkrankungen liegt häufig in den Händen der Betroffenen selbst oder in denen ihrer Pflegeperson, wodurch Gesundheitskompetenzen und besonders die Selbstmanagementkompetenzen einen hohen Stellenwert erlangen (ebd.). Menschen mit unterschiedlichen soziodemographischen Merkmalen zeigen dabei unterschiedliche Voraussetzungen. Auch die Persönlichkeit scheint einen Einfluss auf verschiedene Kompetenzbereiche zu haben (Schaeffer et al., 2016, S. 39ff; Rathmann, Nellen, 2019, S. 380ff.; Schaeffer et al., 2018, S. 50).
Die Fähigkeit zum Selbstmanagement und eine gute Selbstwirksamkeit können Menschen helfen, mit den Herausforderungen von chronischen Erkrankungen umzugehen. Es ist bereits nachgewiesen, dass Selbstmanagementkurse eine positive Wirkung auf das Leben von chronisch Erkrankten haben. Das Kursprogramm Gesund und aktiv leben von der Initiative für Selbstmanagement und aktives Leben (INSEA), das auf Basis des evidenzbasierten Konzepts Chronic Disease Self-Management Programm (CDSMP) aus den USA durchgeführt wird, setzt an der Förderung dieser Kompetenzen an. Internationale Studien zu dem Konzept haben bereits gezeigt, dass Teilnehmende langfristig profitieren und auch Gesundheitskosten dadurch gesenkt werden können (vgl. Brady et al., 2013; Brady et al., 2011; Lorig et al., 2001b; Haslbeck et al., 2015). Für Deutschland liegen ebenfalls positive Ergebnisse für den Zeitraum von sechs Monaten nach Kursabschluss vor (t2), es zeigen sich in vier von fünf erfragten Dimensionen Steigerungen der Selbstmanagementkompetenzen. Die Selbstwirksamkeit hingegen bleibt im Verlauf der sechs Monate nach Kursabschluss nicht stabil, fällt jedoch auch nicht wieder auf das Niveau ab, das sie zu Kursbeginn hatte (Haack, Seidel, Dierks, 2019, S. 167ff.). Längerfristige Evaluationen fehlen bislang.
Die vorliegende Arbeit soll die Gesund und aktiv Leben -Kurse auf ihre langfristige Wirkung hin überprüfen und so feststellen, ob diese eine sinnvolle Ergänzung in der Versorgung chronisch Kranker darstellen. Es ergeben sich die folgenden Forschungsfragen:
1. Haben Selbstmanagementkurse eine langfristige (>1 Jahr) Wirkung auf Selbstwirksamkeit, Selbstmanagementfähigkeit, Lebensqualität und Gesundheitszustand?
2. Zeigen sich für Subgruppen, die auf Grundlage von sozidemographischen und Persönlichkeitsmerkmalen gebildet werden, unterschiedliche Ergebnisse?
3. Stehen diese Merkmale in Zusammenhang mit Veränderungen des Selbstmanagements und der Selbstwirksamkeit?
Um diese Fragen zu beantworten, werden zunächst Charakteristika einer chronischen Erkrankung dargestellt sowie die für die Selbstmanagementkurse relevanten Konzepte aufgeführt. Es folgt die Erläuterung der Selbstmanagement-förderprogramme CDSMP und Gesund und aktiv leben mit den entsprechenden Evaluationen dieser Programme aus der Literatur. Aus einer resümierenden Zusammenfassung wird anschließend die Fragestellung spezifiziert. Nach der Darstellung der Methoden inklusive des statistischen Vorgehens werden die Ergebnisse dargestellt und anschließend diskutiert.
2. Hintergrund
Im Folgenden werden die für die Arbeit relevanten Begriffe zur Einordnung des Themas auf Grundlage des aktuellen Forschungsstandes erläutert.
2.1. Chronische Erkrankungen
Es existiert keine einheitliche Definition chronischer Krankheiten. In der Gesundheitsberichterstattung des Bundes werden chronische Erkrankungen als „langandauernde Krankheiten“ definiert (Robert Koch-Institut, 2015, S. 464). Hierzu zählen kontinuierliche oder periodisch auftretende Krankheitssymptome, welche durch verschiedenste pathologische Prozesse verursacht sein können (Maaz, Winter, Kuhlmey, 2007, S. 7). Diese können nicht „[…] vollständig geheilt werden […]“ und sie ziehen „[…] eine andauernde oder wiederkehrend erhöhte Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems nach sich […].“ (Robert Koch-Insitut, 2014, S. 41). Tabelle 1 verdeutlicht die Unterschiede zwischen einer akuten und einer chronischen Erkrankung.
Tabelle 1: Unterschiede zwischen akuten und chronischen Erkrankungen (Lorig et al., 2015, S. 3)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Mögliche Erkrankungen mit chronischem Verlauf sind kardiovaskuläre Erkrankungen, vor allem Herzerkrankungen und Schlaganfälle, Erkrankungen des Bewegungsapparats, Krebserkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen, Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes und psychische Störungen (ebd.; WHO, 2005, S. 35).
Aufgrund der uneindeutigen Einteilung und Abgrenzung chronischer Erkrankungen, ist eine Festlegung genauer Fallzahlen erschwert. Laut des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2001, S.61) ist die Hälfte der ambulanten und stationären Behandlungen die von chronisch Kranken. Die Prävalenz liegt bei Frauen bei etwa 43 Prozent, bei Männern mit 38 Prozent deutlich darunter (Robert Koch-Institut, 2014, S.41).
Die Anzahl an chronisch Erkrankten ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen und wird auch in Zukunft weiter zunehmen (SVR, 2001, S. 60f.). Hierfür gibt es verschiedene Ursachen. Eine ist der medizinische Fortschritt, welcher zu besseren Frühdiagnostiken und frühzeitigen Behandlungen chronischer Krankheiten führt, sodass Betroffene früher und damit länger als krank gelten und länger mit ihrer Krankheit leben (Robert Koch-Institut, 2015, S. 265, SVR, 2001, S. 60). Zudem besteht ein direkter Zusammenhang zwischen höherem Alter und dem Anstieg der Prävalenz chronischer Erkrankungen. Laut OECD (2019, o. S.) hat Deutschland verglichen mit allen OECD Ländern die vierthöchste Anzahl an Personen über 65 Jahre. Die demographische Entwicklung bewirkt also, dass es mehr ältere Menschen gibt und dass somit die Zahl der chronisch kranken Personen steigt (Robert Koch-Institut, 2015, S. 265, SVR, 2001, S. 60). Immer mehr ältere Menschen haben zudem gleich mehrere chronische Erkrankungen (SVR, 2001, S. 61). Doch es sind längst nicht nur die Älteren betroffen. Zwar leiden mehr als die Hälfte der über 65-Jährigen an einer chronischen Krankheit, aber auch bei jüngeren Menschen im Alter zwischen 30-44 Jahren liegt die Prävalenz bereits bei ca. 30 Prozent (Robert Koch-Institut, 2014, S. 41). Besonders häufig trifft es Menschen mit niedrigem Bildungsstand, geringem Berufsstatus und Einkommen (ebd., Maaz, Winter, Kuhlmey, 2007, S. 18). Beispielsweise leiden Männer mit Hauptschulabschluss deutlich häufiger an Herzinfarkten und Angina pectoris als Männer mit höheren Abschlüssen (Maaz, Winter, Kuhlmey, 2007, S. 7). Deutschland hat eine höhere Morbidität chronischer Erkrankungen als der Durchschnitt der OECD Staaten (OECD, 2019, o.S.). Chronische Erkrankungen gehörten im Jahr 2017 in Deutschland zu den Haupttodesursachen (ebd.). Dies liegt natürlich auch am höheren Altersdurchschnitt hierzulande und der guten medizinischen Versorgung anderer Erkrankungen. An erster Stelle als Ursache für frühzeitigen Tod und Behinderung stehen nicht-übertragbare Erkrankungen wie kardiovaskuläre Erkrankungen, bösartige Neubildungen, neurologische Erkrankungen wie Schlaganfälle, COPD oder Diabetes.1
Folgen chronischer Erkrankungen Chronische Krankheiten haben sowohl für das Individuum als auch für die Gesamtbevölkerung gravierende Folgen. Die Einzelperson leidet besonders oft unter den Einschränkungen der Lebensqualität; chronisch Erkrankte haben eine hohe Krankheitslast. Die Belastung der Gesamtbevölkerung betrifft in erster Linie die Volkswirtschaft (WHO, 2005, S. 35). Deswegen zählen chronische Erkrankungen zu den bedeutsamsten Themen für das Gesundheitssystemen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in den sonstigen Industriestaaten und immer mehr auch in Ländern mit einem geringeren Wohlstand (Robert Koch-Institut, 2019, o.S.).
