,,Ich habe nichts gelesen, das ihn übertrifft, und bezweifle , je etwas gelesen zu haben, das
ihm gleichkäme" (A.Bennett)
Ohne Frage ist James Joyces ,,Ulysses" ein Jahrhundertbuch: Ein Buch das immer wieder mit
Marcel Prousts ,,A la Recherche du Temps Perdu" auf diversen Bestenlisten um Platz 1 in der
Kategorie des ,,großartigen" Buches aller Zeiten konkurriert, ein Buch das zwar nur an einem
Tag, dem 16.Juni 1904 spielt, aber trotzdem von einer Komplexität und Beziehungsfülle ist,
die seines gleichen sucht. ,,Ulysses" ist mit seiner Vielschichtigkeit an Bedeutungen, den
angewandten Erzähltechniken und seiner Motiv- und Symbolfülle einzigartig in der Literatur
des 20.Jahrhunderts, eine ,,spaßhaft-geschwätzige allumfassende Chronik mit vielfältigstem
Material", wie Joyce selbst einmal erwähnte. Aber eben der Detailreichtum des Buches, seine
unzähligen, auch noch so kleinen Anspielungen machen es selbst dem geübten Leser schwer,
den Überblick zu behalten und zieht damit nicht nur Bewunderung, sondern auch starke
Ablehnung an, weil ,,Ulysses" einfach schwer zu verstehen ist, vielleicht nie ganz verstanden
werden kann. ,,Ich habe so viele Geheimnisse und Rätsel hineingesteckt, dass es die
Professoren jahrhundertelang im Streit darüber halten wird, was ich wohl gemeint habe und
nur so sichert man sich Unsterblichkeit" hat Joyce einmal dazu gesagt.
Eine Möglichkeit, einen Teil dieser Geheimnisse zu entziffern, besteht darin sich die
Biographie des Autors anzuschauen, eine Methode, die vor allem bei einem Autor sinnvoller
erscheint, über den sein berühmtester Biograph, Richard Ellmann hinsichtlich ,,Ulysses"
feststellt: ,,Nichts in diesem Buch wurde aufgenommen, was nicht irgendwie persönlich und
mit Joyce verknüpft ist".
Zwar wird von Kritikern immer wieder das Argument vorgebracht, biographisches Material
sei nebensächlich oder sogar bedeutungslos um bedeutende Kunst zu verstehen, es verzerre
nur die Kunst oder mache sie, indem sie mit der Biographie des Künstlers in Verbindung
gebracht wird, geringfügiger, weil das Hauptaugenmerk auf den Künstler und nicht auf die
Kunst an sich gerichtet wird.
[...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hauptteil
2.1. Telemachus
2.1.1. Die Zeit im Martelloturm in Sandycove
2.1.2. Die Mutter in ,,Telemachus"
2.2. Nestor
2.2.1. Intermezzo als Lehrer
2.2.2. Geldproblematik
2.2.3. Albtraum der Geschichte
2.2.4. Die Mutter in ,,Nestor"
3. Schluss
3.1. Stephen Dedalus = James Joyce
1.Einleitung:
,,Ich habe nichts gelesen, das ihn übertrifft, und bezweifle , je etwas gelesen zu haben, das ihm gleichkäme" (A.Bennett)
Ohne Frage ist James Joyces ,,Ulysses" ein Jahrhundertbuch: Ein Buch das immer wieder mit Marcel Prousts ,, A la Recherche du Temps Perdu" auf diversen Bestenlisten um Platz 1 in der Kategorie des ,,großartigen" Buches aller Zeiten konkurriert, ein Buch das zwar nur an einem Tag, dem 16.Juni 1904 spielt, aber trotzdem von einer Komplexität und Beziehungsfülle ist, die seines gleichen sucht. ,,Ulysses" ist mit seiner Vielschichtigkeit an Bedeutungen, den angewandten Erzähltechniken und seiner Motiv- und Symbolfülle einzigartig in der Literatur des 20.Jahrhunderts, eine ,,spaßhaft-geschwätzige allumfassende Chronik mit vielfältigstem Material", wie Joyce selbst einmal erwähnte. Aber eben der Detailreichtum des Buches, seine unzähligen, auch noch so kleinen Anspielungen machen es selbst dem geübten Leser schwer, den Überblick zu behalten und zieht damit nicht nur Bewunderung, sondern auch starke Ablehnung an, weil ,,Ulysses" einfach schwer zu verstehen ist, vielleicht nie ganz verstanden werden kann. ,,Ich habe so viele Geheimnisse und Rätsel hineingesteckt, dass es die Professoren jahrhundertelang im Streit darüber halten wird, was ich wohl gemeint habe und nur so sichert man sich Unsterblichkeit" hat Joyce einmal dazu gesagt.
