Die Arbeit hat zum Ziel, beim Lehrerkollegium einen offeneren und mutigeren Umgang mit der Behandlung des Argumentierens im Mathematikunterricht im Rahmen Natürlicher Differenzierung zu erreichen. Dabei gibt sie einen theoretischen Hintergrund für die Erstellung einer Handreichung zur Förderung des mathematischen Argumentierens von Grundschülern mit Hilfe Substanzieller Lernumgebungen.
In der heutigen Lehrerausbildung wird auf einen sensibilisierten Umgang mit Heterogenität verstärkt wertgelegt. Neben der Aufklärungsarbeit folgte in den vergangenen Jahren die Entwicklung und Erprobung entsprechend modernisierter Schul- und Unterrichtskonzepte, um der Heterogenität der Lernenden gerecht werden zu können.
In diesen Konzepten kristallisiert sich – auf verschiedenen Weisen angedacht – die Differenzierung als Antwort auf die Unterschiedlichkeit heraus. Insbesondere die Unterrichtspraxis des Offenen Unterrichts gilt in diesem Kontext als „[…] Bezugspunkt zeitgemäßer Didaktik, welche der Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler besser entgegenkomme“.
Mittlerweile stehen hierzu zahlreiche fächerübergreifende Literatur und fächerspezifische Praxisbeispiele zur Verfügung – so auch für den Mathematikunterricht [MAU] der Primarstufe. Ein hier häufig vorgestelltes Konzept ist das der Substanziellen Lernumgebungen [SLU], welches konkreter der Natürlichen Differenzierung – der Differenzierung vom Kind aus – zugeordnet werden kann.
Zu dieser Examensarbeit gehört die Handreichung mit dem Titel "Förderung des mathematischen Argumentierens in der Grundschule. Eine Handreichung zur Schaffung von Substanziellen Lernumgebungen". Diese ist nicht in dieser Arbeit enthalten. Zu finden ist sie unter folgendem Link: https://www.grin.com/document/1005547
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Vorbemerkungen
1 Einleitung
2 Substanzielle Lernumgebungen im Mathematikunterricht
2.1 Kontexteinbettung und Bedeutung
2.1.1 Konstruktivismus
2.1.2 Heterogenität und die Natürliche Differenzierung
2.2 Begriffsklärung
2.3 Aufgabenformate von Substanziellen Lernumgebungen
2.3.1 Begriff und Kriterien
2.3.2 Tipps zur Konstruktion und Auswahl
2.4 Vorgehen beim Einsatz von Substanziellen Lernumgebungen
3 Mathematisches Argumentieren in der Grundschule
3.1 Bedeutung des Argumentierens
3.2 Verortung in den Bildungsstandards und im Lehrplan
3.3 Begriffsklärung
3.3.1 Argumentieren, Begründen und Beweisen
3.3.2 Argumentationskompetenzen und -prozesse, Argumentation und Argumente
3.4 Wie argumentieren Grundschüler*innen? - Empirische Befunde
3.5 Förderung der Argumentationskompetenzen von Grundschüler*innen
3.5.1 Aufgaben mit Argumentationspotenzial
3.5.2 Argumentation und Sprachförderung
3.5.3 Vorgehen bei der Umsetzung der Argumentationsförderung mit Hilfe Substanzieller Lernumgebungen
4 Konzeption einer Handreichung
4.1 Begründung des Vorhabens
4.1.1 Allgemeines zur Methode der Befragung
4.1.2 Rahmenbedingungen und Datengewinnung
4.1.3 Datenauswertung und erste Schlussfolgerungen
4.2 Konzeption einer Handreichung
4.2.1 Vorstellung und Begründung von Kriterien zur Analyse und Gestaltung
4.2.2 Exemplarische Betrachtung bereits bestehender Empfehlungen
4.2.3 Folgerungen für den Aufbau der Handreichung
5 Fazit
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Anlagenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
AB Ausnahmebedingung innerhalb eines Arguments
AF Aufgabenformat
D Datum innerhalb eines Arguments
FF Forschungsfrage
FG Fragegruppe
K Konklusion innerhalb eines Arguments
LU Lernumgebung
MAU Mathematikunterricht
N Kompetenzniveau bezogen auf mathematisches Argumentieren
S Stützung innerhalb eines Arguments
SAF Substanzielles Aufgabenformat
SLU Substanzielle Lernumgebung
SR Schlussregel innerhalb eines Arguments
SVBWF Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung
Bemerkung: Sowohl Singular- als auch Pluralformen sowie deklinierte Formen sind inbegriffen.
Vorbemerkungen
Im Zuge besserer Lesbarkeit wird innerhalb dieser Wissenschaftlichen Arbeit stellenweise nur das generische Maskulin verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechtsidentitäten sind dabei ausdrücklich eingeschlossen, sofern nicht explizit eine Unterscheidung vorgenommen wird.
1 Einleitung
In den letzten Jahren vollzog sich in der deutschen Gesellschaft ein Paradigmenwechsel, der auch im Schulsystem eine Umorientierung implizierte (Budde, 2018). Wachsende Zuwanderungszahlen, das immer als relevanter betrachtete Thema der Inklusion oder auch die Medialisierung der Kindheit und des Alltags seien als beispielhafte Anlässe genannt. Als Reaktion darauf wurde und wird der Fokus vom Streben nach Standardisierung und Generalisierung auf die Förderung und das Nutzen der Individualität des Einzelnen verlegt. Budde (2015) spricht von der sogenannten „Heterogenitätsorientierung“ (S. 22). Im Zuge dieses Wandelns wird in der heutigen Lehrerausbildung auf einen sensibilisierten Umgang mit Heterogenität verstärkt wertgelegt. Neben der Aufklärungsarbeit folgte zudem in den vergangenen Jahren die Entwicklung und Erprobung entsprechend modernisierter Schul- und Unterrichtskonzepte, um der Heterogenität der Lernenden gerecht werden zu können. In diesen Konzepten kristallisiert sich - auf verschiedenen Weisen angedacht - die Differenzierung als Antwort auf die Unterschiedlichkeit heraus. Insbesondere die Unterrichtspraxis des Offenen Unterrichts gilt in diesem Kontext als „[...] Bezugspunkt zeitgemäßer Didaktik, welche der Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler besser entgegenkomme“ (Budde, 2018). Mittlerweile stehen hierzu zahlreiche fächerübergreifende Literatur und fächerspezifische Praxisbeispiele zur Verfügung - so auch für den Mathematikunterricht [MAU] der Primarstufe. Ein hier häufig vorgestelltes Konzept ist das der Substanziellen Lernumgebungen [SLU], welches konkreter der Natürlichen Differenzierung - der Differenzierung vom Kind aus - zugeordnet werden kann. Diese SLU zielen auf die Förderung und Forderung der in den Bildungsstandards festgehaltenen inhaltsbezogenen und allgemeinen mathematischen Kompetenzen ab. Das Argumentieren als eine dieser allgemeinen mathematischen Kompetenzen wird dabei jedoch, so erklärt Brunner (2014), innerhalb von SLU und auch in anderweitigen Unterrichtsformen praktisch eher selten thematisiert (S. 2). Sofern die Behandlung nicht gänzlich im Unterricht ausbleibt, scheitert es häufig an der Regelmäßigkeit des Einsatzes von Lernangeboten zum Argumentieren im MAU. Als einen wesentlichen Grund hierfür nennt Brunner (2014), dass diese Kompetenz fälschlicherweise nur als Betätigungsfeld für begabte Schüler*innen betrachtet wird und neben dem auch viele Lehrpersonen unsicher in dieser anspruchsvollen Tätigkeit agieren (S. 2). Um den in den Bildungsstandards festgelegten Ansprüchen besser gerecht werden zu können, empfiehlt es sich, den Lehrpersonen entsprechende Unterstützungshilfen anzubieten.