Bereits die Stellungnahme des Sachverständigenrates zur Konzertierten Aktion im Gesundheitsweisen hebt jedoch hervor, dass die angemessene Versorgung chronisch Kranker auch eine der größten Herausforderungen für das Gesundheitssystem darstellt (SVR, 2001, S. 60). Dies liegt zum einen an den direkten Gesundheitskosten, die zum Beispiel aus einer erhöhten Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen entstehen. Aufgrund von fehlender Koordination der verschiedenen Versorgungseinrichtungen kommt es nicht selten zu einer Über-, Unter- oder Fehlversorgung der Patienten, mit der Folge, dass diese Kosten zum Teil höher sind als notwendig (ebd.). In Deutschland ist beispielsweise eine hohe Inanspruchnahme von (teureren) Leistungen des stationären Sektors durch chronisch Kranke zu verzeichnen. Ein Ziel sollte es sein, diese Zahl durch eine optimale ambulante Versorgung zu verringern (OECD, 2019, o. S.).
Zudem fallen besonders bei chronisch Kranken, aufgrund der geminderten Teilhabe am Erwerbsleben, indirekte Kosten durch Lohnersatzleistungen oder frühzeitige Rentenzahlungen, aber möglicherweise auch durch Produktionsausfälle an (Robert Koch-Institut, 2015, S. 265, SVR, 2001, S. 60).
Auch die Anforderungen an das medizinische Personal unterscheiden sich bei chronisch Kranken im Vergleich zu kurzfristig Erkrankten. Wer chronisch erkrankt ist, möchte, auch aufgrund der weitreichenden Folgen für das ganze Leben, meist noch mehr an der Entscheidungsfindung beteiligt werden (Schmacke, 2019, S. 23f.). Zudem wünschen sich Betroffene nicht nur Unterstützung in der Behandlung, sondern auch in der psychischen Bewältigung ihrer Erkrankung (ebd., S. 22ff.).
Schaeffer (2006, S. 193f.) bezeichnet das Erleiden einer chronischen Erkrankung als extremen Einschnitt in der Biografie der Betroffenen, der zu einer Störung in allen Lebensbereichen führt. Die Erkrankung muss in jeder Phase in das „gelebte Leben“ integriert werden (ebd.). Da das bisherige Leben nicht wie gewohnt weitergeführt werden kann, müssen Betroffene sich davon verabschieden, was laut Schaeffer (2006, S. 194) eine große Herausforderung in der Krankheitsverarbeitung ist. Allgemein nimmt die Krankheitsverarbeitung häufig einen zentralen Punkt in der Wiedererlangung der Lebensqualität ein (Schaeffer, Moers, 2014, S. 331). Chronische Erkrankungen sind charakterisiert durch ihre besondere Verlaufsdynamik. Häufig wechseln sich instabile, krisenhafte Phasen mit stabilen Phasen ab. Diese Phasen sind jedoch nicht nur abhängig vom Verlauf der Krankheit, sondern auch vom emotionalen Umgang damit und von äußeren Einflussfaktoren, bzw. dem Umgang der Bezugspersonen mit dem Betroffenen (Corbin, Strauss, 2004, S. 50ff.). Die Erkrankten können den Verlauf dadurch beeinflussen, jedoch zeigen sich in den verschiedenen Phasen auch unterschiedliche Anforderungen an die Krankheitsbewältigung (Schaeffer, Moers, 2014, S. 331). Die emotionalen Reaktionen und die Symptome selber können sich gegenseitig beeinflussen und verschlimmern, bei fehlender Behandlung kann ein Teufelskreis entstehen. Mögliche Zusammenhänge wurden von Lorig et al. (2015, S. 4) dargestellt (s. Abbildung 1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Der Symptomkreislauf (Lorig et al., 2015, S. 4)
Bei Erwerbstätigen mit chronischer Erkrankung kommen häufig Schwierigkeiten in der Arbeitsbewältigung beispielsweise aufgrund von Schmerzen und Müdigkeit sowie Schuldgefühle und Scham gegenüber Vorgesetzten und Arbeitskolleg*innen aufgrund der schlechteren Belastbarkeit hinzu, wofür tatsächlich oft das Verständnis fehlt (Klein, Haslbeck, 2015, S. 788f.). Die Betroffenen sind in der Bewältigung zumeist auf sich allein gestellt und versuchen ihre Einschränkungen durch Präsentismus, Urlaub für Arztbesuche, Verringerung der Arbeitszeit und dem Eingestehen, dass eine Karriere nicht mehr möglich sei, zu lösen (ebd., S. 789).
Zu der eigentlichen Erkrankung kommen erschwerend noch Unsicherheiten im Verlauf hinzu. So dauert es häufig sehr lange bis eine eindeutige Diagnose gestellt ist und diese wird nach misslungener Therapie nicht selten noch einmal hinterfragt (Mishel, 1997, S. 65ff.). Dies kann Zweifel an der Kompetenz der meist ärztlichen Instanzen nach sich ziehen oder gar zu einem Vertrauensverlust führen (Schaeffer, Moers, 2014, S. 334). Auch die bis dato meist unbekannten Einschränkungen sowie die unberechenbare Entwicklung der Krankheit und ihrer Symptome erschweren einen sicheren Umgang damit (ebd.).
2.2. Patient*innenzentrierte Versorgung
Um ein besseres Outcome in der Behandlung von (chronisch) Kranken zu erreichen, muss die Person als Ganzes berücksichtigt werden. Es sollte nicht nur symptomspezifisch gearbeitet werden. Vielmehr müssen die psychologischen und sozialen Faktoren sowie die Fähigkeiten der einzelnen Person in die Behandlung integriert werden, um ein vollständiges Bild zu erhalten und individuell agieren zu können (Wagner et al., 2005, S.9). Dies wird bei der patient*innenzentrierten Versorgung berücksichtigt. Ziel ist dabei eine Partnerschaft zwischen dem medizinischen Fachpersonal, den Patient*innen und bei Bedarf deren Familien. Patient*innen sollen mit ihren Wünschen, Bedürfnissen und Problemen in ihrer ganzen Lebenswelt wahrgenommen werden. Sie sollen soweit informiert und unterstützt werden, dass sie gemeinsame oder sogar selbstständige Entscheidungen treffen können und für ihre eigene Versorgung verantwortlich sind bzw. aktiv beteiligt werden (Institute of Medicine, 2001, S. 7, Stewart, 2001, S. 445). Hierfür ist das Konzept des Shared Decision Making (SDM, eingedeutscht als Partizipative Entscheidungsfindung, kurz PEF) relevant. Es verspricht den Wechsel von der Bevormundung zum Verstehen und zur Achtung des Patientenwillens (Schmacke, 2019, S. 25). Ziel sollte es sein die Betroffenen mehr in die gesundheitliche Versorgung einzubeziehen. Dies ist nur mit entsprechendem Verhalten des Fachpersonals zu erreichen. Durch die gemeinsam getroffene (gut informierte) Entscheidung, wird die Selbstbestimmung erhöht (Bundesministerium für Gesundheit, 2017, S. 3). Das Bundesgesundheitsministerium appelliert dabei an die Beschäftigten im Gesundheitswesen, die Menschlichkeit und das Einfühlungsvermögen trotz hoher technischer Möglichkeiten und wirtschaftlicher Interessen ins Zentrum zu rücken (ebd.). In dem ursprünglich aus der Gesundheitsförderung stammenden Modell von Wright, Block und von Unger (2007, S. 4) wird die Patient*innenbeteiligung im medizinischen Kontext dargestellt (Abbildung 2 Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.). Die partizipative Entscheidungsfindung ist auf den Stufen 6 bis 8 einzuordnen, wobei Stufe 8 angestrebt werden sollte, da diese beinhaltet, dass eine gleichberechtigte Partnerschaft herrscht und die Betroffenen die Maßnahmen selbst bestimmen (ebd., S. 5). Da im deutschen Gesundheitssystem Regulationen – beispielsweise durch die Krankenkassen – herrschen, ist dies jedoch nicht immer vollständig erreichbar.
