Mit seiner Entscheidung zur gesetzlich angeordneten Anbringung von Kreuzen oder Kruzifixen in Pflichtschulen Bayerns rief das Bundesver-fassungsgericht in der ganzen Republik und speziell bei Politikern von CDU/CSU und Kirchenvertretern Empörung hervor. Die Entscheidung wurde nicht nur stark kritisiert, sondern steigerte sich noch in Angriffe auf die Institution Verfassungsgericht. Uwe Wesel spricht von der zweiten Krise des Bundesverfassungsgerichts nach 1952, die aber im Zusammenhang mit anderen Entscheidungen des Gerichts (z.B. Haschisch-Urteil, Urteil zum Tucholsky -Zitat "Soldaten sind Mörder", Entscheidung zu Sitzblockaden) zu sehen ist: "Es war nicht der Kruzifix-Beschluß allein, der die Krise ausgelöst hatte."1 Der Widerstand gegen dieses Urteil geht so weit, daß die Exekutive - die bayerische Staatsregierung - sich weigert, die Entscheidung umzusetzen.2 Es bleibt bei aller Kritik und Auseinandersetzung die Frage, ob dieses Urteil in sich so viel Brisanz trägt, wie es die vielen entrüsteten Stimmen glauben machen wollen. Um dieser Frage näher zu kommen, soll dargestellt werden, wie der Konflikt entstanden ist und wie die einzelnen Gerichte und speziell das Bundesverfassungsgericht argumentieren.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2.Chronologie bis zur Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts
2.1.Entstehung des Konflikts
2.2.Argumentation des Bayerischen Verwaltungsgerichts
2.3.Argumentation des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs
2.4.Verfassungsbeschwerde der Eltern und deren Kinder
3.Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
3.1.Entscheidung und Leitlinien
3.2.Argumentation
3.2.1.Verletzung nach Art. 19 Abs. 4 GG
3.2.2.Verletzung nach Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG
3.2.3.Unvereinbarkeit von § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO mit Art. 4 Abs. 1 GG
3.2.4.Ausgleich von Art. 4 und Art. 7 GG
4. Diskussion des Urteils
5.Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Mit seiner Entscheidung zur gesetzlich angeordneten Anbringung von Kreuzen oder Kruzifixen in Pflichtschulen Bayerns rief das Bundesver-fassungsgericht in der ganzen Republik und speziell bei Politikern von CDU/CSU und Kirchenvertretern Empörung hervor. Die Entscheidung wurde nicht nur stark kritisiert, sondern steigerte sich noch in Angriffe auf die Institution Verfassungsgericht. Uwe Wesel spricht von der zweiten Krise des Bundesverfassungsgerichts nach 1952, die aber im Zusammenhang mit anderen Entscheidungen des Gerichts (z.B. Haschisch-Urteil, Urteil zum Tucholsky -Zitat "Soldaten sind Mörder", Entscheidung zu Sitzblockaden) zu sehen ist: "Es war nicht der Kruzifix- Beschluß allein, der die Krise ausgelöst hatte."[1] Der Widerstand gegen dieses Urteil geht so weit, daß die Exekutive - die bayerische Staatsregierung - sich weigert, die Entscheidung umzusetzen.[2] Es bleibt bei aller Kritik und Auseinandersetzung die Frage, ob dieses Urteil in sich so viel Brisanz trägt, wie es die vielen entrüsteten Stimmen glauben machen wollen. Um dieser Frage näher zu kommen, soll dargestellt werden, wie der Konflikt entstanden ist und wie die einzelnen Gerichte und speziell das Bundesverfassungsgericht argumentieren.