Eine Möglichkeit, einen Teil dieser Geheimnisse zu entziffern, besteht darin sich die Biographie des Autors anzuschauen, eine Methode, die vor allem bei einem Autor sinnvoller erscheint, über den sein berühmtester Biograph, Richard Ellmann hinsichtlich ,,Ulysses" feststellt: ,,Nichts in diesem Buch wurde aufgenommen, was nicht irgendwie persönlich und mit Joyce verknüpft ist".
Zwar wird von Kritikern immer wieder das Argument vorgebracht, biographisches Material sei nebensächlich oder sogar bedeutungslos um bedeutende Kunst zu verstehen, es verzerre nur die Kunst oder mache sie, indem sie mit der Biographie des Künstlers in Verbindung gebracht wird, geringfügiger, weil das Hauptaugenmerk auf den Künstler und nicht auf die Kunst an sich gerichtet wird.
Aber auch im Vorwort zu Stanislaus Joyces Biographie über seinen Bruder James Joyce ,,My brother´s keeper: James Joyce´s early years" verteidigt T.S.Eliot die Biographie auf folgende Weise:
Curiosity about the private life of a public man may be of three kinds: the useful, the harmless and the impertinent. It is useful when the subject is a statesman, if the study of his private life contributes towards the understanding of his public actions; it is useful, when the subject is a man of letters, if the study throws light upon his published works. The line between curiosity which is legitimate and that which is merely harmless and that which is vulgarly impertinent, can never be precisely drawn.
Obwohl es eben schwierig ist, die Linie zwischen berechtigter Neugierde über das Leben einer berühmten Persönlichkeit und harmloser und unverschämter Neugierde zu ziehen, bietet es sich im Falle von James Joyce jedoch gerade zu an, zwischen seiner Biographie und seinen Büchern zu vergleichen, denn ,,A Portrait of an Artist as a Young Man" und ,,Ulysses" sind wie T.S.Eliot fortfährt
at least so autobiographical in appearance that further study of the man and his background seems not only suggested by our own inquisitiveness, but almost expected of us by the author himself.
Ich möchte mich bei meinen autobiographischen Untersuchungen vor allem auf die ersten beiden Kapitel des ,,Ulysses" konzentrieren, in dem die 2.Hauptfigur des Buches neben dem Anzeigenverkäufer Leopold Bloom, Stephen Dedalus eingeführt wird, denn bereits im Jahre 1924 erwähnt Herbert Gorman über diesen Charakter ,,Joyce draws a portrait (obviously autobiographical) that is astonishing in its complexity and completeness."
2.Hauptteil:
Um die Figur des Stephen Dedalus in ,,Ulysses" besser zu verstehen, muss man wissen, dass Joyce diese Figur bereits in seinem fragmentarisch erhaltenen, autobiographischen Künstlerroman ,,Stephen Hero" verwendete, den er später zu ,,A Portrait of an Artist as a Young Man" umgearbeitet hat. Während ,,Stephen Hero" 1 nur zwei Jahre umfasst, und Stephens Eintritt in die Universität und seine Distanzierung von den ,,bürgerlichen" Erwartungen, die an ihn gestellt werden, beschreibt, zeichnet ,,A Portrait of an Artist as a Young Man" Joyces gesamte Jugendjahre in der Figur des Stephen Dedalus nach: seine Kindheit zu Hause, die Jahre als Jesuitenschüler in Clongowes und Belvedere , seine ersten sexuellen Erfahrungen mit eine Dubliner Prostituierten und den Entschluss, nicht Priester zu werden, sondern sich von Familie, Nation und Kirche loszusagen und nach Paris zu gehen, um dort Medizin zu studieren, ein Vorwand, um seiner wahren Berufung nachzugehen und eine künstlerische Laufbahn einschlagen zu können. Am Ende von ,,A Portrait of an Artist as a Young Man" stehen die enthusiastischen, selbstsicheren und von großen Ambitionen geprägten Tagebuchaufzeichnungen von Stephen. Dieser Enthusiasmus ist verflogen als uns Stephen Dedalus, aus Paris zurückgekehrt, in leicht depressiver und missgelaunter Stimmung im Dublin des ,,Ulysses" wieder begegnet.
2.1. Telemachus
Bereits im ersten Kapitel des ,,Ulysses" namens ,,Telemachus", das in einem alten Wehrturm, dem Martelloturm spielt, wird der autobiographische Kontext der ersten beiden Kapitel offensichtlich.