Die Patient*innen sollen zu Partner*innen in der Versorgung werden (Stewart, 2003, S. 302). Dadurch ist eine Verbesserung der Gesundheitsförderung und Prävention und natürlich auch eine länger andauernde Beziehung zwischen Fachpersonal und Patient*innen möglich (ebd.). Das Fachpersonal muss erkennen, dass qualitativ hochwertige Versorgung nur möglich ist, wenn diese so individuell ist wie die Patient*innen selbst.
In dem Vergleich von Lorig et al. (2015, S. 3) zwischen akuten und chronischen Erkrankungen wird deutlich, dass es besonders für letztere relevant ist, dass patient*innenzentriert gearbeitet wird (s. Tabelle 1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2 : Stufen der Partizipation in der Gesundheitsförderung (Wright, Block, von Unger, 2007, S. 4f.)
Dafür muss das medizinische Personal einen Perspektivwechsel vornehmen, von der Krankheit hin zur Erkrankung. Es sollen nicht nur biomedizinisch betrachtet anatomische und physiologische Veränderungen berücksichtig werden, sondern biopsychosozial auch die psychologische Verarbeitung und den psychosozialen Kontext der betroffenen Person unter Berücksichtigung ihrer medizinischen Situation (Dowrick et al., 2005, S. 4; Wagner et al., 2005, S. 9).
Wie bereits erwähnt, gewinnt die Beziehung zwischen Patient*in und ärztlichem Personal dabei stark an Bedeutung. Trotzdem sollte der Fokus auf der Entwicklung der Fähigkeiten der Betroffenen liegen und nicht (nur) auf den kommunikativen und sozialen Fähigkeiten des medizinischen Personals. Denn der Anspruch an dieses kann im Verlauf der Erkrankung wechseln und ist ohne Zutun der Patient*innen schwer zu erfüllen (Wagner et al., 2005, S.9). Die Betroffenen können auf die sich ändernden Umstände selbstständig besser eingehen und ihre Bedürfnisse kommunizieren, wenn sie die entsprechenden Kompetenzen erworben haben. Die zu behandelnde Person sollte als Stakeholder betrachtet werden, der in alle Bereiche der Entscheidungsfindung mit einbezogen werden muss (Bas, 2012, S. 4). Hierfür muss sich jedoch nicht nur die Sichtweise und das Verhalten des medizinischen Fachpersonals verändern, sondern auch die Patient*innen müssen fähig sein, diese Rollen einzunehmen. Dabei sind Empowerment, Gesundheitskompetenz, Selbstwirksamkeit und das Selbstmanagement wichtige Begriffe. In der Literatur sind diese oft nicht eindeutig abgegrenzt oder werden sogar synonym verwendet (Schulz, Nakamoto, 2013, S. 4ff.). Dierks (2019, S. 31ff.) beschreibt ein Modell in dem das Empowerment als übergeordnetes Konzept oder als Vision gilt. Gesundheitskompetenz bezieht sich dabei auf das theoretische und praktische Wissen. Und das Selbstmanagement und die Förderung dessen bezieht die Umsetzung dieser Kompetenzen auf individueller Ebene mit ein, anhand derer man auch das entsprechende Outcome messen kann. Diese Begrifflichkeiten sollen im Folgenden näher erläutert werden.
2.2.1. Empowerment
„[…] Empowerment bedeutet Selbstbefähigung und Selbstermächtigung, Stärkung von Eigenmacht, Autonomie und Selbstverfügung“ (Herriger, 2002, S. 18). Durch mutmachende, selbstbemächtigende Prozesse sind Menschen in der Lage bei Schwierigkeiten selbst für ihre Angelegenheiten einzustehen. Sie sind sich ihrer Fähigkeiten und Ressourcen bewusst und können diese sowie auch kollektive Ressourcen zur (Wieder-) Herstellung einer selbstbestimmten Lebensführung nutzen (ebd.). Ursprünglich aus politischen Bewegungen unterschiedlicher Initiativen entstanden und in der Gemeindepsychologie verankert, hat das Empowerment mittlerweile Platz in der Public Health, Gesundheitsförderung, Sozialen Arbeit, Entwicklungszusammenarbeit und Organisationsentwicklung gefunden (Stark, 2020, S. 496). Das grundlegende Prinzip besagt, „[…] dass Menschen die Fähigkeit entwickeln und verbessern, ihre soziale Lebenswelt und ihr Leben selbst zu gestalten und sich nicht gestalten zu lassen“ (ebd.). Ziel des Empowerments ist es, Prozesse anzustoßen, die der Einzelperson einen Zugang zu den eigenen Ressourcen verschafft, um diese selbstbestimmt zu nutzen (Stark, 1996, S. 156). Wichtig ist dabei, den Begriff „Power“ näher zu betrachten. Hierbei ist nicht die politische, sondern die individuelle Macht gemeint (ebd., S. 156ff.). Der Unterschied ist, dass politisch betrachtet bei Machtgewinn einer Gruppe, andere Gruppen an Macht verlieren. Beim Empowerment hingegen beeinflusst die höhere Beteiligung und Ermächtigung einer Person/Gruppe nicht die Entwicklungsmöglichkeiten einer anderen Person/Gruppe (ebd.). Eher das Gegenteil trifft zu: wenn die Empowermentprozesse nicht nur auf das individuelle Durchsetzungsvermögen abzielen, entstehen Synergieeffekte und gegenseitige Unterstützung. Es können daraus Gestaltungsmöglichkeiten und eine verbesserte Kontrolle der Umwelt durch kollektive Fähigkeiten entstehen (Sambale, 2005, S. 48).
Die Notwendigkeit für das Empowerment besteht zudem darin, dass in der Gesellschaft häufig Werte postuliert werden, die widersprüchlich zueinander sind. Demnach ist es nur möglich einen Wert vollständig zu erreichen, wenn der andere dafür aufgegeben wird. Da das Streben nach einer völligen Erfüllung aller Werte besteht, entsteht hier ein Paradoxon. Die Lösung dafür ist das Empowerment des Betroffenen, um so die eigenen Präferenzen umsetzen zu können (Dierks, 2019, S. 34). Es entstehen verschiedene Schwierigkeiten, wenn Fachpersonal aus einer Machtposition heraus eine Lösung für ein Gesundheitsproblem postuliert. Zunächst wird die Einzelperson ihrer eigenen Fähigkeit beraubt, Entscheidungen über den eigenen Körper selbst zu fällen (Rappaport, 1981, S. 17). Zudem kommt das Fachpersonal meist nur zu einer Lösungsoption für ein Problem, welche verschiedene Nachteile für die Betroffenen nach sich ziehen kann. Diese aber müssen berücksichtigt und in die Entscheidungsfindung mit einbezogen werden. Weil die Patienten selbst Expert*innen für ihr eigenes Lebensumfeld sind, sollten sie an der Entscheidung beteiligt werden. So können verschiedene Lösungswege entwickelt werden, die auf sie selbst abgestimmt sind und somit so wenig Nachteile wie möglich beinhalten und eine Kontrolle über das eigene Leben ermöglichen (ebd., S. 19ff.).