2. Chronologie bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
2.1. Entstehung des Konflikts
Nach der Volksschulordnung (VSO) vom 21. Juni 1983 muß in den öffentlichen Volksschulen Bayerns in jedem Klassenzimmer ein Kreuz angebracht werden.[3] "§13 Abs. 1 VSO lautet:
Die Schule unterstützt die Erziehungsberechtigten bei der religiösen Erziehung der Kinder. Schulgebet, Schulgottesdienst und Schulandacht sind Möglichkeiten dieser Unterstützung. In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen. Lehrer und Schüler sind verpflichtet, die religiösen Empfindungen aller zu achten."[4]
Mit dieser Rechtsverordnung waren die Eltern von drei minderjährigen schulpflichtigen Kindern nicht einverstanden und wandten sich seit der Einschulung der ältesten Tochter "dagegen, daß in den von ihren Kindern besuchten Schulräumen zunächst Kruzifxe und später teilweise Kreuze ohne Korpus angebracht worden sind."[5] Sie begründeten den Widerstand mit der Befürchtung, daß ihre Erziehungsvorstellungen unterlaufen würden. Die Eltern sind Anhänger der anthroposophischen Weltanschauung nach der Lehre Rudolf Steiners und möchten verhindern, daß auf ihre Kinder im Sinne des Christentums eingewirkt wird. Eine solche Einflußnahme sahen sie durch die Anbringung von Kruzifixen gegeben. Sie störten sich besonders an der Darstellung eines sterbenden männlichen Körpers.[6]
Seit der Einschulung der ältesten Tochter im Jahr 1986 gab es Auseinandersetzungen über die Anbringung von Kruzifixen zwischen den Eltern und der Schulverwaltung. Teilweise konnten Kompromisse zwischen den Parteien erzielt werden: So wurde ein Kruzifix im Klassenraum mit einer Gesamthöhe von 80 cm und einer 60 cm hohen Darstellung des Korpus im Sichtfeld der Tafel durch ein kleineres Kreuz über der Tür ersetzt. Ein dauerhafter Kompromiß wurde allerdings nicht gefunden. Bei der Einschulung der jüngeren Geschwister und beim Schulwechsel des ältesten Kindes flammten die Auseinandersetzungen wieder auf, "weil wiederum...Kruzifixe angebracht waren. Wiederholt erreichten die Beschwerdeführer (die Eltern)...dadurch, daß sie ihre Kinder...nicht zum Unterricht schickten, erneut die Kompromißlösung (kleines Kreuz ohne Korpus seitlich über der Tür) für die Klassenzimmer, nicht aber für sonstige Unterrichtsräume."[7]
Da die Eltern sich mit dieser Situation nicht abfinden konnten, erhoben sie im Februar 1991 im eigenen Namen und im Namen der Kinder (im Text Beschwerdeführer) Klage vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht gegen den Freistaat Bayern. Sie wollten erreichen, daß in den Räumen der öffentlichen Schule, in denen ihre Kinder unterrichtet werden, alle Kruzifixe entfernt werden. "Zugleich beantragten sie den Erlaß einer einstweiligen Anordnung bis zum Abschluß des Klageverfahrens auf Entfernung von Kruzifixen."[8]
2.2. Argumentation des Bayerischen Verwaltungsgerichts
Vom Bayerischen Verwaltungsgericht wird der Eilantrag am 1. März 1991 abgelehnt. Das Verwaltungsgericht geht davon aus, daß "weder das Erziehungsrecht der Eltern noch Grundrechte der Kinder verletzt"[9] würden. Da das Kreuz nicht als Unterrichtsmittel eingesetzt werde und es vielmehr zur Unterstützung der religiösen Erziehung der Eltern diene, sieht das Verwaltungsgericht keinen Handlungsbedarf. Das Gericht argumentiert, daß "der verfassungsrechtlich zulässige Rahmen religiös-weltanschaulicher Bezüge im Schulwesen...nicht überschritten"[10] werde.