An dieser Stelle greift das Ziel der hier vorliegenden Wissenschaftlichen Arbeit. Damit beim Lehrerkollegium ein offenerer und mutigerer Umgang mit der Behandlung des Argumentie- rens im Mathematikunterricht im Rahmen Natürlicher Differenzierung erreicht werden kann, erfolgt im Kontext der Aufklärung und Fortbildung die Erstellung einer Handreichung zur Förderung des mathematischen Argumentierens von Grundschüler*innen mit Hilfe Substanzieller Lernumgebungen. In dieser sollen sowohl wesentliche theoretische Grundlagen als auch konkrete Anweisungen und Beispiele für die Umsetzung im Unterricht dargestellt werden. Um zur Fundierung dieser Handreichung beizutragen, folgt im Rahmen der Erstellung die Beantwortung folgender Forschungsfragen [FF]:
FF1 Welcher Wissensstand über Substanzielle Lernumgebungen im Mathematikunterricht kann der Theorie und der Forschung entnommen werden?
FF2 Welche Kenntnisse über die mathematischen Argumentationsfähigkeiten in der Grundschule gehen aus der Theorie und Forschung hervor?
FF3 Inwieweit ist Grundschullehrpersonen das Konzept der Substanziellen Lernumgebungen - speziell zur Förderung der Argumentationsfähigkeiten von Grundschü- ler*innen - bekannt?
FF4 Welche Empfehlungen stehen den Lehrpersonen der Primarstufe zur Förderung der mathematischen Argumentationsfähigkeiten mit Hilfe Substanzieller Lernumgebungen exemplarisch zur Verfügung?
FF4.1 Wie sind diese Empfehlungen aufgebaut?
FF4.2 Inwieweit spiegeln sie theoretische Kenntnisse und Forschungsbefunde wider?
Zur Beantwortung dieser Fragen und zur Erreichung des gesteckten Ziels gliedert sich die Arbeit in zwei Bereiche. Im ersten Teil erfolgt die Darlegung theoretischer Grundlagen und exemplarischer Forschungsbefunde mit FF1 und FF2 als zugrundeliegenden Leitfragen. Zunächst liegt dabei der Schwerpunkt auf den SLU im MAU (Kap. 2). Konkreter wird dieses Konzept in den Kontext des Konstruktivismus und der Natürlichen Differenzierung eingebettet und parallel dessen Bedeutung für den Unterricht erläutert. Anschließend erfolgt die Klärung der Begrifflichkeit „Substanzielle Lernumgebung“ sowie die vertiefende Auseinandersetzung mit den Aufgabenformaten als dessen Kern. Darüber hinaus wird die didaktischmethodische Gestaltung des Konzepts thematisiert. Der zweite Fokus des ersten Teils liegt auf der Darstellung theoretischer Grundlagen zum mathematischen Argumentieren in der Grundschule (Kap. 3). Nachdem zunächst die Bedeutung des Argumentierens herausgestellt wird, schließt sich die Verortung in den Bildungsstandards und im Lehrplan an. Weiter folgen die Begriffsklärungen, -zusammenhänge und -abgrenzungen mit den im Kontext des Argumentierens und der Argumentationskompetenz häufig genannten Termini. Im Zuge dessen wird der Aufbau mathematischer Argumente auf Basis des häufig rezitierten Toul- mischen Modells vorgestellt. Es schließen sich Befunde bezüglich der Art und Weise, wie Grundschüler*innen im Mathematikunterricht argumentieren, an. Die Thematisierung der Förderung der Argumentationskompetenzen von Lernenden in der Primarstufe bildet den Abschluss dieses Kapitels. Hier stellen Kenntnisse über Aufgaben mit Argumentationspotenzial, die Bedeutung der Sprachförderung sowie das Vorgehen bei der Umsetzung die konkreten Inhalte dar.
Der zweite Teil (Kap. 4) der Examensarbeit konzentriert sich auf die Beantwortung von FF3 und FF4 sowie die Erreichung des Ziels. Ausgangspunkt bildet eine durchgeführte Bedarfsumfrage, deren Beschreibung und Auswertung. Gefolgt von der Betrachtung zweier bereits existierender Empfehlungen nach eigens aufgestellten und begründeten Kriterien werden Schlussfolgerungen für die Konzeption der selbst zu erstellenden Handreichung gezogen. In diesem Rahmen schließen sich Bemerkungen zur Verbreitung der aufbereiteten Informationen an.
Den inhaltlichen Abschluss bildet das Fazit (Kap. 5). Hier erfolgt zum einen eine reflexive Auseinandersetzung mit dem Entstehungsprozess dieser Arbeit. Zum anderen werden die Zusammenfassung der Wissenschaftlichen Arbeit sowie weiterführende Gedanken im Ausblick präsentiert.
Die zu erstellende Handreichung wird erst nach der Eidesstattlichen Erklärung - anstatt bereits im Anlagenkapitel - mit eigener Formatierung und Seitenzählung beigefügt, um ihren autonomen Charakter zu untermauern.
2 Substanzielle Lernumgebungen im Mathematikunterricht
2.1 Kontexteinbettung und Bedeutung
2.1.1 Konstruktivismus
Wie Siebert (2005) äußert, liegt das konstruktivistische Denken in vielerlei Disziplinen - so auch in der Pädagogik - „im Trend" (S. 12). Reich et al. (2005) schreiben, dass sich insbesondere in den letzten Jahren die Konstruktivistische Didaktik als anstrebenswert herausbildete (S. 1). Auch nach 15 Jahren scheint dem noch so zu sein.
Die Kernthese des Konstruktivismus erläutert Siebert (2005) sinngemäß wie folgt: Menschen können die von ihnen als Anregung oder Störung wahrgenommenen Umweltimpulse auf Basis kognitiver und emotionaler Strukturen umwandeln. Dabei gleicht die so erzeugte Wirklichkeit einer Konstruktion beziehungsweise Deutung (S. 12). In der Konstruktivistischen Didaktik wird dem angelehnt Lernen „[...] als eigenständige Konstruktionsleistung des Lernenden" auf Basis der Wahrnehmung eines Gegenstandes, der Handlung mit ihm und seiner kommunikativen Aushandlung verstanden (Meyer & Jank, 2006, S. 286ff). Der Einzelne konstruiert im Zuge dieses Lernverständnisses aktiv den Sinn des Lerngegenstandes selbst, anstatt diesen vom Experten gelehrt zu bekommen. Über diesen Kerngedanken hinaus gehen folgende Merkmale Konstruktivistischer Didaktik aus der Literatur hervor:
- die Unterstützung von Selbstorganisation und selbstgesteuertem Lernen,
- das lernerzentrierte und prozessorientierte Vorgehen,
- die Rolle der Lehrpersonen als Begleiter und Moderatoren,
- die Perspektivenvielfalt als Ziel,
- die Ermutigung zur Risikobereitschaft und zur Fehlertoleranz (Reich et al., 2005, S. 12; Siebert, 2005, S. 21, S. 108; Wollring, 2007, S. 1f).
Damit das aktiv-konstruktive Lernen gelingt, bedarf es eines Unterrichtsrahmens, in dem selbstbestimmtes, aktiv-entdeckendes und soziales Handeln gefördert werden (Wollring, 2007, S. 1f). Das Konzept der Substanziellen Lernumgebungen setzt an diesem Punkt an.
2.1.2 Heterogenität und die Natürliche Differenzierung
Vor 16 Jahren wurde die Heterogenität zur neuen Leitidee der Erziehungswissenschaften ernannt (Wenning, 2004, zitiert nach Budde, 2015, S. 22). Während ihre Berücksichtigung damals noch einer programmatischen Forderung glich, stellt sie heute eine „[...] routinisierte pädagogische Ordnung von Unterricht" (Budde, 2015, S. 22) im deutschen Schulwesen dar. Budde (2015) definiert Heterogenität „[...] als Differenz zwischen wenigstens zwei Elementen [...]“ (S. 23). Bezogen auf die Grundschulpädagogik sind diese Differenzen zwischen Lernenden als Elemente nicht nur von Natur aus gegeben, sondern auch von ihrer Umwelt sozial mitkonstruiert (Budde, 2018). Neben dem ist Heterogenität immer im Verhältnis zu seinem Komplementär, der Homogenität, zu sehen, denn in sozialen Vergleichen entstehen Differenz und Gleichheit parallel. Damit gerät Schule in eine Dilemmasituation: Einerseits gilt es, alle Kinder gleichberechtigt zu behandeln und gleiche Voraussetzungen etwa im Zuge der Leistungsüberprüfung zu schaffen. Andererseits möchte Schule als pädagogische Einrichtung die Schüler*innen individuell fördern und sie bei der Entfaltung ihrer persönlichen Fähigkeiten unterstützen. Daran schließt sich die Frage an, wie mit der Heterogenität einer Lerngruppe alternativ umgegangen werden kann.