Empowerment fand im Gesundheitswesen in der Ottawa Charta 1986 erstmals Erwähnung und hat seitdem stark an Bedeutung gewonnen (WHO, 1986, o.S.). Bereits 1992 wurde im Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (1992, S. 35ff.) festgehalten, dass im medizinischen Kontext eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen ärztlichem Personal und Patient*innen notwendig ist. Dabei sollen Ärzt*innen den fachlichen Rahmen schaffen und die Betroffenen ausreichend aufklären, sodass diese fundierte Entscheidungen treffen können (Dierks, 2019, S. 32). Wagner et al. (2005, S. 10) führen dies sogar noch etwas weiter und nennen als Ziel des Empowerments, dass die Betroffenen sich selbst als Behandelnden erkennen müssen. Besonders in den letzten Jahren hat sich das Konzept des Empowerments im gesamten Gesundheitsbereich fest verankert (Dierks, 2019, S. 32). Laut Schulz und Nakamoto (2013, S.4) gibt es drei Ursachen für die zunehmende Bedeutung des Empowerments. Zunächst nennen sie die wachsende Bedeutung des ethischen Standpunktes, dass Menschen ein Anrecht auf ein gewisses Maß an Autonomie und Entscheidungsgewalt haben, wenn es um ihre eigene Gesundheit geht. Zudem fassen sie zwei Punkte aus der Literatur zusammen: mögliche Kosteneinsparungen und die Verbesserung des Gesundheitsoutcomes durch das Empowerment (ebd.). Trotz der immer deutlicher werdenden Notwendigkeit eines stärkeren Einbezugs von Patient*innen und des Abbaus paternalistischer Strukturen in der Medizin, besteht aufgrund der mächtigen diagnostischen und therapeutischen Instrumente der Ärzt*innen immer noch ein sehr unausgewogenes Machtverhältnis. Dies ist aufgrund der höheren Inanspruchnahme natürlich besonders bei schweren Erkrankungen der Fall (Schmacke, 2019, S. 25). Diese Dominanz von ärztlichem Personal war einer der Beweggründe, Selbsthilfe zu entwickeln (Klemperer, 2014, S. 164). Das Konzept des Empowerments setzt bei der Vorstellung an, dass der einzelne Mensch bereits über Ressourcen verfügt, die eine Beteiligung an Entscheidungsprozessen und die daraus entstehende Bewältigung ermöglichen. Fachpersonal hätte demzufolge im Rahmen des Empowerments die Aufgabe, Prozesse anzustoßen und Bedingungen zu schaffen, durch die Einzelpersonen mittels organisatorischer, gemeinschaftlicher oder auch individueller Ressourcen eigene Ziele erreichen und somit Kontrolle über ihr eigenes Leben erlangen können (Dierks, 2019, S. 33). Dies erfordert einen Perspektivwechsel von defizitär orientierten Diagnosen hin zu einer auf die Einzelperson bezogenen Ressourcenorientierung (ebd.).
Besonders bei chronisch Erkrankten ist die Koordination der Versorgung aufgrund der vielen Beteiligten häufig erschwert. Dies kann zu einer Unter-, Über- oder Fehlversorgung führen. Durch das Empowerment können Patient*innen selber für ihre Versorgung einstehen und den Bedarf realistisch einschätzen (SVR, 2001, S. 61). Zudem sind diese Personen, da ein dauerhaftes Gesundheitsproblem vorherrscht, zum Großteil selbst für ihre pflegerische Versorgung verantwortlich, sodass eine angemessene Beteiligung dringend notwendig ist (Funnell, 2016, S. 1921).
In dem konzeptuellen Review von Kliche und Kröger (2008, S. 716f.) ergaben sich auf Grundlage von 62 Arbeiten (Reviews, narrative und theoretisch-konzeptuelle Überblicksarbeiten und Konzeptklärungen sowie grundlegende Einzelstudien zur Entwicklung oder Konstruktvalidierung von Messinstrumenten) acht Dimensionen des Empowerments: Beteiligung an Entscheidungen, Selbstwirksamkeitserwartung, soziale Unterstützung und soziales Kapital, Kompetenzen, Inanspruchnahmeverhalten, Zielsetzung und -verfolgung, Reflexionsvermögen und Innovation. Der Bereich „Beteiligung an Entscheidungen“ wird durch das Konzept des SDM berücksichtigt (s. S. 18).
Empowerment kann jedoch auch nicht nur am Individuum, sondern auch bei Institutionen und am System selbst ansetzen. Die Beteiligung von Patientinnen und Patienten hat sich in den letzten Jahren bereits entwickelt. Seit der Gesundheitsreform 2004 beteiligen sich Patientenvertreter*innen im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und anderen Gremien auf Landesebene. Allerdings steht ihnen dabei lediglich ein Beratungs- und kein Stimmrecht zu (Forster, Kranich, 2007, S. 102). Dies rührt daher, dass die Patient*innen nicht demokratisch legitimiert sind (ebd.). „Des Weiteren ist eine Stabsstelle für Patient*innenbeteiligung im G-BA nach § 140 f SGB V eingerichtet“ (Gesundheitsziele.de, 2011, S. 4). Zudem sind Patient*innen auch an der Entwicklung von Versorgungsleitlinien und von Gesundheitsinformationen am Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) beteiligt (ebd., S. 36, Zschorlich, Knelangen, Bastian, 2011, 423ff.). Auch in Ethikkommissionen, Zulassungs- und Berufungsausschüssen arbeiten sie mit (Gesundheitsziele.de, 2011, S. 4, Dierks, 2019, S. 36). Da die vorliegende Arbeit sich mit der individuellen Verarbeitung von chronischen Erkrankungen beschäftigt, werden die Möglichkeiten der Beteiligung im System- und gesamtgesellschaftlichen Kontext nicht näher betrachtet.
Schmacke (2019, S. 24) stellt die Frage, ob es jemals möglich sei, ein angemessenes Maß an Empowerment im Rahmen der ärztlichen Konsultation zu erreichen oder ob weitere Möglichkeiten entwickelt werden müssen, dieses Konzept für Patient*innen erreichbar zu machen, damit sie so die passivierende ärztliche Dominanz ausgleichen können. Mit den Selbstmanagementprogrammen wird in dieser Arbeit ein mögliches Instrument dargestellt.
2.2.2. Gesundheitskompetenz
Um die in Kapitel 2.2.1 (Empowerment) beschriebene angestrebte Rolle der mündigen Patient*innen wahrnehmen zu können, brauchen die Betroffenen bestimmte Fähigkeiten. Diese werden im Begriff „Gesundheitskompetenz“ zusammengefasst (Dierks, Diel, Schwartz, 2012, S. 379). Laut Bitzer und Spörhase (2015, S. 25) ist die Kombination aus einer guten Gesundheitskompetenz und einem hohen Grad an Empowerment am wirksamsten.
Die Gesundheitskompetenz ist demnach die Voraussetzung für eine informierte Entscheidungsfindung und Partizipation (Schaeffer, Pelikan, 2017, S. 12). „Außerdem kann die Stärkung der allgemeinen Gesundheitskompetenz zu einem verbesserten Gesundheitszustand der gesamten Bevölkerung beitragen. […] Der Zusammenhang zwischen Bildung und Lebenserwartung ist eindeutig“ (Bundesministerium für Gesundheit, 2017, S. 3f.).
Der Begriff Gesundheitskompetenz ist die deutsche Übersetzung des auch in Deutschland häufig verwendeten Begriffs „Health Literacy“.
Der Begriff Literacy (dt: Literalität) stammt aus anglo-amerikanischen Alphabetisierungskampagnen und meinte ursprünglich Schriftsprachkompetenzen, die als Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe gesehen werden konnten (Schaeffer, Pelikan, 2017, S. 11). Mittlerweile ist der Begriff jedoch sehr viel weitreichender und deckt unterschiedlichste Kompetenzen ab. Im Gesundheitskontext meint er die Fähigkeiten gesundheitsrelevant entscheiden und handeln zu können (ebd.).
Es gibt viele mehr oder minder verschiedene Definitionen. Sørensen et al. (2012, S. 3) fassen in ihrem Review 17 gängige Definitionen zu einer allgemeingültigen zusammen, die auch die Public Health Perspektive berücksichtigt:
Health literacy is linked to literacy and entails people’s knowledge, motivation and competences to access, understand, appraise, and apply health information in order to make judgments and take decisions in everyday life concerning healthcare, disease prevention and health promotion to maintain or improve quality of life during the life course.
Demnach ist Gesundheitskompetenz notwendig, um Gesundheitsinformationen zu erhalten und diese zu verstehen und für die Verbesserung der eigenen Gesundheit zu nutzen. Das Ziel ist ein kompetenter und bewusster Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen (Schaeffer, Pelikan, 2017, S. 11f.). Eine gute Gesundheitskompetenz beinhaltet die Fähigkeit die eigene Gesundheit im Alltag zu „[…] managen, tragfähige gesundheitliche Entscheidungen zu treffen, Gesundheitsbelange zu kommunizieren und sich so im Gesundheitssystem zu bewegen, dass es bestmöglich genutzt werden kann.“ (Dierks, Diel, Schwartz, 2012, S. 379). Sie ist dabei sowohl bei der Krankheitsbewältigung als auch in allen anderen Bereichen des täglichen Lebens relevant, da auch hier gesundheitliche Risiken und Herausforderungen auftreten können, und erstreckt sich demnach auch auf den Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung (Schaeffer, Pelikan, 2017, S. 12ff).
In der Literatur werden häufig verschiedene Fähigkeiten genannt, die für eine gute Gesundheitskompetenz relevant sind.