Das Gericht verweist auf die Möglichkeit, daß "das Spannungsverhältnis zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit...unter Berücksichtigung des Toleranzgebotes nach dem Prinzip der Konkordanz"[11] gelöst werden müsse. Ihrer negativen Bekenntnisfreiheit könne nicht der absolute Vorrang gegenüber der positiven Bekenntnisfreiheit der anderen Schüler eingeräumt werden. Das Verwaltungsgericht fordert die Beschwerdeführer zu Toleranz und Achtung gegenüber den anderen religiösen Überzeugungen auf.[12]
2.3. Argumentation des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs
Die Eltern legten gegen dieses Urteil Beschwerde beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ein und werden wiederum abgewiesen (3. Juni 1991). Für die einstweilige Anordnung liegt nach Ansicht des Gerichts kein ausreichender Grund vor, weil im Hauptsacheverfahren nicht mit einem Erfolg zu rechnen sei.
Ähnlich wie das Verwaltungsgericht sieht der Verwaltungsgerichtshof ein Spannungsverhältnis zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit. Es werde zwar "der Schutzbereich der Glaubensfreiheit berührt"[13], aber es müsse auch den anderen, die eine entgegengesetzte Auffassung vertreten, das Grundrecht auf Glaubensfreiheit zuerkannt werden. Wie bereits das Verwaltungsgericht fordert auch der Verwaltungsgerichtshof zur Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen auf und weist daraufhin, daß das Toleranzgebot für die Beschwerdeführer zumutbar wäre. Das Gericht kommt zur Einschätzung, daß die elterliche Erziehung durch das Anbringen von Kreuzen nicht beeinträchtigt wird, weil die Eltern Jesus Christus nicht völlig ablehnen, "sondern sich nur gegen die nach ihrer Meinung zu einseitige und schädliche Betonung des leidenden Christus wendeten."[14] Das Gericht führt noch weiter aus, daß die Schule selbst nicht missionarisch tätig werden würde und andere religiöse Bekenntnisse nicht unterdrückt würden.
Wichtig in der Argumentation des Verwaltungsgerichtshofes ist seine Einschätzung zur Symbolik des Kreuzes. Er argumentiert, daß die Kinder durch das Kreuz zwar "mit einem religiösen Weltbild konfrontiert"[15] würden, aber das Kreuz sei nicht "Ausdruck eines Bekenntnisses zu einem konfessionell gebundenen Glauben, sondern wesentlicher Gegenstand der allgemein christlich-abendländischen Tradition und Gemeingut dieses Kulturkreises."[16]
2.4. Verfassungsbeschwerde der Eltern und deren Kinder
Bei ihrer Verfassungsbeschwerde richten sich die Beschwerdeführer (Eltern und drei minderjährige Kinder) gegen die ergangenen Beschlüsse und beziehen sich auf § 13 Abs.1 Satz 3 VSO und rügen die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 2, Art. 2 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG.
1. Die Beschwerde der Eltern richtet sich gegen den Passus in der Volksschulordnung Bayerns, in jedem Klassenzimmer sei ein Kreuz anzubringen. Damit verstoße der Staat gegen seine Pflicht zu religiös-weltanschaulicher Neutralität. Vielmehr bekunde der Staat "mit dem Anbringen von Kreuzen in staatlichen Räumen...seine Verbundenheit mit dem christlichen Glauben."[17] Die Eltern sehen darin auch eine besonders intensive religiöse Beeinflussung, die sich aufgrund der staatlichen Autorität noch verstärkt. Durch Kreuze bzw. Kruzifixe würden die Schüler im Sinne eines christlichen Bekenntnisses geprägt; weil Kinder und Jugendliche leichter zu beeinflussen sind, sei die Gefahr vorhanden, daß die Schüler zu keinem eigenen kritischen Urteil gelangen und Erziehungsziele der Eltern nicht zum Tragen kommen könnten. Die Eltern sehen im § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO eine Verletzung ihres Grundrechts nach Art. 4 Abs. 1 GG ("Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich."[18] ) Sie gehen davon aus, daß Art 4 Abs. 1 GG besonders dem Minderheitenschutz diene.[19] "Damit sei es unvereinbar zu behaupten, das Aufstellen von Symbolen der Mehrheitsreligion in staatlichen Schulräumen sei Teil der positiven Religionsfreiheit einer Mehrheit in der Bevölkerung."[20] Die Beschwerdeführer argumentieren, daß Schutz nach Art. 4 Abs. 1 GG verkehrt wird, wenn in staatlichen Räumen die Religionsfreiheit der Mehrheit toleriert werden muß. Gegen folgende Verletzungen der Grundrechte richtet sich die Verfassungsbeschwerde:
2. Die Eltern sehen eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 4 Abs. 1 GG , "weil diese ihre Kinder einem ihren Erziehungs-vorstellungen widersprechenden religiösen oder weltanschau-lichen Einfluß aussetzen müßten.