Hier setzt, wie in der Einleitung angedeutet, das Konzept der Differenzierung an. Krauthausen und Scherer (2014) beschreiben Differenzierungsmaßnahmen in diesem Sinn als Konsequenz „[...] der Akzeptanz von Lerngruppen als eine [...] Gemeinschaft verschieden denkender, fühlender und lernender Individuen“ (S. 224). Konkreter wird zwischen Äußerer und Innerer Differenzierung unterschieden. Erstere umfasst inter- und intraschulische Maßnahmen zur Selektierung von Lernenden in möglichst homogene und langfristig angelegte Gruppen (Scholz, 2010, S. 14). Die so hergestellten Gruppen sind jedoch in der Realität keineswegs homogen, sodass es weiterer Differenzierungsmaßnahmen bedarf - die der Inneren Differenzierung. Sie umfasst nach Vock und Gronostaj (2017) „[...] didaktische, methodische und organisatorische Maßnahmen innerhalb von Klassen, die darauf abzielen, Lernumgebungen bereitzustellen, die dem Vorwissen, den Interessen und Lernbedürfnissen der Schüler [...] entsprechen“ (S. 65). Mittlerweile haben sich viele Möglichkeiten für die Lehrpersonen entwickelt, ihren Unterricht binnendifferenziert zu gestalten - etwa über das Variieren des Unterstützungsausmaßes, sozialer und methodischer Aspekte oder auch hinsichtlich des zeitlichen und stofflichen Umfangs (Meyer-Willner, 1979, S. 61). Eine immer wieder aufgeführte Kritik an diesem Punkt ist das Zurückfallen in tradierte Muster, insofern, dass sich die Lehrerzentrierung lediglich in das Aufgabenmaterial und die darin meist vorgeschriebenen Lösungswege verlegt (Nührenbörger, 2010, S. 13; Krauthausen & Scherer, 2014, S. 226f; Krauthausen & Scherer, 2016, 24f).
Aus unter anderem diesem genannten Aspekt entwickelte sich ein weiteres, insbesondere in der Mathematikdidaktik bekanntes Konzept: die Natürliche Differenzierung. Wittmann & Müller (2004) beschreiben diese als Differenzierung, welche vom Kind ausgeht (S. 15). Konträr zur üblich vorgefertigten Zuteilung ergibt sich die Differenzierung im Prozess der Lerntätigkeit der Kinder selbst (Käpnick, 2014, S. 195). Konkreter erklären Krauthausen und Scherer (2014, 2016): Alle Schüler*innen arbeiten am gleichen, didaktisch-methodisch eingerahmten Lerngegenstand. Ein Arbeitsblatt als Basis wird möglichst allen gerecht, sodass keine Unmenge an separaten Materialien von Nöten ist. Die Lernangebote sollten dabei nicht kleinschrittig, sondern so aufbereitet sein, dass ihr Inhalt ganzheitlich und in seiner Komplexität abgebildet wird. Der Ansatzpunkt und das Niveau der Beantwortung sind frei wählbar. Darüber hinaus besteht Entscheidungsfreiheit bei der Wahl der Hilfsmittel, der Darstellungsweisen, der Variation der Problemstellungen oder auch der Menge an Rechenbeispielen (S. 228f; S. 50f). Da diese Form des Differenzierens beim natürlichen Lernen außerhalb der Schule selbstverständlich ist, spricht man von „Natürlicher Differenzierung“. Außerdem kommen der Kommunikation und der Diskussion über Lösungswege im Rahmen eines tieferen Eindringens in den Lerngegenstand und der Anbahnung von Kompetenzerweiterung besondere Bedeutung zu.
Gerade im MAU, in dem häufig die Differenzierung bei der Unterscheidung von Bearbeitungszeit und Umfang reproduktiver Aufgaben endet, bietet es sich an, natürlich zu differenzieren und den individuell-konstruktivistischen sowie sozial-kommunikativen Lehr-Lern- prozessen wieder mehr Beachtung zu schenken (Nührenbörger, 2010, S. 13). Krauthausen und Scherer (2016) führen an dieser Stelle speziell die SLU auf und schreiben, dass sie sich im besonderen Maß dazu anbieten, die Absichten und Merkmale der Natürlichen Differenzierung im MAU umzusetzen (S. 110). Im Zuge ihrer nachhaltigen Wirksamkeit werden die SLU, ihre zu erfüllenden Kriterien und der Umgang mit ihnen nun folgend vertieft aufgeführt.
2.2 Begriffsklärung
Bei den Lehrpersonen liegen häufig unterschiedliche Verständnisse zum Begriff „Substanzielle Lernumgebung“, meist gleichgesetzt mit „Lernumgebung [LU]“, vor. Auch in der Literatur werden differente Ansichten vertreten. Krauthausen und Scherer (2014) stellen diesbezüglich das „[...] pädagogische Verständnis, bei dem es v.a. darum geht, den Kindern eine angenehme Lernatmosphäre zu ermöglichen [...]“ (S. 196), vor. Neben dem thematisieren die Autoren ein Verständnis, das sich auf das methodisch-didaktische Arrangement bezieht (ebd., S. 196). Reinmann und Mandl (2006) verstehen in diesem Sinn eine LU als: „[...] Arrangement von Unterrichtsmethoden, Unterrichtstechniken, Lernmaterialien, Medien. Dieses Arrangement ist durch die besondere Qualität der aktuellen Lernsituation in zeitlicher, räumlicher und sozialer Hinsicht charakterisiert und schließt letztlich auch den jeweiligen kulturellen Kontext mit ein“ (S. 615).
Diese Begriffserklärung beinhaltet die Wirkungsfelder von SLU, ist jedoch sehr weit gefasst und würde entgegen des aktuellen Verständnisses jedwede Unterrichtsstunde zur (Substanziellen) Lernumgebung erklären. Mittlerweile werden Definitionen angeboten, die dem modernen, inhaltlichen Verständnis im Rahmen des Paradigmenwechsels zum aktiventdeckenden Lernen und zur Öffnung des Unterrichts angelehnt sind (S. 167). So zum Beispiel veröffentlicht die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung [SVBWF] (2009):
„Unter Lernumgebungen versteht man Aufgabenstellungen, die sowohl die Heterogenität der Schüler/innen berücksichtigen und einen Zugang für alle Kinder bieten als auch das aktiventdeckende Lernen begünstigen. Solche Aufgaben sind auf unterschiedlichen Verständnis bzw. Abstraktionsebenen lösbar und fordern das Entwickeln persönlicher Denkwege und Darstellungsformen heraus [...]. Im Gegensatz zu traditionellen Aufgaben ist eine Lernumgebung so angelegt, dass sie eine längere und vertiefende Beschäftigung vorsieht, keine Rechenwege vorgibt und viel Spielräume für die Gestaltung des Lösungsweges lässt" (S. 6).
Diese Definition bahnt den Kontext und den Kern von Lernumgebungen, die Aufgabenstellungen sowie ihre Anforderungen, an - setzt diese jedoch ohne Rücksicht auf die methodisch-soziale Rahmung als Bestandteil einer SLU miteinander gleich und wird daher als zu eng gefasst betrachtet. Eine Besonderheit, die in den aufgezeigten und weiter recherchierten Erläuterungen außerdem nicht explizit gemacht, jedoch oft mitgemeint wird, ist der substanzielle Charakter von LU. „Substanziell" beschreibt dabei den Wert oder das Wesentliche eines Sachverhalts oder einer Sache betreffend (Duden 2020a, 2020b). Hirt und Wälti (2016) schreiben dazu, dass es bei gehaltvollen SLU nicht darum geht, Aufgaben zum Vergnügen abzuarbeiten, sondern sich auf wesentliche Entdeckungen zu einem inhaltlich-mathematisch fundierten Schwerpunkt zu konzentrieren und parallel gehaltvolles Mathematiktreiben zu fördern (S. 19). Mit dem Versuch, die Stärken der oben aufgeführten Definitionen zu vereinen, eine weder zu weit, noch zu eng gefasste Erklärung im inhaltlichen Verständnis darzustellen, liegt der Ausarbeitung folgende Arbeitsdefinition zu Grunde:
Unter SLU im MAU werden Lernarrangements zusammengefasst, die im Rahmen Natürlichen Differenzierens und Konstruktivistischen Lernens die Heterogenität einer Lerngruppe berücksichtigen und überdies zu Nutze machen. Kern einer SLU bildet ein Substanzielles Aufgabenformat [SAF]. Dieses ist eingebettet in eine methodische, soziale und materielle Rahmung. Anhand einer vertiefenden Beschäftigung mit dessen Teilaufgaben sollen wesentliche Entdeckungen zu einem inhaltlichmathematisch fundierten Schwerpunkt auf frei wählbaren, unterschiedlichen Verständnis- und Abstraktionsebenen individuell und kooperativ gemacht werden können. Im Fokus steht dabei insbesondere die Entwicklung eines Verständnisses für den inhaltlichen Gegenstand der SLU durch eigenständiges Mathematiktreiben.