Abbildung 3 fasst diese zusammen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Individuelle Fähigkeiten (i.A. an Sørensen et al., 2012; Schaeffer, Pelikan, 2017; Schaeffer et al., 2018, Nutbeam, 2000)
Dierks, Diel und Schwartz (2012, S. 380) fassen literaturbasiert die folgenden für die Gesundheitskompetenz relevanten Fähigkeiten zusammen:
- Kognitive Fähigkeiten: Grundlegende Lese-, Rechtschreib- und Rechenfähigkeiten, die zu einem ersten Informationsverständnis führen
- Kommunikative Fähigkeiten: Dialoge führen, sich selbst durchsetzen können
- Interessensvertretung: Eigene Interessen artikulieren und vertreten können
- Selbstwirksamkeitserwartung: Mut und Vertrauen mit Gesundheitsfragen umgehen zu können
- Medizinisches Wissen: Grundlagenwissen oder die Fähigkeit zur Wissensaneignung zu Themen wie: Gesundheit, die Physiologie und Anatomie des Menschen, gesundheitsförderlicher Lebensstil, Patientenrechte, Aufbau des Gesundheitswesens, vertrauenswürdige Informationsquellen
- Transferfähigkeit: auf Grundlage des Wissens angemessen zu handeln.
Auch wenn das Outcome oft am Individuum gemessen wird, ist das Ziel eine gute Gesundheitskompetenz zu erreichen jedoch nicht nur von den individuellen Voraussetzungen abhängig, sondern wird auch durch strukturelle und soziale Kontextfaktoren beeinflusst (Schaeffer, Pelikan, 2017, S. 12ff). In Abbildung 4 zeigt sich das Zusammenspiel aus individuellen und Kontextfaktoren bei der Gesundheitskompetenz.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4:Gesundheitskompetenz im Zusammenspiel von individuellen Fähigkeiten und Kontextfaktoren (in Anlehnung an: Parker, 2009, S. 93ff.; ergänzt durch: Gesundheitskompetenz Zürich, o. J., S. 2)
Besonders die, vor allem durch die Digitalisierung herrschende, Fülle an Informationen im Gesundheitswesen erschwert oft die Entscheidungsfindung (Bundesministerium für Gesundheit, 2017, S. 3). Kickbusch (2008, S. 101ff.) nennt die Überforderung durch die Fülle, Komplexität und zum Teil auch Widersprüchlichkeit an Informationen sogar als Ursache dafür, dass auf die Recherche von Gesundheitsinformationen häufig keine Handlung erfolgt. Zudem sind die zu findenden Informationen oft nicht ausreichend qualitätsgesichert, nicht vertrauenswürdig oder von wirtschaftlichen Interessen beeinflusst. Diese Beurteilung ist für die Betroffenen jedoch sehr schwer (Schaeffer et al., 2018, S. 10). Paradox ist dies besonders im Zusammenhang mit den steigenden Ansprüchen an die Gesunderhaltung und der zunehmenden Bedeutung der Gesundheitskompetenz. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen möglicher und benötigter Informationsbeschaffung (Schaeffer et al., 2019, S. 466).
Das Health Literacy-Survey Germany (HLS-GER) zeigt, dass ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland nach wie vor über eine schlechte Gesundheitskompetenz verfügt und so eine Informationsbeschaffung, die für eine gesunde Lebensweise und Krankheitsbewältigung genutzt werden kann, erschwert ist (Schaeffer et al., 2016, S. 39ff). Dies betrifft besonders Personen mit geringem Bildungsniveau, ältere Menschen, Menschen mit Behinderung und Menschen mit Migrationshintergrund (ebd.; Rathmann, Nellen, 2019, S. 380ff.).
Auch viele chronisch Kranke haben eine unterdurchschnittlich ausgeprägte Gesundheitskompetenz, da sie mit höheren Anforderungen bei der Krankheitsbewältigung, der Orientierung im Gesundheitswesen und der Koordination von Leistungen konfrontiert sind (Schaeffer et al., 2018, S. 22ff.). Die Schwierigkeit ist zudem, dass bei einer chronischen Erkrankung nicht nur eine einmalige Einarbeitung in das Thema und Beschaffung von Informationen nötig sind, sondern eine permanente Auseinandersetzung mit der aktuellen Evidenz (Schmacke, 2019, S. 26). Auch in der Krankheitsbewältigung zeigt sich eine deutlich schlechtere Gesundheitskompetenz der vulnerablen Gruppen (Schaeffer, 2016, S. 56). Das Gesundheitsverhalten von Personen mit niedriger Gesundheitskompetenz weicht von denen mit guter Gesundheitskompetenz ab. Menschen mit einer guten Gesundheitskompetenz zeigen eher ein gesünderes Bewegungs- und Ernährungsverhalten und leiden demnach auch seltener an Übergewicht oder an anderen Folgen schlechter Ernährung (Schaeffer et al., 2016, S. 83ff.). Auch der subjektive Gesundheitszustand und die Einschränkung im täglichen Leben durch gesundheitliche Probleme korreliert mit der Gesundheitskompetenz, je schlechter die Gesundheitskompetenz, desto schlechter wird auch der subjektive Gesundheitszustand und desto höher wird die Einschränkung im täglichen Leben eingeschätzt (ebd., S. 79ff.). Personen mit geringer Gesundheitskompetenz nehmen häufiger ärztliche Leistungen in Anspruch, nehmen jedoch seltener an Präventionsangeboten teil (ebd., S. 94).
All diese Gründe zeigen die gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz und stellen somit eine Public Health Aufgabe dar. Es müssen verhaltens- und verhältnisorientierte Maßnahmen umgesetzt werden, die besonders die genannten vulnerablen Gruppen berücksichtigen (Schaeffer et al., 2016, S. 48). Zudem müssen entsprechende verhaltensorientierte Maßnahmen berücksichtigen, dass die Anwendung und der Erwerb der Gesundheitskompetenzen „[…] eng mit der Persönlichkeit von Menschen, ihrer Biografie, ihren individuellen und sozialen Möglichkeiten, ihren Lebensbedingungen und Lebensumwelten verbunden sind“ (Schaeffer et al., 2018, S. 50).
Bereits im Jahr 2003 war es eines der Nationalen Gesundheitsziele, die gesundheitliche Kompetenz zu erhöhen und die Patient*innensouveränität zu stärken (Gesundheitsziele.de, o.J., o.S.). Durch eine Verbesserung der Gesundheitskompetenz sollte eine „[…]positive Veränderung des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens, die Förderung der Prävention und somit die Verbesserung der Behandlungserfolge“ erreicht werden, auch mit dem Ziel, die Lebensqualität zu erhöhen (Gesundheitsziele.de, 2011, S. 1). Diese Zielsetzung wird zurzeit nicht aktiv verfolgt, sie ist jedoch nach wie vor aktuell.
Es finden bereits einige Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz statt und in verschiedenen Bereichen können bereits Erfolge verzeichnet werden (z.B. Müttergesundheit, Zahngesundheit, Impfaufklärung) (Bundesministerium für Gesundheit, 2017). Die WHO (2016, o. S.) hebt in der Charta von Shanghai hervor, dass die Förderung der Gesundheitskompetenz dringend notwendig ist und bereits im Schulcurriculum berücksichtigt werden sollte. Dem folge ein lebenslanges Lernen. Sie bezeichnen die Gesundheitskompetenz als einen „critical determinant of health“ (ebd.). Eine Förderung der Gesundheitskompetenz sollte demnach nicht nur im Gesundheits-, sondern beispielsweise auch im Bildungs- und Erziehungssektor und der Lebensmittelindustrie verankert werden (Schaeffer et al., 2016, S. 98ff.).
