Denken und Gedächtnis
Gedächtnis
In den ersten Monaten des Lebens eines Kindes wachsen im Gehirn die Neuronen netzartig zu einem festen Grundgerüst zusammen. Aufgrund von Genen und Reizen der Aussenwelt erhält das Gehirn jedes Menschen seine individuelle anatomische Verdrahtung. Zwischen den Hirnzellen entsteht so ein Grundmuster von Verknüpfungen (Assoziationen), in dem später alles Erlebte gespeichert wird. Unter Assoziation versteht man eine Gedächtnisspur, die aus der Verbindung zweier oder mehrerer Elemente besteht und dazu führt, dass bei der Präsentation eines Reizes das dazugehörige Element bewusst wird.
Die im Gehirn ankommenden Impulse unserer Wahrnehmung werden zwar in bestimmten Gehirnarealen (Wahrnehmungsfeldern, s. Abbildung) aufgenommen. Von hier werden sie zu den über die ganze Grosshirnrinde verteilten Assoziationsfeldern weitergeleitet, wo sie dann verarbeitet werden und wieder abgerufen werden können. Durch vielfache Verknüpfung werden sie im ganzen Gehirn verstreut gespeichert. Etwa 500 Billionen Schaltstellen (Synapsen) ermöglichen das gezielte Denken und Erinnern. Die Erinnerung ist also nicht wie die Wahrnehmungsfelder lokalisierbar. Wenn ein bestimmtes Wahrnehmungsfeld ausfällt, ist damit auch die Aufnahme durch den betreffenden Eingangskanal gestört, nicht aber die Erinnerung an bspw. früher Gesehenes.
Wie wird Information zu Wissen, auf das wir jederzeit zurückgreifen können? Die ungeheure Vielfalt von Information wird durch ein dreistufiges Verfahren im Gehirn gefiltert:
1. Das Ultrakurzzeitgedächtnis (UZG): Alle Sinneswahrnehmungen kreisen zuerst als elektrische Impulse in unserem Gehirn, ohne dass wir ihrer bewusst werden. Wenn sie nach 10-20 Sekunden noch keine Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, oder sich die Information sich nicht an eine bereits vorhandene Bahnung / Assoziation angliedern lässt, klingen sie wieder ab. Eine grosse Menge von Informationen wird so ausgefiltert.
Das UZG, auch sensorisches Gedächtnis genannt dient vor allem der Wahrnehmung. Es hält Reize, z.B. Buchstaben fest, so dass wir sie als zusammenhängende Wörter wahrnehmen und verstehen können.
2. Das Kurzzeitgedächtnis (KZG): Informationen des UZG werden vom KZG übernommen, falls sie auf bereits vorhandene Interessen, Motivationen oder Assoziationen treffen. Diese Information wird bioelektriswch kodiert und bleibt während ca. 20 Minuten derart bestehen. Das KZG gibt Informationen, die intensiv sind, oder mehrmals wiederholt werden, an das Langzeitgedächtnis weiter. Das KZG hilft uns bspw. einem Gespräch zu folgen. Unser Erleben besteht dank dem KZG nicht aus einer Folge isolierter Einzelmomente, sondern ist ein kontinuierlich fliessender Erlbenisstrom.
3. Das Langzeitgedächtnis (LZG): Das LZG speichert die Informationen unauslöschlich durch Bildung von dauerhaften chemischen Verbindungen (Gedächtnisspuren). Damit diese später einfach abrufbar sind, müssen sie mit möglichst vielen anderen Informationen, Vorstellungen, Gefühlen und Bildern vernetzt sein. Denn die beim Lernen gespeicherte Information besteht nicht nur aus dem eigentlichen Lerninhalt (Primärinformation), sondern auch aus allen mitgespeicherten Wahrnehmungen (Sekundärinformation).
Im LZG einer erwachsenen Person sind 500 000 mal so viele Informationen wie in den grössten mehrbändigen Enzyklopädien gespeichert. An den allergrössten Teil davon erinnern wir uns nicht. Dieses passive Wissen wird erst aktiv, wenn wiederholt wird, oder mit einer aktuellen Information verknüpft wird.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wichtig für effizientes Lernen sind Pausen, und diese sind umso nützlicher, je mehr sich die Pausentätigkeit vom Lerninhalt unterscheidet. Verschiedenartige Lerninhalte können sich, wenn sie zeitlich nahe aufeinanderliegen oder einander sehr ähnlich sind, konkurrieren: die Assoziationen die biochemisch geknüpft werden sollen hemmen sich gegenseitig.