3. Art. 2 Abs. 1 GG sei verletzt, weil sie durch staatlichen Zwang mit einem Nachteil belastet würden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begründet sei.
4. Der Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes verletze sie ferner in ihrem in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes, soweit er das Vorliegen eines Anordnungsgrundes...verneine."[21]
3. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
3.1. Entscheidung und Leitlinien
Am 16. Mai 1997 fällte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit fünf zu drei Richterstimmen sein Urteil. Die Richter kommen zu der Entscheidung, daß die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer begründet ist. Demnach ist § 13 Abs. 1 Satz 3 der VSO mit Artikel 4 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig. Das Bundesverfassungsgericht hebt die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofs auf und kommt zum Urteil, daß die Eltern "in ihren Grundrechten aus Artikel 4 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 6 Abs. 2 Satz 1"[22] und die Kinder "in ihren Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1 des Grundgesetzes"22 verletzt werden. Hinzu kommt noch die Entscheidung, daß die Beschwerdeführer durch den Beschluß des Verwaltungsgerichtshofs in ihren Grundrechten aus Artikel 19 Abs. 4 verletzt werden.
Folgende Leitlinien gibt das Gericht für seine Entscheidung an:
"1. Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Be- kenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG.
2. § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern ist mit Art. 4 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig."[23]
3.2. Argumentation
3.2.1. Verletzung nach Art. 19 Abs. 4 GG
Die Verneinung einer einstweiligen Anordnung (vgl. S. 2, 3) bis zum Ab-schluß des Verfahrens verletzt die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten nach Art. 19 Abs. 4 GG ("Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben."[24] ). Das Gericht argumentiert, daß wirksamer Rechtsschutz gegen Verletzungen der öffentlichen Gewalt nur in einem angemessen Zeitraum erfolgen kann. Der Verwaltungsgerichtshof hätte die Beschwerdeführer nicht auf das Hauptverfahren verweisen dürfen, weil durch den Eilentscheid selbst Grundrechte verletzt werden.[25] Bei der Forderung nach einer einstweiligen Anordnung hatte der Verwaltungsgerichtshof nicht berücksichtigt, daß in dem vorliegenden Fall gerichtlicher Rechtsschutz eilbedürftig war, weil es sich "um eine vorläufige Regelung im Rahmen eines aktuellen Schulverhältnisses"[26] handelte.