2.1.1. Die Zeit im Martelloturm in Sandycove
Stephen Dedalus, sein Freund Buck Mulligan und ein Bekannter von Mulligan namens Haines wohnen im Martelloturm in Sandycove, etwas außerhalb von Dublin. Buck Mulligan, der Medizinstudent, ärgert Stephen, in dem er auf dessen Vergangenheit in einer Jesuitenschule und dessen Überlegungen, Priester zu werden, anspielt 2 (Komm rauf, du feiger Jesuit, S.7; Kommt er mit, der jecke Jesuit, S.8; Gott, ja ein grässlicher Kerl, gelt ? Gib Loyola 3 einen Tritt, S.15) und nebenbei noch Phrasen aus der lateinischen Messe aufsagt (Introibo ad altare Dei, S.7; In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti, S.20; et unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam, S.31; Liliata rutilantium. Turma circumdet. Iubilantium te virginum., S.34). Nicht nur das Joyce tatsächlich mit dem Gedanken spielte, Priester zu werden, diese Idee aber schnell, schon bereits lange vor seiner Abreise nach Paris verworfen hatte, entspricht dem realen Leben des Dichters: Auch der Aufenthalt im Martelloturm hat tatsächlich stattgefunden. Im September 1904 verbrachte Joyce, zusammen mit Oliver St.John Gogarty, einem Medizinstudenten aus Oxford, den er in der Nationalbibliothek kennengelernt hatte und Samuel Chenevix Trench, der ebenso wie Gogarty in Oxford studierte, eine Woche im Martelloturm in Sandycove. Während dieser Woche in dem Turm kam es zu gemeinsamen Exkursionen von Gogarty und Joyce, aber auch zu Spannungen zwischen den beiden. Ein Vorfall, der nun wiederum auch im ,,Ulysses" beschrieben ist, führte dazu, dass sich Joyce des Turmes verwiesen fühlte und ihn am 19.September verließ, so wie Stephan Dedalus den Martelloturm verlässt ohne wiederzukehren. Folgendes passierte: Eines Nachts hatte Trench, der Oxford-Bekannte von Gogarty, einen Alptraum, worin ein schwarzer Panther eine Rolle spielte. Trench begann zu schreien, wachte auf, griff zum Revolver und feuerte einige Schüsse in den Kamin. Dann versank er wieder in Schlaf, und Gogarty brachte die Pistole an sich. Joyce war verständlicherweise beunruhigt. Als Trench wieder wegen des Panthers zu schreien anfing, rief Gogarty: ,,Überlass ihn mir." und schoss auf ein paar Pfannen auf dem Brett über Joyces Feldbett. Diesen Geschosshagel betrachtete Joyce als seine ,,Entlassung" und ging. Im Buch spielt sich der Vorfall dann wie folgt ab:
,,- Die ganze Nacht hat er von einem schwarzen Panter gefaselt, sagte Stephen. Und wo sein Gewehr wäre.
- Ein armer Irrer, sagte Mulligan. Hattest Du Schiß ?
- Hatte ich, sagte Stephen mit Überwindung und wachsender Furcht. Hier draußen im Dunkeln mit einem Menschen, den ich nicht kenne der vor sich hin phantasiert und stöhnt, er will einen schwarzen Panter schießen. Du hast schon Menschen vom Ertrinken gerettet. Aber ich, ich bin kein Held. Wenn er hier bleibt, verschwinde ich." (S.8)
Es liegt also auf der Hand, dass Buck Mulligan und Haines nach dem Vorbild von Oliver St.John Gogarty und dessen Oxford-Bekanntschaft Samuel Chenevix Trench modelliert sind. Nach diesem Vorfall betrachtete Joyce auch seine Beziehung zu Gogarty als beendet und ignorierte die vielen Versuche die Gogarty noch unternahm, wieder mit ihm in Kontakt zu kommen. Ein blasphemisches Weihnachtslied, ,,The Song of the Cheerful (but slightly sarcastic) Jesus", das ihm Gogarty in einem Brief mitschickte nahm er aber noch im ,,Telemachus" - Kapitel in leicht geänderter Form auf,4 wahrscheinlich, um das ohnehin schlechte Bild, das er von Buck Mulligan/Oliver St.John Gogarty zeichnete, dem er Brutalität und Grausamkeit vorwarf, noch zu vervollständigen.