Alle 30 - 45 min sollen kurze Pausen und alle 2 Stunden längere Pausen von 20 - 30 min eingeschaltet werden. Zudem gibt es Untersuchungsergebnisse, die zeigen, dass das Lernen vor dem Einschlafen besonders effizient ist. Die dahinterliegenden Wirkmechanismen konnten jedoch noch nicht eruiert werden.
4. Vergessen: Vergessen setzt voraus, dass ein Inhalt einmal gelernt und im
Gedächtnis festgehalten wurde. Man spricht dabei von einer Gedächtnisspur (vgl. Freuds Bahnung), die der gelernte Inhalt hinterlässt, und meint die durch den Lernvorgang hervorgerufene physiologische Veränderung. Da diese Veränderungen noch weitgehend unbekannt sind, handelt es sich bei der Gedächtnisspur um ein hypothetisches Konstrukt.
Aus Schermer (1991), S. 109.
Die sogenannte Vergessenskurve ist eines der bekanntesten Ergebnisse der älteren Gedächtnispsychologie. Anhand von Experimenten gewonnen, veranschaulicht sie das über die verschiedenen Gedächtnisarten Gesagte. In den ersten 20 Minuten nach der Einprägung tritt der grösste Gedächtnisverlust ein (Übergang KZ- zum LZG), in der Folge nimmt er markant ab. Wie versucht man den Verlust von Informationen aus dem LZG zu erklären? Die sogenannte Spurenzerfallstheorie besagt, dass eine Gedächtnisspur kontinuierlich mit der Zeit zerfällt, falls sie nicht aktiviert wird. Die sogenannte Interferenztheorie dagegen postuliert, dass Vergessen ein aktiver Prozess ist. Mit dem Lernen neuer Inhalte werden schon bestehende Assoziationen geschwächt, neue Lerninhalte konkurrieren mit alten. Ein temporäres sich-nicht-erinnern-können kann durch das Fehlen von situationsbedingten Hinweisreizen erklärt werden.
Wissensorganisation
Begriffsbildung: Mit Hilfe der Begriffsbildung sind wir in der Lage, die uns umgebende Wirklichkeit zu ordnen. Als wesentliche Funktion der Begriffsbildung ist zum einen die Reduktion der im Wahrnehmungsprozess aufgenommenen Information in zusammenfassende Einheiten zu nennen, sowie zum anderen die Möglichkeit, bislang noch unbekannte Information sinnvoll in bestehendes Wissen zu integrieren. Folgende Charakteristika von Begriffen (die auch für die noch abstrakteren Schemen gelten) lassen sich beobachten: Die hierarchische Strukur von Begriffssystemen ermöglicht es, allgemeinere, bzw. spezifischere Begriffe zu bilden. Ein hierarchisches Netz hat zwei Dimensionen, nämlich die horizontal angelegte Eigenschaftscharakterisierung (hat-Relationen), sowie die vertikal angelegten ist-Relationen, welche die Hierarchie determinieren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Prototypen sind als ein weiteres Merkmal natürlicher Begriffsbildung anzuführen. Einige Objekte erscheinen als charakteristischere Vertreter eines Begriffes als andere. Man nimmt heute an, dass keine einzelnen Objekte, sondern nur besonders typische, abstrakte Vertreter eines Begriffs, also Prototypen gespeichert werden, die als Referenzen dienen. Unter Kreuzklassifikation versteht man die Tatsache, dass ein Objekt in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation vielen unterschiedlichen Begriffskategorien zugeordnet werden kann. So lässt sich eine Rose z.B. als Geschenk, Tischschmuck, usw. verstehen.
Denken
Das Wort Denken gehört zu den häufig gebrauchten Begriffen unserer Alltagssprache. In der Wissenschaft nimmt sich die kognitive Psychologie (als Teilgebiet der allgem. Psychologie) dieses Phänomens an: Kognition ist ein Sammelbegriff für alle Vorgänge oder Strukturen, die mit dem Erkennen zusammenhängen, wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Denken, Gedächtnis, Sprache, usw.