3.2.2. Verletzung nach Art.4 Abs.1 in Verbindung mit Art.6 Abs.2 Satz 1 GG
Die Beschwerdeführer hatten in ihrer Verfassungsbeschwerde auf die Pflicht des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität hingewiesen (vgl. S. 4). Das Bundesverfassungsgericht kommt bei seiner Argumentation zu dem Schluß, daß die Glaubensfreiheit, die in Art. 4 Abs. 1 GG garantiert wird, keine Privilegien von Seiten des Staates für bestimmte Glaubensüberzeugungen zuläßt und vielmehr den Grundsatz "staatlicher Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen"[27] miteinschließt. Der Staat ist letztlich dafür verantwortlich, daß die verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen in einer friedlichen Koexistenz miteinander auskommen; Grundlage dafür ist dessen Neutralität in Glaubensfragen. Entscheidungen für oder gegen eine Glaubensrichtung ist nach Art. 4 Abs. 1 GG Sache des Einzelnen, weil in diesem Artikel Glaubensfreiheit für jeden garantiert wird. Da Glaubensfreiheit herrscht, ist es unumgänglich, daß der Einzelne mit anderen Glaubensüberzeugungen und deren Konsequenzen in Berührung kommt. Das Gericht weist aber darauf hin, daß es ein Unterschied ist, wenn der Staat eine Situation schafft bzw. legitimiert, "in der der Einzelne ohne Auswegmöglichkeiten dem Einfluß eines bestimmten Glaubens"[28] mit seinen Handlungen und Symbolen ausgesetzt ist. Die Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 soll - nach Ansicht des Verfassungsgerichts - gerade in den Lebensbereichen geschützt werden, die unter Obhut des Staates stehen.[29] Mit der Anbringung von Kruzifixen bzw. Kreuzen in Klassenräumen sieht das Gericht das Grundrecht auf Glaubensfeiheit der Beschwerdeführer verletzt, weil der Staat seine weltanschauliche Neutralität verläßt und eine Glaubensrichtung bevorzugt. Im Zusammenhang damit wird auch das Grundrecht nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ("Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht."[30] ) verletzt, weil es den Eltern vorbehalten werden soll, welche Glaubens- oder Weltanschauung sie an die Kinder weitergeben. Demzufolge haben die Eltern auch das Recht, ihre "Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten,die den Eltern falsch oder schädlich erscheinen."[31]
3.2.3. Unvereinbarkeit von § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO mit Art. 4 Abs. 1 GG
§ 13 Abs. 1 Satz 3 VSO verstößt nach Meinung des Bundesverfassungs-gerichts gegen das zuletzt genannte Recht, das auf Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG basiert.
Das Gericht weist in seiner Argumentation noch einmal darauf hin, daß ein Unterschied besteht, ob religiöse Symbole verschiedenster Glaubensrichtungen im Alltagsleben auftreten oder ob sie im Unter-richtsraum angebracht werden. Der Staat konfrontiere die Schüler ohne Ausweichsmöglichkeit mit dem Symbol des Kreuzes. Das Verfassungs-gericht spricht vom Zwang, " 'unter dem Kreuz' zu lernen."[32] Und dieses Kreuz ist für das Bundesverfassungsgericht nicht nur ein Gegenstand "der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur"[33], sondern ein "Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung"33. Mit dieser Argumentation über die Symbolik des Kreuzes kommt das Bundesverfassungsgericht zu einer anderen Einschätzung als der Verwaltungsgerichtshof, der im Kreuz vornehmlich ein Gemeingut des christlich- abendländischen Kulturkreises (vgl. S. 4) sieht. Das Bundesverfassungsgericht räumt zwar ein, daß unsere Gesellschaft von vielen christlichen Traditionen geprägt ist, aber das Kreuz ist für das Gericht nicht nur ein Kulturgut, sondern ein spezifisches Glaubenssymbol des Christentums.[34] Darüber hinaus verbindet das Gericht mit dem Kreuz "spezifische Glaubensinhalte der christlichen Religion"[35] und schlußfolgert, daß durch Anbringen von Kreuzen in Schulräumen "ein staatliches Bekenntnis zu diesen Glaubensinhalten"[36] vorliegt, welches Dritte, die mit dem Staat in Kontakt kommen und mit dem Kreuz konfrontiert werden, in ihrer Religionsfreiheit berührt. Das Verfassungsgericht argumentiert im Folgenden, daß das Kreuz ganz konkrete Auswirkungen auf die Entwicklung der Schüler hat. In der Schule wird zur Persönlichkeitsentwicklung der Schüler beigetragen. Dabei kommt dem Kreuz - nach
Meinung der Richter- eine nicht zu unterschätzende Bedeutung bei. "Es hat appellativen Charakter und weist die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgerungswürdig aus."[37] Da die Kinder bzw. Jugendlichen in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt sind, kann das Kreuz die Jugendlichen beeinflussen. Damit teilt das Gericht die Bedenken der Beschwerdeführer vgl. S. 4).