Um die Weiterentwicklung von Maßnahmen in Deutschland strukturiert voranzutreiben, hat sich im Jahr 2017 eine „Allianz für Gesundheitskompetenzen“ gebildet. Daran beteiligt sind das Bundesministerium für Gesundheit, Spitzenorganisationen im Gesundheitswesen und das Vorsitzland der Gesundheitsministerkonferenz der Länder (Bundesministerium für Gesundheit, 2017). Das Ziel dieses Zusammenschlusses ist die Stärkung und bessere Abstimmung bestehender Maßnahmen sowie die Entwicklung neuer Konzepte, um eine bundesweite Strategie zur Förderung der Gesundheitskompetenz zu erreichen (ebd.). Der seit dem Jahr 2018 vorliegende „Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz“ gibt als Ziel an die „[…] Gesundheitskompetenz der Menschen in allen Lebenswelten zu fördern, das Gesundheitssystem nutzerfreundlich zu gestalten und die Gesundheitskompetenz systematisch zu erforschen“ (Seidel, 2019, S. 47). Das soll die Autonomie der Patient*innen fördern und sie befähigen, mit Gesundheit und Krankheit angemessen umzugehen (ebd.). Um dies zu erreichen, haben unabhängige Praktiker*innen und Expert*innen ein konkretes Vorgehen mit 15 Empfehlungen und grundlegenden Prinzipien entwickelt (Schaeffer et al., 2018, S. 4ff.). Diese beziehen sich auf folgende Handlungsbereiche: alltägliche Lebenswelten, Gesundheitssystem, Leben mit chronischer Erkrankung und Forschung. Die Empfehlungen beinhalten sowohl verhältnis- als auch verhaltensorientierte Interventionen (Schaeffer et al., 2016, S. 100ff.). Ein Beispiel für eine Empfehlung für eine verhältnisorientierte Intervention ist, das Gesundheitssystem nutzerfreundlicher zu gestalten und die Forschung zur Gesundheitskompetenz systematisch zu verbessern (Schaeffer et al., 2018, S. 38ff.). Zudem gibt es einige Empfehlungen, nach denen Verhältnisse geschaffen werden sollen, die eine verhaltensorientierte Intervention ermöglichen, etwa die Unterstützung von Bildungsinstitutionen: Diese sollen Kinder und Jugendlichen in ihrer Gesundheitskompetenz angemessen fördern können (ebd., S. 32f.). Im Nationalen Aktionsplan werden Best Practice Beispiele für einige der 15 Empfehlungen benannt (ebd., S. 32ff.). Ein eigener Empfehlungskatalog steht für das gesundheitskompetente Leben chronisch Kranker zur Verfügung. Hier fordern die Verfasser*innen die Verbesserung der Gesundheitskompetenz in die Versorgung chronisch Kranker zu integrieren, gesundheitskompetenten Umgang mit der Erkrankung und den Folgen der Erkrankung zu ermöglichen, die Fähigkeit zum Selbstmanagement von chronisch Kranken und deren Angehörigen zu stärken und die zur Alltagsbewältigung notwendige Gesundheitskompetenz zu stärken. Bei der Verbesserung der Selbstmanagementfähigkeiten wird die Initiative für Selbstmanagement und aktives Leben (INSEA) als Best Practice Beispiel erwähnt (ebd.).
Auch in den Nationalen Gesundheitszielen aus dem Jahr 2003 war das Angebot von Beratung, Schulungen und Kursen als eine Maßnahme zur Verbesserung von kommunikativen und gesundheitsbezogenen Kompetenzen definiert (Gesundheitsziele.de, 2011, S. 3ff.). In der Bestandsaufnahme aus dem Jahr 2011 (ebd.) wird lediglich die Etablierung der Patient*innenuniversität der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) als Beispiel für die Umsetzung genannt, die mittlerweile etablierten Gesund und aktiv -Leben Kurse können aber sicherlich auch dazu gezählt werden.
Die Verbesserung der Gesundheitskompetenz hat das Potential gesundheitliche Ungleichheiten in der Bevölkerung zu verringern. Bei der Planung konkreter Maßnahmen muss allerdings auf verschiedene Prinzipien geachtet werden, etwa die Berücksichtigung benachteiligter Bevölkerungsgruppen (Bundesministerium für Gesundheit, 2017, S. 3).
Es gibt die Möglichkeit, die Gesundheitskompetenz auf individueller Ebene durch geeignete Strategien und Maßnahmen zu verbessern oder auf System- und Organisationsebene die Anforderungen an das Individuum zu verringern (Schaeffer et al., 2018, S. 14). Beide Perspektiven sollten durch verschiedene Maßnahmen berücksichtigt werden (Brach et al., 2012, S. 1f.). Bei der Planung der Maßnahmen sollten Prinzipien der Partizipation und Teilhabe zugrunde gelegt sowie die Chancen der Digitalisierung genutzt werden (Schaeffer et al., 2018, S. 53f.). Die Umsetzung der Koordination und Strukturierung verschiedener Maßnahmen und einer angemessenen Zusammenarbeit der Akteure aus dem Gesundheitssystem wurde durch die „Allianz für Gesundheitskompetenz“ und die „Nationale Koordinierungsstelle Gesundheitskompetenz“ begonnen. Darüber hinaus sollten auch Akteure aus allen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens einbezogen werden (ebd., S. 55).
2.2.2.1. Selbstwirksamkeit
Selbstwirksamkeit gilt als Kernkompetenz zur Erlangung einer guten Gesundheitskompetenz und zur Befähigung zu einem angemessenen Selbstmanagement chronisch Kranker (Lorig, Manzonson, Holman, 1993, S. 439; Lorig et al., 1989, S. 94f.). Der Status der Selbstwirksamkeit und die Verbesserung dieser ist somit Prädiktor für die Wirksamkeit von Selbstmanagementförderprogrammen (ebd.). Aufgrund des hohen Stellenwertes für den Themenbereich soll die Selbstwirksamkeit im Folgenden näher erläutert werden. In der von Bandura im Jahr 1977 formulierten „social cognitive theory“ geht es darum auf Grundlage von Wissen, welches durch observierendes Lernen, explorative Erfahrungen, verbaler Instruktion und der kognitiven Synthese dieser Kenntnisse angeeignet wurde, ein sinnvolles Verhalten zu zeigen, welches mittels interner Fähigkeiten reflektiert und korrigiert werden kann (vgl. Bandura, 1986). Aufgrund der Tatsache, dass unterschiedliche Personen, unter verschiedenen Umständen auf unterschiedliche Anforderungen treffen können, müssen diese Fähigkeiten sehr flexibel sein (Bandura, 1997, S. 34). Der zentrale Begriff der „social cognitive theory“ ist die Selbstwirksamkeit.
Selbstwirksamkeit ist die selbsteingeschätzte Fähigkeit einer Person, eine spezifische Handlung durchzuführen, um ein Ziel zu erreichen. Es handelt sich dabei um ein prospektives Konzept, welches sich auf die Fähigkeiten der einzelnen Person (oder ihrer Einschätzung dieser) bezieht und in direktem Zusammenhang mit einer Handlung steht (Bandura, 1997, S. 3ff.). Selbstwirksamkeit bedeutet also, dass Personen nicht nur bestimmte Fähigkeiten und Wissen brauchen, um eine Situation zu bewältigen, sie müssen auch daran glauben, dass sie diese einsetzen können und dass die Anwendung dieser Fähigkeiten auch ein gewünschtes Outcome erzielt (ebd.). Laut Bandura (ebd., S. 1) ist die Theorie der Selbstwirksamkeit daraus entstanden, dass Menschen schon immer das Bedürfnis hatten, ihr Leben zu kontrollieren. Fest steht zudem, dass Personen, die den Einfluss ihrer Handlung erfahren konnten, sich auch besser vorstellen können, ein gewünschtes Ergebnis zu erreichen und das Unerwünschte abwenden zu können (ebd., S. 1ff.). Menschen beginnen Handlungen nur, wenn sie auch daran glauben, dass diese zu einem Erfolg führen (ebd.). Die Selbstwirksamkeit hat dabei sowohl einen Einfluss auf die Wahl der Aktivitäten und Handlungsmöglichkeiten als auch auf den Umgang mit der Situation (Bandura, 1977, S. 194). Sie beeinflusst die Ausdauer der Personen in der Bewältigung und den Aufwand den diese dafür betreiben (ebd.). Menschen mit einer höheren Selbstwirksamkeit nehmen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine Aufgabe in Angriff, auch wenn sie dagegen Barrieren zeigen (Freund et al., 2011, S. 1). Durch die Entscheidung, sich einer Situation auszusetzen, obwohl diese unbekannt oder beängstigend ist, kann eine Korrektur der Situationsbewertung stattfinden. Bei Personen, die diese Situation weiterhin meiden, manifestiert sich die Unsicherheit (ebd.).