Folgende hauptsächlichen Denkformen können unterschieden werden:
1. Anschauliches, analoges Denken: Denken in bildhaften, anschaulichen Repräsentationen, vor allem bei Kindern sehr ausgeprägt.
2. Abstraktes, begriffliches Denken: Denken in nicht mehr vorstellungsfähigen Repräsentationen.
3. Reproduktives Denken: wir greifen beim Problemlösen auf einen Schatz von bewährtem, altem Wissen zurück (z.B. Vokabeln lernen).
4. Produktives Denken: altes, reproduzierbares Wissen wird auf eine neue Weise zueinander in Beziehung gesetzt, damit neuartige Problemsituationen bewältigt werden können (z.B. mathematische Knobeleien). Konvergentes Denken meint dabei die Ausrichtung auf eine mögliche Lösung (z.B. in Prüfungen). Beim divergenten Denken sind neue und ungewöhnliche Assoziationen gefragt (z.B. kreative Leistungen).
Zu einer Definition von Denken und Problemlösen gehören folgende Aspekte:
a) Denken ist ein zielgerichteter Prozess, es ist aus einer Problemstellung motiviert und orientiert sich an deren Lösung.
In neuartigen Situationen, zu deren Bewältigung wir weder angeborene noch erlernte Verhaltensweisen zur Verfügung haben, setzen wir die psychische Funktion des Denkens bewusst ein. Diese Fähigkeit macht das Lernen durch Versuch und Irrtum auf einer abstrakten, geschützten Ebene möglich, was viel effizienter und ein entscheidender evolutionärer Vorteil ist.
b) Denken ist nicht allein auf das Erkennen von Reizen beschränkt. Denken ist eine von Raum und Zeit unabhängige Manipulation interner Repräsentationen. Während die Wahrnehmung über das Hier und Jetzt informiert, macht uns das Denken von Raum und Zeit unabhängig. Die Welt wird durch Abstraktionen im Denkprozess simuliert, unabhängig von momentanen Gegebenheiten.
c) Denken kann bewusst oder unbewusst ablaufen.
Wir alle kennen plötzliche Aha-Erlebnisse oder den Ausspruch `ich muss noch eine Nacht darüber schlafen`. Man nimmt an, dass während der sogenannten Inkubationszeit die Bindung an die emotional favorisierte, aber erfolglose Lösung aufgegeben wird. Zudem sinkt bei unbewussten Prozessen die Realitätsorientierung, wodurch Elemente schon bei entferntester Ähnlichkeit assoziiert werden können. Dies ermöglicht eine kreative, alogische Problemlösung.
d) Denken folgt nicht immer den Gesetzen der Logik.
Denkprozesse sind stark durch Heuristiken bestimmt. Heuristiken sind grobe Faustregeln, die komplexes Problemlösen auf einfaches Urteilen reduzieren. Sie reduzieren die zu berücksichtigende Datenmenge und werden meist unreflektiert angewandt. Mit dem Halo-Effekt, der Ankerbildung der Prototypenbildung und der selektiven Wahrnehmung sind wir Heuristiken schon im Zusammenhang mit der Wahrnehmung begegnet.
e) Denken verarbeitet vorhandene Informationen: es setzt diese in Beziehung zueinander.
Voraussetzung des Denkens sind abrufbare Informationen, Repräsentationen der Aussenwelt. Der Denkprozess geht in der kreativen, neuartigen Verknüpfung von Information jedoch weit über die blosse Erinnerungsleistung hinaus.
Die Psychologie arbeitet hier eng mit den Erforschern künstlicher Intelligenz zusammen. So ersetzt der Begriff der Informationsverarbeitung auch langsam denjenigen des Denkens.
Was ist Intelligenz?
Der Begriff der Intelligenz bezieht sich auf die Qualität des Denkprozesses in neuartigen Situationen, also auf die Adäquatheit und Verfügbarkeit von abstrakten kognitiven Repräsentationen. "Intelligenz ist der Leistungsgrad der psychischen Funktionen bei ihrem Zusammenwirken in der Bewältigung neuer Situationen." (Rohracher 1965, S.352) Die Qualität einer erdachten Lösung hängt immer davon ab, wie adäquat die Merkmale und Interaktionen der gedanklichen Symbole repräsentiert sind.