2.1.2.Die Mutter in ,,Telemachus"
Ein ebenfalls allgegenwärtiges und autobiographisches Motiv im ,,Telemachus" - Kapitel ist der Tod der Mutter. Buck Mulligan macht Stephen Dedalus Vorwürfe, am Sterbebett seiner Mutter nicht niedergekniet zu haben. (,,Du hättest dich ja verdammtnochmal auch hinknien können Kinch, als deine sterbende Mutter dich darum bat, sagte Buck Mulligan"; S.10), aber noch viel belastender sind die Alpträume, die Stephen heimsuchen und in denen seine Mutter wiederkehrt:
,,Still im Traum war sie zu ihm gekommen nach ihrem Tod, ihr ausgezehrter Leib in seinen losen braunen Grabkleidern ( ) Ein Becken aus weißen Porzellan hatte neben ihrem Totenbett gestanden, darin die grüne, zähe Gallenmasse, die sie unter lautem Stöhnen in Brechanfällen ihrer verfaulten Leber entrissen hatte." (S.10/11)
Zwar ist Joyces Mutter schon im Jahre 1903 gestorben, aber ihr Tod ist ihm immer noch gegenwärtig, schließlich war es auch der angekündigte Tod der Mutter in einem Telegramm des Vaters (,,Mutter liegt sterben komme Hause Vater"), der seine Zeit als Künstler in Paris vorzeitig beendet hat.5 Vergleicht man nun die Beschreibung der toten Mutter im Roman mit dem realen Tod von May Joyce, Joyces Mutter, entdeckt man erstaunliche Parallelen: Sowohl Stanislaus als auch James Joyce weigerten sich , die innige Bitte von John Murray, dem Bruder von May Joyce zu erfüllen und am Bett der Mutter, die sich vor ihrem Tod im Koma befand, niederzuknien. Ebenso zeigt das Krankheitsbild von May Joyce starke Ähnlichkeiten mit dem von Stephens Mutter im ,, Ulysses": Die Ärzte diagnostizierten ihre Krankheit als Leberzirrhose, kurz vor ihrem Tod entpuppte sie sich jedoch als Krebs, der die Frau auszehrte. In Richard Ellmanns Joyce-Biographie wird zusätzlich erwähnt, dass May Joyce, als sich James eben während dieser Zeit ihrer schlimmen Krankheit weigerte, die Beichte abzulegen und zum Abendmahl zu gehen, ,,weinte und erbrach grüne Galle in ein Becken, aber er (Joyce) gab nicht nach." Diese Weigerung, der im Sterben liegenden Mutter einen Wunsch zu erfüllen und ein damit verbundenes Schuldgefühl, haben wohl auf leicht veränderte Weise auch Eingang in den ,,Ulysses" gefunden: Aus dem (nichterfüllten) Wunsch des Kirchganges und der Bitte des Onkels am Totenbett niederzuknien, wird die Bitte der Mutter niederzuknien, die Stephen nicht erfüllt.
Dass der Tod der geliebten Mutter6 für Stephen nach über einen Jahr immer noch präsent ist, zeigt auch wie verletzt er auf Buck Mulligans Kränkungen reagiert. Dessen Spruch ,,Och, das ist bloß Dedalus, dessen Mutter dreckig verreckt ist." (S.14), den er kurz nach ihrem Tod gesagt hat, ist ihm im Kopf geblieben. Es besteht noch eine starke emotionale Bindung zwischen Stephen und seiner toten Mutter. Dementsprechend sieht er diesen Spruch nicht als Beleidigung seiner Mutter, sondern als Beleidigung gegen ihn:
,,Er hatte sich in Mut geredet. Stephen verbarg die klaffende Wunde, die jene Worte in seinem Herzen hinterlassen hatten, und sagte sehr kalt:
- Ich denke auch nicht an die Beleidigung meiner Mutter.
- Woran denn dann ? fragte Buck Mulligan.
- Dass du mich beleidigt hast, antwortete Stephen." (S.15)
Die Beleidigung der Mutter wird zur einer Beleidigung des Sohnes, wenn dieser sich psychisch noch nicht von ihr abgenabelt hat. Die bildhafte Sprache, die Joyce verwendet, ,,die klaffende Wunde" von der er spricht, erinnert an einen Fötus, der seine Mutter bei der ,,Abnabelung" verletzt oder gar tötet.7
Wie Stephen war auch James Joyce seiner Mutter, vor allem während seiner Zeit in Paris stark verbunden. Seine Mutter stellte einen Teil der Welt dar, von der er sich losreisen wollte, auf der anderen Seite wollte er sich aber nicht von seiner Mutter lossagen. Durch den Tod der Mutter wird die Trennung von eben der festgefügten Welt der Mutter, der Kindheit, beschleunigt.