Im Ausmaß der Selbstwirksamkeit werden die unterschiedlichen Fähigkeiten und Zielvorstellungen von Menschen berücksichtigt. Zudem ist sie beeinflusst durch Motivation, Selbstregulation, individuelle Denkprozesse sowie physische und psychische Voraussetzungen (Bandura, 1997, S. 36ff.). Patienten mit einer guten Selbstwirksamkeit sind überzeugt davon, dass sie gewünschte Handlungen aufgrund ihrer eigenen Kompetenzen bewältigen können (Brinkmann, 2014, S. 80ff.). Bezogen auf den medizinischen Bereich sind sie laut Zimmermann (2015, S. 75) der Überzeugung, dass sie ihren Gesundheitsstatus selbst unter Kontrolle haben. Aus dem Grund experimentieren sie mehr mit Möglichkeiten der Symptombekämpfung und kommen so zu einer für sie passenden Lösung, welche dann im Optimalfall zu einer besseren Krankheitsbewältigung führt (ebd.). Da diese Erwartungshaltung, durch eigenes Tun etwas verändern bzw. bewirken zu können, im Zusammenhang mit der Selbstwirksamkeit so zentral ist, wird diese auch Selbstwirksamkeitserwartung genannt (ebd.).
Die Selbstwirksamkeitserwartung beschreibt die Ahnung, dass bevorstehende Herausforderungen selbstständig gelöst werden können. Aus der Zuversicht heraus, Dinge selber meistern zu können, entsteht Mut und Selbstbewusstsein, zudem werden alle vorhandenen Kompetenzen zur Zielerreichung eingesetzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Ziel so tatsächlich erreicht wird, ist höher als bei einer pessimistischen Herangehensweise (Brinkmann, 2014, S. 82f.). Die Person hat also eine höhere Wahrscheinlichkeit ein positives Selbstwirksamkeitserleben zu erfahren. Diese positiven Erfahrungen führen wiederum zu einer Stärkung der Selbstwirksamkeitserwartung (Rönnau-Böse, Fröhlich-Gildhoff, 2015, 54f.). Die Selbstwirksamkeitserwartung findet als Förderfaktor auch Platz in Modellen zur Gesundheitsförderung und Prävention. So beispielsweise im Health Action Process Approach Modell (HAPA) nach Schwarzer (1992), welches Verhaltensänderungen als Outcome berücksichtigt. Demnach wirkt sich eine gute Selbstwirksamkeit(-serwartung) positiv auf die Zielsetzung, die Planung und die Umsetzung aus (ebd.). Zudem ist Selbstwirksamkeit eine wichtige Voraussetzung für den Umgang mit einer chronischen Erkrankung. Sie kann im Sinne von Empowerment aktiv gefördert werden (Dierks, 2019, S. 40). Bandura (1997, S. 79ff.) benennt vier Quellen, die den Aufbau von Selbstwirksamkeit ermöglichen:
- durch die eigene Erfahrung erfolgreicher Handlungen,
- durch positive Erfahrungen anderer, die auf die eigenen Fähigkeiten übertragen werden können (Lernen am Modell),
- durch die (verbale) Überzeugung durch andere, dass man bestimmte Fähigkeiten besitzt,
- durch die durch physiologische und emotionale Zustände positive Einschätzung der eigenen Fähigkeiten
Um den Einfluss von Selbstwirksamkeit auf ein erwünschtes Verhalten festzustellen, darf eine Einschätzung der Patienten nicht nur zu einem einzelnen Zeitpunkt eingefordert werden, da die Selbstwirksamkeit sich während ihrer Entwicklung verändert. Viel mehr ist zu mehreren Testzeitpunkten sowohl eine Einschätzung der Selbstwirksamkeitserwartung als auch eine Messung des Outcomes notwendig. So kann festgestellt werden, wie sich diese beeinflussen (Bandura, 1977, S. 194). Um die Selbstwirksamkeit verlässlich zu messen, müssen Ausmaß, Allgemeingültigkeit und Stärke überprüft oder erfragt werden (ebd.).
Trotz der nachgewiesenen Wirkung von Selbstwirksamkeit auf Handlungen, reicht diese nicht allein aus, es sind zudem ausreichende Fähigkeiten zur Umsetzung dieser notwendig (Bandura, 1977, S. 194). Hierfür sind beispielsweise Selbstmanagementfähigkeiten relevant, wobei die Selbstwirksamkeit eine wesentliche Voraussetzung für ein wirksames Selbstmanagement ist (Bodenheimer et al., 2002, S. 2471.). Im Folgenden wird das Selbstmanagement näher erläutert.
2.2.2.2. Selbstmanagement
Die zuvor aufgeführte notwendige Entwicklung von paternalistischen Strukturen in der Krankenversorgung hin zu einer aktiven Beteiligung und höheren Verantwortung des Individuums zeigt die Notwendigkeit eines ausreichenden Selbstmanagements von Patient*innen. Im Folgenden soll dieses definiert werden.
Es herrscht keine einheitliche „Goldstandard“ -Definition für Selbstmanagement (Barlow et al., 2002, S. 177). Häufig wird in der Literatur das Selbstmanagement unter dem Blickwinkel der komplementären und integrativen Medizin betrachtet (Adams, 2017, S. 205; Berger, Heusser, 2017, S. 202f.). Für diese Arbeit und die Verwendung des Begriffs im Kontext der CDSMP Kurse ist das jedoch zu eng gefasst.
Lapidar ausgedrückt beinhaltet das Selbstmanagement die Fähigkeiten, die das Individuum nutzt, um die eigene Krankheit zu bewältigen (Korff et al., 1997, S. 1998f.). Es beschreibt die Fähigkeit des Individuums mit der eigenen Erkrankung, den damit verbundenen Symptomen, der Behandlung und den körperlichen, geistigen und sozialen Konsequenzen umgehen zu können (Wagner et al., 2001, S. 76ff.). Hierzu zählen auch die Anpassung des Alltags und die notwendigen Veränderungen des Verhaltens, um die Erkrankung ins tägliche Leben zu integrieren. Zudem sollten die Betroffenen in der Lage sein, den eigenen Gesundheitszustand einschätzen und beobachten zu können und angemessene Reaktionen darauf zu zeigen, bzw. angemessene Handlungsschritte zu wählen, dies schließt alle Aktivitäten des täglichen Lebens ein (ebd.). Dies ist besonders relevant, da die tägliche Versorgung von chronisch kranken Patient*innen häufig durch sie selbst oder Familienangehörige durchgeführt wird (Clark et al., 1991, S. 4; Korff et al., 1997, S. 1097). Nur so kann die Lebensqualität erhalten bleiben (Wagner et al., 2001, S. 76ff.). Laut Sassen (2018, S. 146) zählen dazu zudem die Beobachtung und die Kontrolle der eigenen gesundheitlichen Situation, somit haben die Betroffenen die Führung innerhalb des medizinischen Versorgungsprozesses inne. Ein gutes Selbstmanagement hat dabei eine eindeutig positive Wirkung auf die physische und psychische Gesundheit (Clark et al, 1991, S. 4). Es könnte zudem die Lücke zwischen den Bedürfnissen der Betroffenen und den Ressourcen des Gesundheitssystems schließen (Barlow et al., 2002, S. 178). Ein gutes Selbstmanagement impliziert jedoch nicht, dass die Betroffenen auf sich alleine gestellt sind, es beinhaltet auch die Fähigkeiten, sich – wenn nötig – Hilfe zu suchen und mit Fachpersonen zusammenzuarbeiten (Lorig et al., 2015, S. 11). Die Betroffenen agieren also als Manager. Sie sammeln Informationen, lassen sich beraten und treffen Entscheidungen, welche sie dann in ihrem Alltag umsetzen (ebd., S. 11ff.).
Die Forderung nach Selbstmanagement chronisch Erkrankter und der Förderung dessen besteht schon seit einigen Jahren (Petermann, 1998, S. 7). Chronisch Erkrankte sollen „[…] eine aktive Rolle bei der Gestaltung ihres Lebens übernehmen […]; dadurch kann ihre persönliche Freiheit maximiert werden“ (ebd.). Das Selbstmanagement gehört laut dem „Chronic Care Model“ zu einer guten Versorgung chronisch Erkrankter (Wagner, 1996, 519f.). Selbstmanagementfähigkeiten können sich positiv auf den Umgang chronisch Erkrankter mit ihren sich immer wieder ändernden und im Schweregrad wechselnden Einschränkungen auswirken (Schaeffer, Moers, 2014, S. 336). Sie sind notwendig, da der reine Wissens- und Informationserwerb über die Krankheit und über damit zusammenhängende Themen nicht ausreicht, um langfristige Verhaltensänderungen zu erzielen, die zu einer angemessenen Krankheitsverarbeitung führen. Dafür bedarf es zusätzlicher Fähig- und Fertigkeiten (Norris, Engelgau, Narayan, 2001, S. 580; Schaeffer, Moers, 2014, S 336f.). Das Selbstmanagement beinhaltet sowohl Fähig- und Fertigkeiten als auch Methoden (Kanfer, Reinecker, Schmelzer, 2012, S. 327ff.). Ziel ist dabei die Verbesserung der Selbststeuerung und die aktive, eigenständige Problembewältigung (Barlow et al., 2002, S. 178ff.).