Das SAF wurde als essentielle Basis der SLU bereits herausgestellt. Nun ergibt sich die Frage, wie dieses gestaltet werden kann, um den Anforderungen der Natürlichen Differenzierung gerecht zu werden. Dem vorangestellt folgt zunächst eine Begriffsklärung.
2.3 Aufgabenformate von Substanziellen Lernumgebungen
2.3.1 Begriff und Kriterien
Wie Wollring (2007) erklärt, gelten Aufgaben als zentrale Organisationselemente im MAU (S. 4). Dabei zeichnen sich alle Aufgaben durch bestimmte Merkmale aus. In Hinblick auf den Kontext von SLU gilt es, den Aspekt der Wandelbarkeit im Sinn ansteuer- und veränderbarer Elemente innerhalb einer Aufgabe zu finden. So kann man über diverse Aufgabenbestandteile wie das Zahlenmaterial oder die Fragestellung etwa den Umfang, die Schwierigkeit, die individuelle oder kooperative Bearbeitung steuern. Eine solche flexible, schriftlich formulierte Aufgabenstellung definiert Wollring (2007) als „Aufgabenformat“ [AF] (S. 4).
Überdies gehen Krauthausen und Scherer (2016) im Rahmen eines Definitionsversuchs neben der Aussteuerbarkeit auch auf den Aufbau eines AF ein und äußern, dass dieses „[...] aus einer immer gleich dargestellten [...] Grundform, die als Vorlage für unterschiedliche Frage- und Problemstellungen dient und dazu unterschiedlich ,befüllt‘ werden kann“ (S. 112), besteht. Hirt und Wälti (2016) betonen, dass insbesondere ein solches SAF dem oft über zwei Schuljahre gestreuten Leistungsspektrum innerhalb einer Klasse und damit der Förderung unterschiedlicher Leistungsmöglichkeiten, individueller Denkwege, Vorgehensweisen und Darstellungen im Unterricht gerecht werden kann (S. 14). Neben dem schneiden sie den substanziellen Charakter des AFs an und erläutern, dass die Aufgabenstellung als fachlicher Rahmen einer SLU auf eine innermathematische oder sachbezogene Struktur bezogen sein soll (S. 15). Außerdem ist es Ziel, mit Hilfe von SAF im Rahmen von SLU folgender Kritik entgegenzuwirken:
„,Wir sind eine Aufgaben-Wegwerfgesellschaft! Muss man länger als 3 Minuten über den Lösungsweg nachdenken, ist die Aufgabe unlösbar. Das Verweilen bei einem Problem, das Nachdenken über verschiedene Lösungswege und das Ausschöpfen der Möglichkeiten scheint zu anstrengend“1 (Gächter, 2004, zitiert nach Krauthausen & Scherer, 2014, S. 200).
Im Zuge dessen, sollen die Schüler*innen gezielt auch einmal mit Hürden konfrontiert werden, mit ihrer aktiven Überwindung und auf diese Weise ein authentisches Bild von der Mathematik sowie vom Lernen zu erhalten.
Wenn man sich mit AF von SLU befasst, findet man in der Literatur mehrere Aufgabentypen beziehungsweise -bezeichnungen. Käpnick (2014) thematisiert etwa SAF als produktive Übungsaufgaben (S. 139f). Nührenbörger (2010) ergänzt, dass produktive Aufgabenstellungen eine Serie von Aufgaben, die strukturell miteinander verbunden sind, darstellen (S. 16). Eine offene Aufgabe, die mehrere Lösungen und Vorgehensweisen zulässt, stellt dabei meist nur den Anfang dieser Aufgabenserie dar. Weiterhin schreiben das Institut für Mathematische Bildung Freiburg [IMBF] (2017) oder auch Büchter und Leuders (2011) im Rahmen differenzierender Lernumgebungen von gestuften, paralleldifferenzierenden und selbstdifferenzierenden Aufgaben (S. 134; S. 104ff). Da in dieser Ausarbeitung SAF und entsprechende SLU im Rahmen Natürlicher Differenzierung betrachtet werden, erfolgt die Konzentration auf selbstdifferenzierende Aufgaben. In der Literatur lassen sich hierfür mehrere Kriterienkataloge wiederfinden. Vergleicht man diese, können folgende Merkmale festgehalten werden:
- die vom Kind aus gesteuerte flexible Niveaudifferenzierung durch Variation:
- Offenheit der Ausgangssituation: freie Wahl von Größe der Ausgangszahlen und Anzahl der Beispiele, Variation der Aufgabenformulierung o Offenheit des Weges: Bearbeitung mit unterschiedlichen Ansätzen möglich; ausprobierendes Verhalten erwünscht; unterschiedliche Vertiefungen o Offenheit des Ergebnisses: verschiedene Ergebnisse möglich, unterschiedliche Darstellungsform (schriftlicher) Erläuterungen
- die Balance zwischen Anforderung und Voraussetzungen:
- Zugänglichkeit: leicht zugänglich durch niedrige Eingangsschwelle, Aufbau auf Vorerfahrungen oder in anschauliche Situation eingebettet o Herausforderung & Barriere: Aufgabe mit Aufforderungscharakter - etwa herausfordernde Fragen durch Widersprüche; kein stupides Anwenden gelernter Verfahren - erst Methoden entwickeln; „Rampen" mit höherem Anspruchsniveau für Leistungsstärkere
- die Bedeutsamkeit und der Prozessbezug: Repräsentation eines allgemeinen mathematischen Konzepts, einer fundamentalen Idee, von Beziehungen im Sinn des operativen Prinzips; Entdeckung im Rahmen mathematischer Tätigkeiten (Darstellen, Modellieren, Kommunizieren, Problemlösen, Argumentieren)
- die Authentizität: Widerspiegelung eines realistischen Bildes von der Entwicklung/ der Anwendung von Mathematik; sachgerechte Arbeitshaltung: MA ist mehr als nur Rechnen oder Reproduzieren mathematischer Muster ^ selbst erforschen
- Bemerkung: lernökonomische Grenzen ^ nicht alle SuS können Mathematik nacherfinden ^ auch fertige, vorstrukturierte MA ist von Nöten ^ Authentizität „nur" als Richtungsorientierung
- sowie die Schaffung von Diskussionsbedarf: über Bearbeitungswege, Lösungen, Anzahl der Lösungen, Beschreibung und Begründung von Mustern und Strukturen, Gültigkeitsbereiche von Aussagen (Büchter & Leuders, 2011, S. 73, S. 88; Nührenbörger, 2010, S. 14, Sundermann, & Selter, 2013, S. 74f; Krauthausen & Scherer, 2016, S. 53ff; Hirt & Wälti, 2016, S. 16).
Unter Berücksichtigung der bis dato aufgeführten Informationen ergibt sich folgende Arbeitsdefinition:
Ein SAF gleicht einer flexiblen Aufgabenstellung bzw. -serie. Sie bezieht sich auf ein Basislayout und eine Anwendungsregel, von denen aus mittels aussteuerbarer Elemente Frage- und Problemstellungen unterschiedlicher Art und Schwierigkeit im Kontext Natürlicher Differenzierung erzeugt und bearbeitet werden können. Fokussiert wird dabei eine innermathematische oder sachbezogene Struktur, ein mathematisches Muster oder ein Problem, das im Rahmen mathematischer Tätigkeiten von den Schüler*innen selbst auf frei wählbaren Schwierigkeitsniveau entdeckt werden.
