Unter dem Eindruck der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 hat die Europäische Union die Stabilisierung des Bankensektors zu einem ihrer wichtigsten Ziele erhoben. Notleidende Bankkredite sollen möglichst umfassend und schnell von den Bilanzen getilgt werden können und ein robuster Sekundärmarkt soll für sie entstehen. Gleichzeitig sollen notleidende Forderungen auch einfacher – und innerhalb der EU möglichst einheitlich – verwertet werden können.
Bedingt durch die SARS-CoV-2-Pandemie und der dadurch verursachten Wirtschaftskrise haben notleidende Kredite auch wieder an praktischer Bedeutung gewonnen.
Sowohl das Bankenaufsichtsrecht als auch das Recht der vorinsolvenzlichen Restrukturierung befinden sich daher derzeit im Umbruch.
Welche rechtlichen Rahmenbedingungen gelten für Marktakteure, deren Geschäftsmodell den Aufkauf und die Verwertung von notleidenden Krediten umfasst, um die Kontrolle über Krisenunternehmen zu übernehmen? Wie könnten die anstehenden Reformen im Bankrecht und im Restrukturierungsrecht dafür genutzt werden, einen liberalen, sanierungsfreundlichen Rechtsrahmen zu schaffen, der Loan-to-own-Investoren als Beitragende zur Wertschöpfung und Wertsteigerung von Krisenunternehmen begreift?
In seiner rechtsgebietsübergreifenden Dissertation gliedert Peter Stainer die Loan-to-own-Strategie in drei Teilabschnitte, die er zunächst auf ihre Durchführbarkeit de lege lata untersucht. Anschließend wird erörtert, wie insbesondere durch vereinheitlichte Marktzugangsbedingungen und der Gestaltung eines liberalen Rechtsrahmens die Durchführung von Loan-to-own-Transaktionen in Deutschland de lege ferenda erleichtert werden könnte.
Dabei bezieht er bereits das COVInsAG sowie das StaRuG in seine Erwägungen mit ein und zeigt eine rechtspolitische Perspektive auf, die auch in Krisenzeiten weniger auf staatliche Intervention als vielmehr auf ein freies Wirken der Kräfte des Marktes setzt.
Vorwort
§ 2 Vorstellung und Einordnung des Geschäftsmodells Loan-to-own
§3. Loan-to-own „in a nutshell“ – Überblick über Transaktionsstruktur und Motivation der Beteiligten
§4. Das erste Transaktionsstadium: Die Identifizierung notleidender Kredite
§5. Das zweite Transaktionsstadium: Der Handel mit notleidenden Krediten
§6. Das dritte Transaktionsstadium: Die Umwandlung des Kredits in Eigenkapital
§7. Das erste Transaktionsstadium: Eine Definition des notleidenden Kredites
§8. Das zweite Transaktionsstadium: Erleichterungen des Kredithandels durch die NPL-Sekundärmarktrichtlinie?
§9. Das dritte Transaktionsstadium: Erleichterte Debt-Equity-Swaps durch die EU-Restrukturierungsrichtlinie?
§10. Ausblick auf die Bedeutung der Coronakrise für Loan-to-own-Investoren
§11. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
§ 1 Einleitung
A. Hintergrund
Der Umgang mit notleidenden Krediten beschäftigt seit geraumer Zeit den europäischen und den deutschen Gesetzgeber. Besonders im Fokus steht der Abbau notleidender Kredite bei Banken, weil diese systembedrohende Risiken beinhalten können. Deutlich wurde dies im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008: In Reaktion auf den knapp verhinderten Zusammenbruch des weltweiten Finanzsystems und die teilweise sehr hohen Bestände an notleidenden Krediten in den Mitgliedsstaaten erhob die Europäische Union die Stabilisierung des Bankensektors, insbesondere die Bekämpfung von notleidenden Krediten auf den Bilanzen der Banken zu einem ihrer wichtigsten Ziele.
Unter dem Vorzeichen der Stabilisierung des Bankensektors stehen derzeit das Insolvenzrecht und das Bankaufsichtsrecht, welche sich derzeit im Umbruch befinden: Die Restrukturierungsrichtlinie (EU) 2019/1023 sowie die Einarbeitung der verschärften Eigenmittelanforderungen durch Basel III final in die Kapitaladäquanzverordnung (EU) 575/2013 befinden sich – Stand Juli 2020 – in der Umsetzungsphase. Hinzu kommt seit März 2020 die COVID-19-Pandemie, welche durch einen erzwungenen Shutdown der Wirtschaft die Welt in eine neue Wirtschaftskrise gezogen hat und infolgedessen die Anzahl notleidender Kredite wieder ansteigen werden.
Bislang waren die Eigenmittelregulatorik und das Sanierungs- bzw. Insolvenzrecht nur selten Gegenstand rechtsgebietsübergreifender Betrachtungen unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen Kontextes.
Anlass hierzu geben die Geschäftsmodelle von Kapitalmarktakteuren, welche notleidende Kredite aufkaufen und im Rahmen einer außergerichtlichen oder insolvenzlichen Restrukturierung den Erwerb von Eigenkapitalanteilen des Kreditschuldners anstreben. Dieses Geschäftsgebaren wird gemeinhin als Loan-to-own bezeichnet und wird von spezialisierten Finanzinvestoren wie Hedgefonds und Private Equity-Unternehmen angewendet. Kannte man aus Zeiten vor der Finanzkrise Fälle wie Pfleiderer und IVG, so ist in jüngerer Zeit angesichts der schuldenbasierten Übernahmen von ATU, Kettler Bavaria Yachtbau, Triton, Honsel, Stabilus, Dywidag, Monier und Primacom ein Anstieg an Loan-to-own-Aktivitäten in Europa zu verzeichnen.
Die vorliegende Arbeit möchte das Geschäftsmodell Loan-to-own juristisch einzuordnen und die Frage zu beantworten, ob – und wenn ja wie – sich die europäischen legislativen Reformbestrebungen zur Bekämpfung notleidener Kredite auf das Geschäftsmodell von Loan-to-own-Investoren auswirken.
B. Ziel der Arbeit und Gang der Untersuchung
I. Ziel der Arbeit
Ziel der Arbeit ist es, das Geschäftsmodell von Loan-to-own-Investoren vorzustellen, in seine logischen Bestandteile aufzugliedern und diese auf juristische Problemstellungen de lege lata hin zu untersuchen. Im Anschluss wird untersucht, inwieweit sich de lege ferenda die Europäischen Legislativprojekte – zuvörderst die Restrukturierungsrichtlinie (EU) 2019/1023 – auf das Geschäftsmodell von Loan-to-own-Investoren auswirkt.
II. Gang der Untersuchung
Die Arbeit gliedert sich in vier Teile mit ingesamt elf Kapiteln. Im ersten Teil wird das Geschäftsmodell Loan-to-own vorgestellt und in die Systematik der Anlagestrategien von Hedgefonds und Private Equity eingeordnet.
Der zweite Teil zeichnet de lege lata den Verlauf eines Loan-to-own-Investments von der Identifikation notleidender Kredite bis zur Kontrollübernahme des Zielunternehmens nach, untersucht die einzelnen Transaktionsstadien auf Rechtsprobleme und identifiziert aus dem Recht kommende Chancen und Risiken für das Geschäftsmodell.
Im dritten Teil wird de lege ferenda untersucht, welche Änderungen und Umsetzungsspielräume sich für die jeweiligen Transaktionsstadien ergeben.
Der vierte und letzte Teil gibt einen Ausblick auf die Sondergesetzgebung angesichts der COVID-19-Pandemie und der in Folge ausgelösten Coronakrise und bietet einen Ausblick auf die Zukunft.
III. Eingrenzung des Betrachtungsgegenstandes
Die soeben skizzierte Themenstellung der vorliegenden Arbeit erfordert eine Eingrenzung bei Umfang und Maßstab der Untersuchung: So sind Verbraucherdarlehen im Sinne der §§ 491–505e BGB nicht Gegenstand der Untersuchung, ebenso wenig immobilienbesicherte Kreditverträge. Im Bereich der Unternehmenskredite (Corporate Loans) werden insbesondere Betriebsmittelkredite teilweise ohne Immobilienbesicherung vergeben.[1] Im Rahmen der Kreditverwertung sind ferner Verbriefungslösungen wie Asset-Backed Securities nicht Gegenstand der Betrachtung. Steuerrechtliche Fragen, insbesondere die steuerliche Behandlung von Sanierungsgewinnen nach der Feststellung der Unrechtmäßigkeit des Sanierungserlasses, sind ebenfalls nicht Gegenstand der Betrachtung, ebensowenig die EuInsVO. Berücksichtigt sind die Literatur und Rechtsprechung bis Juli 2020.
Teil 1: Das Geschäftsmodell Loan-to-own – Vorstellung und Überblick über die Transaktionsstruktur
§ 2 Vorstellung und Einordnung des Geschäftsmodells Loan-to-own
Der Begriff Loan-to-own hat außerhalb informierter Fachkreise zunächst einmal wenig Erkenntniswert. Ein M&A-Fachlexikon gibt die Auskunft, dass „Eine Loan-to-own-Strategie … eine Investitionsstrategie [ist], bei der ein Investor zunächst die Schulden eines Unternehmens erwirbt (Distressed Debt), diese dann in Eigenkapital des Unternehmens umwandelt (Debt-to-Equity Swap) und sich auf diese Weise letztlich die Kontrolle über das Unternehmen sichert. Loan-to-own-Strategien wurden von US-Finanzinvestoren unter dem amerikanischen Insolvenzrecht entwickelt und seit Ende der 90er Jahre auch zum Erwerb deutscher Unternehmen eingesetzt. Besondere Attraktivität entfalteten Loan-to-own-Strategien, als Banken begannen, im großen Stil Problemkredite (Non-performing Loans) an Finanzinvestoren zu veräußern.“[2]
Anhand dieser Definition lässt sich der Begriff Loan-to-own in vier Teilaussagen aufgliedern: (i) es handelt sich um eine Investitionsstrategie bestimmter Investoren, (ii) es werden Schulden eines Unternehmens erworben, (iii) besagte Schulden des Unternehmens werden in Eigenkapital umgewandelt und (iv) auf diese Weise wird durch den Investor die Kontrolle über das Unternehmen übernommen.
C. Der Begriff des Investors
Zunächst soll die erste der vier Teilaussagen näher betrachtet werden: Loan-to-own ist eine Investitionsstrategie bestimmter Arten von Investoren.
Eine Legaldefinition des Investors gibt es nicht, sodass der Duden für eine erste Auskunft zu konsultieren ist. Dieser definiert einen Investor als eine „Person, Firma o.Ä., die investiert, Kapital anlegt“.[3] Als Investor kann daher eine natürliche oder juristische Person bezeichnet werden, die eigenes und/oder von Dritten anvertrautes Kapital mit dem Ziel einsetzt, das eingesetzte Kapital zu vermehren.[4] Als Investor kann demnach sowohl die Person verstanden werden, die einer Investmentgesellschaft Kapital zur Verfügung stellt, als auch die Investmentgesellschaft selbst, welche Investitionen tätigt. Letztere sind zur steuerlichen Optimierung der Investitionserträge regelmäßig in komplexe, grenzüberschreitende gesellschaftsrechtliche Offshore-Strukturen eingebunden, deren Darstellung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.[5]
Mit dem Begriff „Loan-to-own-Investor“ ist hier stets die Investmentgesellschaft gemeint, welche Loan-to-own-Strategien anwendet, und nicht deren Kapitalgeber. Dieses Verständnis des Investorenbegriffs liegt den folgenden Erwägungen zu Grunde, die Kapitalgeber werden im Folgenden als Anleger bezeichnet.
D. Abgrenzung verschiedener Investorentypen
Zur näheren Eingrenzung des weiten Investorenbegriffs bieten sich drei Begriffspaare an:
Typischerweise werden Investoren nach der Ausgestaltung ihres Portfolios in konventionelle und alternative Investoren eingeteilt. Im Kontext der Übernahme von Unternehmen wird zudem zwischen strategischen Investoren und Finanzinvestoren unterschieden. Ferner werden aktive und passive Anlagestrategien unterschieden. Im Folgenden wird der Versuch einer Einordnung von Loan-to-own-Investoren anhand dieser Koordinaten vorgenommen.
I. Konventionelle und alternative Investoren
Zu den konventionellen Anlagekategorien gehören Sparbücher, Aktien, Fonds, Anleihen, Festgeld sowie Immobilien- oder Rohstoffinvestitionen. Zu den konventionellen Investoren gehören etwa institutionelle Investoren wie Pensionsfonds oder Indexfonds, aber auch Kleinanleger. Konventionelle Investoren investieren in konventionelle Anlagekategorien und erzielen nur dann Erträge, wenn sich die Anlage im Wert steigert – der Erfolg einer konventionellen Anlage hängt daher von einem positiven Marktumfeld ab. Finanzinstrumente, mittels derer auch bei einem stagnierenden oder negativen Marktumfeld Erträge erzielt werden können, stehen konventionellen Investoren – in der Regel aus regulatorischen Gründen zum Schutz der Anlage und der Anleger – nicht zur Verfügung.
Im Unterschied zu konventionellen Investoren zielen alternative Investoren grundsätzlich nicht auf eine relativ bessere Rendite gegenüber bestimmten, vorab definierten Marktindizes ab, sondern auf die Erzielung von positiven Renditen unabhängig von der allgemeinen Marktentwicklung (absolute return).[6] Um für Anleger im Vergleich zu konventionellen Anlagekategorien attraktiv zu sein, müssen alternative Investoren imstande sein, das angelegte Kapital vom Marktgeschehen möglichst unabhängig und vor allem stärker zu vermehren. Anlagestrategien von alternativen Investoren sind daher innovativ, vielfältig und sehr heterogen, was eine Kategorisierung erschwert.[7] Eine systematische Erschließung der verschiedenen Arten von Investoren kann einerseits anhand von branchenüblichen Begriffszuschreibungen erfolgen, andererseits durch eine Abgrenzung der jeweiligen Investitionsstrategien.[8] Zu den häufigsten Vertretern alternativer Investoren zählen Hedgefonds, Private Equity-Unternehmen sowie Venture Capital-Unternehmen. Keinem dieser Begriffe liegt ein einheitliches Verständnis im Sinne einer Legaldefinition zu Grunde, vielmehr umschreiben die Begriffe die wesentlichen Züge verschiedener alternativer Anlagestrategien, wobei es zahlreiche Überschneidungen zwischen den Begriffen gibt. Allen Dreien gemeinsam ist, dass in der Regel eine hohe Mindesteinlage von den Anlegern verlangt wird und die Fondsmanager selbst substantiell eigenes Kapital investieren und erfolgsbezogen vergütet werden.[9]
1. Hedgefonds
Eine einheitliche Definition von Hedgefonds gibt es nicht und kann aufgrund der Heterogenität dieser Investmentgesellschaften auch nicht gelingen.[10] Die Definition in § 283 KAGB, welche auf den Einsatz von Hebeleffekten und Leerverkäufen abstellt, ist außerhalb des regulatorischen Kontextes des KAGB nicht praktikabel: Zum einen beschreibt sie nur punktuelle Ausprägungen bestimmter Anlagestrategien, die nicht alle Hedgefonds nutzen, zum anderen stehen Hebeleffekte und Leerverkäufe auch bestimmten anderen Marktakteuren grundsätzlich zur Verfügung.[11]
Die Bezeichnung „Hedgefonds“ (aus dem Englischen von to hedge – absichern) rührt von der Strategie des ersten modernen Hedgefonds, A.W. Jones & Co. her, welcher 1949 erstmals als unterbewertet eingestufte Finanzinstrumente kaufte und gleichzeitig als überbewertet eingestufte Finanzinstrumente leerverkaufte.[12] So wurde das investierte Kapital vor Marktrisiken geschützt (gehedged), womit der Erfolg der Investition nur vom spezifischen Risiko der jeweiligen Investition abhing – und damit von den Fähigkeiten des Investors.[13]
Im weitesten Sinne sind alle Investmentgesellschaften – unabhängig von der Rechtsform – als Hedgefonds zu definieren, die keinen Beschränkungen bei der Auswahl ihrer Anlagestrategien unterliegen und deswegen nicht-traditionelle Anlagestrategien anwenden oder diese mit konventionellen Anlagestrategien kombinieren.[14] Sie sind auf kurzfristige Renditeerzielung ausgerichtet. Im Vergleich zu Private Equity oder Venture Capital ist die Dauer einer Einzelinvestition bei Hedgefonds kurz und kann – je nach Anlagestrategie – zwischen wenigen Sekunden bis zu mehreren Jahren liegen.[15]
In den individuellen Strategien von Hedgefonds liegt deren Erfolgsgeheimnis[16]. Weil Hedgefonds regelmäßig keinen Publizitätspflichten unterliegen und Details ihrer Strategien daher nicht preisgeben, ist es nicht möglich, die verschiedene Strategien in allen Einzelheiten zu beleuchten.[17] Dies ist allerdings auch nicht notwendig, da Hedgefonds erwiesenermaßen Loan-to-own-Strategien in der Vergangenheit angewandt haben und anwenden.[18]
a) Arbitragestrategie
Unter Arbitragestrategien – im Fachjargon arbitrage[19] oder relative value[20] genannt – versteht man Geschäfte an organisierten Handelsplätzen, bei denen Preisunterschiede desselben Wertpapiers an verschiedenen Handelsplätzen oder aber Bewertungsunterschiede bei ähnlichen Wertpapieren (sogenannte spreads) ausgenutzt werden.[21] Arbitragestrategien setzen an der Situation an, dass der Marktpreis vergleichbarer Wertpapiere nicht dem „wahren Wert“ (true value) entspricht. Der „wahre Wert“ wird dabei entweder mittels Fundamentalanalyse (fundamental arbitrage) oder quantitativen Methoden – häufig unter Zuhilfenahme von Computermodellen (statistical arbitrage) – durch Branchenspezialisten der Hedgefonds (Analysten) berechnet.[22] Unter der Annahme, dass die Marktpreise sich mit der Zeit dem „wahren Wert“ annähern, wird das überbewertete Wertpapier leerverkauft und das unterbewertete Wertpapier gekauft (sogenanntes pair trading). Sofern die Marktpreise sich tatsächlich dem „wahren Wert“ annähern, können beide Positionen gewinnbringend aufgelöst werden.[23] Konventionelle Anleger könnten hingegen allenfalls vom Kursanstieg des zunächst unterbewerteten Wertpapiers profitieren (siehe oben).