Gut neun Monate nach dem Tod von May Joyce tritt jedoch eine andere ,,Mutterfigur" in Joyces Leben: Nora Barnacle, seine zukünftige Frau. Den Tag des ersten Rendezvous8 mit Nora Barnacle, den 16.Juni 1904 hat Joyce mit dem ,,Ulysses" unsterblich gemacht, indem er sein Buch an genau diesem Tag spielen lässt und den Tag des ersten Treffens mit Nora zum ,,Bloomsday" macht. Die enorme Bedeutung dieses Tages für Joyce ist nicht zu unterschätzen, schließlich wird hiermit die Beziehung zur Mutter endgültig beendet und er tritt in Beziehung mit der Frau, mit der er bis zu seinem Tod am 13.Januar 1941 zusammenlebt. Der 16.Juni 1904 ist auch der Tag, an dem er die Einsamkeit, die er seit dem Tod seiner geliebten Mutter verspürt hat, hinter sich lässt und seine Zeit als Sohn endet. Es ist Joyces erste richtige Beziehung und die Erfahrung der Liebe stellt für ihn tatsächlich etwas komplett Neues dar, das er sich zwar schon oft in der Phantasie vorgestellt, aber noch nie real erlebt hatte - obwohl er bereits bei Ausflüge in das Rotlichtmilieu um 1895/96 seine ersten sexuellen Erfahrungen machte. Diese frühen sexuellen Erfahrungen scheinen dann aber doch vernachlässigbar oder fast schon unwichtig, denn schließlich ist es Nora, die ihn, wie er später schreibt, ,,zum Manne gemacht hat".
Dass Nora neben der Funktion als (Ehe)Frau eben auch die Rolle einer Mutterfigur für ihn hat, an der er sich quasi lebenslang ,,kettet", kann aus einem Brief vom 5.September 1909 erschlossen werden. Joyce schreibt an Nora:
,,Oh könnte ich mich schmiegen in Deinen Schoß wie ein Kind, geboren von Deinem Fleisch und Blut, genährt9 von Deinem Blut, schlafen im warmen heimlichen Dunkel Deines Körpers !"
2.2. Nestor
Auch das Nestor-Kapitel, in dem Stephen nach seiner Flucht vom Martelloturm kurzzeitig an der Privatschule von Garret Deasy unterrichtet und mit diesem eine Diskussion über Irland führt, hat einen autobiographischen Kontext.
2.2.1. Intermezzo als Lehrer
Im Jahre 1904 unterrichtete Joyce, der bereits während seiner Pariser Zeit als Nachhilfelehrer arbeitete und sich später auch während seiner Triester Zeit als Englischlehrer an der Berlitz Schule über Wasser hielt, an der Clifton School in Dalkey, wo vorübergehend eine Stelle als Hilfslehrer frei wurde. Nach dieser Schule ist offensichtlich die Schule im ,,Nestor"-Kapitel modelliert: die Clifton School wurde von einem Schotten aus Ulster, namens Francis Irwin, geleitet, der ebenso wie Mr. Deasy im ,,Nestor"-Kapitel sehr patriotisch und kämpferisch eingestellt war. (,,Mit Ulster ins Gefecht, mit Ulster für das Recht"; S.50). In die Figur des Garrett Deasy floss allerdings noch eine weitere reale Person ein, die Joyce aus Triest kannte: Henry Blackwood Price, der ebenso voreingenommen für adelige Ulster Vorfahren wie Deasy war (,,Auch ich habe Rebellenblut in mir, sagte Mr. Deasy. Mütterlichseits. Aber ich bin ein Nachfahre von Sir John Blackwood, der für die Union stimmte. Wir sind alle Iren, lauter Königssöhne.", S.45) und auch dessen Interesse für die Maul- und Klauenseuche teilte. Eben dieser Henry Blackwood Price bat Joyce um die Übermittlung einer Adresse von William Field, Parlamentsmitglied und Präsident der Viehhändlergesellschaft. Price hatte nämlich von der Heilung der Maul- und Klauenseuche in Österreich gehört und wollte dies brieflich dem Präsidenten der Irischen Viehhändlergesellschaft, Field, mitteilen. Diesen Brief finden wir nun jetzt wieder als den Brief, den Mr. Deasy an Stephen mit der Bitte weitergibt, diesen doch beim ,,Evening Telegraph" und ,,Irish Homestead" unterzubringen. (,,Ich möchte dass dieser Appell gedruckt und gelesen wird, sagte Mr. Deasy", S.48) Stephen versucht sein Möglichstes (,,Ich werde es versuchen, sagte Stephen, und Ihnen morgen Nachricht geben. Ich kenne zwei Redakteure flüchtig, S.51).