2.3.2 Tipps zur Konstruktion und Auswahl
Aufgabenkonstruktion und -beurteilung gehört zur zentralen Handwerkstätigkeit von Lehrenden. Abgesehen von den Kriterien als Orientierungsgrundlage für die Konstruktion und Beurteilung von SAF stehen in diesem Sinne weitere Vorschläge in der Literatur zur Verfügung. Ausgangspunkt bildet die Auswahl eines Basislayouts und seiner dazugehörigen Anwendungsregel in Anlehnung an die gewünschte, zu fördernde inhaltsbezogene mathematische Kompetenz. Zu den bekanntesten innerhalb von SAF gehören etwa Zahlenketten, Rechendreiecke oder Rechen-n-ecke, Mal-Plus-Häuser oder auch Zahlengitter (Krauthausen & Scherer, 2016, S. 112; siehe unten Anlage 1). In Abhängigkeit von der Wahl der zu fördernden allgemeinen mathematischen Kompetenz - Kommunizieren, Modellieren, Darstellen, Argumentieren oder Problemlösen - und der Anforderungsbereiche - insbesondere „Zusammenhänge herstellen“ sowie „Verallgemeinern und Reflektieren“ - sind die Aufgabenstellungen zu konstruieren oder zu analysieren (Kultusministerkonferenz [KMK], 2005, S. 6ff). Sundermann und Selter (2013) ebenso wie Bezold (2010) haben in diesem Kontext typische Fragestellungen zusammengetragen, die auf inhaltsbezogene Kompetenzen anspielen, mathematische Prozesstätigkeiten in Gang setzen und den Schüler*innen gleichermaßen als Formulierungshilfen für ihre Entdeckungen dienen - deshalb auch als Forschertipps bezeichnet werden können (S. 93f; S. 9). In Kap. 3.5.1 werden diese mit Hinblick auf den Schwerpunkt dieser Arbeit - dem Argumentieren - konkret aufgeführt. Für die Wahl des Aufgabentyps ist neben anzustrebenden inhaltlichen und prozessbezogenen Aspekten auch der Erfahrungsgrad der Kinder mit SAF durchaus entscheidend. Als Reaktion darauf empfehlen mehrere Autoren verschiedene Techniken zum Design von Aufgabenstellungen mit Fokus auf deren Öffnungsgrad. Dieser bezieht sich etwa auf die Vorgabe beziehungsweise das Weglassen von Informationen über die Ausgangssituation, des Lösungsverfahrens oder des Ergebnisses. Hirt und Wälti (2016) bieten beispielsweise folgende Design- Parameter für die Konstruktion und Analyse von SAF an: 1. Vorgegebene Zahlen (Beispiele gegeben), 2. Teiloffen mit bestimmten Bedingungen (Beispiele selbst konstruierbar, Einschränkung hinsichtlich des Zahlenmaterials) und 3. Offen (freie Wahl der Beispiele) (S. 177f). Krauthausen und Scherer (2016) betonen, dass im Gegensatz zum traditionellen Unterrichtsverständnis Überlegungen zu konkreten Zahlenwerten, ihrer Stellen im Basislayout und ihres Gegebenheitsstatus besonders relevant werden (S. 188). Diese Entscheidungen bestimmen die Lösungsanzahl, die Notwendigkeit von Rechenoperationen, die Komplexität des Lösungsvorgehens und damit die Rechenanforderungen (Deutsches Zentrum für Lehrerbildung [DZLM], 2010, S. 2f). Es wird im Zuge einer sorgfältigen Aufgabenanalyse empfohlen, dass die Lehrperson selbst Erfahrungen mit den SAF und seinen Variationsformen sammelt (DZLM, 2010, S. 2; Krauthausen & Scherer, 2016, S. 172). Ziel dabei ist es einerseits, ein Gefühl für die Muster und strukturellen Beziehungen zu bekommen. Andererseits soll sie eine Vorstellung davon erhalten, was Kinder für Erfahrungen bei ihrem Zugang zum Format machen könnten (Krauthausen & Scherer, 2016, S. 172). Bereits existierende Schülerergebnisse können in die Vorbetrachtung ebenfalls einbezogen werden. Folgend gilt es als Lehrperson entdeckte Phänomene zu algebraisieren und durch die Einführung von Variablen auf die Allgemeingültigkeit hin zu überprüfen. Dies ist notwendig für den höheren Blick auf die Sache und damit die Authentizität der Lehrenden. Unter Berücksichtigung der gesetzten Inhalte und allgemeinen mathematischen Kompetenzen gilt es letztlich zu entscheiden, welche der Aufgabenstellungen in den Unterricht aufgenommen werden.
Das folgende, aufgearbeitete Beispiel zu Vierer-Rechenmauern verdeutlicht die vorangegangen Empfehlungen abschließend:
Basislayout inklusive beispielhafter Variablenverteilung (selbst erstellt):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Rechenregel: Nebeneinanderstehende Steine werden addiert und deren Summe über den Stein darüber eingetragen.
Aufgabe (vorgegebene Zahlen, offen hinsichtlich des Vorgehens): „Finde möglichst viele verschiedene 4er-Mauern mit den Zahlen 3, 7, 8 und 10 für die Grundreihe. Was fällt dir auf?“ (Hirt & Wälti, 2016, S. 177).
Inhaltsbezogene mathematische und allgemeine mathematische Kompetenz:
Zahlen und Operationen & Muster und Strukturen, Problemlosen (& Kommunizieren & Argumentieren)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Mögliche Entdeckungen: Der Deckstein ist dann am größten (kleinsten), wenn die beiden größten (kleinsten) Zahlen auf die mittleren Steine verteilt werden, weil diese dreifach in den Deckstein eingehen. Außerdem gilt aufgrund der Kommutativität der Addition a+3c+3d+b = b+3d+3c+a.
Hilfestellung für die Schüler*innen: Wie bist du vorgegangen? // Vergleiche die Grundsteine (die Decksteine). Wann ist der Deckstein am größten/kleinsten? Weiterführende Fragen: Warum ist in manchen Beispielen der Deckstein grö- ßer/kleiner? Versuche zu begründen. // Überprüfe deine Vermutung an weiteren Vierer-Mauern.
Tipp: Schreibe statt der Summen, die einzelnen Summanden auf.
Einst äußerte man: „,Alle methodische Kunst liegt darin beschlossen, tote Sachverhalte in lebendige Handlungen rückzuverwandeln, aus denen sie entsprungen sind [...]“' (Roth, 1957, zitiert nach Büchter & Leuders, 2011, S. 199). Die SAF sollen dem als Steilvorlage dienen und durch die im nächsten Kapitel behandelte methodische Umsetzung von SLU wirksam werden.