Arbitragestrategien finden insbesondere bei Aktien (equity market neutral)[24], Zinstitel (fixed income arbitrage)[25] und Wandelanleihen (convertible arbitrage)[26] Anwendung, funktionieren aber mit allen handelbaren Wertpapieren. Die Bewertungsunterschiede zwischen den Wertpapieren sind oft nur sehr gering, weshalb eine Gewinnerzielung oft nur durch große Handelsvolumina unter starkem Fremdkapitaleinsatz möglich ist.[27]
Sonderfälle unter den Arbitragestrategien bilden zum einen die Strategie merger arbitrage, bei der auf die finanziellen Auswirkungen von Unternehmenszusammenschlüssen und -fusionen (mergers & acquisitions) – speziell auf die Vereinnahmung der Übernahmeprämie – spekuliert wird.[28] Sie wird daher teilweise auch zu den ereignisbezogenen Strategien gezählt (siehe sogleich unter § 1D.I.1.c).[29]
Ein weiterer Sonderfall bildet die Strategie long/short equity, welche – ähnlich wie bei equity market neutral – Bewertungsunterschiede bzw. Fehlbewertungen bei Aktien ausnutzt, allerdings Akzente zugunsten einer prognostizierten Marktentwicklung (steigende oder fallende Aktienkurse) setzt (sogenanntes long oder short bias) und somit bewusst nicht marktneutral positioniert ist.[30] Man spricht insoweit – in Abgrenzung zu marktneutralen, nichtdirektionalen Strategien – von direktionalen Strategien.[31]
Arbitragestrategien stellen hohe Anforderungen an die Aussagekraft der Bewertungsmodelle und die Prognose von Marktentwicklungen für die Auswahl unter- und überbewerteter Wertpapiere.[32] Aufgrund des üblicherweise sehr hohen Fremdkapitaleinsatzes sind sie mit hohen Risiken einschließlich des Totalverlustes des eingesetzten Kapitals verbunden, sollten sich die zugrunde gelegten Annahmen als falsch erweisen.
b) Opportunistische Anlagestrategien
Opportunistische oder auch taktische Anlagestrategien basieren auf der Annahme des Hedgefonds bzw. dessen Manager, dass er besser versteht als andere Marktteilnehmer, zukünftige Marktentwicklungen zu prognostizieren.[33] Es werden daher Bewegungen bei den unterschiedlichsten ökonomischen Variablen identifiziert und deren Auswirkungen auf die Kapitalmärkte prognostiziert.[34] Der Erfolg der Anlagestrategie hängt daher stark von der Prognosefähigkeit der Investmentspezialisten ab. Allerdings verursachen opportunistische Hedgefonds – teilweise durch die öffentliche Wahrnehmung ihrer Gründer als „Börsengurus“[35], teilweise durch die schiere Höhe des verwalteten Anlagevermögens[36] – in einigen Fällen die „vorhergesagte“ Marktdynamik selbst, sodass sich in diesem Zusammenhang auch marktmissbrauchsrechtliche Fragen stellen.[37] Zu den wichtigsten opportunistischen Anlagestrategien zählen global macro[38] und short selling[39].
aa) Global Macro
Bei global macro halten Investmentspezialisten ausgehend von makroökonomischen Analysen und den hieraus resultierenden Prognosen Kaufpositionen und Leerverkaufspositionen, um Veränderungen an Devisen-, Kapital- und Rohstoffmärkten vorwegzunehmen. Entscheidend ist das frühzeitige Erkennen von sich abzeichnenden Markttrends sowie der effiziente Aufbau entsprechender Positionen.[40] Global macro-Hedgefonds stellen die Strategie mit der größten Vielfalt von eingesetzen Instrumenten dar und haben die größte Flexibilität hinsichtlich des Einsatzes von Derivaten oder Fremdkapital.[41]
bb) Short selling
Short selling-Hedgefonds setzen auf fallende Kurse von Wertpapieren, wobei sie – ausschließlich oder überwiegend – Leerverkäufe einsetzen, eine Form des Sachdarlehens mit Aktien.[42] Der Kursverfall wird mittels technischer oder fundamentaler Methoden antizipiert oder es werden nach Eingehen der Leerverkaufsposition Investorenberichte (research reports) über das betroffene Unternehmen veröffentlicht, welche Probleme des betroffenen Unternehmens betonen. Solche Berichte beruhen in der Regel auf aufwändigen Analysen des Unternehmens und prangern meist Ineffizienzen oder Fehler in der Geschäftsführung, teilweise auch unzulässiges oder gar illegales Geschäftsgebaren an.[43] Bricht der Wertpapierkurs infolge der Veröffentlichung der Negativberichte ein, löst der short seller seine Leerverkaufsposition gewinnbringend auf.[44] Innerhalb der Europäischen Union wird short selling durch die EU-Leerverkaufsverordnung[45] stark reguliert und eingeschränkt. Von der in Art. 20 EU-Leerverkaufsverordnung vorgesehenen Möglichkeit eines zeitlich begrenzten Verbotes der Begründung und der Vergrößerung von Netto-Leerverkaufspositionen hat die BaFin erstmalig am 18.02.2019 zugunsten der Wirecard AG Gebrauch gemacht, als unter anderem short seller wie Muddy Waters oder Gotham City ihre Leerverkaufspositionen auf Wircard ausgebaut hatten.[46] Angesichts des im Sommer 2020 bekannt gewordenen Bilanzskandal um Wirecard ist die Frage aufzuwerfen, ob der ungerechtfertigte Ausspruch des Leerverkaufsverbots staatshaftungsrechtliche Ansprüche der Short-Seller auslöst. Fest steht jedenfalls, dass die Shortseller mit ihrer Einschätzung zur Seriösität der Wirecard AG von Anfang an richtig lagen.
c) Ereignisbezogene Strategien von Hedgefonds
Ereignisbezogene Strategien haben wenig gemein mit den zuvor geschilderten quantitativ-analytisch getriebenen Ansätzen. Ereignisbezogene (event driven) Strategien zielen darauf ab, von bestimmten Ereignissen (Sondersituationen), die im Lebenszyklus eines Unternehmens auftreten können, zu profitieren.[47] Sie stehen in keinem direkten Bezug zum Handel von Wertpapieren an organisierten Handelsplätzen und der dort stattfindenden Preisbildung.[48]
Bei ereignisbezogenen Strategien sind die Überschneidungen zwischen Hedgefonds und Private Equity-Unternehmen am Größten. Mittlerweile existieren sogar Überschneidungen in der Gestalt, dass Hedgefonds als Anleger in Private Equity-Unternehmen auftreten und Private Equity-Unternehmen bei ihrem Kampf um die Unternehmensführung auf jenes „robustere“ Instrumentarium zurückgreifen, welches man traditionell eher bei Hedgefonds verortet.[49] Zu den wichtigsten ereignisbezogenen Strategien zählen shareholder activism und distressed debt; die Strategie merger arbitrage wurde bereits bei den Arbitragestrategien besprochen.
aa) Shareholder Activism
Bei der Strategie shareholder activism zielt ein Hedgefonds darauf ab, den shareholder value von gehaltenen Beteiligungen an in der Regel börsennotierten Unternehmen zu maximieren, indem die Strategie der jeweiligen Unternehmen durch Kommunikation mit und Druck auf die Unternehmensleitung beeinflusst wird. Eine Übernahme des Unternehmens im Ganzen wird von shareholder activists regelmäßig nicht angestrebt.[50] Hedgefonds bauen signifikante Minderheitsbeteiligungen auf und versuchen dann, ihre Vorstellungen über die Unternehmensführung durchzusetzen und Wertsteigerungspotentiale zu heben. Die Einflussnahme erfolgt regelmäßig im Rahmen der Hauptversammlung, im direkten Dialog mit Aufsichtsrat und/oder Vorstand sowie durch die Erlangung eines Sitzes im Aufsichtsrat.[51] Dies kann in Kooperation mit der Unternehmensführung erfolgen oder forciert werden, indem der „Aktivist“ durch öffentliche Kampagnen Druck ausübt – häufig im Bunde mit anderen (aktivistischen) Aktionären.[52] „Aktivisten“ zielen auf Unternehmen mit operationellen oder finanziellen Schwierigkeiten ab, welchen durch Maßnahmen wie dem Austausch des Vorstandes, dem Verkauf von Unternehmenssparten außerhalb des Kerngeschäfts, einer strategischen Neuausrichtung, einer Prozessoptimierung, verbesserter Kostenkontrolle, Kapitalmaßnahmen oder bilanzieller Restrukturierung begegnet werden soll.[53]
Shareholder activism stellt mithin andere Anforderungen an Qualifikation und Expertise der Investmentspezialisten als die zuvor besprochenen Arbitragestrategien und opportunistischen Strategien: Während bei Letzteren quantitativ-analytische Fähigkeiten und ein vertieftes ökonomisches Verständnis der Kapitalmärkte erforderlich sind, werden bei „Aktivisten“ vor allem betriebswirtschaftliches Verständnis und genaue Kenntnis der Zielunternehmen, ihrer Produkte und ihres Marktumfelds benötigt.
bb) Distressed Debt
Der Begriff Distressed Debt beschreibt allgemein den Aufkauf und die anschließende Abwicklung von Forderungen, deren Erfüllung bzw. Durchsetzung für den ursprünglichen Forderungsinhaber nur unter unverhältnismäßigem Aufwand und/oder nicht zeitnah möglich ist. Distressed Debt-Investoren sind auf die Handhabung von Forderungen in Problemfällen spezialisiert und erzielen ihre Erträge mit der Geltendmachung der aufgekauften Forderungen, wobei Distressed Debt-Investoren in Bezug auf Maßnahmen zur Beitreibung der Forderung eine größere Flexibilität und einen größeren Erfahrungsschatz haben.[54]
Innerhalb von Distressed Debt-Investoren kann zwischen drei wesentlichen Teilstrategien unterschieden werden, von denen für die vorliegende Betrachtung jedoch nur eine von Interesse ist: Erstens die Verwertung kleinteiliger, immobilienbesicherter Wohnungsbaukredite aus dem Massengeschäft der Kreditinstitute mit dem Ziel der Verwertung der Kreditsicherheiten, zweitens die Verwertung großer gewerblicher, immobilienbesicherter Projektfinanzierungsdarlehen ebenfalls dem Ziel der Verwertung der Kreditsicherheiten und schließlich drittens die Verwertung von in der Regel unbesicherten Unternehmenskrediten – vor allem Betriebsmittelkrediten.[55] In letzterem Fall kommt es mangels Immobiliarsicherheit ausschließlich auf die gegenwärtige und zukünftige Zahlungsfähigkeit des darlehensnehmenden Unternehmens an, sodass sich für Distressed Debt-Investoren hier vielfältige Einsatzmöglichkeiten bieten.[56] Allein der Aufkauf und die Verwertung von unbesicherten Unternehmenskrediten (Corporate Loans) sind im Folgenden Gegenstand der Betrachtung.
Im Sinne der soeben vorgenommenen Eingrenzung gewähren Distressed Debt-Investoren Fremdkapital an Krisenunternehmen oder kaufen bestehende Fremdkapitalpositionen von Krisenunternehmen auf, um sich an Entschuldungs- oder Sanierungsmaßnahmen aktiv zu beteiligen.[57] Krisenunternehmen sind Unternehmen, die sich in einer wirtschaftlichen, finanziellen oder organisatorischen Notlage befinden.[58]
Diese Notlage ist das Ergebnis eines ungewollten Prozesses, in dessen Verlauf die Erfolgspotentiale, das Reinvermögen und/oder die Liquidität des Unternehmens so ungünstig entwickelt haben, dass das Unternehmen in der Existenz gefährdet ist bzw. eine Insolvenz droht (distressed situation).[59] Ein Krisenunternehmen ist daher sanierungsbedürftig, insolvent oder insolvenzgefährdet.[60]
Als für den Aufbau einer Fremdkapitalposition geeignete Fremdkapitalinstrumente in Betracht kommen in erster Linie Anleihen und Bankkredite, aber auch Schuldscheindarlehen.[61]
Fremdkapitalinstrumente von notleidenden Unternehmen werden in der Regel zu hohen Abschlägen von deren Nominalwerten gehandelt.[62] Ziel der Distressed Debt-Strategie ist es, Fremdkapitalinstrumente mit Abschlag zu erwerben, an der Wertaufholung solcher Krisenunternehmen zu partizipieren und somit eine risikoadäquate Rendite zu erwirtschaften.[63]
Um dieses Ziel zu erreichen, wenden sie unterschiedliche Strategien an, welche im Wesentlichen wie folgt unterschieden werden können:[64]
(i) Passive kurzfristige Investitionsstrategien
Beim sogenannten Free-riding[65] oder Trading[66] verfolgen die Distressed Debt-Investoren einen sehr kurzfristigen Anlagehorizont, wobei sie auf eine kurzfristige Wertsteigerung des Unternehmens innerhalb der vorhandenen Kapitalstruktur spekulieren. Ziel ist die (kurzfristige) Weiterveräußerung an andere Fremdkapitalinvestoren mit längerfristigem Anlagehorizont oder das Abwarten der Rückzahlung des Kredits zum Nominalbetrag.[67] Häufig werden ganze Kreditportfolien oder Kreditsegmente verkauft, wobei die einzelnen Forderungen für diesen Weiterverkauf auf risikohomogene Portfolien verteilt (repackaged) werden und gegebenenfalls auch verbrieft werden können (Asset-Backed-Securities, ABS).[68] Diese Investoren verhalten sich gegenüber dem/den Kreditnehmer/n passiv, sie werden daher zum Teil auch als Non-control-oriented bezeichnet.[69]
(ii) Aktiv-konstruktive, mittel- bis langfristige Investitionstrategien
Eine aktiv-konstruktive Rolle gegenüber dem Kreditnehmer nehmen hingegen Loan-to-own-Investoren, auch genannt Creditor Activists, Hands-on-Investoren[70], Workout-Investoren[71] oder Value-Investoren[72] ein, indem sie eigene Sanierungskonzepte für den Schuldner entwickeln und umsetzen. Hierdurch soll einerseits der drohende Ausfall der Kreditposition abgewendet und darüber hinaus eine Wertsteigerung der erworbenen Fremdkapitalpositionen erzielt werden.[73] Diese Teilstrategie wird daher auch als control-oriented bezeichnet.[74] Aufgrund ihres mittel- bis langfristigen Anlagehorizontes (drei bis fünf Jahre) sind es vor allem Creditor Activists, die eine Umwandlung ihrer Fremdkapitalpositionen in Eigenkapital – also eine Loan-to-own-Strategie – in Betracht ziehen.[75] Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn beim Kreditnehmer bereits durch eine Entschuldung der Bilanz ein wesentlicher Sanierungseffekt erreicht werden kann („Good companies with bad balance sheets“).[76] Die Kontrollerlangung beim Krisenunternehmen geht dabei durch eine Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital (Debt-Equity-Swap) im Zuge einer Restrukturierung vonstatten.[77] Creditor Activists erwerben daher keine (gemischten) Kreditportfolien, sondern einzelne Firmenkreditengagements, deren Kreditnehmer die für eine Übernahme avisierte Zielgesellschaft ist.[78] Durch den Tausch der vermeintlich geringwertigen oder wertlosen Forderungen können Creditor Activists von künftigen Sanierungsgewinnen profitieren, wobei sie den Sanierungsprozess selbst beeinflussen und dadurch langfristig mehr Gewinn generieren können als den ursprünglichen Forderungswert.[79]
Während diese Strategie aus der Sicht der Gesellschafter oder Geschäftsführer des Kreditnehmers durchaus als „feindliche“ Übernahme wahrgenommen werden kann, ist das mittel- bis langfristige Ziel von Creditor Actitivists die Wertsteigerung des Unternehmens als solchem und damit verbunden der erfolgreiche Workout des Problemkredits.[80] Zur Sicherstellung hinreichenden Verhandlungsgewichtes im Restrukturierungsprozess leiten Creditor Activists ihr Investment mit dem (heimlichen) Aufbau einer Sperrminorität ein, wobei ihnen zugute kommt, dass für Fremdkapitalpositionen keine den Stimmrechtsmitteilungen nach § 33 WpHG oder § 20 AktG vergleichbare Pflichten bestehen.[81]
(iii) Aktiv-destruktive, kurzfristige Investitionsstrategien
Im Unterschied zu den konstruktiv-aktiven Creditor Activists verfolgen Bondmailer oder Vulture Investors[82] eine aktiv-destruktive Strategie. Die Insolvenz und die anschließende Zerschlagung des Kreditnehmers wird von vorne herein als strategische Option in Betracht gezogen und gegenüber einer mittel- bis langfristigen Bindung an den Kreditnehmer bevorzugt. Dies kann einerseits in Form einer Kontrollerlangung mittels Debt-Equity-Swap, andererseits durch die Generierung eines Lästigkeitswertes erfolgen, welcher die Sanierungskonzepte anderer Gläubiger blockiert.[83]
2. Private Equity
Für den Begriff Private Equity besteht ebenfalls keine einheitliche Definition, und eine Abgrenzung zu anderen Investoren ist jedenfalls nicht trennscharf möglich.[84] In Bezug auf den Anlagehorizont können Private Equity-Unternehmen zu Hedgefonds dahingehend abgegrenzt werden, dass Private Equity-Unternehmen in der Regel einen längerfristigen Anlagehorizont von etwa drei bis sieben Jahren verfolgen[85], während die Investitionszyklen bei ereignisbezogenen Hedgefonds in der Regel kürzer – ein bis drei Jahre – ausfallen.[86]
Unter Private Equity versteht man allgemein die zeitweilige Bereitstellung von Eigenkapital, welches nicht über den Kapitalmarkt eingeworben wird, sondern von privaten Anlegern stammt.[87] Während Hedgefonds in vielfältiger Weise alle Teilsegmente der Finanzmärkte abdecken, sind Investitionsgegenstand bei Private Equity-Fonds andere Unternehmen, die sich – in Abgrenzung zu Venture Capital – nicht mehr in der Aufbauphase befinden.[88] Private Equity-Unternehmen investieren daher nicht an der Börse oder anderen Handelsplätzen, sondern in Beteiligungen an in aller Regel nicht-börsennotierten Unternehmen – mithin in illiquide Werte.[89] Angestrebt wird dabei regelmäßig die Kontrollerlangung über das Zielunternehmen mit dem Ziel, die Unternehmensführung zu ändern. Die Unternehmensübernahmen werden unter hohem Einsatz von Fremdkapital bewältigt, welches nach der Kontrollerlangung auf das Zielunternehmen abgewälzt wird (sogenannter debt push-down).[90]
Insoweit bestehen Überschneidungen zwischen Private Equity-Unternehmen und den ereignisorientierten Hedgefonds-Strategien: Mittlerweile treten auch Hedgefonds als Anleger in Private Equity-Unternehmen auf und Private Equity-Unternehmen treten bei ihrem Kampf um die Kontrolle des Unternehmens teilweise ähnlich kompromisslos auf, wie man es traditionell eher Hedgefonds zutraute.[91]
Die Investition in Unternehmen in akuten Notsituationen (distressed situations) ist im Private Equity-Bereich nicht der Regelfall, vielmehr stellt der Bereich Distressed Private Equity eine Sonderform der Private Equity-Beteiligung dar, welche von hierauf spezialisierten Private Equity-Unternehmen praktiziert wird. Denkbar sind hierbei sowohl die Kontrollerlangung bei einem Krisenunternehmen mittels des direkten Erwerbs eines Eigenkapitalanteils – dies wird als Distressed Equity Investment bezeichnet.[92] Die Kontrollerlangung mittels Erwerb einer Fremdkapitalposition und deren Umtausch in Eigenkapital – worunter die näher zu betrachtende Loan-to-own-Strategie fällt – wird als Distressed Debt Investment bezeichnet.[93] Der Begriff Equity meint zwar im Englischen das Eigenkapital[94], was sich jedoch nur auf die Herkunft der zu investierenden Geldmittel bezieht – nicht auf die Art der Investition.[95]
Zu verzeichnen ist eine große Ähnlichkeit und zunehmende Angleichung der Strategien von Distressed Debt-Private Equity-Unternehmen zu jenen von aktiv-konstruktiven, mittel- bis langfristig orientierten Distressed Debt-Hedgefonds.[96] Eine trennscharfe Unterscheidung ist insoweit nur schwer möglich, für die Untersuchung des Geschäftsmodells allerdings auch nicht vonnöten.[97]
3. Venture Capital
Wenngleich es im Kontext von Loan-to-own keine Rolle spielt, soll der Vollständigkeit halber die Trias der alternativen Investoren durch eine kurze Vorstellung des Venture Capital vervollständigt werden. Venture Capital ermöglicht jungen Unternehmen in der Frühphase der Gründung eine Finanzierung zur Entwicklung ihrer Ideen zu einem Zeitpunkt, zu dem konventionelle Unternehmensfinanzierungen noch nicht zur Verfügung stehen. Der für Startup-Unternehmen in der Gründungsphase typische Mangel an Sachwerten sowie ein unbeständiger, unter Umständen sogar negativer Cashflow stellt ein kaum sicherbares Finanzierungsrisiko dar, welches aufgrund der Eigenkapitalanforderungen nach Basel III eine Bankenfinanzierung ausschließt.[98] Eine Venture Capital-Finanzierung unterscheidet sich von einer konventionellen Bankenfinanzierung dadurch, dass sich der Venture Capital-Investor ohne Gabe von Sicherheiten durch das Startup-Unternehmen langfristig zur Finanzierung des unternehmerischen Vorhabens mittels haftendem Eigenkapital bereit erklärt. Eine Pflicht des Startup-Unternehmens zur Rückzahlung oder eine Verzinsung bestehen nicht. Das Venture Capital-Unternehmen wird somit kein Fremdkapitalgeber des Startup-Unternehmens, sondern wird mit seiner Einlage haftender Partner des Gründers und trägt dessen unternehmerisches Risiko, aber auch die Chance des Gelingens mit.[99] Venture Capital-Unternehmen halten an ihren Investitionsobjekten somit keine Fremdkapitalpositionen und wenden in der Folge auch keine Loan-to-own-Strategien an. Sie sind daher im Folgenden nicht Gegenstand der Betrachtung.