3.2.4. Ausgleich von Art. 4 und Art. 7 GG
Nach Art. 7 Abs. 1 GG ("Das gesamte Schulwesen steht unter Aufsicht des Staates."[38] ) trägt der Staat nicht nur Verantwortung für das Schulwesen, sondern bestimmt die Inhalte der Schule mit. Obwohl er sich zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet hat, kann auf religiös-weltanschauliche Bezüge nicht völlig verzichtet werden, weil die Ent-wicklung der Gesellschaft davon beeinflußt wird; Konfliktpotential wird deshalb immer vorhanden sein. Daraus schließt das Bundesverfassungs-gericht, daß "sich die negative und die positive Seite der Religionsfreiheit nicht problemlos in ein und derselben staatlichen Institution verwirklichen"[39] läßt, das heißt es kann sich nicht jeder Einzelne in der Schule uneingeschränkt auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen. Das Gericht sieht die Verantwortung beim Landesgesetzgeber, das Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit auszugleichen. Dabei muß beachtet werden, daß Art. 7 GG religiös- weltanschauliche Einflüsse zuläßt, diese jedoch unter Beachtung von Art. 4 GG zugelassen werden. Das Gericht fordert ein Minimum an Zwangselementen in Bezug auf Glaubensinhalte. Die Richter vertreten die Ansicht, das Anbringen "von Kreuzen in Klassenzimmern überschreitet die danach gezogene Grenze religiös-weltanschaulicher Ausrichtung der Schule."[40], ganz im Gegensatz zum Verwaltungsgericht, das argumentiert, daß der zulässige Rahmen nicht überschritten wird (vgl. S. 3). Die Problematik verändere sich auch nicht, wenn der überwiegende Teil der Schüler nach christlichen Maßstäben erzogen wird und keinen Anstoß am Kreuz nimmt. Das Gericht weist darauf hin, daß der Konflikt nicht nach dem Mehrheitsprinzip gelöst werden kann. Die Richter geben den Beschwerdeführern Recht, wenn sie darlegen, daß "das Grundrecht der Glaubensfreiheit...in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten"[41] bezweckt.
Verwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof fordern die Beschwerde-führer zur Toleranz nach dem Prinzip der Konkordanz auf, indem sie davon ausgehen, daß die Minderheit die Mehrheit toleriert. Das Bundesver-fassungsgericht fordert die Mehrheit zu mehr Toleranz heraus: "Schließlich wäre es mit dem Gebot praktischer Konkordanz nicht vereinbar, die Empfindungen Andersdenkender völlig zurückzudrängen, damit die Schüler christlichen Glaubens...unter dem Symbol ihres Glaubens lernen können."[42]
4. Diskussion der Entscheidung
Beim Kruzifix-Urteil konnte das Bundesverfassungsgericht eine Funktion nicht erfüllen: es stellte nicht die letzte und endgültige Streitbefriedungs-instanz dar. Ganz im Gegenteil - die Entscheidung führte zu kontroversen Meinungen und zur - bereits in der Einleitung erwähnten - Haltung der bayerischen Staatsregierung. Günter Frankenberg kann trotz aller Aufregung "an Beschluß und Begründung wenig Sensationelles finden."[43] Im Folgenden soll ein Punkt zur Diskussion gestellt werden, der allerdings nicht die Ursachen der leidenschaftlichen Diskussion zum Urteil aufdecken wird, aber in eines der Problembereiche dieses Urteils hineinführt.