2.4 Vorgehen beim Einsatz von Substanziellen Lernumgebungen
Nachdem die SLU in Abhängigkeit der zu bearbeitenden Inhalte und anzustrebenden Ziele bestimmt, der Einsatzzeitpunkt und der -ort festgelegt wurden, schließt sich die Etappenplanung an. Aktuell lassen sich in mehreren Literaturwerken Empfehlungen, teilweise empirisch erprobt, zum Vorgehen bei der didaktisch-methodischen Gestaltung von SLU im Unterricht wiederfinden. In Anlehnung an das Modell der „Didaktischen Situationen“ von Brousseau (1997) lassen sich folgende Phasen zusammenfassen: 1. Inszenierung, 2. Aktivitätsphase, 3. Vorstellung und Austausch (Brousseau 1997, zitiert nach Krauthausen & Scherer, 2016, S. 187; Hirt & Wälti, 2016, S. 17). Deren Realisation kann in Abhängigkeit vom Inhalt und von Rahmenbedingungen eine Unterrichtsstunde bis zu einer Doppelstunde in Anspruch nehmen oder sich gar über mehrere Tage verteilen (Krauthausen & Scherer, 2010, S. 7). In der Phase der Inszenierung soll das SAF zunächst sorgfältig und informativ eingeführt beziehungsweise aufgefrischt werden (Krauthausen & Scherer, 2016, S. 123). Ziel ist es, dass die Schüler*innen Erfahrungen mit dem Basislayout sammeln und die entsprechende Anwendungsregel verinnerlichen. Dazu empfiehlt es sich, zunächst Beispiele an der Tafel und anschließend auf einem Arbeitsblatt mit teils frei wählbaren Zahlen gemeinsam und in Einzelarbeit zu berechnen. Auszuführende Tätigkeiten, Ziele und Erwartungen sollten dabei möglichst klar und verständlich kommuniziert werden. Im Zuge der anknüpfenden persönlichen Auseinandersetzung mit dem SAF ist es empfehlenswert, auf das didaktische Konzept „Dialogisches Lernen" zurückzugreifen (Gallin & Ruf 1998, zitiert nach Hammer, 2007, S. 110). Zusammengefasst im Dreiklang „Ich-Du-Wir" oder auch „Think-Pair-Share" umfasst es drei methodische Schritte (Hammer, 2007, S. 110; Brüning & Saum 2008, zitiert nach Wittich, 2017, S. 80). Diese, ihre folgend beschriebenen Hauptaktivitäten und geltende Regeln können im Zuge der Transparenz und damit als Orientierungsgrundlage für die Schüler*innen etwa auf Plakaten visualisiert werden (siehe unten Anlage 1). Während der Aktivitätsphase, der Ich-Phase, beschäftigen sich die Lernenden individuell mit offenen, von der Lehrperson ausgewählten Aufgaben- und Problemstellungen des SAF (Hammer, 2007, S. 111). Diese werden auf einem Arbeitsblatt mit entsprechendem Platz für Lösungen und Notizen präsentiert. Es bietet sich im Rahmen dieser Phase an, die Lösungsversuche der Lernenden zu begleiten (Krauthausen & Scherer, 2016, S. 191). Dabei gilt das Prinzip der minimalen Hilfe - so viel wie nötig, so wenig wie möglich (Zech 2002, zitiert nach Krauthausen & Scherer, 2016, S. 192). Krauthausen und Scherer (2016) stellen hierfür Hinweisarten mit steigender Stärke der Hilfsmaßnahme vor (Tab. 1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1 Beispiele nach dem Prinzip der minimalen Hilfen (Krauthausen & Scherer, 2016, S. 193; gekürzt und verallgemeinert [J. S.])
Diese Hilfestellungen sind notwendig, um die Anstrengungsbereitschaft der Schüler*innen aufrecht zu erhalten (Krauthausen & Scherer, 2014, S. 221). Da jeder Einzelne sein eigenes Motivationsgefüge besitzt, bedarf es bei den Lehrenden genügend Sensibilität und Kenntnis über die Schüler*innen, um die individuell richtige Hilfe zu finden (Krauthausen & Scherer, 2016, S. 193). In der Folgephase - der Phase der Vorstellung und des Austauschs - greifen im Rahmen des Dialogischen Lernens die Du- und die Wir-Phase (Hammer, 2007, S. 111). In der ersteren, synonym „Pair-Phase", tauschen sich die Kinder mit ihren Teammitgliedern über gemachte Beobachtungen, ihre individuellen Vorgehensweisen sowie Ergebnisse aus und arbeiten gegebenenfalls gemeinsam weiterführend daran (Wittich, 2017, S. 80). Für spätere Rückblicke empfiehlt es sich, die Ergebnisse etwa auf einem Plakat festhalten zu lassen. Dabei geht es nicht um die bloße Sicherung eines Weges, sondern die bewusste Thematisierung und Aushandlung unterschiedlicher Deutungen eines mathematischen Sachverhalts mit der Absicht, tiefer in die Materie einzudringen (Krauthausen & Scherer, 2016, S. 86). Im Zuge der Reflexion können hier Erläuterungen, Begründungen und Meta-Kommunikation eingefordert werden. Kärtchen mit Aufgabenverteilungen oder auch Hilfsphrasen eignen sich als Unterstützung der Schüler*innen (siehe unten Anlage 2). Selbiges gilt für die Wir- oder auch Share-Phase, in der die Gruppen ihre Ergebnisse aus der Pair-Phase im Plenum präsentieren und gemeinsam reflektieren (Wittich, 2017, S. 80). Für einen gelungenen Austausch empfehlen Krauthausen und Scherer (2016) die Orientierung an Maßnahmen - wie andere ausreden lassen und Kritik freundlich formulieren - zur Regelung des sozialen Umgangs miteinander (S. 71). Auch Regeln zur inhaltlichen Effizienz eines Fachgesprächs sollen als Orientierungsgrundlage dienen. Hierunter zählen etwa Bemühungen, sich anderen verständlich zu erklären und ebenso die Ausführungen derer zu verstehen (ebd., S. 71). Diese Abmachungen können zur besseren Einprägsamkeit und Verbindlichkeit für die Grundschüler*innen visualisiert werden (siehe unten Anlage 2). Im Zuge der Würdigung der Leistungen der Kinder empfiehlt es sich letztlich die Ergebnisse aus der Aktivierungsphase in einem Forscherhefter zu sammeln, diesen und die Resultate aus der Austausch-Phase im Klassenraum auszulegen oder auf Elternabenden und Tagen der offenen Tür zu veröffentlichen.
Während der vorgestellten Phasen ist eine professionelle Moderation durch die Lehrperson unabdingbar. Krauthausen und Scherer (2016) beschreiben die anzustrebende sachgerechte Moderation als eine der anspruchsvollsten Aufgaben des Unterrichts, denn sie erfordert sowohl fachliche Kompetenzen als auch ein Gespür für den richtigen Moment für angemessene Impulse (ebd., S 87f). Im Zuge dessen stellen die Autoren folgende Handlungsmaximen für die Lehrpersonen, auch verstanden als die Kernpunkte der Unterrichtskultur, zur Verfügung, die für die Wirkkraft einer SLU maßgebend sind:
- Balance zwischen Einflussnahme und Zurückhaltung: Kindern soll die Chance gelassen werden, Hindernisse und Widerstände selbst zu überwinden, um so möglichst effektiv neues Wissen zu erwerben. Die Lehrpersonen sind dazu angehalten, zuzuhören, Schweigen auszuhalten, keine voreiligen Wertungen vorzunehmen und Erklärungen zurückzuhalten.
- Authentische Neugier: „Fragen Sie ,Wie bitte?‘ oder ,Kannst du das erklären?“1
- Analytisches Zuhören: „Hören [...] Sie [...] darauf, was Ihre Schülerinnen und Schüler sagen, mehr als Sie jemals von ihnen erwarten, dass Sie Ihnen zuhören.“
- Lernprozessbeobachtung: „Erforschen Sie, was die Kinder tun, warum sie bestimmte Fehler machen, welche Lösungsansätze sie verfolgen etc.“ ^ produktiver Umgang mit Fehlern
- Anerkennungskultur: „Versuchen Sie das zu würdigen, was die Kinder geleistet haben, anstatt festzustellen, was sie nicht geleistet haben.“
- „Lösen Sie Ihre eigene Anspannung und hören Sie auf, sich im Unterricht zu zerreißen“ (Krauthausen & Scherer, 2016, S. 195ff).
Dabei ist auf die initiierende und vorbildhafte Rolle der Lehrperson hinzuweisen. Ihre Einstellung und ihr Verhalten sind maßgebend für das der Kinder. Je konsequenter sie das Maß an Nachdenken, die Flexibilität strategischen Vorgehens, eine grundsätzliche Fragehaltung und ein individuelles Begründungsbedürfnis - etwa durch die stete Frage „Warum ist das so?“ - vorlebt und wertschätzt, umso eher werden Schüler*innen sicherer und eigenständiger in diesem Verhalten werden (Krauthausen & Scherer, 2016, S. 59). An dieser Stelle sei hinzugefügt, dass die Gewöhnung an offene Aufgaben sowohl für Kinder als auch für Lehrpersonen längere Zeit in Anspruch nimmt, jedoch nicht unmöglich ist. In einer Unterrichtskultur des gegenseitigen Bemühens um Verstehen und Verstandenwerden werden die Schüler*innen bereitwilliger eine Antwort geben, weil sie die Frage „Was hast du dir dabei gedacht?“ als Interesse an ihren Denkweisen interpretieren (ebd., S. 58). Schwieriger als bei herkömmlichen Unterrichtsmodellen gestaltet sich die Leistungsbeurteilung bei der Natürlichen Differenzierung, da hier nicht der eine richtige Weg oder die eine richtige Lösung existiert. Hirt & Wälti (2016) weisen auf Elemente hin, die durchaus auch im Rahmen einer SLU beurteilt werden können:
- die Produkte: Zahlenergebnisse und schriftliche Notizen deuten auf Gedanken und Strategien hin
- die Gespräche: mit Schülerprodukten als Inhalt, dienen der Stärkung von Konzepten und Aufdeckung von Fehlvorstellungen
- die Handlungen mit mathematischem Gehalt
- sowie die Selbstbeurteilung (Hirt & Wälti, 2016, S. 22).