II. Strategische Investoren und Finanzinvestoren
Im vorangehenden Abschnitt wurden Loan-to-own-Investoren als alternative Investoren identifiziert, welche in Form von ereignisorientierten Distressed Debt-Hedgefonds oder in Form von auf Distressed Debt Investments spezialisierte Private Equity-Unternehmen auftreten können. Die Grenze zwischen beiden ist dabei fließend und kann bestenfalls an der zeitlichen Dauer von Einzelinvestitionen festgemacht werden.
Bei Loan-to-own-Strategien ist die Kontrollerlangung bzw. Übernahme eines Unternehmens stets Gegenstand der Investition. Dies macht eine weitere Kategorisierung erforderlich, und zwar jene zwischen strategischen Investoren und Finanzinvestoren.
1. Strategische Investoren
Strategische Investoren verfolgen mit einem Unternehmenskauf in der Regel strategische Ziele. Derartige Ziele sind z. B. die horizontale Expansion (Übernahme von Wettbewerbern), die vertikale Expansion (Übernahme von Zulieferern oder Abnehmern), die Diversifikation in neue Produktbereiche oder die Nutzung von Synergieeffekten.[100] Auf Käuferseite sind daher meist Unternehmen anzutreffen, welche selbst in der Branche des Zielunternehmens tätig sind. Ein strategischer Investor hat zum Zeitpunkt des Erwerbs der Zielgesellschaft in der Regel keine Absicht oder konkrete Pläne, dieses nach einer bestimmten Haltedauer wieder zu verkaufen.[101]
2. Finanzinvestoren
Von strategischen Investoren unterscheiden sich Finanzinvestoren dadurch, dass diese kein strategisches Interesse am operativen Geschäft des Zielunternehmens haben, sondern zum Zwecke der Finanzanlage investieren und somit ausschließlich – oder zumindest weit überwiegend – Renditeziele verfolgen.[102] Finanzinvestoren geht es in erster Linie darum, den Wert des Unternehmens zu steigern, wodurch das investierte Eigenkapital innerhalb eines mittelfristigen Zeitraums eine hohe Rendite erwirtschaften soll.[103] Sowohl Hedgefonds als auch Private Equity-Unternehmen – somit auch Loan-to-own-Investoren – zählen zu den Finanzinvestoren.[104]
III. Aktive bzw. „aktivistische“ und passive Finanzinvestoren
Für die Einordnung eines Finanzinvestors als aktiv oder aktivistisch[105] ist maßgeblich, dass die strategischen und operativen Entscheidungen der Portfoliogesellschaften beeinflusst werden, und die Beteiligung nicht lediglich verwaltet wird.[106] Als aktivistisch kann insoweit jedes rechtliche oder faktische Verhalten eines Investors bezeichnet werden, welches darauf abzielt, Veränderungen in Unternehmen hervorzurufen – gegebenenfalls auch gegen den Willen der Unternehmensführung.[107] Solche Einflussnahmen reichen vom Aufbau einer Minderheitsbeteiligung bis zur Kontrollerlangung und Übernahme eines Zielunternehmens. Loan-to-own-Investoren streben die Kontrollerlangung bzw. Übernahme eines Zielunternehmens an, sodass sie zu den aktiven Finanzinvestoren zu zählen sind.
E. Einordnung von Loan-to-own
Der Begriff Loan-to-own lässt sich idiomatisch in „vom Darlehensgeber zum Teilhaber/Eigentümer“ übersetzen und umschreibt den zentralen Baustein der gleichnamigen Strategie – die Umwandlung von Fremdkapital in Eigenkapital.[108]
Loan-to-own-Strategen kaufen notleidende Kredite von Krisenunternehmen auf, um diese als Bestandteil eines außerinsolvenzlichen oder insolvenzlichen Sanierungskonzeptes oder nach gelungener Sanierung in eine Eigenkapitalbeteiligung zu wandeln.[109] Bei Loan-to-own handelt es sich mithin um eine alternative Erwerbsform von Unternehmen vor oder in der Insolvenz durch den gezielten Einsatz von Forderungen gegen das Krisenunternehmen.[110]
Die Loan-to-own-Strategie ist sinnvoll, wenn der Fortführungswert der Zielgesellschaft höher angesetzt wird als der Zerschlagungswert und wenn der Investor seine Ziele allein aus der Gläubigerstellung heraus nicht realisieren kann.[111] Anders als etwa von Paulus behauptet, machen Loan-to-own-Investoren gerade keinen Gewinn, „wenn ihr Schulder pleite geht“.[112]
Wie bereits dargelegt, handelt es sich um eine Variante der ereignisbezogenen Investmentstrategie Distressed Debt, welche sowohl bei ereignisorientierten Hedgefonds als auch bei entsprechend spezialisierten Private Equity-Unternehmen zur Anwendung kommen kann.[113]
Durch die Umwandlung von Fremdkapital in Eigenkapital erhalten Gläubiger der Gesellschaft die Möglichkeit, höheren Einfluss auf die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft zu nehmen und an deren zukünftigem unternehmerischen Erfolg teilzuhaben.[114] Im Gegenzug wird das Krisenunternehmen von Verbindlichkeiten entlastet und eine Fortführung des Unternehmens ermöglicht.[115]
Die Identifikation und Auswahl einer geeigneten Fremdkapitalposition gehört zu den Kernaufgaben eines Loan-to-own-Investors, ebenso deren anschließende Bewertung zur Vermeidung von gesellschaftsrechtlichen Differenzhaftungsrisiken.[116] Hoch besicherte Forderungen sind hierfür ungeeignet, weil sie im Verwertungsfall in der Regel vollständig oder weitgehend bedient werden können.[117] Bei unbesicherten bzw. nachrangigen Forderungen ist es wahrscheinlicher, dass diese nicht mehr oder nur teilweise bedient werden können und ein Debt-Equity-Swap für den Forderungsinhaber als Option wirtschaftlich interessant wird.[118] Die auszuwählende Fremdkapitalposition sollte diejenige sein, die bei einer Restrukturierung am Wahrscheinlichsten in Eigenkapital umgewandelt wird. Es handelt sich dabei üblicherweise um eine unbesicherte und/oder nachrangige Forderung, deren Inhaber gegenüber dem Schuldner noch hinreichendes Verhandlungsgewicht besitzen. Dies trifft in der Regel auf diejenige Forderung zu, bei welcher im hypothetischen Verwertungsfalle der verbleibende Unternehmenswert „brechen“ bzw. aufgebraucht werden würde. Diese Forderung wird in der Praxis typischerweise als „fulcrum debt“, „fulcrum security“ oder „fulcrum point“ bezeichnet, wobei dieser Begriff nicht einheitlich verwendet wird.[119] Darüber hinaus gilt, dass je mehr Forderungen in der Hand des Investors vereint sind, desto weniger Verhandlungspartner im Rahmen der Restrukturierungsverhandlungen berücksichtigt werden müssen.[120] Ein weiterer Faktor ist der Rang der Forderung: Je weniger werthaltig eine Forderung im Falle einer Regelinsolvenz ist, desto sinnvoller ist ein Debt-Equity-Swap. Daher werden im Rahmen von Loan-to-own-Investments häufig nachrangige Forderungen mit hohem Nominalwert eingebracht.[121]
Unter Anknüpfung an die zuvor vorgestellten Begriffspaare sind Loan-to-own-Investoren daher als alternative Finanzinvestoren, die eine aktive Anlagestrategie verfolgen, einzuordnen.
§3. Loan-to-own „in a nutshell“ – Überblick über Transaktionsstruktur und Motivation der Beteiligten
Für die Feststellung, ob die Durchführung von Loan-to-own-Strategien erleichtert wird, muss zunächst die gegenwärtige Sach- und Rechtslage analysiert werden. Hierbei sind insbesondere die Struktur von Loan-to-own-Transaktionen, die Beteiligten an solchen Transaktionen sowie deren Motivation zur Durchführung von Loan-to-own-Transaktionen zu beleuchten.
F. Transaktionsstruktur und tangierte Rechtsgebiete
Eine Loan-to-own-Transaktion besteht juristisch aus drei wesentlichen Stadien[122]: (i) Dem Verkauf einer notleidenden Kreditposition durch ein Kreditinstitut, (ii) dem – nicht notwendigerweise mit dem Verkauf synallagmatisch verbundenen – Erwerb eines Kredites durch den Loan-to-own-Investor und (iii) der Umwandlung der erworbenen Fremdkapitalposition in Eigenkapital im Zuge eines Debt-Equity-Swap. Jedes dieser Stadien tangiert unterschiedliche Rechtsgebiete, wobei sich zu jedem tangierten Rechtsgebiet im Kontext von Loan-to-own-Transaktionen spezifische Probleme stellen:
In Bezug auf das erste Stadium stehen das Bankrecht und Bankaufsichtsrecht im Fokus, welches Kreditinstitute dazu ermutigt – unter Umständen sogar verpflichtet – problematische Kredite abzustoßen. Was genau unter einen notleidenden Kredit oder Non-performing Loan/NPL zu verstehen ist und welche Konsequenzen die Einordnung als solcher hat, war in Ermangelung einer Legaldefinition lange Zeit unklar, wurde aber in jüngerer Zeit durch quantitativ und qualitativ verstärkte europäische Rechtssetzung konkretisiert.
Beim zweiten Stadium des Krediterwerbs durch den Loan-to-own-Investor stehen allgemeine zivilrechtliche Fragen im Vordergrund: Auf welche Weise kann ein Kredit erworben bzw. veräußert werden und bestehen aufgrund des Bankgeheimnisses, aufgrund von Datenschutz und weiterer Vorgaben möglicherweise Veräußerungsverbote oder zumindest ein Zustimmungsvorbehalt des Kreditnehmers? Unter welchen Umständen ist eine Zustimmung des Kreditnehmers zu der Veräußerung entbehrlich?
Im dritten Stadium – jenes der Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital – stehen die Rechtsprobleme des Debt-Equity-Swap im Fokus, und zwar sowohl in der außerinsolvenzlichen als auch in der insolvenzlichen Variante.
G. Marktbeteiligte und Marktorganisation
Ein Markt für notleidende Kredite kann nur existieren, wenn zum einen eine Nachfrage zum Ankauf solcher Kredite durch Loan-to-own-Investoren besteht und zum anderen dieser Nachfrage ein Angebot seitens veräußerungswilliger Banken gegenübersteht. Schließlich müssen notleidende Kredite als Wirtschaftsgut fungibel sein – idealerweise auch ohne Zustimmung des Kreditnehmers.
Neben der Veräußerbarkeit von notleidenden Krediten ist somit das Vorhandensein von verkaufswilligen Originärgläubigern denknotwendige Voraussetzung für einen Loan-to-own-Markt ebenso wie das Interesse zum Ankauf solcher Kredite auf der entsprechenden Marktgegenseite.[123]
Das Interesse der erwerbenden Loan-to-own-Investoren, welches diese zum Abschluss einer solchen Transaktion motiviert, besteht darin, dass sich diese einen Gewinn daraus versprechen, einen aktuell notleidenden Kredit zunächst zu einem marktangemessenen Abschlag zu erwerben, der mindestens die in dem erworbenen Kredit repräsentierten Ausfallrisiken hinreichend abbildet, und gleichzeitig durch die erfolgreiche Umsetzung einer Loan-to-own-Strategie einen Erlös zu erzielen, der über dem Ankaufspreis für die Forderung liegt.[124]
Dieser Nachfrage wird nur dann ein Angebot verkaufsbereiter Originärgläubiger gegenüberstehen, wenn für diese Originärgläubiger Anreize zum Verkauf notleidender Kredite bestehen. Neben dem rein kaufmännischen Anreiz der Vermeidung eines vollständigen Forderungsausfalls bestehen bestimmte regulatorische Verkaufsanreize, welche nur im Falle notleidender Kredite Platz greifen. Über diese Anreize wird im folgenden Kapitel ein Überblick gegeben.
I. Verkäufer
Als Verkäufer von notleidenden Krediten kommen – bezogen auf den Standort Deutschland – grundsätzlich alle im Kreditgeschäft im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 KWG tätigen Banken in Betracht, einschließlich der öffentlich-rechtlich und genossenschaftlichen organisierten Kreditinstitute[125].[126]
II. Käufer und Intermediäre
Käufer von notleidenden Krediten sind einerseits große internationale, überwiegend im anglo-amerikanischen Raum beheimatete Investmentbanken, andererseits spezialisierte Distressed Debt-Investoren aus dem Private Equity- bzw. Hedgefonds-Bereich.[127] Dem Inkassodienstleiter EOS zufolge waren 2018 die größten Käufer von notleidenden Krediten in Europa die US-amerikanischen Fonds Cerberus, Blackstone, Lone Star und CarVal sowie die Deutsche Bank.[128] Investmentbanken betätigen sich mittlerweile überwiegend als Intermediäre[129], welche die von Geschäftsbanken aufgekauften notleidenden Kredite möglichst zeitnah an spezialisierte Distressed-Investoren weiterverkaufen und auf diese Weise einen Handelsplatz für notleidende Kredite bereitstellen.[130]
III. Marktorganisation
Der Markt für notleidende Kredite hat mittlerweile auch in Europa einen hohen Grad an Standardisierung erreicht, wenngleich es sich um keinen öffentlich regulierten oder institutionalisierten Markt wie etwa eine Börse handelt. Vielmehr wird der Markt für notleidende Kredite von internationalen Investmentbanken in der Gestalt organisiert, dass jene Investmentbanken sogenannte Trading Desks unterhalten, welche Unternehmensdarlehen handeln. Auf solchen Handelsplätzen werden ausstiegswillige Darlehensgeber (in der Regel Banken) und kaufwillige Distressed Debt-Investoren zusammengebracht.[131] Der Erwerb eines oder mehrerer Kreditengagements eines Schuldners wird als Single Name bezeichnet[132], das Single Name-Untersegment des Marktes für notleidende Kredite teilweise auch als Single Corporate Credit Opportunities, kurz SCCO.[133] Der Handel in diesem Untersegment erfolgt in der Regel over the counter (OTC), also ohne Einschaltung eines börslichen Handelsplatzes oder Market-Makers.[134] Die Vertragsdokumentation beim Erwerb von notleidenden Krediten ist durch die Musterverträge der von Großkanzleien und Kreditinstituten gegründeten Loan Market Association (LMA) weitestgehend standardisiert.[135] Ein Loan-to-own-Investor kann so gezielt Kreditengagements und damit Fremdkapitalpositionen einzelner Unternehmen erwerben.[136]
I. Anreize für Kreditinstitute, notleidende Kredite zu verkaufen
Notleidende Kredite stellen für kreditgebende Banken ein Risiko dar, denn sobald die Summe der notleidenden Kredite ein bestimmtes Niveau überschreitet, leidet die Rentabilität der Bank, da sie weniger Geld mit ihrem Kreditgeschäft verdient.[137] Hieraus entsteht die Notwendigkeit, größere Vorsorgemaßnahmen und eine höhere Kapitalunterlegung unter anderem in Form von Rückstellungen für den Fall zu ergreifen, dass Kredite wertberichtigt oder abgeschrieben werden müssen. Unter dem Eindruck der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 wurden insbesondere die Anforderungen an die Unterlegung von Risikopositionen mit Eigenkapital für Banken verschärft. Hält eine Bank notleidende Kredite auf ihrer Bilanz, wird aufgrund der Eigenkapitalunterlegungsvorschriften freies Kapital gebunden und verfügbare Kapitalressourcen der Banken für Neukredite beschränkt.[138] Ein Mangel an Kreditvergaben kann wiederum zum Verlust wichtiger Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen sowie zu einer Schmälerung des Gewinnes der Bank führen.[139] Notleidende Kredite auf der Bilanz sind für Banken in Deutschland und Europa daher zunehmend teuer und aufwändig in der Handhabung.[140]
Die Vorschriften zur Eigenkapitalunterlegung sowie die Mindestanforderungen an die Handhabung von notleidenden Krediten innerhalb der Bank schaffen Anreize für Kreditinstitute, notleidende Kredite abzustoßen und somit von der Bilanz zu tilgen. Wird ein Kredit als notleidend eingestuft, hat für die kreditgebende Bank die Begrenzung des eigenen Schadens Priorität – sie wird ihre eigenen Verluste minimieren und die ausstehenden Rückzahlungs- und Zinsforderungen in möglichst hohem Maße rückführen wollen.[141] Nach dem Prinzip „besser etwas bekommen als gar nichts bekommen“ werden beim Verkaufspreis Abschläge vom Nennwert der Forderung – sogenannte Haircuts – von den veräußerungswilligen Banken in Kauf genommen.[142]
Hat eine Bank einen Kredit als notleidend eingestuft, steht zunächst fest, dass für die Bank Handlungsbedarf besteht: Keinesfalls kann sie den weiteren Verlauf der Krisensituation beim Kreditnehmer einfach passiv abwarten. Im Wesentlichen bestehen zwei Handlungsoptionen, nämlich ob die Bank die Kreditbearbeitung selbst vornehmen oder externe Dritte einbeziehen will:
1. Interne Abwicklungsbearbeitung – Workout[143]
In der Vergangenheit war es bei deutschen Banken – insbesondere bei mittelständisch ausgerichteten Instituten, kleinen Sparkassen und Genossenschaftsbanken – verbreitet, unter Aufrechterhaltung des Kreditengagements selbst bei einer Sanierung oder Abwicklung mitzuwirken.[144] Kreditausfälle wurden als geschäftsimmanentes Risiko behandelt, welches es durch die kumulierten Erträge aus dem Kreditgeschäft abzufedern galt.[145]
Die regulatorischen Anforderungen an die Bearbeitung von notleidenden Krediten „im Hause“ sind jedoch gestiegen: Befeuert durch europäischen Regulierungseifer unter dem Eindruck der Finanz- und Wirtschaftskrise gestalten die EZB, die Europäische Bankenaufsicht EBA und auch der Deutsche Gesetzgeber sowie die BaFin eine Abwicklung im Hause zunehmend beschwerlich.