Chronisch Erkrankte und ihre Angehörigen werden oft vor psychosoziale Herausforderungen gestellt. Aufgrund der sehr geringen Heilungschance ist besonders die Anpassung an die neue Situation wichtig (Redman, 2004, S. 1). Die Besonderheit bei chronischen Erkrankungen ist, dass häufig nicht nur die körperlichen Symptome Schwierigkeiten bürgen, sondern durch eine geringe Gesundheitskompetenz viele Unsicherheiten und eine starke Abhängigkeit vom medizinischen Personal herrschen (ebd.).
Clark et al. (1991, S. 8) fassen in ihrem Review zwölf Selbstmanagementaufgaben für chronisch Kranke aus der Literatur zusammen: Wahrnehmung von und Reaktion auf Symptome, einschließlich der Beobachtung körperlicher Indikatoren oder konkreter Trigger, Medikamentenmanagement, Umgang mit Schüben und Notfällen, Einhaltung von gesunder Ernährung und Diätplänen sowie angemessener sportlicher Betätigung oder anderen Aktivitäten, Rauchentwöhnung, Anwendung von Entspannungstechniken zur Stressreduktion, Interaktion und Kommunikation mit medizinischem Personal, Informationsbeschaffung und Nutzen von Ressourcen, Anpassung der Arbeitssituation und anderer Bereiche, Kommunikation mit Angehörigen/Bezugspersonen/Partner*innen sowie der Umgang mit negativen Gefühlen und psychische Reaktionen.
Lorig et al. (2015, S. 17) fassen die Fähigkeiten und Fertigkeiten unter drei Oberbegriffen zusammen:
- Fähigkeiten, mit der Krankheit umzugehen
- Fähigkeiten, um normal weiterzuleben
- Fähigkeiten, mit Emotionen umzugehen
Selbstmanagement soll Patient*innen zudem dabei unterstützen, mit den verschiedenen Fachleuten aus dem Gesundheitssystem zusammenzuarbeiten und sich zurechtzufinden (Lorig et al., 2001a, S. 257). Zur Alltags- und Handlungsplanung gehört das selbstständige Setzen von erreichbaren Zielen, sowie die Gliederung komplexer Aufgaben in kleinere Teilschritte (Seidel, 2019, S. 50). Um dies zu erreichen, muss das Selbstmanagement gefördert werden. Die Möglichkeiten der Selbstmanagementförderung werden im Folgenden erläutert.
In Zeiten, in denen Einsparungen im Gesundheitssektor immer notwendiger werden, erscheint die Implementierung von Maßnahmen, die eine höhere Verantwortlichkeit der Patient*innen zum Ziel haben, sinnvoll (Adams, 2017, S. 205). Sie birgen ein großartiges Potenzial zur besseren Kosteneffizienz und zur Verbesserung der individuellen Gesundheit.
2.2.2.2.1. Förderung des Selbstmanagements
Wagner et al. (2005, S. 8ff.) heben bereits mit ihrem Chronic Care Model hervor, dass die Förderung des Selbstmanagements ein unabdingbarer Bereich ist, um patientenzentriert arbeiten zu können. Die Selbstmanagementförderung versucht, durch Wissens- und Kompetenzvermittlung die individuellen Handlungsstrategien der Betroffenen so weiterzuentwickeln, dass ein aktiver und konstruktiver Umgang mit den Herausforderungen, die durch chronische Erkrankungen entstehen, ermöglicht wird (Haslbeck, Schaeffer, 2007, S. 82ff.). Das höchste angestrebte Ziel ist dabei die Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Angehörigen (Osborne et al., 2007, S. 193).
Laut Kanfer, Reinecker und Schmelzer (2012, S. 4f.) spielen vier Elemente aus der Psychotherapie eine wichtige Rolle in der Förderung des Selbstmanagements:
- Patient*innen begeben sich in Therapie oder belegen Kurse, weil sie mit dem Ziel der Problembewältigung etwas verändern wollen. Demnach liegen Veränderungstheorien inhaltlich den Grundstein. Hierzu zählen beispielsweise Lern-, Motivations- und Handlungstheorien.
- Um Veränderungen in Angriff zu nehmen, Entscheidungen treffen zu können und somit ein für die Patient*innen sinnvolleres Leben zu führen, müssen diese bezüglich ihrer Ziele, Wünsche und Werte gut orientiert sein.
- Da eine Person sich immer in einem bestimmten soziokulturellen Umfeld befindet, ist die Berücksichtigung dessen in der Therapie genauso relevant wie die Arbeit am Individuum.
- Im Bereich des Selbstmanagements ist ein flexibles, dynamisches Arbeiten im Sinne der Prozessorientierung notwendig, um den Situationen und Bedürfnissen gerecht zu werden (ebd.).
Bei der Förderung sollten bestimmte Fähigkeiten erworben werden, dazu gehören Problemlöse-, Zielsetzungs- und Stressbewältigungsstrategien, soziale Kompetenzen, Kommunikationsfähigkeiten, aber auch konkrete Hilfen im Umgang mit der Erkrankung. Diese werden mittels eines individuell angepassten Vorgehens, positiver Verstärkung, sozialer Unterstützung und unter Einbezug der Bezugspersonen erarbeitet (Alderson et al., 1999, S. 284; Wagner et al., 2005, S. 9).
Die Selbstmanagementfähigkeiten können in verschiedenen Settings gefördert werden oder eine indirekte Förderung erfahren. Bei entsprechender Überzeugung des medizinischen Personals ist dies bereits im Kontakt mit Ärzt*innen und Pflegekräften möglich (Berger, Heusser, 2017, S. 203; Bodenheimer et al., 2002, S. 2471ff.). Mögliche Settings sind die Patientenschulung, Selbsthilfegruppen und Selbstmanagementkurse. Besonders wirksam ist eine peer-basierte Förderung durch sogenannte „Expertinnen und Experten aus Erfahrung“ (Haslbeck, 2016, S. 67ff.). Betroffene teilen anderen Betroffenen ihre Erfahrungen mit und ermöglichen beispielsweise eine veränderte Zukunftsperspektive, mehr Selbstvertrauen, Zugang zu relevantem medizinischen Wissen, Verhaltensänderungen durch Vorbildfunktion und Zugang zu anderen Versorgungsleistungen (ebd.). Dies ist beispielsweise in Selbsthilfegruppen und einigen Selbstmanagementkursen der Fall.
2.2.2.2.2. Patientenschulungen
Bei ambulanten Patientenschulungen handelt es sich um interdisziplinär durchgeführte Kurse, die informations-, verhaltens- und handlungsorientierte Maßnahmen beinhalten. Diese Kurse werden in indikationsspezifischen Gruppen angeboten und verfolgen das Ziel, die Erkrankung bestmöglich in das Leben zu integrieren, um eine Verbesserung der Lebensqualität zu erreichen. Negative körperliche, psychische oder soziale Konsequenzen der Erkrankungen sollten vermieden werden (Kulzer, 2013, S. 255; Verband der Ersatzkassen e.V. et al., 2017, S. 4). Betroffene sollen also zum Selbstmanagement befähigt werden (Verband der Ersatzkassen e.V. et al., 2017, S. 4). Hierfür liegt ein strukturiertes, zielorientiertes Vorgehen mit Lehr- und Lernmaterial vor. Diese sollen mit entsprechenden Übungen krankheits- und behandlungsbezogene Kompetenzen vermitteln (ebd., 2017, S. 6ff.; Kulzer, 2013, S. 254f.; Bitzer, Spörhase, 2015, S. 938f.).
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1 Zugriff und Berechnung am 04.02.2020 auf: https://vizhub.healthdata.org/gbd-compare/
- Arbeit zitieren
- Lisa Macasero (Autor:in), Marie-Luise Dierks (Reihenherausgeber:in), Gabriele Seidel (Reihenherausgeber:in), 2020, Wirkung von Selbstmanagement-Programmen für Menschen mit chronischer Erkrankung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/993906
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