Wollring (2007) hebt an dieser Stelle die Bedeutung der Eigenproduktionen von Schülerinnen hervor. Sie dienen „[...] im Rahmen handlungsleitender Diagnostik zur Konzeption spezifischer Unterstützungen von Schülerinnen und Schülern" (ebd., S. 13) und stellen damit einen Ausgangspunkt zur Planung von Unterricht dar. Büchter und Leuders (2011) empfehlen des Weiteren für die Beurteilung der erbrachten Leistungen im Rahmen selbstdifferenzierender Aufgaben ein differenziertes Schema mit allen möglichen Schülerleistungen zu Grunde zu legen (S. 113). Gleichsam warnen sie jedoch von einer automatischen Abqualifizierung unerwünschter Lösungen. Um dem entgegenzuwirken, geben sie im Zuge der Anerkennungskultur den Hinweis, all jene Lösungen als gut zu erachten, die selbstständig erarbeitet und nicht nur jene, die am meisten abstrahiert wurden (ebd., S. 113). Darüber hinaus sei der Fokus bei der Beurteilung erbrachter Leistungen nicht nur auf inhaltliche, sondern auch auf den prozessbezogenen Kompetenzen zu setzen. Sundermann und Selter (2013) empfehlen im Rahmen der Förderung qualitativer Einschätzung von Rechenwegen und dazugehörigen Beschreibungen Kriterien wie etwa die Existenz einer Begründung, die sachadäquate Bezugnahme auf Zusammenhänge und deren Beschreibung, die explizite Erwähnung operativer Muster oder etwa die Frage darstellen, inwieweit die Begründung zum Rechenweg passt (ebd., S. 108f).
Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass stets graduell unterschiedliche Abweichungen vom Idealzustand einer SLU erwartbar sind. Überdies verdeutlichen Krauthausen und Scherer (2016), dass die Natürliche Differenzierung und die SLU „[...] keine Allheilmittel im Sinn eines didaktischen Zauberstabs" (S. 56) sind. Sie stellen keinen Garanten dafür dar, dem Heterogenitätsspektrum ausnahmslos gerecht werden oder die Motivation, Arbeitshaltung und Kommunikation gewährleisten zu können. Jedoch wurde in zahlreichen Erprobungen gezeigt - so äußern Krauthauen & Scherer (2016) -, dass sachgerechte SAF die Wahrscheinlichkeit für das Ereignen wünschenswerten Lernens für alle Kinder deutlich erhöhen (S. 56).
Kommentar
Die bis hierhin aufgeführten Kapitel sind als Antworten auf die Frage FF1 Welcher Wissensstand über Substanzielle Lernumgebungen im Mathematikunterricht kann der Theorie und der Forschung entnommen werden? zu werten. Innerhalb der gesetzten Schwerpunkte und über diese hinaus lassen sich in der Literatur vertiefte und weitere Kenntnisse finden - insbesondere empirische Erprobungen. Im Rahmen dieser Arbeit und ihres Ziels - einer überblicksartigen Abbildung der Kenntnisse in einer Handreichung für das Lehrerkollegium - wird die hier erfolgte theoretische Grundlegung jedoch bereits als ausreichend betrachtet.
3 Mathematisches Argumentieren in der Grundschule
3.1 Bedeutung des Argumentierens
Argumentieren ist eine zentrale Kommunikationsform innerhalb unserer Gesellschaft und gilt, wie Budke und Meyer (2015) äußern, als eine Kulturtechnik der Menschen (S. 12). Neben dem definiert sich die Bedeutung des Argumentierens bezogen auf den MAU über die Ansicht: „Wir verstehen die Mathematik heute als die Wissenschaft von den Mustern und Strukturen. Dieses Verständnis der Mathematik ist für alle Stufen und Gebiete der Mathematik (vom Kindergarten bis zur Hochschule) gültig" (Akinwunmi, 2012, S. 1). Das Entdecken, Beschreiben, Begründen - verstanden als Teilaktivitäten des Argumentierens - fördern die Einsichten in eben jene Strukturen und Muster (Brunner, 2014, S. 125). Überdies gleicht das Argumentieren einer ästhetischen Angelegenheit, durch welche die Schönheit der Muster erlebt werden kann (ebd., S. 126). Konkreter dient das Argumentieren:
- dem Aufbau fachlicher Kompetenzen: Entwicklung eines Verständnisses für Fachinhalte und fachtypische Begründungsarten, Systematisierung durch Verknüpfen alten und neuen Wissens, neben Wissensvermehrung auch Wissenssicherung durch Verifikation, Anbahnung wissenschaftlichen Denkens
- der Förderung sozialer und affektiver Kompetenzen: Argument als Kommunikationsanlass, Üben friedlicher Konsensfindung, Aushalten von Widerspruch und unterschiedlichen Ansichten, Persönlichkeitsbildung (Überzeugungskraft)
- sowie der Stärkung von Bewertungskompetenzen: Meinungsbildung, Ausbildung des kritischen Vernunftgebrauchs - hinterfragendes Denken
(Knapstein, 2014, S. 17ff; Budke & Meyer, 2015, S. 13f; Brunner, 2014, S. 23). London und Mayer (2015) fassen diese Bedeutungsbereiche unter der Bezeichnung des Argumentierens als Lernmedium zusammen (S. 233). Neben der Funktion eines Lernmediums übernimmt das Argumentieren ebenso die Rolle des Lerngegenstandes (ebd., S. 233). Thematisiert als solches wird es in den Bildungsstandards und im Lehrplan.
3.2 Verortung in den Bildungsstandards und im Lehrplan
Lerngegenstände des MAUs stellen wie auch bei SLU die in den Bildungsstandards festgehaltenen inhaltlichen sowie allgemeinen mathematischen, prozessbezogenen Kompetenzen dar. Argumentieren gehört zu den Zweitgenannten. Im Verständnis der Bildungsstandards beinhaltet sie folgende Tätigkeiten:
- „mathematische Aussagen hinterfragen und auf Korrektheit prüfen,
- mathematische Zusammenhänge erkennen und Vermutungen entwickeln,
- Begründungen suchen und nachvollziehen“ (KMK, 2005, S. 8).
Diese spiegeln sich insbesondere in den Anforderungsbereichen II und III - dem Herstellen von Zusammenhängen sowie dem Verallgemeinern und Reflektieren - wider (KMK, 2005, S. 13). In Verknüpfung stehen die Aktivitäten vor allem mit den inhaltlichen Kompetenzbereichen „Zahlen und Operationen“ sowie „Muster und Strukturen“ (ebd., S. 13, 23f).
Auch im Lehrplan erhält das Argumentieren und seine Teiltätigkeiten Einzug - jedoch eher verhalten. Das Staatsministerium [SMK] (2019) schreibt im Rahmen der Ziele und Aufgaben des Faches Mathematik: „Durch die Kommunikation über Verfahren und Strategien sollen die Schüler Zusammenhänge und Abhängigkeiten aufdecken sowie begründete mathematische Urteile und Folgerungen ableiten“ (S. 13). In den tabellarischen Darstellungen der Lernbereiche erhält der Begriff „Argumentieren“ jedoch nur ein Mal in der vierten Klasse explizit Einzug. Die Teilaktivitäten bleiben, wie sie in den Bildungsstandards hervorgehen, meist implizit. Am ehesten noch wird das „Begründen“ im Bereich der Arithmetik über alle Jahrgangsstufen hinweg verwendet - dabei weniger in Verbindung mit zu entdeckenden Zusammenhängen, als mit der Beschreibung von Lösungswegen (SMK, 2019, S. 20ff).