Die Bindung von Personalressourcen für eine interne Workoutabteilung ist erheblich.[146] Ferner erfordert die Umsetzung von Basel III eine höhere Unterlegung von Risikoaktiva mit Eigenkapital, das Behalten der notleidenden Kredite in der Bank ist also teurer als der Verkauf.[147] Ferner zwingen die verschärften regulatorischen Anforderungen in Form von EZB-Leitfaden und MaRisk sowie der steigende Wettbewerbsdruck in Folge der Globalisierung in Verbindung mit einer generell geringen Eigenkapitalrendite deutsche Kreditinstitute dazu, ihre Rentabilität auf ein vergleichbares Niveau zu steigern und ihre operativen Risiken zu minimieren.[148]
Für die Sparkassen und Landesbanken kommt erschwerend hinzu, dass im Juli 2005 die Gewährträgerhaftung und Anstaltslast weggefallen ist. Diese räumten Gläubigern der öffentlich-rechtlichen Banken einen garantierten Anspruch auf Erfüllung der Verbindlichkeiten durch den Anstaltsträger ein.[149] Der Wegfall dieses europarechtswidrigen[150] Gewährleistungsvorteils bewirkte eine Erhöhung der Refinanzierungskosten, was einerseits wiederum die Bedeutung der Eigenkapitalausstattung verstärkte und andererseits die öffentlich-rechtlichen Institute einem zuvor nicht gekannten Konkurrenzdruck aussetzte.[151] Auch öffentlich-rechtliche Institute sind seither gehalten, sich bei der Kreditvergabe und -bearbeitung erwerbswirtschaftlich zu verhalten.[152] Die vorgenannten gestiegenen Anforderungen können insbesondere kleinere und mittlere Kreditinstitute aufgrund fehlenden Spezialwissens und zu hoher Ressourcenbindung überfordern.[153]
2. Einbeziehung externer Dritter
Neben der Abwicklung im Hause haben die Kreditinstitute zwei weitere Optionen: Zum einen die Auslagerung der Betreibung auf eine Inkassogesellschaft (sogenanntes Outsourcing) und schließlich den – hier interessierenden – Verkauf der Forderung (sogenannter True Sale).
a) Outsourcing
Beim Outsourcing wird lediglich die Problemkreditbearbeitung an einen externen Dienstleister (oder einen Dienstleister im Bankenverbund) ausgelagert, die notleidenden Kredite verbleiben aber auf der Bilanz des Kreditinstituts, weshalb das Eigenkapital nicht entlastet wird.[154] Im Hinblick auf die Anforderungen an die Eigenkapitalausstattung bietet ein Outsourcing daher keine effektive Erleichterung. Ferner stellt AT 9 MaRisk weitere regulatorische Anforderungen an ein Outsourcing im Bankensektor.[155]
b) True Sale
Eine bilanzwirksame Übertragung kann nur durch den tatsächlichen Verkauf und dingliche Übertragung des notleidenden Kredites erfolgen.[156] Der Verkauf notleidender Kredite hat für Kreditinstitute zahlreiche Vorteile: Die Bankbilanz wird von potentiellen Risiken bereinigt, die Eigenkapitalquote steigt, es fließt Liquidität zu und es wird im Bereich der Problemkredit- und Intensivbetreuung innerhalb des Kreditinstituts weniger Personal gebunden.[157] Aus regulatorischer Sicht bedeutet der Verkauf notleidender Kredite ein Verringern der risikogewichteten Aktiva, wodurch weniger Eigenkapital zur Risikodeckung eingesetzt werden muss und somit frei wird.[158]
Im Ergebnis sprechen daher aus Sicht des Kreditinstituts gewichtige Gründe für einen Verkauf eines notleidenden Kreditengagements im Wege eines True Sale. Auch Landesbanken und Sparkassen sind seit dem Wegfall von Gewährträgerhaftung und Anstaltslast veranlasst, ihre Risikoaktiva zu reduzieren, um eine Verschlechterung ihres Ratings zu vermeiden.[159] In Kauf zu nehmen ist indes ein Risikoabschlag auf den Nominal- bzw. Buchwert der Forderungen, welcher Distressed-Investoren beim Erwerb des Kredits regelmäßig gewährt wird.[160] Keine große Rolle mehr spielt ein möglicher Reputationsverlust der veräußernden Bank gegenüber Bestands- und Stammkunden, denn der traditionellen Hausbankbeziehung kommt in Zeiten des digitalen Bankings und des Trends weg von der Filialbank vor Ort eine immer geringere Bedeutung zu und ist überdies deutlich geringer als bei einer eigenen Beitreibung des notleidenden Kredits durch die Bank selbst.[161]
II. Anreize für Loan-to-own-Investoren, notleidende Kredite zu kaufen
Das Interesse von Loan-to-own-Investoren besteht darin, dass sich diese einen Gewinn daraus versprechen, einen aktuell notleidenden Kredit zunächst zu einem marktangemessenen Abschlag zu erwerben, der mindestens die in dem erworbenen Kredit repräsentierten Ausfallrisiken hinreichend abbildet, und gleichzeitig durch die erfolgreiche Umsetzung einer Loan-to-own-Strategie durch den späteren Weiterverkauf des Zielunternehmens einen Erlös zu erzielen, der über dem Ankaufspreis für die Forderung liegt.[162] Den hierfür notwendigen Wertzuwachs beim Krisenunternehmen schafft ein Loan-to-own-Investor durch die Entwicklung und Umsetzung eigener Restrukturierungskonzepte.[163] Ebenfalls renditesteigernd kann sich die Abschöpfung von Wertsteigerungen vor dem Weiterverkauf auswirken.[164]
Gegenüber Kreditinstituten haben Loan-to-own-Investoren entscheidende Vorteile: Weil sie keine Banklizenz im Sinne der §§ 1, 32 KWG benötigen[165], müssen auch die Eigenkapitalerhaltungsvorschriften des Bankrechts nicht eingehalten werden, weshalb keine gesonderten Kosten für das Halten und den Workout der Kredite entstehen.[166] Ferner müssen Loan-to-own-Investoren – anders als insbesondere regionale, kleinere Banken – keine Rücksicht auf langjährige Kundenbeziehungen nehmen oder Reputationsrisiken am Standort des Kreditschuldners fürchten, weshalb Loan-to-own-Investoren den Sanierungsprozess konsequenter angehen können als der ursprüngliche Kreditgeber.[167] Weil ein Loan-to-own-Investor die Forderungen bereits mit Abschlag erworben hat, ist er eher bereit, im Rahmen von Sanierungsmaßnahmen frisches Geld (fresh money) nachzuschießen als der ursprüngliche Kreditgeber, der bei der Kreditvergabe ex ante von einem solventen Schuldner ausging.[168] Die Erfolgsaussichten einer Sanierung durch einen Loan-to-own-Investor sind daher ungleich größer als beim ursprünglichen Kreditgeber, weil dieser aufgrund seiner Spezialisierung und Erfahrung die Renditechancen notleidender Kredite besser nutzen kann.[169]
Dabei gilt, dass die Umsetzung des Debt-Equity-Swap umso einfacher für den Loan-to-own-Investor wird, je mehr Fremdkapitalpositionen er erwirbt, die im Rang höher stehen als die fulcrum security. Denn durch die Akkumulation eines Großteils der Forderungen wird das Risiko widerstreitender Interessen innerhalb der Gläubigerschaft minimiert und der Aufwand für eine ausführliche Forderungsbewertung amortisiert sich im Verhältnis zur Gesamtinvestition.[170]
Teil 2: Loan to own de lege lata – Bestandsaufnahme und Problemfelder
§4. Das erste Transaktionsstadium: Die Identifizierung notleidender Kredite
Auf der ersten Stufe einer Loan-to-own-Transaktion steht die Veräußerung eines notleidenden Kredites durch den ursprünglichen Kreditgeber oder auch Originärgläubiger[171]. Dies wirft die Frage auf, wie einerseits Banken diejenigen Kredite auswählen, die sie von der Bilanz tilgen möchten, und andererseits, anhand welcher Kriterien Loan-to-own-Investoren geeignete Kredite auswählen. Denn teilweise sprechen Loan-to-own-Investoren Banken proaktiv an, ob Interesse an einer Veräußerung bestimmer, potentiell notleidender Kreditpositionen besteht.[172] Es ist daher zu klären, welche Kriterien einen Kredit zu einem notleidenden Kredit machen, kurz: ob man den notleidenden Kredit rechtssicher definieren kann.
Auch wenn Loan-to-own-Strategien in bestimmten Fällen auch mit gesunden Krediten eingeleitet werden können und werden[173], ist in solchen Fällen der hier untersuchte regulatorisch bedingte Verkaufsanreiz nicht gegeben. Dementsprechend beschränkt sich die Untersuchung im Folgenden auf die Untersuchung von Loan-to-own-Strategien, die auf dem Ankauf solcher notleidender (und nicht [noch] gesunder) Kredite beruhen.
H. Der notleidende Kredit als Definitionsproblem
Da das Vorliegen eines notleidenden Kredits den Treiber für das regulatorisch bedingte Veräußerungsinteresse eines Originärgläubigers bildet, bedarf es einer Definition für das Vorliegen eines notleidenden Kredits, an welche sodann die bereits angesprochenen gesetzlichen Folgen geknüpft werden.
Dies ist nicht nur bedeutsam für die Originärgläubiger: Da regelmäßig der Anstoß zu einer solchen Transaktion von Investorenseite ausgeht, sind diese stets bemüht durch verlässliche, rechtssichere Parameter die Identifikation geeigneter Fremdkapitalpositionen und damit auch den Einstieg in eine Loan-to-own-Transaktion zu erleichtern.
Zu konstatieren ist jedoch, dass über den Begriff des notleidenden Kredites kein einheitliches Verständnis herrscht.[174] Eine juristische Definition im Sinne einer Legaldefinition besteht nicht[175] und auch in den Wirtschaftswissenschaften sowie in der aufsichtlichen Praxis wird der Begriff uneinheitlich gebraucht.[176] Die Einordnung von Krediten als notleidend variiert aufgrund unterschiedlicher bilanzieller und aufsichtsrechtlicher Vorgaben.[177]
Begriffe wie „notleidende Kredite“, „Problemkredite“ und zahlreiche Anglizismen wie „Bad Loans“, „Distressed Loans“, „Defaulted Loans“, „Subperforming Loans“ oder „Non-Performing Loans“ werden größtenteils synonym und ohne klare Abgrenzung voneinander verwendet.[178] Daneben werden je nach Perspektive und Interpretation eine Vielzahl weiterer Begriffe wie „Distressed Debt“, „Troubled Debt“ oder „Defaulted Debt“, „Distressed Debt Investing“, „Workout Investing“ oder „Vulture Investing“ mit notleidenden Krediten bzw. der Loan-to-own-Strategie in Verbindung gebracht.[179]
Im Folgenden wird untersucht, ob sich rechtsgebietsübergreifend ein einheitliches Verständnis des notleidenden Kredits aus den tangierten Rechtsgebieten ableiten lässt.
I. Überblick über mögliche Definitionsansätze
In bisherigen Veröffentlichungen zu notleidenden Krediten wurde im Rahmen von Definitionsversuchen für notleidende Kredite unter anderem zwischen wirtschaftlichen[180], aufsichtsrechtlichen[181], aufsichtlichen[182], bankaufsichtsrechtlichen[183], regulatorischen[184], rechnungslegungsbezogenen[185] und juristischen[186] Definitionsansätzen unterschieden, wobei die Abgrenzung der jeweiligen Begriffe häufig nicht hinreichend differenziert ausfiel. Im Rahmen dieser Untersuchung werden zunächst rechtsgebietsspezifische Definitionsansätze herausgearbeitet und anschließend auf Gemeinsamkeiten überprüft.
I. Bankrechtliche Definitionsansätze
Originärgläubiger notleidender Kredite sind regelmäßig Kreditinstitute mit Banklizenz im Sinne der §§ 1 Abs. 1 Satz 1, 32 KWG, denn die Gewährung von Gelddarlehen ist ein Bankgeschäft gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 KWG.[187] Vorschriften, welche Anreize zur Veräußerung von notleidenden Krediten setzen – und die insoweit geltende Definition von notleidenden Krediten – sind dementsprechend im Bereich des Bankrechts zu verorten.
Der Begriff des Bankrechts ist hier im Sinne der Vorschriften über die Organisation der an der Erbringung von Bankgeschäften im weiteren Sinne Beteiligten zu verstehen.[188] Dies umfasst insbesondere die Bankenregulierung als normsetzenden und norminterpretierenden Bereich sowie die Bankenaufsicht als vollziehenden Bereich des Bankrechts.[189] Die relevanten Normen reichen von supranationalen Regelungen über formelle und materielle Gesetze des europäischen und des deutschen Gesetzgebers bis hin zu europäischen und deutschen Verwaltungsanweisungen.[190] Bezugnahmen auf notleidende Kredite tauchen auf allen Normebenen in verschiedenen Zusammenhängen auf, die im Folgenden systematisch dargestellt und aufbereitet werden. Für die auf diese Weise zu entwickelnden Definitionsansätze aus dem Bankrecht wird im Folgenden der Oberbegriff „Bankrechtliche Definitionsansätze“ verwendet.
II. Zivilrechtliche Ansätze
In vielen Fällen richten sich die Vorschriften über Bankleistungen nach dem allgemeinen Zivilrecht[191] – so auch die Vergabe von Gelddarlehen, welche in den §§ 488 ff. BGB geregelt sind. Die Vertragsbeziehung zwischen Bank und Kreditnehmer unterliegt dabei bestimmten Modifikationen und Standardisierungen, etwa durch die AGB-Banken bzw. die AGB-Sparkassen.[192]
Ein Anreiz zur Veräußerung eines Kredits kann auch durch den Umstand entstehen, dass die wirtschaftliche Situation des Kreditnehmers sich so verschlechtert, dass der kreditgebenden Bank als Originärgläubiger das Recht zur außerordentlichen Kündigung zusteht. Der Eintritt der Umstände, die zu einer außerordentlichen Kündigung des Kreditgebers berechtigen, können mithin auch als Indikatoren für das Vorliegen eines notleidenden Kredites verstanden werden.
Für den Gelddarlehensvertrag ist das Recht zur außerordentlichen Kündigung in § 490 BGB geregelt. Die Voraussetzungen des außerordentlichen Kündigungsrechts nach § 490 BGB beschreiben damit auch Kriterien, nach denen ein Kredit als notleidend eingestuft werden kann. Darüber hinaus finden sich in den AGB-Banken, in den AGB-Sparkassen sowie in § 366 Abs. 2 BGB Ansatzpunkte für eine Definition des notleidenden Kredites. Für Definitionsansätze aus dem Zivilrecht wird im Folgenden der Oberbegriff „Zivilrechtliche Definitionsansätze“ verwendet.[193]
III. Verallgemeinerungsfähiges Verständnis des notleidenden Kredites
Die bankrechtlichen und zivilrechtlichen Definitionsansätze umschreiben jeweils das Phänomen notleidender Kredite aus der Perspektive des Bankrechts sowie des allgemeinen Zivilrechts. Bei einem Nebeneinander von aufsichtlichen und zivilrechtlichen Normen zu unbestimmten Rechtsbegriffen ist eine einheitliche Auslegung sinnvoll und geboten.[194] Daher werden die bankrechtlichen und zivilrechtlichen Definitionsansätze nach deren Vorstellung auf Gemeinsamkeiten untersucht, um auf ein verallgemeinerungsfähiges Verständnis des notleidenden Kredites hinzuwirken, welches auch für Loan-to-own-Investoren nutzbar gemacht werden kann.
J. Bankrechtliche Ansätze
Banken in Deutschland unterliegen umfangreichen regulatorischen Vorgaben, welche von supranationalen Regelungen über formelle und materielle Gesetze des europäischen und des deutschen Gesetzgebers bis hin zu europäischen und deutschen Verwaltungsanweisungen reichen.[195] Unter dem Eindruck der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007[196] hat die Europäische Union die Stabilisierung des Bankensektors, insbesondere die Bekämpfung von notleidenden Krediten auf den Bilanzen der Banken zu einem ihrer wichtigsten Ziele erhoben.[197] Es handelt sich um einen dynamischen Prozess, dessen Abschluss nicht absehbar ist.
Im Folgenden werden Aufsichtsnormen mit Bezug zu notleidenden Krediten auf die in ihnen enthaltene Definitionsansätze für notleidende Kredite untersucht. Ein Großteil der erlassenen Vorschriften ist zum Normenkomplex des Single Rulebook zu zählen – dem einheitlichen, harmonierten europäischen Regelwerk für die Bankenaufsicht. Daneben existieren Vorschriften aus dem originären nationalen Bankrecht, die nicht dem Single Rulebook systematisch zuzuordnen sind. Schließlich enthält auch der IFRS-Rechnungslegungsstandard Bestimmungen zu notleidenden Krediten.
I. Grundzüge des Aufbaus der Europäischen Bankenaufsicht
Bankrechtliche Bestimmungen zu notleidenden Krediten bilden eine komplexe Gemengelage an relevanten Normen.[198] Um die einzelnen relevanten Normen, deren Normgeber und deren Regelungszweck besser einordnen und systematisieren zu können, wird zunächst ein kurzer Überblick über den Aufbau der Bankenaufsicht und der Europäischen Union und Deutschland gegeben:
Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007[199] wurden erhebliche Schwachstellen bei der Finanzaufsicht auf europäischer und nationaler Ebene festgestellt, infolge derer das Bankenaufsichtsrecht auf europäischer Ebene um- und ausgebaut wurde.[200] Diese Um- und Ausbauten bestehen im Wesentlichen aus zwei Maßnahmenkomplexen: Dem Single Rulebook und der darauf basierenden Europäischen Bankenunion.[201] Überwacht wird die Umsetzung dieser Maßnahmenkomplexe durch eine komplexe institutionelle Struktur von Aufsichtsorganen auf europäischer und nationaler Ebene.
1. Single Rulebook
Als erster Maßnahmenkomplex wurde die Bankenaufsicht auf die europäische Ebene verschoben. Diese europäisierte Bankenaufsicht wendet dabei ein einheitliches, harmonisiertes Regelwerk an.[202] Dieses einheitliche, harmonisierte Regelwerk wird als Single Rulebook bezeichnet.[203] Es besteht unter anderem aus einer umfangreichen Gesetzgebung zur Eigenkapitalanforderung an Banken und wird institutionell unterstützt durch das Netzwerk des Europäischen Finanzaufsichtssystem ESFS (zu diesem sogleich im nächsten Abschnitt).[204] Ziel des Single Rulebook ist die Vervollständigung des einheitlichen europäischen Binnenmarktes durch einheitliche Auslegung und Anwendung regulatorischer Standards in allen Mitgliedstaaten sowie die Schließung von Regelungslücken.[205] Das Single Rulebook gilt für alle EU-Staaten unabhängig von der Landeswährung.[206]
2. Europäische Bankenunion
Auf Grundlage der Art. 114, 127 Abs 6 AEUV wird seit 2012 als zweiter Maßnahmenkomplex die Europäische Bankenunion geschaffen – ein zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Arbeit noch laufender Prozess. Ziel der Bankenunion ist es, neben der Schaffung einheitlicher Regeln für das Bankwesen in Europa auch deren Durchsetzung auf eine europäische Ebene zu stellen. Die Bankenunion soll die einheitliche Anwendung von EU-Bankenvorschriften in den teilnehmenden Ländern sicherstellen und Diskrepanzen zwischen den Mitgliedsstaaten in der Umsetzung des Single Rulebook vermeiden.[207]
Die Bankenunion gilt verpflichtend für die Mitgliedsstaaten der Eurozone und steht – unter Zugrundelegung des Single Rulebooks – auf drei Säulen, von denen bislang zwei umgesetzt sind:[208] Umgesetzt sind seit 2014 der einheitliche Aufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism) und seit 2016 der einheitliche Abwicklungsmechanismus (Single Resolution Mechanism),[209] als dritte Säule soll künftig noch ein einheitliches Einlagensicherungssystem hinzukommen.[210]
Von den drei Säulen der Bankenunion ist im Kontext der hier anzustellenden Untersuchung ausschließlich der Single Supervisory Mechanism von Relevanz, denn die Abwicklung von Banken selbst oder die Einlagensicherung werden von Loan-to-own-Strategien nicht tangiert.
Der Single Supervisory Mechanism hält die Bankenaufsicht über die etwa 120 größten und systemrelevanten Banken unter dem Dach der Europäischen Zentralbank inne.[211] Seine Rechtsgrundlage ist die SSM-VO (EU) Nr. 1024/2013.[212] Die Aufsicht über die übrigen, nicht systemrelevanten Banken in der Eurozone wird zwischen der europäischen und den nationalen Aufsichtsebenen wie nachfolgend beschrieben aufgeteilt.