Ebenso hängt die Qualität davon ab, wie verfügbar diese Repräsentationen im Moment sind, das heisst, wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, dass die benötigten Gedächtnisstrukturen / Schemata aktiviert werden. Diese Wahrscheinlichkeit ist wiederum abhängig von der Beschaffenheit der aktuellen Umgebung, sind Reize vorhanden, welche die benötigten Schemen aktivieren? Wir sehen, dass Denkstrukturen besser verfügbar sind, je komplexer und vielschichtiger sie verankert / assoziiert sind - je besser vernetzt, desto höher die Wahrscheinlichkeit einer Aktivierung.
Denkstörungen
Störungen im Denken können auf drei ineinandergreifenden Ebenen analysiert werden:
1. Formale Denkstörungen Sowohl die Ordnung der Denkinhalte, wie auch deren interne Logik sind beeinträchtigt. Personen mit formalen Denkstörungen lassen zwar immer wieder zentrale Ideen oder ein bestimmtes Thema anklingen, aber die Bilder und Gedankenfragmente stehen zusammenhangslos nebeneinander. Ein schizophrener Patient hat diesen Zustand wie folgt beschrieben: "Meine Gedanken gehen ihre eigenen, wirren Wege. Ich fange an, über irgend etwas nachzudenken oder zu sprechen, aber ich komme nie da an, wo ich hin will. Statt dessen marschiere ich in die falsche Richtung und werde unterwegs von allen möglichen Dingen aufgehalten, die zwar irgendwie mit dem, was ich eigentlich sagen will, zusammenhägen, aber ich weiss nicht, wie. Mein Problem ist, dass ich zu viele Gedanken habe. Wenn Sie an irgend etwas denken, z.B. an diesen Aschenbecher, dann denken Sie bloss ·Oh ja, das ist da, um meine Zigarette reinzulegen`, ich würde das auch denken, aber gleichzeitig noch ein Dutzend andere dinge, die irgendwie damit zu tun haben. " (McGhie & Chapman, 1961, S.108)
2. Inhaltliche Denkstörungen: Diese ergeben sich daraus, dass die Denkinhalte selbst bizarr, ungewöhnlich und nur schwer nachvollziehbar sind. Beispiele dafür sind Wahnphänomene, Halluzinationen und Realitätsverneinungen.
Bei den meisten Schizophrenen ist eine Art von Verfolgungswahn zu beobachten, alle sprechen über einen, jede Geste anderer hat mit einem zu tun, Gedanken für alle sichtbar, usw. 97% der Schizophrenen können zudem ihren gesundheitlichen Zustand nicht im geringsten einschätzen (keine Krankheitseinsicht).
3. Kognitive Strukturierung: Wie differenziert strukturiert eine Person Informationen verfügbar hält, hat einen wesentlichen Einfluss auf die Qualität der Denkfähigkeit. Dabei spielen die Anzahl der Dimensionen nach denen kodiert wir, der Auflösungsgrad mit dem auf einer Dimension unterschieden wird und die Vernetztheit der Dimensionen als integrierendes Moment wichtige Rollen. Eine hohe Dkognitive Strukturiertheit wirkt sich in differenzierter Problemwahrnehmung, Entwicklung neuer Problemperspektiven und in selbstverantwortlichem Handeln aus. Depressive Menschen denken oftmals in dichotomen Mustern (schwarz/weiss) und Übergeneralisierungen (ich bin zu allem unfähig). Phobien (inhaltsspezifische Ängste) werden nicht in eine komplexe Struktur eingebettet. Ein Schizophrener beschreibt die Struktur seiner Wahrnehmung: "Ich kann mich nicht auf das Fernsehen konzentrieren, weil ich Bild und Ton nicht gleichzeitig aufnehmen kann. Ich kann nicht zwei Sachen auf einmal aufnehmen, besonders wenn ich gleichzeitig hinhören und hinsehen muss. Andererseits scheine ich zuviel auf einmal aufzunehmen, und dann kann ich nicht damit fertig werden und finde keinen Sinn darin. Ich fühle mich ganz hilflos, als ob die Dinge auf mich einstürmten und ich die Kontrolle verloren hätte. " (ebd, S.106)
- Citation du texte
- David Rudolf (Auteur), 1998, Denken und Gedächtnis, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99342
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