In diesem Prozeß hat eine Familie für sich die negative Glaubensfreiheit erstritten, das heißt sie besteht nicht auf das Anbringen eigener weltanschaulicher Symbole, sondern auf die Entfernung vom Symbol der christlichen Überzeugung. In der Verfassung des Freistaates Bayern wird als eines der Bildungsziele in der Schule die Ehrfurcht vor Gott festgeschrieben.[44] Durch einen Volksentscheid im Jahr 1968 wurde folgende Festlegung in Art. 135 der bayerischen Verfassung aufgenommen: "Die öffentlichen Volksschulen sind gemeinsame Schulen für alle volkschulpflichtigen Kinder. In ihnen werden die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen."[45] Darf es möglich sein, daß eine einzelne Familie, die eindeutig in der Minderheit ist, eine Verordnung außer Kraft setzen kann, die von der breiten Mehrheit getragen wird und die ihre Grundlage in der akzeptierten Verfassung hat? Wird die negative Glaubensfreiheit durch diese Entscheidung nicht zu einem Obergrundrecht? Darf es die positive Glaubensfreiheit verdrängen?
Literaturverzeichnis
Das Grundgesetz. Kommentar für die politische Bildung von Dieter Hesselberger. 10., überarbeitete Auflage. Neuwied: Luchterhand-Verlag, 1996. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung Bonn.
Denninger, Erhard; 1995: Der Einzelne und das allgemeine Gesetz. In: Kritische Justiz.
Vierteljahrsschrift. Jahrgang 28. Heft 4, 1995. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. S. 425-438.
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Hg. v. den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts. 93. Band. Tübingen: J.C.B. Mohr, 1996.
Frankenberg, Günter; 1996. Hüter einer Verfassung einer Zivilgesellschaft. In: Kritische Justiz. Vierteljahrsschrift. Jahrgang 29. Heft 1, 1996. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. S. 1-14.
Wesel, Uwe; 1996: Die Hüter der Verfassung: das Bundesverfassungsgericht: seine Geschichte, seine Leistungen und seine Krisen. Frankfurt am Main: Eichborn.
[...]
[1] Wesel, Uwe; 1996: Die Hüter der Verfassung: das Bundesverfassungsgericht: seine Geschichte, seine Leistungen und seine Krisen. Frankfurt am Main: Eichborn. S. 63.
[2] ebd. S. 61.
[3] vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Hg. v. den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts. 93. Band. Tübingen: J.C.B. Mohr, 1996. S. 2.
[4] ebd.
[5] ebd.
[6] vgl. ebd.
[7] ebd. S. 3.
[8] ebd.
[9] ebd.
[10] ebd. S. 4.
[11] ebd.
[12] vgl. ebd.
[13] ebd. S. 5.
[14] ebd.
[15] ebd.
[16] ebd.
[17] ebd. S. 6.
[18] Das Grundgesetz. Kommentar für die politische Bildung von Dieter Hesselberger. 10., überarbeitete Auflage. Neuwied: Luchterhand-Verlag, 1996. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung Bonn. S. 84.
[19] vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 1996. S. 7.
[20] ebd.
[21] ebd. S. 7, 8.
[22] ebd. S. 1.
[23] ebd.
[24] Das Grundgesetz, 1996. S. 163.
[25] vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 1996. S. 12.
[26] ebd. S. 15.
[27] ebd. S. 16.
[28] ebd.
[29] vgl. ebd.
[30] Das Grundgesetz, 1996. S. 101.
[31] Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 1996. S. 17.
[32] ebd. S. 18.
[33] ebd. S. 19.
[34] vgl. ebd.
[35] ebd.
[36] ebd.
[37] ebd. S. 20.
[38] Das Grundgesetz, 1996. S. 110.
[39] Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 1996. S. 22.
[40] ebd. S. 23/24.
[41] ebd. S. 24.
[42] ebd.
[43] Frankenberg, Günter; 1996. Hüter einer Verfassung einer Zivilgesellschaft. In: Kritische Justiz. Vierteljahrsschrift. Jahrgang 28. Heft 1, 1996. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. S. 5.
[44] vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 1996. S. 26.
[45] ebd.
- Citar trabajo
- Torsten Schmidtke (Autor), 1997, Das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99358
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