2.2.2. Geldproblematik
Im Gespräch zwischen Stephen und Mr.Deasy finden wir noch weitere Themen, die wir ebenfalls in Joyces Biographie wiederentdecken können. So ist bekannt, dass James Joyce, bevor er in den 20er - Jahren mit dem ,,Ulysses" weltbekannt wurde, unter chronischer Geldnot litt10, so dass er immer wieder bei seinem Bruder Stanislaus und sonstigen Verwandten und Bekannten um Geld betteln musste.11 Als Mr. Deasy Stephen seinen Lohn auszahlt, sprechen sie auch über Geld und es ist offensichtlich, dass auch Stephen unter Geldmangel leidet. (,, - Vielen Dank, Sir, sagte Stephen, raffte das Geld mit scheuer Hast zusammen und steckte alles in eine seiner Hosentaschen.", S.43). Deasy empfiehlt Stephen eine Sparbüchse, (,,Kaufen Sie sich doch auch so einen Apparat.", S.43), doch dieser winkt ab (,, - Meiner wäre oft leer, sagte Stephen", S.43), weil er eben, wie Joyce auch, in den Tag lebt und nicht spart. Für Deasy ist es sein größter Stolz, immer alles bezahlt zu haben, (,,Ich habe nie auch nur einen Schilling geborgt in meinem Leben". Können Sie das von sich sagen ? Ich bin nirgends etwas schuldig. Können Sie´s ?", S.43) während es für Stephen (Joyce) fast schon eine Normalität ist, Schulden zu haben. Deshalb ist auch seine Antwort auf Deasys Frage ganz klar: ,,Im Augenblick nein, antwortete Stephen.", und vor der Antwort steht noch eine lange Aufzählung seiner Schulden: ,,Mulligan, neun Pfund Curran, zehn Guineen Cousins, zehn Schilling
2.2.3. Albtraum der Geschichte
Im Gespräch mit Deasy fällt auch Stephens berühmter Satz ,,- Die Geschichte ist ein Albtraum, aus dem ich zu erwachen versuche." , ein Satz voller autobiographischer Bedeutung für Joyce: von dem einen Albtraum der Geschichte, dem ersten Weltkrieg, war er nach Zürich geflohen und während seiner Zeit als Kriegsflüchtling dort ereignete sich ein zweiter Albtraum im fernen Irland: drei seiner Studienfreunde aus der Zeit am University College (1898) wurden von diesem Albtraum verschlungen und starben, weil sie sich mehr oder weniger für ihr Land und seine Geschichte eingesetzt hatten. Joyces Studienfreund Thomas Kettle starb auf dem Schlachtfeld von Somme, Francis Skeffington und George Clancy starben in der Gewalt der Engländer: Skeffington wurde während des Osteraufstandes 1916 getötet, als er Soldaten vom Plündern abhalten wollte; Clancy wurde als Bürgermeister von der Stadt Limerick von den ,,Black and Tans" ermordet.
2.2.4. Die Mutter in ,,Nestor"
Auch eine Mutterfigur taucht im ,,Nestor" - Kapitel wieder auf, und wiederum ist es eine leidende Mutter, wie im ,,Telemachus" - Kapitel, aber auch eine liebende, sich opfernde Mutter. Als Stephen dem etwas zurückgebliebenen Schüler Cyril Sargent, bei einer Rechenaufgabe hilft, denkt er daran, dass auch dieser Junge, der als ,,hässlich und aussichtslos" beschrieben wird, eine Mutter hatte, die ihn liebte:
,,Und doch hatte ihn eine geliebt, hatte ihn auf ihren Armen getragen und in ihrem Herzen. Wäre sie nicht gewesen, die rasende Welt hätte ihn längst zertrampelt mit ihren Füßen, ein zerquetschtes, knochenloses Schnecklein." (S.40)
Eine Mutter also, die Cyril Sargent bedingungslos liebte, so wie Stephen Dedalus, bzw. James Joyce, von ihrer Mutter geliebt wurden, die aber ebenso früh starb:
,,Auf seiner Mutter hingestreckter Leib der feurige Columbanus in heiligem Eifer sich hockte. Sie war nicht mehr: das zitternde Skelett eines Reisigzweigs, verbrannt im Feuer, ein Ruch von Rosenholz und feucht gewordener Asche. Sie hatte ihn davor bewahrt, unter Füßen zertrampelt zu werden, und war gegangen, kaum dass sie gewesen." (S.40)