3. Institutionelle Struktur der Europäischen Finanzaufsicht – ESFS und EZB
Vorläufer der Europäischen Bankenunion ist das seit Ende 2010 bestehende Europäische Finanzaufsichtssystem (European System of Financial Supervision – ESFS) – eine Dachkonstruktion ohne eigene Rechtspersönlichkeit.[213] Das ESFS hat die Sicherstellung der Aufsicht über das Finanzsystem der Union zur Aufgabe[214] und besteht im Wesentlichen aus vier Aufsichtsorganen:[215] Drei Unionsagenturen[216] zur besseren Koordinierung der für die Mikroaufsicht über die Finanzmarktteilnehmer zuständigen nationalen Behörden und eine Einrichtung für die Makroaufsicht. Daneben sind der Gemeinsame Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden sowie die nationalen Aufsichtsbehörden Teile des ESFS.[217]
Bei den drei Unionsagenturen handelt es sich um die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (European Banking Authority – EBA)[218], die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (European Insurance and Occupational Pensions Authority – EIOPA)[219] sowie die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (European Securities and Market Authority – ESMA).[220] Diese üben gemeinsam mit den zuständigen nationalen Aufsichtsbehörden die Aufsicht aus.[221]
Für die Makroaufsicht – also die Identifikation systemischer Risiken[222] – schuf der Unionsgesetzgeber den Europäischen Ausschuss für Systemrisiken (European Systemic Risk Board – ESRB).[223]
Der institutionelle Rahmen der Bankenunion war in jüngerer Zeit Gegenstand von Reformbemühungen,[224] welche indes keine wesentlichen Änderungen an der bestehenden Struktur aus ESFS-Zeiten bewirkt haben.[225]
II. Bestimmungen aus dem Single Rulebook
Das Single Rulebook ist ein europaweit einheitliches, harmonisiertes Regelwerk, in dem die legislativen Maßnahmen zur Vervollständigung des einheitlichen europäischen Binnenmarktes für Finanzdienstleistungen auf europäischer Ebene zusammengefasst werden.[226] Es handelt sich demnach nicht um ein einzelnes „Finanzmarktgesetzbuch“, sondern um eine Vielzahl von EU-Verordnungen und Richtlinien, diese umsetzende nationale Gesetze, Technische Regulierungs- und Durchführungsstandards sowie Leitlinien und Empfehlungen.[227] Zentrale Bestandteile des Single Rulebook sind die Eigenkapitalrichtlinie V – Capital Requirements Directive V oder kurz CRD V, die Eigenkapitaladäquanzverordnung II – Capital Requirements Regulation II oder kurz CRR II, die Technischen Regulierungs- und Durchführungsstandards, welche die Europäische Kommission auf Grundlage von CRD V und CRR II erlässt, und schließlich die Leitlinien und Empfehlungen der EBA.[228]
Zentraler Bestandteil des Single Rulebook sind die regulatorischen Anforderungen an eine angemessene und robuste Ausstattung von Banken mit Eigenkapital. Einer Situation wie in der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008, als deren Hauptauslöser eine übermäßige Fremdfinanzierung bei gleichzeitiger Erosion von Höhe und Qualität des Eigenkapitals im Bankensektor gilt, soll in Europa durch die Bestimmungen des Single Rulebook vorgebeugt werden.[229]
Zur Sicherstellung eines qualitativ hochwertigen Kernkapitals werden u.a. Vorschriften zur bilanziellen Ermittlung, Bewertung und Berechnung des sogenannten Kernkapitals harmonisiert, sowie Vorschriften zur regulatorischen Überwachung und Berichterstattung an die Aufsichtsbehörden eingeführt:
Nach Art. 92 CRR II müssen Institute zu jedem Zeitpunkt über Eigenmittel in Höhe von mindestens 8 % der nach CRR II bewerteten und gewichteten Risikopositionen aufweisen. Der Gesamtrisikobetrag darf gemäß Art. 92 Abs. 4 CRR II das maximal 12,5-fache der Eigenmittel betragen.[230]
Art. 92 CRR II legt auch die Maßstäbe fest, auf deren Basis die zuständige Aufsichtsbehörde die Angemessenheit der Eigenmittelausstattung prüft.[231] Die Eigenmittelausstattung wird in sog. Kapitalquoten ausgedrückt, welche prozentual das Verhältnis bestimmter Eigenkapitaltypen – hartes Kernkapital, Kernkapital, die Gesamtheit der Eigenmittel sowie Verschuldensquote – zum Gesamtrisikobetrag abbildet. Der Gesamtrisikobetrag im Sinne des Art. 92 Abs. 3 CRR II ist dabei die Summe sämtlicher gewichteter risikotragender Bilanzaktiva (Risk Weighted Assets) und sonstiger anrechnungspflichtiger Risikopositionen.[232]
Ermittelt wird der Gesamtrisikobetrag durch Bewertungs- und Rechenschritte, in deren Rahmen auch von der Bank vergebene notleidende Kredite mit entsprechender Risikogewichtung einfließen.[233]
1. Historischer Abriss über die Entwicklung der supranationalen Gesamtbankensteuerung
Die Grundidee, an Banken Anforderungen an die Eigenkapitalausstattung zu stellen, knüpft an die Erfahrungen der Bankenkrise der 1930er Jahre an, wonach die Hauptgründe für die Fragilität und Krisenanfälligkeit von Banken in unzureichender Eigenkapitalausstattung und/oder mangelhafter Liquidität lagen.[234] Banken sind im Kern „Risikohändler“; das Risiko eines Bankgeschäfts muss die Bank durch Eigenkapital unterlegen. Die Eigenkapitalquote einer Bank ist daher wesentliche Bezugsgröße für das Leistungsvermögen einer Bank und deren Kredit- bzw. Risikotragfähigkeit. Im Interesse eines funktionsfähigen Kreditwesens und im Interesse des Gläubigerschutzes müssen Kreditinstitute also laufend über eine angemessene Eigenmittelausstattung verfügen.[235] Zentrale Größe bei der Beurteilung der Angemessenheit des Eigenkapitals eines Instituts ist regelmäßig das Verhältnis zwischen dem Ausmaß der von dem Institut eingegangenen, potenziell eigenkapitalgefährdenden Risiken und der Höhe des Eigenkapitals.[236]
a) Von Basel I zu Basel III final
Mit der Zielsetzung einer internationalen Harmonisierung wird die Angemessenheit der Eigenmittelausstattung von Banken in erster Linie durch die Arbeiten des Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (Basel Committee on Banking Supervision – BCBS) der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (Bank für International Settlements – BIS) bestimmt. Die BIS gilt als „Zentralbank der Zentralbanken“ und wurde unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der Herstatt-Bank 1974 gegründet.[237]
Der BCBS veröffentlichte zur Regulierung der Eigenmittelausstattung erstmalig 1988 den Baseler Eigenkapitalakkord, besser bekannt als Basel I.[238] Dieser verfolgte zwei Ziele: Zum einen sollte die Stabilität der internationalen Finanzmärkte gestärkt werden, zum anderen sollten bestehende Unterschiede zwischen den verschiedenen nationalen Bankaufsichtssystemen beseitigt werden, die den Wettbewerb beeinflussen. Die durch Basel I implementierte Eigenkapitalanforderung war vergleichsweise einfach: Sämtliche Kredite waren mit Eigenkapital in Höhe von 8 % der Kreditvaluta zu unterlegen.[239]
Eine Eigenkapitalunterlegung von pauschal 8 % konnte jedoch das Verhältnis der Eigenkapitalquote zum tatsächlich vorhandenen Risikograd einzelner Kreditpositionen nicht adäquat abbilden. Daher wurde mit der Veröffentlichung des Dokuments zur Internationalen Konvergenz der Kapitalmessung und Eigenkapitalanforderungen – kurz Basel II – im Juni 2004 das Regelwerk um feste Vorgaben für die Entwicklung eines internen Prozesses zur ökonomischen Beurteilung der Kapitaladäquanz ergänzt. Zum ersten Mal gab es konkrete gesetzliche Anforderungen an die Methodik zur Berechnung von Risikoklassifikatoren für Kredite. Das zu unterlegende Eigenkapital – und damit die Kreditzinsen – stiegen also mit höherem Risiko.[240] Im Rahmen von Basel II wurde auch das Drei-Säulen-Modell für eine effektive Bankenaufsicht eingeführt, welches bis heute Bestand hat:[241] Diese drei Säulen sind (i) die Mindestkapitalanforderungen für Kreditrisiken sowie für Betriebsrisiken (sog operationelle Risiken), (ii) der bankaufsichtliche Überprüfungsprozess der Adäquanz der Kapitalausstattung und des Risikomanagements (Supervisory Review Process) sowie (iii) die Leitlinien für Offenlegungspraktiken zum Zwecke einer Stärkung der Marktdisziplin.[242]
Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 zeigte sich, dass die Eigenkapitalanforderungen nach Basel III einer erneuten Überarbeitung bedurften und die Kreditvergabe durch Banken noch strenger reguliert werden müsse: Schließlich waren sie nicht imstande die Finanz- und Wirtschaftskrise zu verhindern.[243] Vor diesem Hintergrund entwickelte der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht ab 2010 den Entwurf eines neuen Reformpakets – genannt Basel III – vorrangig zu dem Zweck, das Risiko neuer Wirtschaftskrisen zu minimieren und um Banken in die Lage zu versetzen, Krisen zukünftig ohne Staatshilfe zu überwinden.[244] Die Regulatorik von Basel III setzt hierfür an zwei Punkten an: Stärkung der Widerstandskraft der einzelnen Bank und Eindämmung systemweiter Risiken des gesamten Bankensektors. Nachgeschärft wurden insbesondere die Anforderungen an Quantität und Qualität des Eigenkapitals, ferner wurde eine strukturelle Liquiditätsquote (Net Stable Funding Ratio) sowie eine Verschuldensobergrenze (Leverage Ratio) eingeführt.[245]
Diese Regeln zur Bemessung des Kreditrisikos befanden sich bereits ab 2014 wieder in einem Prozess der Überprüfung und Überarbeitung.[246] Im Dezember 2017 wurde das überarbeitete Rahmenwerk veröffentlicht, welches mit „Basel III: Finalising post-crisis reforms“ – kurz Basel III final – überschrieben war.[247] Aufgrund des Ausmaßes der geplanten Änderungen wird die überarbeitete Fassung im allgemeinen Sprachgebrauch häufig auch als „Basel IV“ bezeichnet.[248]
Im Dezember 2019 schließlich hat der Baseler Ausschuss die erste konsolidierte Fassung des finalen Baseler Rahmenwerks veröffentlicht.[249] Es vereint alle Standards des Baseler Ausschusses zur Regulierung und Überwachung von Banken.[250]
b) Die Umsetzung des Baseler Rahmenwerks in Europa und Deutschland
Die Arbeitsergebnisse des Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich werden als Empfehlungen für international tätige Kreditinstitute veröffentlicht, weshalb ihnen direkt keine Bindungswirkung zukommt.[251] Im Allgemeinen werden die Empfehlungen aber in europäische Normen übernommen; speziell in Bezug auf die Eigenmittelanforderungen an Kreditinstitute erfolgt stets eine umfängliche Übernahme in europäisches bzw. nationales Recht.[252]
Die Umsetzung des Ende 2017 endgültig fertiggestellten Basel III-Rahmenwerks auf europäischer Ebene erfolgte im Rahmen des sogenannten EU-Bankenpakets im Mai 2019 durch Änderungen an der Eigenkapitalrichtlinie CRD IV und an der Kapitaladäquanzverordnung CRR.[253] Diese Änderungsrechtsakte werden als CRD V[254] und CRR II[255] bezeichnet und legen die verbindlichen regulatorischen Vorgaben für Risikomanagement und Eigenkapitalausstattung in Europa fest.[256] Die CRD V-Richtlinie ist für die EU-Mitgliedsstaaten spätestens bis zum 28.12.2020 in nationales Recht umzusetzen. Die CRR wird durch zahlreiche Änderungsverordnungen laufend aktualisiert, seit der Umsetzung ist die Bezeichnung als CRR II geläufig. Die CRR II stellt als EU-Verordnung gemäß Art. 288 AEUV unmittelbar anwendbares Recht dar,[257] allerdings ist für einige der in der CRR II enthaltenen Bestimmungen die erstmalige Anwendung zu einem noch in der Zukunft liegenden Zeitpunkt bestimmt. Weil es sich insoweit um bereits verabschiedete Rechtsnormen mit lediglich zeitlichem Anwendungsaufschub handelt, werden diese im Rahmen der vorliegenden Untersuchung unter de lege lata behandelt.
Kernelemente der Umsetzung von Basel III final in Europa durch die CRD V/CRR II sind die weitere Verschärfung der Anforderungen an die Kreditvergabe, an die Risikoberechnung und damit verbunden an die Eigenkapitalunterlegung. Erreicht wird dies durch restriktivere Definitionen der Kapitalkomponenten, eine Ausweitung der Abzugsposten und die Einführung einer höheren Kernkapitalquote.[258] Eingeführt wurden zudem neue Anforderungen an die Höhe der erforderlichen Eigenmittel (quantitative Eigenmittelanforderungen bzw. Eigenmittelquoten) und an die Qualität der Eigenmittel (qualitative Eigenmittelanforderungen; Unterscheidung zwischen hartem Kernkapital; additivem Kernkapital sowie Ergänzungskapital).[259] Kernaussage von CRD V und CRR II ist, dass Kreditinstitute über angemessene Eigenmittel verfügen müssen, um die von ihnen eingegangenen Risiken durch eine angemessene Eigenmittelunterlegung abzufedern.[260]
Zu den im Rahmen von CRD V / CRR II regulierten Risiken gehören auch notleidende Kredite, sodass im Folgenden CRD V und CRR II auf Definitionsansätze für notleidende Kredite hin untersucht werden.
2. Problemkredite, Art. 79 CRD V
Wie zuvor beschrieben, handelt es sich bei der CRD V um eine Änderungsrichtlinie, welche die CRD IV-Richtlinie modifiziert. Vorschriften, welche durch die CRD V nicht modifiziert wurden – wie etwa Art. 79 – sind daher noch in der Fassung der CRD IV. Sie werden aber trotzdem als CRD V zitiert, weil sie in ihrer unveränderten Form einen Bestandteil des neuen Regelwerks bilden.
Die CRD V befasst sich in Art. 79: Kreditrisiko und Gegenparteiausfall mit Kreditrisiken. Systematisch gehört Art. 79 CRD V zu Titel VII – Beaufsichtigung und innerhalb dieses Titels zu Kapitel 2: Überprüfungsverfahren, zu Abschnitt II: Regelungen, Verfahren und Mechanismen der Institute sowie zu Unterabschnitt 2: Technische Kriterien für die Organisation und Behandlung von Risiken.
Art. 79 CRD V gehört somit zu den Normen, die die Aufsicht über die Einhaltung der Eigenkapitalvorschriften durch Banken zum Gegenstand haben und die Aufsichtsbehörden adressieren.
Art. 79 CRD V erlegt den zuständigen Behörden auf, sicherzustellen, dass sich Banken im Hinblick auf Kreditrisiken wie folgt verhalten:
Möglicher Anknüpfungspunkt für eine Definition des notleidenden Kredites ist Art. 79 lit. c CRD V, welcher die Erkennung und Verwaltung von Problemkrediten erwähnt. Der Begriff „Problemkredit“ (engl. problem credit) wird in Art. 79 CRD V allerdings nicht definiert und findet auch an anderer Stelle der Richtlinie – etwa in den Erwägungsgründen – keine Erwähnung. Es handelt sich daher nur um ein weiteres Synonym für notleidende Kredite ohne eigenständigen Erkenntniswert.
3. Notleidende Risikopositionen, Art. 47a Abs. 3 CRR II
Wie bereits gezeigt, handelt es sich bei der CRR II um eine Gesamtheit an Änderungsverordnungen, welche seit dem EU-Bankenpaket 2019 die ursprüngliche CRR-Verordnung modifizieren. Vorschriften, welche durch die CRR II nicht modifiziert wurden – wie etwa Art. 127 – sind daher noch in der Fassung der ursprünglichen CRR. Sie werden aber trotzdem als CRR II zitiert, weil sie in ihrer unveränderten Form einen Bestandteil des neuen Regelwerks bilden.
Neu im April 2019 in die CRR II hinzugekommen ist indes Art. 47a CRR II welcher eine Definition der „notleidenden Risikoposition“ enthält.
a) Systematik und Zweck der Bestimmung
Systematisch definiert Art. 47a CRR II einen Rechnungsposten, welcher gemäß Art. 36 CRR II bei der Berechnung des harten Kernkapitals im Sinne der Art. 26–50 CRR II abgezogen wird. Zweck der Abzugsposten vom harten Kernkapital besteht darin, dass nur solche Bilanzaktiva bei der Ermittlung der Eigenmittel berücksichtigt werden sollen, die in Krisensituationen veräußerbar und ausreichend werthaltig erscheinen.[261]
Konkret sieht Art. 36 Abs. 1 lit. m) CRR II vor, dass solche notleidenden Risikopositionen vom harten Kernkapital abzuziehen sind, die nicht in ausreichendem Maße durch Rückstellungen gedeckt sind. Auf diese Weise sollen Banken dazu angehalten werden, ausreichende Rückstellungen zu bilden.[262]
b) Inhalt der Bestimmung
Art. 47a CRR II definiert in Abs. 1 den Begriff der Risikoposition und in Abs. 3 den Begriff des Notleidens. Gemäß Art. 47a Abs. 1 lit. a) CRR II gehören zu den Risikopositionen im Sinne der Vorschrift Schuldtitel, insbesondere auch Darlehen und Kredite. Notleidende Kredite werden dem Wortlaut nach mithin von Art. 47a CRR erfasst.
Art. 47a Abs. 3 CRR II definiert fünf Fallgruppen für das Notleiden, von denen hier die Fallgruppen in Art. 47a Abs. 3 lit. a) und b) CRR II vom Interesse sind:
Gemäß Art. 47a Abs. 3 lit. a) gilt eine Risikoposition als notleidend, wenn bei dieser ein Ausfall gemäß Art. 178 CRR II als eingetreten gilt. Somit wird auf die Ausfalldefinition in Art. 178 CRR II verwiesen, auf welche im weiteren Verlauf eingegangen wird.
Gemäß Art. 47a Abs. 3 lit. b) CRR II wird eine Risikoposition ferner als notleidend eingestuft, wenn sie nach dem geltenden Rechnungslegungsrahmen als wertgemindert angesehen wird. Um im Anwendungsbereich des Single Rulebook die bilanzielle Bewertung von Risikopositionen europaweit zu harmonisieren, macht das Single Rulebook auch Vorgaben zu anwendbaren Rechnungslegungsrahmen. Relevant ist hier insbesondere der Standard IFRS-9, welcher eine Definition des Begriffs wertgemindert enthält. Auch auf IFRS-9 wird im weiteren Verlauf der Untersuchung eingegangen.
4. Vorschriften des Kreditrisikostandardansatzes, Art. 112 CRR II
a) Systematik und Zweck der Bestimmungen
Die für die Ermittlung des Gesamtrisikobetrages – und damit der Mindesteigenmittelanforderungen – zu berücksichtigenden Risiken werden nach den Vorgaben der Art. 107–386 CRR II errechnet.[263]
Das Risiko einer Kreditposition können die Institute gemäß Art. 107 Abs. 1 CRR II mittels zweier verschiedener Methoden ermitteln: Nach einem Kreditrisikostandardansatz (KSA) oder nach einem auf (bank-)internen Ratings basierenden Ansatz (IRBA) – letzterer nur soweit die zuständigen Behörden die Anwendung eines solchen Ansatzes genehmigt haben.[264]
Der Kreditrisikostandardansatz basiert auf dem Prinzip der risikogewichteten Unterlegung von Forderungen durch Eigenkapital, wobei externe Ratings die Grundlage für die Risikogewichtung bilden.[265] Im Rahmen des Kreditrisikostandardansatzes werden in Art. 112 CRR II Risikopositionsklassen definiert, welchen in den Art. 114–134 CRR II je ein spezifisches Risikogewicht zugewiesen wird.
Den auf internen Ratings basierenden Ansatz entwickeln Banken selbst, müssen jedoch die hierfür geltenden Mindestvoraussetzungen der Art. 142 ff. CRR II einhalten.
Die Art. 112, 127 und 128 CRR II gehören zu den Vorschriften zum Kreditrisikostandardansatz (Teil 3 Titel II Kapitel 2; Art. 111–141 CRR II).
b) Ausgefallene Positionen, Art. 112 lit j i.V.m. Art. 127 CRR II
Von Interesse für die Definition von notleidenden Krediten ist zunächst die Risikopositionsklasse „Ausgefallene Positionen“ (Exposures in default) i.S.v. Art. 112 lit. j) i.V.m. Art. 127 CRR II. In Bezug auf die Definition des Schuldnerausfalles (Default of an obligor) verweist Art. 127 Abs. 1 CRR II auf die Ausfalldefinition in Art. 178 CRR II[266], sodass auf die sogleich folgenden Ausführungen zu dieser Bestimmung verwiesen werden kann. Bei Verwendung des Kreditrisikostandardansatzes ist die Ausfalldefinition des Art. 178 CRR II Anknüpfungspunkt für die Zuordnung einer Forderung als „ausgefallene Position“ und die sich daraus ergebende Risikogewichtung.[267]
c) Mit besonders hohem Risiko verbundene Positionen, Art. 112 lit. k) i.V.m. Art. 128 Abs. 3 CRR II.