3.3 Begriffsklärung
3.3.1 Argumentieren, Begründen und Beweisen
Auffällig ist, dass Begriffe wie Argumentieren, Begründen und Beweisen verschieden in Beziehung zueinandergesetzt werden. Büchter & Leuders (2011) setzen etwa Begründen mit Beweisen gleich und schreiben, dass das Argumentieren meist in Form formal geführter, symbolischer Beweise stattfindet (S. 48f). Käpnick (2014) hingegen sieht das Begründen als Vorstufe des Beweisens an (S. 106). Anders verstehen Schwarzkopf (2015), Budke et al. (2015) und Götze (2019) das Begründen als Oberbegriff, der das Beweisen und Argumentieren subsumiert (S. 31; S. 275; S. 97). Während dabei das Beweisen einem Vorgang gleicht, „,bei dem eine Behauptung in gültiger Weise Schritt für Schritt formal deduktiv aus als bekannt vorausgesetzten Sätzen [...] gefolgert wird‘“ (Meyer, 2007, zitiert nach Budke et al., 2015, S. 275), umfasst das Argumentieren auch experimentelle oder inhaltlich-anschauliche Nachweise. Schwarzkopf (2015) beschreibt demnach das Argumentieren als „[...] Vorform des strengen mathematischen Beweisens“ (S. 31). Analog stellt der MAU eine Vorform mit fachdidaktischen Abweichungen für die wissenschaftliche Disziplin Mathematik als Idealtypus dar. In diesem Sinn wird in Abb. 1 das Verhältnis der Begriffe Argumentieren, Begründen und Beweisen unter Einbezug in der Literatur wiederzufindender Merkmale zusammengefasst.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1 Argumentieren und benachbarte Begriffe (selbsterstellt auf Basis von Wittmann & Müller 1988, zitiert nach Knapstein, 2014, S. 23; Brunner, 2014, S. 17ff; Brunner, 2016, S. 1104)
Das alltagbezogene Argumentieren, das Argumentieren mit mathematischen Mitteln wie Operationen und das formal-deduktive Beweisen stellen dabei die immer wissenschaftlich anerkannteren Stationen des Begründens dar. Ebenso sind Zwischenstufen möglich. Aufbauend auf diesem Verständnis, sind die im nächsten Kapitel thematisierten Begriffsverwandten für die Grundschule und diese Ausarbeitung überdies relevant.
3.3.2 Argumentationskompetenzen und -prozesse, Argumentation und Argumente
Argumentationskompetenzen haben wie in Kap. 3.1 angedeutet eine große gesellschaftliche Bedeutung inne, sodass die Entwicklung der damit verbundenen Fähigkeiten bereits in der Grundschulzeit gezielt gefördert werden soll. Nach Budke und Meyer (2015) sowie Budke et al. (2015) bestehen diese aus drei wesentlichen Teilbereichen. Den ersten bildet die Argumentationsrezeptionskompetenz, die sich durch das Verstehen von Argumenten und das Beurteilen dieser auszeichnet. Das selbstständige Entwickeln hochwertiger Argumentationen stellt den zweiten Teilbereich, die Argumentationsproduktionskompetenz, dar. Schließlich vereint die Argumentationsinteraktionskompetenz Rezipieren und Produzieren miteinander (Budke & Meyer, 2015, S. 15; Budke et al., 2015, S. 274). Auch die Kommunikationskompetenz, die sich beispielsweise in der Fähigkeit, Entdeckungen zu erläutern, ausdrückt, ist diesem Teilbereich zuzuordnen.
Um eine Argumentation zu erzeugen, müssen mehrere Teilschritte durchlaufen werden. Die Gesamtheit dieser wird als Argumentationsprozess bezeichnet. In Anlehnung an das Verständnis mathematischen Argumentierens in den Bildungsstandards (Kap. 3.2) beschreibt Bezold (2010) vier grundschulspezifische Komponenten. Auch als Bausteine des Argumen- tierens bezeichnet lassen sich diese wie folgt darstellen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2 Bausteine des Argumentierens (Bezold, 2010, S. 3)
Das Entdecken mathematischer Phänomene ist besonders an die Fähigkeit, Relevantes von Irrelevanten zu unterscheiden sowie an Kenntnisse von spezifischen mathematischen Begriffen, Eigenschaften und Beziehungen geknüpft (ebd., S. 3). Bezold (2012) erklärt, dass die Entdeckungen durch die Herstellung von Verbindungen zu jenem bereits Gelernten gemacht werden können (S. 77). Weitere Einflussfaktoren stellen Kreativität, Intuition, und ein Gefühl für Ästhetik dar (ebd., S. 77). Das darauffolgende Beschreiben von Entdeckungen stellt den Beginn der Argumentationskette mit der Versprachlichung oder Darstellung von Vermutungen über mathematische Auffälligkeiten dar (ebd., S. 4). Götze (2019) bringt im Kontext dieses Beschreibens einen Grundtyp des Erklärens nach Schmidt und Thieme (2009) - das „Erklären-Wie“ - ein (S. 97). Beispielhaft sind die Argumentierenden mit den Fragen „Wie ist das Muster aufgebaut? Wie ist das Muster fortzusetzen?“ konfrontiert. Zur Beantwortung müssen sie die zugrunde liegenden operativen Veränderungen der Objekte identifizieren (ebd., S. 98). Über „Warum stimmt das? Stimmt das wirklich immer?“ gilt es anschließend die gemachten Entdeckungen zu hinterfragen und so eine Begründungsnotwendigkeit aufzubauen. Die Überprüfung der Vermutungen anhand von Beispielen und Verallgemeinerungsversuche bilden die Schnittstelle zum anschließenden Teilprozess - dem Begründen der Entdeckung. Hier wird der Wahrheitsgehalt der gewonnenen Vermutung aktiv untersucht (Bezold, 2010, S. 4). Götze (2019) schreibt in diesem Kontext vom „Erklären-Warum“ (S. 98). Es werden etwa Zusammenhänge zwischen operativ veränderten Einzelsymbolen geklärt, um Antworten auf kontrastive Warum-Fragen und konditionale Was-wäre-wenn-Fragen geben zu können.
Stützend auf die Komponenten des Argumentationsprozesses versteht man unter einer Argumentation „,eine Rede für oder gegen die Wahrheit einer Aussage [...] mit dem Ziel, die Zustimmung wirklicher oder fiktiver Gesprächspartner [...] zu erlangen“1 (Hefendehl 2003, zitiert nach Büchter & Leuders, 2011, S. 45). Bezogen auf das Argumentationsverständnis im Grundschulunterricht bieten Krauthausen & Scherer (2014) weiter folgende Definition an: „Als Argumentation gelten jene interaktiven Methoden, mit denen ein Kind z.B. versucht, den Geltungsanspruch seiner Aussage zu sichern und anderen (aber auch sich selbst) gegenüber zu vertreten" (S. 156). Werden Vorschläge von allen Beteiligten gemeinsam abgewogen, ist von einer kollektiven, kooperativen Argumentation zu sprechen (Klein 1980, zitiert nach Schwarzkopf, 2015, S. 32). Dieses Herstellen geteilter Bedeutung sieht Brunner (2014) als essentielles Gelingenselement schulischen Lernens an (S. 29).
Innerhalb einer Argumentation und basierend auf den Teilaktivitäten des Argumentationsprozesses werden die Argumente entwickelt. Cramer (2015) bezeichnet sie kurz als Produkte einer Argumentation (S. 203). Im Zusammenhang mit ihrer Struktur gehört das Toul- minsche Schema zu den in der Literatur am häufigsten erwähnten Modellen (Schwarzkopf, 2003, S. 212ff; Meyer, 2007, S. 297ff; Krummheuer, 2010, S. 4f; Fetzer, 2011, S. 30ff; Brunner, 2014, S. 38f; Budke & Meyer, 2015, S. 18f; Schwarzkopf, 2015, S. 39ff; Cramer, 2015, S. 204). Zugeschrieben wird es der funktionalen Argumentationsanalyse, da mit Hilfe dessen die Rekonstruktion von alltäglichen als auch wissenschaftlichen Argumenten und ihren funktionalen Komponenten ermöglicht werden soll (Schwarzkopf, 2001, S. 5) (Abb. 3).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3 Grundstruktur eines Arguments (Toulmin 1996, zitiert nach Budke & Meyer, 2015, S. 21; Krummheuer, 2010, S. 5), erweitert um die Bausteine des Argumentierens [J. S.]
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- Citation du texte
- Jennifer Scharf (Auteur), 2020, Förderung des mathematischen Argumentierens in der Grundschule. Substanzielle Lernumgebungen für Grundschüler, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/992101
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