Auffallend ist auch die Ähnlichkeit Cyril Sargents mit Stephen (Joyce) und vielleicht ist Sargent ein Portrait von Stephen (Joyce) in ganz frühen Jahren. Jedenfalls berichtet Jean Paris in seiner Joyce - Biographie von dessen Zeit im Jesuiten-Kollegium in Clongowes Wood (1888) und erwähnt, dass der junge Joyce schikaniert wurde, einsam war und wenig Freunde gewann. Das Bild, dass man vom Schüler Sargent bekommt, ist ähnlich: er ist ebenfalls einsam, ist nicht in die Gemeinschaft eingegliedert und zurückgeblieben, während die anderen Hockey spielen. Als Stephen dem Jungen eine Nachhilfestunde erteilt erkennt er sich auch selbst in ihm wieder:
,,Wie er war auch ich, diese Hängeschultern, so gar nichts Graziöses. Meine eigene Kindheit krümmt sich da neben mir. Zu fern für mich, als dass ich auch nur einmal noch und leicht könnte Hand daran legen. Die meine ist fern und die seine geheimnisvoll wie unsere Augen." (S.41)
Dies ist mit Sicherheit auch ein Grund, warum Stephen dem Jungen gerne hilft, der sehr hilfsbedürftig ist (,,ständig noch auf ein Wort der Hilfe wartend", S.41) und seine Fürsorge gegenüber ihm ist fast schon wie die einer Mutter.
3. Schluss
3.1 Stephen Dedalus = James Joyce
Wie schon viele Biographen und Joyce-Forscher vor uns, haben wir in der vorausgehenden Untersuchung gesehen, dass die Figur des Stephen Dedalus nicht nur in Joyces offensichtlich autobiographischem Werk ,,A Portrait of an Artist as a Young Man", sondern auch in den ersten beiden Kapiteln des ,,Ulysses" ein Abbild des Künstlers als junger Mann ist, da Joyce vor allem Ereignisse die er in den Jahren 1903 und 1904 erlebte, verarbeitete.12 Interessant ist vor allem auch der Name, den Joyce der Figur gab, die ihn wiederspiegeln sollte, eben ,,Stephen Dedalus"13, und bei einem Universalgelehrten wie Joyce, kann man sich sicher sein, dass jegliche möglichen Implikationen mit diesem Namen beabsichtigt waren, um uns zu zeigen wie er sich selbst sah.
Joyce wählte Dädalus, (griechisch ,,Der Kunstfertige") den Namen des berühmten Baumeisters aus der Antike, der das Labyrinth von Knossos entwarf. Wie Dädalus hat auch Joyce ein Labyrinth, ein Romanlabyrinth namens ,,Ulysses" erfunden: labyrinthartig geht der Roman in alle Richtungen, vor allem bei der Wahl seiner Stilmittel. Alles scheint so verschieden und es gibt Abzweigungen, Abschweifungen, Irrwege und Verästelungen auf dieser Odyssee, die dann aber schlussendlich doch wieder nach Hause führt. Der Überlieferung nach war Dädalus selber Gefangener des von ihm gebauten Labyrinths - was auch auf den Künstler James Joyce bezogen werden kann, der wie kein anderer in seiner Welt verstrickt, ein Gefangener seiner/der Kunst war. Dädalus war jedoch nicht nur Architekt, Bildhauer und Mechaniker, sondern gilt auch als der Mann, der den Griechen die Schifffahrt beigebracht hat, und so gelangen wir zu Odysseus, der sich zu diesem Vorläufer verhält wie der Schüler zum Lehrer, der Schiffskapitän zum Schiffbauer und dessen Geschichte Joyce schon in jungen Jahren lass und liebte. Ebenfalls eine Parallele zwischen den beiden ist ihre lebenslange Reise und Flucht: Weder Joyce noch Dädalus haben ein wirkliches zu Hause, ihr ganzes Leben ist von Reise und Exil geprägt. Während Dädalus über Athen und Kreta nach Sizilien flieht, ist Joyce immer nur kurzzeitig unter verschiedenen Adressen in Dublin, Paris, Pola, Rom und Triest zu erreichen, vor allem in seinen jüngeren Jahren ändert sich seine Anschrift ständig und selbst am Ende seines Lebens ist er auf der Flucht, von Paris nach Zürich.
Literaturverzeichnis:
Ellmann, Richard: James Joyce, Rhein - Verlag Zürich 1959
Ellmann, Richard (Hg.): James Joyce: Briefe I, Übersetzung: Kurt Heinrich Hansen, Suhrkamp Frankfurt 1969
Helmling, Steven: ,,Joyce: Autobiography, History, Narrative" in: The Kenyon-Review, Syracuse, NY (KR). Spring 1988, S.91-109.