Weiter von Interesse für die Definition von notleidenden Krediten ist die Risikopositionsklasse „Mit besonders hohem Risiko verbundene Positionen“ (Items associated with particular high risk) i.S.v. Art. 112 lit. k) i.V.m. Art. 128 CRR II.
Art. 128 Abs. 2 CRR II zählt zunächst bestimmte Positionen auf, welche stets als mit besonders hohem Risiko verbundene Positionen gelten und zwingend dieser Risikopositionsklasse zuzuweisen sind.[268] Art. 128 Abs. 3 CRR II erteilt den Instituten darüber hinaus den Auftrag, eigenständig zu beurteilen, ob eine Position, die nicht in Art. 128 Abs. 2 CRR II genannt ist, mit besonders hohen Risiken verbunden ist.[269] Hierfür müssen die Banken den folgenden Risikomerkmalen Rechnung tragen:
Der Begriff des Ausfalls bei Art. 128 Abs. 3 lit. a CRR II wird nicht definiert. Art. 128 Abs. 3 lit. b) CRR II enthält eine Zweifelsregelung, wonach eine Position der Risikopositionsklasse selbst dann schon zuzuweisen ist, wenn nicht auszuschließen ist, dass die Position ein hohes Verlustrisiko trägt.[270]
Anders als bei Art. 127 CRR II – welcher auf die Ausfalldefinition in Art. 178 CRR II verweist – kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass der Schuldnerausfall bei Art. 128 CRR II dieselbe Bedeutung hat wie in Art. 127 bzw. Art. 178 CRR II.
Begriffsverständnisse beim Kreditrisikostandardansatz können von jenen der auf internen Ratings basierenden Ansätze abweichen. Art. 128 (3) CRR II a.E. ermächtigt die Europäische Bankenaufsicht EBA, im Rahmen von Leitlinien zu klären, welche Arten von Positionen unter welchen Umständen mit besonders hohem Risiko verbunden sind.[271]
aa) Leitlinien der EBA zur Festlegung von mit hohem Risiko verbundenen Risikopositionsarten im Sinne des Art. 128 CRR II
Art. 128 Abs. 3 CRR II a.E. enthält eine Ermächtigung an die EBA, im Rahmen von Leitlinien zu klären, welche Arten von Positionen unter welchen Umständen mit besonders hohem Risiko verbunden sind.[272]
Leitlinien und Empfehlungen (guidelines and recommendations) im Sinne der Art. 8 Abs. 2 lit. c), Art. 16 VO (EU) Nr. 1093/2010 dienen wie alle delegierten Rechtsakte gem. Art. 290 AEUV der Ergänzung oder Änderung bestehender Normen.
Leitlinien und Empfehlungen der EBA legen fest, was nach Ansicht der EBA angemessene Aufsichtspraktiken innerhalb des Europäischen Finanzaufsichtssystems sind oder wie das Unionsrecht in einem bestimmten Bereich anzuwenden ist. Sie sind rechtlich nicht verbindlich, sollen den nationalen Aufsichtsbehörden aber als Interpretationshilfe dienen. Hierdurch sollen effiziente und wirksame Aufsichtspraktiken geschaffen und sichergestellt werden, dass das Unionsrecht durch die nationalen Aufsichtsbehörden einheitlich angewandt wird.[273]
Die EBA hat von dieser Ermächtigung auf Grundlage des Art. 128 Abs. 3 Satz 2 CRR II i.V.m. Art. 8 Abs. 2 lit. c), Art. 16 VO(EU) 1093/2010 Gebrauch gemacht und die Leitlinien EBA/GL/2019/01veröffentlicht. Diese gelten seit dem 01.07.2019.
Die Leitlinien legen fest, welche nicht in Artikel 128 Abs. 2 CRR II genannten Risikopositionsarten unter welchen Umständen mit besonders hohem Risiko verbunden sind. Für diese sonstigen, mit hohem Risiko verbundenen Positionen bestimmt Art. 128 Abs. 3 Satz 1 CRR II nur, dass die Institute unter Berücksichtigung eines hohen Verlustrisikos infolge eines Ausfalls des Schuldners selbst beurteilen müssen, ob ein besonders hohes Risiko gegeben ist.[274]
Hier knüpft Abschnitt 4.2 EBA/GL/2019/01 an und trifft konkretere Festlegungen. So können sämtliche Risikopositionsklassen des Art. 112 CRR II ein besonders hohes Risiko tragen, insbesondere aber Risikopositionen gegenüber Unternehmen, Beteiligungsrisikopositionen und sonstige Posten.[275]
Unter diesen Risikopositionen sollten Institute mindestens diejenigen als mit besonders hohem Risiko behaftet sehen, die einen Umfang und eine Bandbreite von Risikotreibern aufweisen, die bei anderen Schuldnern oder Transaktionen derselben Risikopositionsklasse „nicht üblich“ sind.[276] Für solche Risikopositionen mit Risikotreibern von unüblichem Umfang oder unüblicher Bandbreite werden in Ziffer 4.2 Abs. 5 und 6 EBA/GL/2019/01 wiederum Fallbeispiele gebildet.
Hierzu gehören Finanzierungen von spekulativen Investitionen mit besonders hohem Verlustrisiko und nicht ausreichend anderen Einkünften, Spezialfinanzierungen ohne verfügbare externe Ratings und besonders hohen Verlustrisiken und Aktienanteile an Unternehmen, sofern auf Schuldtitel desselben Emittenten ein Risikogewicht von 150 % anzuwenden wäre – insbesondere aufgrund eines Ausfalls des Emittenten gemäß Art. 178 CRR II.[277]
Nach Abs. 3 der Leitlinien in Verbindung mit Art. 16 Abs. 3 Satz 2 VO (EU) 1093/2010 müssen die zuständigen nationalen Behörden mitteilen, ob sie die Leitlinien in ihre Verwaltungspraxis übernehmen wollen. Per Rundschreiben vom 08.11.2019 hat die BaFin mitgeteilt, dass sie den Leitlinien der EBA nachkommen wird.[278]
bb) Zwischenergebnis
In Bezug auf eine Definition des notleidenden Kredites hält sich der Erkenntnisgewinn aus den EBA/GL/2019/01 zu Art. 128 Abs. 3 CRR II in Grenzen: Ziffer 4.2 Abs. 6 lit. b) (ii) stellt zwar für Aktienbeteiligungen von Banken einen indirekten Bezug zur Ausfalldefinition des Art. 178 CRR II her. Dennoch bleibt der durch die Leitlinien ergänzte Kriterienkatalog ausgesprochen vage.
Geeigneterer Anknüpfungspunkt für eine bankrechtliche Definition des notleidenden Kredites ist daher die Ausfalldefinition des Art. 178 CRR II, zu dem auch zahlreiche konkretisierende Rechtsakte herausgegeben wurden. Diese werden im Folgenden näher betrachtet.
5. Schuldnerausfall, Art. 178 CRR II
a) Systematik und Zweck der Bestimmung
Art. 178 CRR II gehört zu den Vorschriften über die Voraussetzungen für die Genehmigung eines auf internen Ratings basierenden Ansatzes (Teil 3 Titel II Kapitel 3; Art. 142–191 CRR II).
Art. 178 CRR II spezifiziert die für die Risikoquantifizierung anzuwendende Ausfalldefinition.[279] Die Ausfalldefinition ist in diesem Kontext entscheidend für die Schätzung der Risikoparameter sowie die Berechnung der zu erwartenden Verluste einer Bank und damit der spezifischen Risikogewichtung für die jeweilige Kreditposition.[280]
b) Inhalt der Bestimmung
In Art. 178 CRR II werden zwei wesentliche Kriterien benannt, die jedes für sich genommen zur Annahme eines Schuldnerausfalls führt.[281] Demnach ist der Ausfall eines Schuldners gegeben, wenn einer oder beide der folgenden Fälle eingetreten sind:[282]
Für die beiden Kriterien, welche jeweils zur risikobezogenen Annahme eines Schuldnerausfalles führen, haben sich die Bezeichnungen Unlikely-to-pay-Kriterium für Art. 178 Abs. 1 lit. a) CRR II und 90 days past-due-Kriterium für Art. 178 Abs. 1 lit. b) CRR II eingebürgert.[283]
In Bezug auf das Unlikely-to-pay-Kriterium hat die Bank das Risiko der Uneinbringlichkeit einer Kreditposition regelmäßig zu bewerten. Als Hilfestellung hierfür ist in Art. 178 Abs. 3 CRR II ein umfangreicher, aber nicht abschließender Katalog möglicher Hinweise auf eine Unwahrscheinlichkeit des Begleichens der Verbindlichkeiten aufgeführt.[284] „Dies ist der Verzicht des Instituts auf die laufende Belastung von Zinsen, das Erfassen einer erheblichen Kreditrisikoanpassung (größer als ein Prozent), die Veräußerung der Kreditverbindlichkeit mit einem bonitätsbedingten Verlust (mehr als fünf Prozent Abschlag), die Zustimmung zu einer krisenbedingten Restrukturierung, ein Insolvenzantrag der Bank über das Vermögen des Schuldners sowie ein eigener Insolvenzantrag des Schuldners oder die Anordnung eines vorläufigen Insolvenzverfahrens auf Fremdantrag.“[285] Die insgesamt recht offene Formulierung der Tatbestände soll es Kreditinstituten erleichtern, die in der internen Risikosteuerung bereits verwendeten Ausfallsignale weiterhin auch für die Risikoquantifizierung im Vorfeld der Eigenkapitalunterlegung zu nutzen.[286]
Das 90 days past-due-Kriterium wird in Art. 178 Abs. 2 CRR II konkretisiert. Die Überfälligkeit im Sinne des Art. 178 Abs. 1 lit. b) CRR II muss an 90 aufeinanderfolgenden Tagen vorliegen.[287] Um einen Ausfall im Sinne des 90 days past-due-Kriteriums festzustellen, muss man also die Tage der Überfälligkeit zählen, wofür man wiederum wissen muss, an welchem Tag man mit dem Zählen beginnt. So werden in Art. 178 Abs. 2 lit. a)–c), e) CRR II der Beginn der Überfälligkeit – und damit die Zählung der Verzugstage – näher konkretisiert.[288] „Nach Art. 178 Abs. 2 lit. a CRR II beginnt bei Überziehungen die Überfälligkeit mit dem Tag, an dem der Kreditnehmer ein mitgeteiltes Limit überschritten hat, ihm ein geringeres Limit als die aktuelle Inanspruchnahme mitgeteilt wurde oder er einen nicht genehmigten Kredit in Anspruch genommen hat und der zugrundeliegende Betrag erheblich ist.“[289]
Für die Bestimmung der Erheblichkeit[290] einer überfälligen Verbindlichkeit (material credit obligation) wird in Art. 178 Abs. (2) lit. d) CRR II ein Vergleich mit einem Schwellenwert angeordnet, den die „zuständigen Behörden“ festlegen sollen. Diese Erheblichkeitsschwelle soll die als vertretbar angesehene Risikohöhe widerspiegeln. Die CRR II lässt an dieser Stelle somit an zwei Stellen Umsetzungsspielraum: Zum einen in Bezug auf die Festlegung einer zuständigen Behörde, zum anderen bei der Festlegung der Erheblichkeitsschwelle durch diese Behörde. Hierdurch sollen den unterschiedlichen wirtschaftlichen Voraussetzungen und Gegebenheiten in den Mitgliedsstaaten Rechnung getragen werden.
Im Ergebnis liefert die Ausfalldefinition des Art. 178 CRR II mit den Kriterien Unlikely to pay und 90 days past-due erste konkrete Anhaltspunkte für eine Definition des notleidenden Kredites, wenngleich die beiden Kriterien selbst wiederum an zahlreiche, komplex zu prüfende und teils unbestimmte Voraussetzungen geknüpft sind.
Zur weiteren Konkretisierung hat die EBA zu Art. 178 CRR II Technische Regulierungsstandards sowie Leitlinien veröffentlicht, welche im Folgenden untersucht werden.
aa) Technischer Regulierungsstandard zum Schuldnerausfall gemäß Art. 178 CRR bezüglich der Erheblichkeitsschwelle für überfällige Verbindlichkeiten
Das 90 days past-due-Kriterium der Ausfalldefinition des Art. 178 CRR II nimmt einen Kreditausfall dann an, wenn wesentliche Verbindlichkeiten für mehr als 90 Tage überfällig sind. Um zu ermitteln, wann diese 90 Tage abgelaufen sind, muss man zwei Dinge wissen: zum einen, ab welchem Tag eine Verbindlichkeit überfällig ist und zum anderen, ab welcher Schwelle eine Verbindlichkeit wesentlich bzw. erheblich ist (material obligation). Nur wenn diese Informationen zur Verfügung stehen, kann man den ersten zu zählenden Tag ermitteln.
Der Technische Regulierungsstandard bezüglich der Erheblichkeitsschwelle für überfällige Verbindlichkeiten konkretisiert diese Erheblichkeitsschwelle für das 90 days past-due-Kriterium des Art. 178 Abs. 1 lit. b) CRR II. Die Befugnis der EBA, technische Regulierungsstandards (regulatory technical standards – RTS) zu entwerfen, beruht auf Art. 110 Abs. 4, Art. 178 Abs. 6 CRR II i.V.m. Art. 8 Abs. 2 lit. a) i.V.m. Art. 10 VO(EU) Nr. 1093/2010. Diese Technischen Regulierungsstandards dienen – wie alle delegierten Rechtsakte gemäß Art. 290 AEUV – der Ergänzung oder Änderung bestehender Normen. Sie dürfen nur technische Fragen regeln; strategische oder politische Entscheidungen sind nicht mittels delegierter Rechtsakte umsetzbar. Die EBA-Entwürfe von Technischen Regulierungsstandards erlangen nicht unmittelbar Gesetzeskraft, sie müssen von der EU-Kommission gebilligt und verabschiedet werden.[291]
Die konkrete Ermächtigung der EBA zur Festlegung von Kriterien für die Festsetzung der Erheblichkeitsschwelle ergibt sich aus Art. 178 Abs. 6 CRR II. Die finale Entwurfsfassung der EBA[292] erwuchs – in leicht abgeänderter Form – durch die Delegierte Verordnung (EU) 2018/171 in Gesetzeskraft.[293]
Normenadressat der DelVO (EU) 2018/171 ist die zuständige Behörde. Diese sind die jeweiligen Bankaufsichtsbehörden der Mitgliedsstaaten sowie – für systemrelevante Institute unter dem Single Supervisory Mechanism – die EZB.
Die Kriterien für die Festsetzung der Erheblichkeitsschwelle setzen sich aus einer absoluten und einer relativen Obergrenze zusammen, Art. 1 (2) UA 1 DelVO (EU) 2018/171. Die konkrete Festlegung eines Wertes innerhalb dieser Obergrenzen obliegt den zuständigen Behörden, also den nationalen Aufsichtsbehörden bzw. für SSM-Institute der EZB.
Die absolute Obergrenze wird als Höchstbetrag für die Summe aller überfälligen Verbindlichkeiten eines Schuldners gegenüber dem Institut, seinem Mutterunternehmen oder einem seiner Tochterunternehmen ausgedrückt.[294] Beim Mengengeschäft im Sinne des Art. 123 CRR II darf der Höchstbetrag nicht über 100 € hinausgehen, bei sonstigen Risikopositionen nicht über 500 €.[295]
Die relative Obergrenze wird als Prozentsatz ausgedrückt, der das Verhältnis der überfälligen Kreditpositionen zur Gesamtsumme aller Kreditverpflichtungen des Kreditnehmers ausdrückt, mit Ausnahme von Beteiligungsrisikopositionen.[296] Dieser Prozentsatz muss zwischen 0 % und 2,5 % liegen und soll in der Regel 1 % betragen.[297]
Eine überfällige Verbindlichkeit ist gemäß Art. 178 Abs. 1 lit. b CRR II i.V.m. Art. 1 Abs. 5, Art. 2 Abs. 4 DelVO(EU) 2018/171 dann als erheblich anzusehen, wenn die von der zuständigen Behörde festzulegenden absoluten und relativen Obergrenzen kumulativ überschritten werden.
Diese Konkretisierungen des 90 days past-due-Kriteriums liefert die ersten quantitativ messbaren Anhaltspunkte für eine Definition des notleidenden Kredites und stellt daher einen wichtigen Zwischenschritt dar. Im weiteren Verlauf wird zu untersuchen sein, wie die zuständigen Behörden – also die nationalen Aufsichtsbehörden und für SSM-Institute die EZB – die Obergrenzen konkret festgelegt haben.
bb) EZB-Verordnung zur Ermessensausübung bei der Festlegung der Erheblichkeitsschwelle für SSM-Institute
Der zuvor untersuchte Technische Regulierungsstandard bezüglich der Erheblichkeitsschwelle für überfällige Verbindlichkeiten beim 90 days past-due-Kriterium des Art. 178 CRR II legt den zuständigen Behörden auf, konkrete Erheblichkeitsschwellen festzulegen. Diese zuständigen Behörden sind zum einen die national zuständigen Aufsichtsbehörden. Für systemrelevante Institute, die im Rahmen des Single Supervisory Mechanism von der EZB beaufsichtigt werden, ist die zuständige Behörde im Sinne des Technischen Regulierungsstandards die EZB.[298]
Die EZB hat im November 2018 eine Verordnung im Sinne des Art. 132 AEUV erlassen, welche die Nutzung des Ermessensspielraums bei der Festsetzung der Erheblichkeitsschwelle regelt.[299] Der absolute Grenzwert – also die Summe der überfälligen Kreditverpflichtungen des Kreditnehmers und mit ihm verbundener Unternehmen – wird auf 100 € für Positionen aus dem Mengengeschäft im Sinne des Art. 123 CRR II festgesetzt, und auf 500 € für sonstige Positionen, Art. 3 Abs. 1 lit. a) VO (EU) 2018/1845. Der relative Grenzwert für rückständige Forderungen beträgt 1 % vom Gesamtbetrag der Forderungen des Kreditnehmers und mit ihm verbundener Unternehmen. Die EZB setzt somit für die systemrelevanten Institute, die im Rahmen des SSM beaufsichtigt werden, den Technischen Regulierungsstandard der EBA ohne Abstriche oder Änderungen um.
cc) Leitlinien der EBA zur Anwendung der Ausfalldefinition
Neben dem Technischen Regulierungsstandard zur Erheblichkeitsschwelle, welcher sich ausschließlich auf das 90 days past-due-Kriterium bezieht, enthält Art. 178 CRR II in Abs. 7 auch eine Ermächtigung für die EBA, Leitlinien für die Anwendung des Art. 178 CRR II herauszugeben.
Leitlinien und Empfehlungen der EBA legen fest, was nach Ansicht der EBA angemessene Aufsichtspraktiken innerhalb des Europäischen Finanzaufsichtssystems sind oder wie das Unionsrecht in einem bestimmten Bereich anzuwenden ist. Sie sind rechtlich nicht verbindlich, sollen den nationalen Aufsichtsbehörden aber als Interpretationshilfe dienen. Hierdurch sollen effiziente und wirksame Aufsichtspraktiken geschaffen und sichergestellt werden, dass das Unionsrecht durch die nationalen Aufsichtsbehörden einheitlich angewandt wird.[300]
Die EBA hat von dieser Ermächtigung auf Grundlage des Art. 178 Abs. 7 CRR II i.V.m. Art. 8 Abs. 2 lit. c), Art. 16 VO(EU) 1093/2010 Gebrauch gemacht und die Leitlinien EBA/GL/2016/07 veröffentlicht.[301] Diese gelten gemäß Ziff. 6 EBA/GL/2016/07 sowohl für den Kreditrisikostandardansatz (über Art. 127 CRR II) als auch für auf internen Ratings basierenden Ansätzen. Anzuwenden sind sie ab dem 1. Januar 2021.