Jens, Walter (Hg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon, Kindler Verlag München 1988
Joyce, James: Ein Portrait des Künstlers als junger Mann (A Portrait of the Artist as a Young Man), Übersetzung: Klaus Reichert, Suhrkamp Frankfurt 1973
Joyce, James: Stephen, der Held (Stephen Hero), Übersetzung: Klaus Reichert, Suhrkamp Frankfurt 1972
Joyce, James: Ulysses, Übersetzung : Hans Wollschläger, Suhrkamp Frankfurt 1975
King, John: ,,Trapping the Fox You Are(n't) with a Riddle: The Autobiographical Crisis of Stephen Dedalus in Ulysses" in: Twentieth Century Literature, Hempstead NY, Fall 1999, S.299 - 316
Paris, Jean: James Joyce, Rowohlt Hamburg 1960
Saunders, Max : "Ford, Eliot, Joyce and the Problem of Literary Biography" in : Gould, Warwick; Staley, Thomas F.(Hg.): Writing the lives of writers, St. Martin Press Inc New York 1998
Zimmermann, Michael: "Stephen´s Mothers in Ulysses: Some notes for the autobiography of James Joyce" in: Pacific Coast Philology, Los Angeles CA, 10/1975, S.59 -68
http://www.robotwisdom.com/jaj/ulysses/index.html
http://www.kreienbuehl.ch/lat/latein/uebersetz/ovidikarus.html
[...]
1 Bezieht sich auf die noch erhaltenen 400 Seiten des ursprünglich 1000 Seiten starken Romans.
2 Alle Seitenangaben beziehen sich auf die Wollenschläger-Übersetzung von ,,Ulysses"
3 Ignatius von Loyola 1491- 1556, Gründer des Jesuitenordens
4 Joyce übernahm die ersten beiden Strophen des 9 - strophigen Liedes wörtlich, die letzte Strophe veränderte er leicht.
5 Auch dieses Telegramm findet Erwähnung im ,,Ulysses": Im ,,Proteus"- Kapitel ist die Rede von einem ,,blauen, französischem Telegramm, Rarität zum Vorzeigen: - nutter im sterben sofort nach hause vater."
6 Joyce hatte immer ein besseres Verhältnis zu seiner Mutter, als zu seinem Vater, der viel trank und sich nicht viel Zeit für seinen Sohn nahm.
7 Stephen Dedalus fühlt sich ja auch schuldig am Tod seiner Mutter, wobei er nüchtern betrachtet, natürlich nichts mit dem Tod der Mutter an Krebs zu tun hat.
8 Angesprochen hatte Joyce sie bereits am 10.Juni 1904 in der Nassau Street in Dublin, es wurde ein Treffen am 14.Juni vereinbart, dass aber nicht stattfand, und nach einem Brief Joyces vom 15.Juni wurde das Rendezvous ihm dann am 16.Juni gewährt.
9 Diese nährende Mutter taucht wiederum auch im ,,Ulysses" auf, im ,,Telemachus"-Kapitel und zwar in der Gestalt der Milchfrau, die neben Stephen stehen bleibt nachdem sie den Martelloturm betreten hat, um ,,fette, weiße Milch" zu bringen.
10 Während seiner Pariser Zeit führte er nicht nur eine Existenz als Künstler, sondern fast auch schon als Hungerkünstler, denn zeitweise vergangen 60 Stunden, ohne dass er etwas gegessen hatte.
11 Auch die vielen Umzüge, die Joyce in jungen Jahren aber auch noch während seiner Zeit in Triest hinter sich brachte, lassen sich durch den chronischen Geldmangel erklären. Auch in Triest arbeitete er hauptsächlich und auch über eine längeren Zeitraum als Lehrer, aber seine finanzielle Lage verbesserte sich dadurch nicht.
12 wie in den vorherigen Kapiteln erwähnt: der Tod der Mutter, die Zeit im Martelloturm und der Bruch mit Gogarty, die Arbeit als Hilfslehrer in Dalkey, Geldproblematik, gewaltsamer Tod von Freunden und das Treffen mit Nora.
13 Während Joyce an ,,Stephen Hero" arbeitete, unterschrieb er sogar einige Briefe mit ,,Stephen Dedalus". von Freunden und das Treffen mit Nora.
- Citar trabajo
- Jürgen Tobisch (Autor), 2000, Autobiographische Elemente in James Joyces "Ulysses" Kapitel 1 und 2, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99182
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