Die Leitlinien EBA/GL/2016/07 konkretisieren in 114 Einzelaussagen die Inhalte der Ausfalldefinition des Art. 178 CRR II und geben zahlreiche konkrete Anwendungshinweise für beide Varianten der Ausfalldefinition: dem 90 days past-due-Kriterium und dem Unlikely-to-pay-Kriterium.[302]
Für die Anwendung des 90 days past-due-Kriteriums gemäß Art. 178 (1) lit. b) CRR II werden in Abschnitt 4 der Leitlinien unter anderem Vorschriften für die Zählung von Verzugstagen[303], für die Identifizierung von Fällen sogenannter technischer Überfälligkeit[304] (welche keine Überfälligkeit im eigentlichen Sinne darstellen), für die Behandlung von Factoring und angekauften Forderungen[305] sowie für die Festlegung der Erheblichkeitsschwelle[306] aufgestellt.
Bei den Vorschriften für die Festlegung der Erheblichkeitsschwelle in Abs. 33 und 34 wird Bezug genommen auf den zuvor vorgestellten Technischen Regulierungsstandard EBA/RTS/2016/06 bezüglich der Erheblichkeitsschwelle für überfällige Verbindlichkeiten. So haben die national zuständigen Behörden der EBA eine Begründung abzugeben, wenn sie von der empfohlenen relativen Erheblichkeitsschwelle von 1 % abweichen.[307] Den Instituten selbst wird aufgegeben, ebenfalls die von den nationalen Behörden festgelegten Erheblichkeitsschwellen zu beachten, wobei die Institute unter bestimmten Umständen niedrigere, nicht aber höhere Schwellen bestimmen dürfen.
Das Kriterium der Unwahrscheinlichkeit des Begleichens der Verbindlichkeiten (Unlikely-to-pay-Kriterium) wird in Abschnitt 5 der Leitlinien konkretisiert und dient als Ergänzung des Kriterienkatalogs des Art. 178 Abs. 3 CRR II. Als Hinweise für die Unwahrscheinlichkeit des Begleichens werden unter anderem der Verzicht auf Erhebung von Zinsen[308], spezifische Kreditrisikoanpassungen[309], die Veräußerung von Verbindlichkeiten[310], eine krisenbedingte Restrukturierung[311] sowie die Insolvenz[312] des Schuldners genannt.
Ferner werden die Institute aufgefordert, in ihren internen Richtlinien und Prozessen weitere zusätzliche Hinweise auf Unwahrscheinlichkeit des Begleichens der Verbindlichkeiten festzulegen, welche interne Informationen zu Kreditengagements berücksichtigen.[313]
Abs. 59 enthält speziell hierfür einen Katalog möglicher Hinweise, zu denen Verstöße gegen den Kreditvertrag, das Wegfallen von Einnahmequellen des Schuldners, Bedenken hinsichtlich der Fähigkeit zur Generierung von Cashflow, der Gesamtverschuldungsgrad des Kreditnehmers sowie das Verlangen der Bank nach (weiteren) Sicherheiten gehört.[314] „In Abs. 60 werden die Banken dazu angehalten, darüber hinaus auch jegliche weitere Informationen zu berücksichtigen, wie etwa solche aus externen Datenbanken oder Presseartikeln, wenn diese auf eine Krise des Sektors, in welchem der Schuldner tätig ist, ein Wegfall des aktiven Marktes oder erhebliche Verzögerungen bei Zahlungen an andere Gläubiger hinweisen.“[315]
Hervorzuheben innerhalb des Hinweiskatalogs ist Abs. 59 lit. h), welcher als möglichen Hinweis auf Unwahrscheinlichkeit des Begleichens „die Meldung einer Risikoposition als notleidend in Einklang mit Anhang V der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 680/2014“ benennt. Die DVO (EU) Nr. 680/2014 ist eine Bestimmung des aufsichtlichen Meldewesens, welche im Anschluss an die Vorschriften zum Kreditrisikomanagement näher betrachtet wird.
Die Bezugnahme auf das aufsichtliche Meldewesen in den Leitlinien zu Art. 178 CRR II stellt einen wichtigen Hinweis auf die Absicht eines harmonisierten Verständnisses des notleidenden Kredits innerhalb des Bankrechts dar. Daneben hilft der sehr detaillierte Kriterienkatalog der Leitlinien, Fälle eines Schuldnerausfalls besser identifizieren zu können.
Nach Abs. 3 der Leitlinien in Verbindung mit Art. 16 Abs. 3 Satz 2 VO (EU) 1093/2010 müssen die zuständigen nationalen Behörden mitteilen, ob sie die Leitlinien in ihre Verwaltungspraxis übernehmen wollen. Per Rundschreiben vom 16.04.2019 hat die BaFin mitgeteilt, dass sie den Leitlinien der EBA mit Ausnahme der Abs. 25 und 26[316] nachkommen wird und ferner die Leitlinien der EBA in ihre Verwaltungspraxis übernehmen wird.[317]
6. Bestimmungen des aufsichtlichen Meldewesens, Art. 430 CRR II (Art. 99 CRR)
a) Systematik und Zweck der Bestimmungen
Zur effektiven Überwachung der Institute benötigen die Aufsichtsbehörden laufende Einblicke in die Geschäftstätigkeit der Kreditinstitute, um insbesondere Rückschlüsse auf die Risikoprofile der einzelnen Institute zu ziehen und sich einen Gesamtüberblick über die Risiken für den Finanzsektor zu verschaffen.[318] Jahresabschlüsse und Geschäftsberichte reichen hierfür nicht aus, vielmehr sollten zusätzlich unterjährige, harmonisierte Meldungen der europäischen Aufsicht umfassende und vergleichbare Informationen zugänglich machen und die grenzüberschreitende Aufsicht erleichtern.[319] Diese Melde- und Offenlegungspflichten gehören zu Säule III des Baseler Rahmenwerkes und untermauern die materiellen Mindestkapitalanforderungen von Säule I durch aufsichtliche Maßnahmen.[320]
Dem Konzept des Single Rulebook folgend – also einem europaweit einheitlichen, harmonisierten Regelwerk für die Bankenregulierung – sind auch die Vorschriften zum aufsichtlichen Meldewesen in der CRR II enthalten und somit europaweit harmonisiert. Um einerseits der Vielfalt an organisatorischen Gegebenheiten und Geschäftsmodellen von meldepflichtigen Instituten in Europa gerecht zu werden und andererseits die erforderlichen Daten in einheitlicher Form erheben zu können, sind die Anforderungen an die Meldungen in Technischen Durchführungsstandards sehr detailliert vorgegeben. Es existieren Musterformulare (sog. Melde-Templates), welche die Form, in denen die Meldungen abzugeben sind, vorschreiben. Innerhalb dieser Technischen Durchführungsstandards befinden sich ebenfalls Hinweise auf eine bankrechtliche Definition des notleidenden Kredits.
b) COREP und FINREP als harmonisierte Rahmenwerke für aufsichtliche Meldungen
Im Zuge der Europäisierung der Bankenaufsicht wurde das Meldewesen seit 2011 umfassend neugestaltet und größtenteils harmonisiert, wobei der EBA zahlreiche Regelungskompetenzen eingeräumt wurden.[321] Es existieren zwei Rahmenwerke: Für die regelmäßigen Meldungen über die Zusammensetzung der Eigenmittel und zur Berechnung der Eigenmittelanforderungen – also zu unterlegungspflichtigen Risikopositionen – mittels einheitlicher Meldebögen besteht das Common Solvency Ratio Reporting – COREP[322], für die Meldung von Finanzinformationen auf konsolidierter Basis das Financial Reporting – FINREP.[323]
Ziel von COREP und FINREP ist ein vereinfachtes, harmoniertes aufsichtliches Meldewesen unter Nutzung eines gemeinsamen, standardisierten Datenformates, sodass vor allem international tätige Kreditinstitute ihren Meldepflichten in unterschiedlichen Mitgliedsländern ohne Mehrfachbelastung bzw. unter reduziertem Verwaltungsaufwand nachkommen können. Ferner wird europaweit die Vergleichbarkeit der gemeldeten Daten erhöht.[324]
Rechtsgrundlage für COREP ist Art. 99 Abs. 1 CRR (ab dem 28.06.2021: Art. 430 Abs. 1 und 2 CRR II) i.V.m. Art. 92 CRR II. COREP-Meldungen enthalten zum Zwecke der Ermittlung der Kapitalquoten eine Berechnung des Gesamtrisikobetrags, aufgeschlüsselt nach Risikopositionsklassen im Sinne des Art. 112 CRR II (Kreditrisikostandardansatz) bzw. nach einem auf internen Einstufungen basierenden Ansatz des jeweiligen Instituts (IRB-Ansatz).
Ihrem Inhalt nach berichten die COREP-Mitteilungen also über die Einhaltung der Eigenmittelanforderungen nach Teil 3 der CRR II (Art. 92–386 CRR II). Die Relevanz dieser Vorschriften für die Definition des notleidenden Kredites wurde bereits im vorangehenden Abschnitt zur Eigenkapitalausstattung besprochen.[325] Aus den COREP-Meldepflichten ergeben sich somit keine neuen Erkenntnisse für die bankrechtliche Definition des notleidenden Kredites.
Neue Erkenntnisse ergeben sich jedoch aus den Meldepflichten nach FINREP, die eigenständig und inhaltlich verschieden von den COREP-Meldepflichten sind. Rechtsgrundlage für FINREP ist Art. 99 Abs. 2–5 CRR (ab dem 28.06.2021: Art. 430 Abs. 3–5 CRR II). FINREP ist ein standardisiertes Meldeformat für unterjährige Finanzdaten, welches ursprünglich nur für IFRS-bilanzierende Kreditinstitute, mittlerweile allerdings auch in gewissem Umfang für Bilanzierer nach HGB bzw. den nGAAP des jeweiligen EU-Mitgliedsstaats verpflichtend ist.[326]
c) Technischer Durchführungsstandard der EBA zum aufsichtlichen Meldewesen
Art. 99 Abs. 5 CRR (ab dem 28.06.2021: Art. 430 Abs. 7 CRR II) ermächtigt die EBA zum Erlass Technischer Durchführungsstandards zum aufsichtlichen Meldewesen.[327] Wie bereits dargelegt, dienen diese als delegierte Rechtsakte im Sinne von Art. 290 AEUV – der Ergänzung oder Änderung bestehender Normen und dürfen nur technische Fragen regeln, während strategische oder politische Entscheidungen mittels delegierter Rechtsakte nicht umsetzbar sind.[328]
Von der Ermächtigung in Art. 99 Abs. 5 CRR hat die EBA im Juli 2013 durch Erlass des Technischen Durchführungsstandards EBA/ITS/2013/02[329] Gebrauch gemacht, welcher in Form der DVO (EU) 680/2014 Rechtskraft erlangte.[330] Seitdem wurde der Technische Durchführungsstandard mehrfach umfassend überarbeitet, zuletzt im Februar 2020.[331] Die über 1.400 Seiten umfassende DVO (EU) 680/2014 untergliedert sich im Wesentlichen in Mustertabellen für die aufsichtlichen Meldungen nach COREP und FINREP und zugehörigen Erörterungen.[332] Neben der inhaltlichen Ausgestaltung der Meldebögen treffen COREP und FINREP Bestimmungen zu Formaten, Meldefrequenzen, Meldestichtagen, Definitionen und der IT-Umsetzung der aufsichtlichen Meldungen.[333] Die Mustertabellen enthalten dabei – abhängig vom Grad des Risikos einer Position – Faktoren, mit denen der Nominalwert der Position zu multiplizieren ist. Dabei gilt, dass mit größerem Risiko der Multiplikationswert höher wird.
Anknüpfungspunkt in der DVO (EU) 680/2014 (in der Fassung der DVO (EU) 2020/429) für eine bankrechtliche Definition des notleidenden Kredites ist der Begriff der notleidenden Risikoposition (Non-Performing Exposure – NPE).
Der Begriff der notleidenden Risikoposition wird in den Anlagen der DVO (EU) 2020/429 zum FINREP-Meldewesen verwendet, nämlich in Anlage III Meldebogen 18.0 DVO (EU) 2020/429 für IFRS-Bilanzierer und in Anlage IV Meldebogen 18.0 DVO (EU) 2020/429 für nGAAP-Bilanzierer. Erläutert und kommentiert werden die Meldebögen aus den Anlagen III und IV in der Anlage V, die quasi als Ausfüllhilfe dient. Ausführungen zu den Meldebögen 18.0 und notleidenden Risikopositionen finden sich dort in Anlage V Abs. 213–239 DVO (EU) 2020/429.
Gleich zu Beginn werden in Anlage V Abs. 213 DVO (EU) 2020/429 die technischen Kriterien für eine Einordnung als notleidende Risikoposition im Rahmen des FINREP-Meldewesens definiert.
Eine Risikoposition ist dabei zunächst jeder bilanzielle und außerbilanzielle Posten der Fremdkapitalfinanzierung (vgl. auch Art. 5 Abs. 1 CRR II), die im Anlagebuch – nicht im Handelsbuch – gehalten werden.[334]
Zur Einordnung einer Risikoposition als notleidend existieren zwei alternative Kategorien:
Auffallend ist die Ähnlichkeit zu den Schuldnerausfallkriterien nach Art. 178 CRR II: Die Kriterien für einen Ausfall sind auch entweder eine Überfälligkeit von mehr als 90 Tagen (90 days past-due-Kriterium) oder eine „Unwahrscheinlichkeit des Begleichens der Verbindlichkeiten (Unlikely-to-pay-Kriterium).[335]
Allerdings stellt Anhang V Abs. 214 DVO (EU) 2020/429 klar, dass die Einstufung als notleidend für die Zwecke des FINREP-Meldewesens eigenständig und unabhängig von einer Einstufung als ausgefallen im Sinne der aufsichtlichen Eigenkapitalunterlegungsvorschrift des Art. 178 CRR II erfolgt. Die Begriffe notleidende Risikoposition (NPE) und Schuldnerausfall (Default of the obligor) sind somit nicht deckungsgleich, wenngleich sie sich weitgehend überschneiden.[336]
Anhang V Abs. 215 DVO (EU) 2020/429 konkretisiert das Verhältnis zwischen der NPE-Definition, der Ausfalldefinition nach Art. 178 CRR II sowie ferner zu rechnungslegungsbezogenen Vorschriften.[337] So sind Risikopositionen, bei denen ein Ausfall nach Art. 178 CRR II als gegeben gilt, stets als notleidend im Sinne der NPE-Definition des FINREP-Meldewesens zu betrachten.
Gemäß Anhang V Abs. 216 DVO (EU) 2020/429 ist beim 90 days past due-Kriterium die Wesentlichkeit nach denselben Maßstäben zu bewerten wie bei Art. 178 CRR II.
Gemäß AnhangV Abs. 222 i.V.m. Abs. 96 DVO (EU) 2020/429 ist eine Risikoposition überfällig, wenn eine Tilgungs-, Zins- oder Gebührenzahlung nicht termingerecht geleistet wurde. Bezogen auf das deutsche Recht ist hier der Zahlungsverzug im Sinne des § 286 BGB gemeint.[338]
Auf das Unlikely-to-pay-Kriterium wird in Anhang V DVO (EU) 2020/429 (und den vorhergegangenen Versionen der VO (EU) 680/2014) nicht näher eingegangen.
Nichtsdestoweniger ist die NPE-Definition in der VO (EU) 680/2014 in der Fassung der DVO (EU) 2020/429 ein zentraler Anknüpfungspunkt für die Herleitung einer bankrechtlichen Definition des notleidenden Kredites, denn es handelt sich – im Vergleich zu Art. 178 CRR II und den Rechnungslegungsvorschriften[339] – um den weitesten Definitionsansatz, auf den sich die EZB, die EBA und auch die Europäische Kommission bei ihren Veröffentlichungen zumeist beziehen.[340]
7. Leitlinien der EBA über das Management notleidender und gestundeter Risikopositionen
Am 31.10.2018 hat die EBA Leitlinien, auf Grund der Ermächtigung in Art. 74 Abs. 3 CRD V über das Management notleidender und gestundeter Risikopositionen veröffentlicht.[341] Gemäß Abs. 17 EBA/GL/2018/06 richten sich die Leitlinien einerseits an die national zuständigen Aufsichtsbehörden und andererseits an Kreditinstitute im Sinne des Art. 4 Abs. 1 Nr. 1 CRR II. Die Leitlinie der EBA erklärt in Abs. 9 sowie in Abs. 19 EBA/GL/2018/06 ausdrücklich, dass notleidende Risikopositionen wie in Anhang V DVO (EU) 680/2014 zu verstehen sind. Der Begriff des Notleidenden Kredites wird hier gegenüber der notleidenen Risikoposition dahingehend abgegrenzt, dass es sich bei notleidenden Krediten um Darlehen und Kredite im Sinne des Anhang V DVO (EU) 680/2014 handelt, die wiederum im Sinne des Anhang V DVO (EU) 680/2014 als notleidend einzustufen sind. Die BaFin hat in einer Compliance-Mitteilung an die EBA bekannt gegeben, die Leitlinien EBA/GL/2018/06 bis Ende 2020 umsetzen zu wollen.[342] Damit hat die EBA die Maßgeblichkeit der NPE-Definition des aufsichtlichen Meldewesens für das Regulatorik insgesamt verdeutlicht.
III. Rechnungslegungsbezogene Bestimmungen
In den vorangegangenen Abschnitten wurde untersucht, inwieweit die Vorschriften des Single Rulebook Anknüpfungspunkte für eine Definition des notleidenden Kredites enthalten. Eine weitere Quelle für Definitionsansätze sind die Vorschriften zur Rechnungslegung der Banken, denn in der Regel werden im Rahmen der laufenden Buchführung und stichtagsbezogenen Rechnungslegung Kreditengagements bewertet. Insbesondere die Meldepflichten nach FINREP beziehen sich auf Daten, die im Rahmen der Buchführung bzw. Rechnungslegung gewonnen werden. Banken können ihre Rechnungslegung sowohl nach dem Internationalen Rechnungslegungsstandard IFRS-9 als auch nach den national anerkannten Buchführungsregeln nGAAP – in Deutschland sind dies die Bestimmungen des Dritten Buches des Handelsgesetzbuches – durchführen. Beide Rechnungslegungsstandards werden im Folgenden nach Anknüpfungspunkten für eine Definition des notleidenden Kredites untersucht.
1. IFRS-9
Die IFRS (International Financial Reporting Standards) sind ein international harmonisierter Rechnungslegungsstandard, welcher durch das International Accounting Standards Board (IASB) – ein privates, nichtstaatliches Gremium – entwickelt wird. Daher ist dieser zunächst nicht rechtsverbindlich, wird aber gemäß Art. 3 IAS-VO[343] durch die EU-Kommission im Rahmen des sogenannten Komitologieverfahrens geprüft und – bei Vorliegen der Voraussetzungen – in Form von Übernahmeverordnungen in europäisches Sekundärrecht übernommen.[344] Die IFRS-Rechnungslegungsstandards sind gemäß Art. 4 IAS-VO verpflichtend anzuwenden für die Konzernabschlüsse von Unternehmen, die kapitalmarktorientiert im Sinne des § 264d HGB sind.[345]
Der Rechnungslegungsstandard IFRS 9, welcher internationale Rechnungslegungsstandards für Finanzinstrumente regelt, wurde am 22.11.2016 durch die Übernahme-VO(EU) Nr. 2016/2067[346] in europäisches Sekundärrecht übernommen und hat den bis dahin geltenden Standard IAS 39 abgelöst.[347] Für ab dem 01.01.2018 beginnende Geschäftsjahre ist er zwingend anzuwenden.[348] Unter Finanzinstrumenten im Sinne des IFRS 9 werden auch finanzielle Verbindlichkeiten des bilanzierenden Unternehmens wie zum Beispiel Bankkredite verstanden, siehe Paragraph 1.1 IFRS 9.
IFRS 9 erneuert in Abschnitt 5.5 unter anderem die Wertminderungsvorschriften, denn das Wertminderungsmodell unter IAS 39 – welches Verluste erst bei Eintritt berücksichtigte (incurred loss model) – wurde unter dem Eindruck der Finanzkrise unter anderem in der Abschlusserklärung des G20-Gipfel 2008 für die nicht zeitnahe Verlusterfassung kritisiert.[349] Gemäß Paragraph 5.5.4 IFRS 9 besteht der Zweck der Wertminderungsvorschriften in der Erfassung der über die Laufzeit erwarteten Kreditverluste aus allen Finanzinstrumenten, bei denen sich das Ausfallrisiko – ob individuell oder kollektiv beurteilt – unter Berücksichtigung aller angemessenen und belastbaren Informationen, einschließlich zukunftsorientierter Informationen, signifikant erhöht hat. Demgemäß führt IFRS 9 ein Modell der erwarteten Verluste ein (expected loss model), welches Gewinne und Verluste realistischer und schneller abbilden soll.[350] Dafür wird bereits während der Kreditlaufzeit auf die erwarteten Verluste abgestellt, wobei die Berechnung der Risikovorsorge anhand eines Drei-Stufen-Modells erfolgt. Diese Stufen spiegeln die Entwicklung der Kreditqualität eines Finanzinstruments ohne Berücksichtigung von Sicherheiten wider.[351]
Auf der dritten Stufe steht hierbei der wertgeminderte finanzielle Vermögenswert (credit-impaired financial asset).[352] Ausschlaggebend für die Zuordnung zur Stufe 3 ist das Vorliegen von Indikatoren für eine beeinträchtigte Bonität.[353] Anhang A IFRS 9 definiert einen finanziellen Vermögenswert als wertgemindert[354], wenn ein oder mehrere Ereignisse mit nachteiligen Auswirkungen auf die erwarteten künftigen Zahlungsströme dieses finanziellen Vermögenswerts eingetreten sind. Sodann werden – nicht abschließend – einige Indikatoren für eine Wertminderung aufgeführt, darunter signifikante finanzielle Schwierigkeiten des Emittenten oder des Kreditnehmers, eine drohende Insolvenz oder sonstiges Sanierungsverfahren oder ein Vertragsbruch wie beispielsweise Ausfall oder Überfälligkeit.
Der Begriff der Überfälligkeit wird in Anhang A IFRS 9 gesondert definiert, wonach ein finanzieller Vermögenswert überfällig ist, wenn eine Gegenpartei eine Zahlung zum vertraglich vorgesehenen Fälligkeitszeitpunkt nicht geleistet hat. Der Begriff des Ausfalls wird im Rahmen von IFRS 9 nicht gesondert definiert, er wird jedoch durch weitere Bestimmungen konkretisiert: Die Leitlinien für die Anwendung des IFRS 9 in Anhang B sehen gemäß B5.5.37 IFRS 9 vor, dass Kreditinstitute ihre für interne Risikomanagementzwecke verwendete Ausfalldefinition verwenden sollen. Ferner besteht eine widerlegbare Vermutung, dass ein Ausfall spätestens dann vorliegt, wenn ein finanzieller Vermögenswert 90 Tage überfällig ist. Der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht empfiehlt in seiner Leitlinie BCBS 350[355] den Kreditinstituten, eine auf dem Aufsichtsrecht basierende Ausfalldefinition zu verwenden und verweist auf die beiden Bedingungen der drohenden Nichterfüllung der Zahlungsverpflichtung (Unlikely-to-pay) sowie des 90-Tage-Verzugs.[356] Diese Empfehlung des Baseler Ausschusses wurde von der EBA durch die Leitlinie EBA/GL/2017/06[357] übernommen, welche die BaFin wiederum in ihre Verwaltungspraxis übernommen hat.[358] Die EBA/GL/2017/06 empfiehlt den Kreditinstituten, sich für die Ausfalldefinition nach IFRS 9 an der Ausfalldefinition nach Art. 178 CRR II zu orientieren[359], welche ebenfalls auf dem Baseler Rahmenwerk beruht.[360] Von daher besteht eine tatbestandliche Überschneidung zwischen dem Begriff der Wertminderung nach Abschnitt 5.5 IFRS 9 und der Ausfalldefinition nach Art. 178 CRR II, welche für eine allgemeingültige Definition des Begriffes des notleidenden Kredites nutzbar gemacht werden kann.[361]
2. Nationale Rechnungslegung
Im Rahmen der Rechnungslegung nach dem dritten Buch des HGB gilt gemäß § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB das Vorsichtsprinzip, welches besagt, dass alle bis zum Bilanzstichtag realisierten Verluste, sowie alle vorhersehbaren und/oder abschätzbaren Risiken unter Abwägung etwaiger Chancen zu berücksichtigen sind.[362] In Umsetzung dessen normiert § 253 HGB Grundsätze der Zugangs- und Folgebewertung von Vermögensgegenständen, wobei in § 253 Abs. 4 HGB die Voraussetzungen von Abschreibungen bei Vermögensgegenständen des Umlaufvermögens normiert werden.[363] § 340e Abs 1 Satz 2 HGB verweist für die Bewertung von Forderungen auf die allgemeinen Vorschriften, womit die §§ 252 ff. HGB gemeint sind. Demgemäß sind Forderungen (des Kreditinstituts) von Kreditinstituten dem Umlaufvermögen zuzurechnen und unterliegen dem strengen Niederstwertprinzip.[364] In diesem Kontext sind als Fallgruppe von § 253 Abs. 4 HGB sogenannte zweifelhafte[365] oder auch notleidende[366] Forderungen anerkannt. Diese Begriffe sowie die ihnen zugrundeliegenden Definitionen wurden von der Wirtschaftsprüfungspraxis entwickelt, sind sehr weit gefasst und haben keinen normativen Anknüpfungspunkt im Gesetz. So soll eine zweifelhafte Forderung vorliegen, wenn „Zahlungsausfälle des Schuldners mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit drohen“[367] und eine notleidende Forderung, wenn „mit Ausfällen gerechnet werden muss, d. h. deren Rückzahlung und/oder Verzinsung ganz oder teilweise gefährdet ist“[368]. Diese Definitionen widersprechen nicht den vorangegangenen Feststellungen, besitzen allerdings auch keinen über sie hinausgehenden Erkenntniswert. Für die Entwicklung einer allgemeinen Definition des notleidenden Kredites können Bestimmungen der Rechnungslegung nach HGB daher nur von untergeordneter Bedeutung sein.
IV. EZB-Leitfaden für Banken zu notleidenden Krediten
Die Europäische Zentralbank hat am 20.03.2017 einen eigenen Leitfaden für Banken zu notleidenden Krediten veröffentlicht, welcher im März 2018 ergänzt wurde. Der Leitfaden stellt für die Identifikation von notleidenden Krediten keine eigene Definition auf, sondern bezieht sich auf die zuvor vorgestellten Definitionsansätze aus Art. 178 CRR II (Eigenkapitalaussstattung), VO (EU) 680/2014 (Meldewesen) und IFRS-9 (Rechnungslegung) und grenzt diese voneinander ab.[369] Darüber hinaus gibt der Leitfaden Banken eine Anleitung für die Entwicklung und Umsetzung von NPL-Strategien zur Förderung der Reduzierung von NPL-Beständen an die Hand.[370] Die Adressaten des Leitfadens der EZB sind Kreditinstitute im Sinne von Art. 4 (1) CRR II, insbesondere richtet er sich an alle bedeutenden Institute, die im Rahmen des Single Supervisory Mechanism (SSM) von der EZB beaufsichtigt werden.[371]
1. Gegenüberstellung der einzelnen bankrechtlichen Definitionsansätze im Leitfaden
In der Einleitung verwendet der Leitfaden die Begriffe „notleidender Kredit“, „NPL“ und „NPE“, wobei klargestellt wird, dass der Leitfaden die Begriffe „NPL“ und „NPE“ synonym verwendet[372]. In Abschnitt 5, welcher mit „Bilanzielle Erfassung von NPL“ betitelt ist, wird auf die Problematik der verschiedenen Definitionen zu NPLs eingegangen.[373]
In Kapitel 5.1 werden zunächst die Definitionen von Wertminderung (IAS 39 bzw. IFRS 9 seit dem 01.01.2018)[374], des Ausfalls (Art. 178 CRR II) sowie der Non-Performing Exposure (EBA) gegenübergestellt und voneinander abgegrenzt. Demnach ist die engste Definition jene der Wertminderung nach IFRS 9, etwas weiter ist die Ausfalldefinition nach CRR II, während die NPE-Definition des aufsichtlichen Meldewesens die weiteste Definition darstellt:
Die EZB spricht die dringende Empfehlung an die Adressaten des Leitfadens aus, die NPE-Definition der EBA auch für die interne Risikokontrolle und die öffentliche Finanzberichterstattung zu übernehmen.[375] Ferner führt der Leitfaden aus, dass die NPE-Definition der EBA auch im Rahmen verschiedener relevanter Initiativen wie der Asset Quality Review (AQR) dem Single Supervisory Mechanism, den Stresstests der EZB und den Transparenzprüfungen (Transparency Exercises) der EBA herangezogen wird und somit de facto eine über das aufsichtliche Meldewesen hinausgehende Bedeutung hat.[376]
In Abschnitt 5.2 erfolgt eine Kommentierung der Tatbestandsmerkmale der beiden Varianten der NPE-Definition aus Anhang V Absatz 213 lit. a) und lit. b).[377] Hierdurch soll eine einheitliche Umsetzung der wichtigsten Kriterien der NPE-Definition, namentlich „Überfälligkeit (past-due)“ und „Unwahrscheinlichkeit des Begleichens der Verbindlichkeit (Unlikeliness-to-pay)“, sichergestellt werden. Entsprechend der NPE-Definition knüpft der Leitfaden zur Beurteilung also einerseits an ein binäres Kriterium (überfällig vs. nicht überfällig) an. Alternativer Anknüpfungspunkt andererseits ist das Unlikely-to-pay-Kriterium, also ein Prognoseergebnis, wonach die Begleichung von Verbindlichkeiten ohne Verwertung von Sicherheiten eher unwahrscheinlich als wahrscheinlich ist.[378]
Für die Bestimmung der Wesentlichkeit beim Überfälligkeitskriterium soll derselbe Schwellenwert wie in der Ausfalldefinition gemäß Art 178 CRR II verwendet werden. Ferner soll eine Risikoposition nur dann überfällig sein können, wenn eine rechtliche Verpflichtung zur Leistung einer Zahlung bestand und die Zahlung zwingend zu erfolgen hat. Wenn feststeht, dass eine rechtliche Verpflichtung zu einer zwingend erforderlichen Zahlung besteht, beginnt die Zählung der Verzugstage, sobald die Zahlung eines wesentlichen Tilgungs-, Zins- oder Gebührenbetrags nicht termingerecht geleistet wurde.[379]
Im Gegensatz zu den Ausfalltatbeständen, die sich auf überfällige Zahlungen beziehen, basieren die Tatbestände für die Unwahrscheinlichkeit des Begleichens der Verbindlichkeit weniger auf quantitativen Kriterien, als auf identifizierten Ereignissen, die letztlich eine Einstufung als „notleidend“ bewirken. Da dies einen gewissen Interpretationsspielraum eröffnet, müssen Banken über klar definierte interne Kriterien für jene Indikatoren verfügen, die auf eine unwahrscheinliche Zahlung der Verbindlichkeiten hindeuten. Zur Konkretisierung der Erwartungen der EZB wurden dem Leitfaden sogenannte Best-Practice-Beispiele beigefügt, welche aufsichtliche Empfehlungen für die Umsetzung von Unlikely-to-pay-Auslösern geben.[380] Der Leitfaden gibt für diese Prognoseentscheidung recht detaillierte Indikatoren vor, die in zwei Klassen aufgeteilt sind. Zum einen solche Indikatoren, bei denen vonseiten der EZB erwartet wird, dass diese zur unmittelbaren Bejahung des Unlikely-to-pay-Kriteriums und damit zur Einstufung als notleidender Kredit führen.[381] Zum anderen gibt der Leitfaden Indikatoren vor, die eine eingehendere Bewertung erfordern. Banken sollten daher regelmäßig die Bonität und die Rückzahlungsfähigkeit ihrer Kunden prüfen. Im Zuge der Prüfungen sollten auch die Finanzinformationen und die Bonitätseinstufung des Kunden aktualisiert werden.[382]
Zu Harmonisierungszwecken werden hierbei die von der EZB entwickelten UTP-Hinweise für die NPE-Definition des Meldewesens einerseits den UTP-Hinweisen nach Art. 178 Abs. 3 CRR II und andererseits den Wertminderungsindikatoren nach IFRS 9 gegenübergestellt.
Zu den UTP-Kriterien, deren Vorliegen gemäß der Empfehung unmittelbar zur Einstufung als notleidend führen soll, gehören unter anderem die folgenden Szenarien:[383]
- Der Kredit wird gekündigt oder vorzeitig fällig gestellt.
- Prozess, Vollstreckung oder Zwangsvollstreckung zur Realisierung der Forderung
- Aufschub/Verlängerung von Krediten über die wirtschaftliche Lebensdauer hinaus
- Die Quellen, aus denen das regelmäßige Einkommen des Kreditnehmers stammt, stehen zur Begleichung der Ratenzahlungen nicht mehr zur Verfügung (...) und eine Rückzahlung ist unwahrscheinlich.
- Es bestehen berechtigte Bedenken hinsichtlich der Fähigkeit des Kreditnehmers, künftig stabile und ausreichende Cashflows zu generieren.
- Betrugsfälle
- Das Kreditinstitut verzichtet (teilweise oder bedingt) auf die Belastung von Zinsen.
- Abschreibung über Wertberichtigungskonto
- Restrukturierung, wobei ein erheblicher Teil der Schuld erlassen wird
- Restrukturierung mit bedingtem Schuldenerlass
- Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens.
- Außergerichtliche Vergleichs- oder Tilgungsverhandlungen (z. B. Stillhaltevereinbarungen)
- Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt.
Für Konzernunternehmen empfiehlt der Leitfaden den Banken, sicherzustellen, dass die Einstufung von NPE auf Unternehmensebene und auf Gruppenebene nach einheitlichen Kriterien erfolgt und die Definition in allen Tochtergesellschaften und Zweigstellen einheitlich umgesetzt wird.[384]
In Abschnitt 5.5 werden vertieft Zusammenhänge und Unterschiede zwischen den Definitionen “Non-performing Exposures” (EBA), “wertgemindert” (IAS 39 bzw. IFRS 9 seit dem 01.01.2018)[385] sowie der regulatorischen Ausfalldefinition (Art. 178 CRR II) erläutert und eine prozessuale Harmonisierung dieser Definitionen empfohlen.[386] Auf diese Weise sollen unter anderem Daten vergleichbarer werden, indem die auf EU-Ebene vorherrschenden Unterschiede in den Definitionen von „ausgefallen“ und „wertgemindert“ in den Hintergrund treten. Die Definition von notleidend soll insofern als einheitliches Konzept zur Bewertung der Aktivaqualität dienen.[387]
2. Bewertung des Leitfadens im Hinblick auf die Vereinheitlichung der Definition von notleidenden Krediten
Mit dem Leitfaden strebt die EZB eine Annäherung der Definitionen auf regulatorischer, aufsichtlicher und rechnungslegungsbezogener Ebene an.[388] Er gilt grundsätzlich zunächst nur für die Kreditinstitute, die von der EZB beaufsichtigt werden. Zwischenzeitlich wurden die Bestimmungen des Leitfadens durch Art. 43a ff. CRR II sowie den EBA-Leitlinien EBA/GL/2018/06 in das Single Rulebook übernommen. Entsprechend stellt der Leitfaden ein Regelungsgerüst für Kreditinstitute aller Größenordnungen einerseits sowie für Aufsichtsbehörden andererseits dar.[389]
Er spiegelt die aufsichtliche Erwartung zur Steuerung notleidender Kredite und zur Bildung der Risikovorsorge für solche Kredite wider und soll die Erwartungshaltung der Aufsicht an das Erfassen, Verwalten, Bewerten und Abschreiben von NPL beschreiben.[390] Kreditinstitute müssen daher die im Leitfaden genannten Indikatoren laufend erfassen und auswerten – sofern möglich aus öffentlichen Quellen, aber auch durch Abfragen bei Kreditnehmern und Sicherheitengebern. Dieser Informations- und Auskunftsbedarf findet sich zunehmend als vertragliche Verpflichtung in Kreditverträgen.[391]
Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass der EZB-Leitfaden einen wesentlichen Beitrag zur Harmonisierung des Begriffes des notleidenden Kredites geleistet hat, was insbesondere in der Übernahme seiner Bestimmungen in die CRR II und die Leitlinien der EBA Ausdruck findet.
V. Nationale Bestimmungen zu Kreditrisikomanagement und Eigenkapitalausstattung
Die Untersuchung von Bestimmungen aus dem Single Rulebook, von Rechnungslegungsbezogenen Bestimmung und des EZB-Leitfadens zu notleidenden Krediten hat gezeigt, dass das Kreditrisiko von Banken und der Umgang damit zuvörderst auf europäischer Ebene reguliert wird. Dennoch bestehen auf nationaler Ebene einige Normen, welche für eine Definition des notleidenden Kredites nutzbar gemacht werden können – teilweise in Umsetzung europäischer Vorgaben, teilweise aus eigenständiger nationaler Rechtssetzung.
In der Bestandsaufnahme zu nationalen Regelungen zu notleidenden Krediten, dem Stocktake of national supervisory practices and legal frameworks related to NPLs vom 30.06.2017 identifizierte die EZB sieben nationale Normen als Hauptquellen von Regulierung von notleidenden Risikopositionen.[392] Diese werden im folgenden Abschnitt auf ihre Nutzbarkeit für eine einheitliche, rechtsgebietsübergreifende Definition des notleidenden Kredites untersucht.
1. § 25a KWG und MaRisk
Kreditrisiken wie etwa notleidende Kredite können für Banken dann problematisch werden, wenn das vorhandene Risiko gar nicht, falsch oder zu spät festgestellt wird. Nicht zuletzt aus den Erfahrungen der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 sind Banken nun auch durch den Gesetzgeber verpflichtet, Risikovorsorge zu betreiben. Gesetzliche Grundlage hierfür ist § 25a Abs. 1 KWG, wonach jedes Kreditinstitut über eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation, angemessene interne Kontrollverfahren und geeignete Regelungen zur Steuerung, Überwachung und Kontrolle der Risiken verfügen muss.[393] Zur Konkretisierung der Anforderungen an die ordnungsgemäße Geschäftsorganisation nach § 25a KWG hat die BaFin am 20. Dezember 2005 die Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) veröffentlicht, die zuletzt am 27. Oktober 2017 in eine Neufassung gebracht wurden.[394] Für Ende 2020 ist eine weitere MaRisk-Novelle geplant, welche unter anderem mehrere Leitlinien der EBA zum Kreditrisikomanagement umsetzen soll.[395]
Als norminterpretierende Verwaltungsvorschrift legen die MaRisk die unbestimmten Rechtsbegriffe des § 25a KWG aus und geben die Rechtsauffassung der BaFin kund.[396] Sie entfalten keine rechtliche, wohl aber eine faktische Bindungswirkung für die Kreditinstitute.[397]
Anknüpfungspunkte für eine Definition des notleidenden Kredits finden sich innerhalb der Anforderungen an die Aufbau- und Ablauforganisation (Modul BTO). Das Modul BTO 1 regelt hier die besonderen Anforderungen an die Aufbau- und Ablauforganisation im Kreditgeschäft[398], im Untermodul Anforderungen an die Prozesse im Kreditgeschäft (BTO 1.2) werden die Stufen der Bearbeitung eines Kredites nachvollzogen, wobei besonders die Intensivbetreuung (BTO 1.2.4) und die Problemkreditbearbeitung (BTO 1.2.5) von Interesse sind.
a) Intensivbetreuung (BTO 1.2.4)
Die MaRisk unterscheidet zwischen drei möglichen Phasen eines Kreditengagements: die Normalbetreuung, die Intensivbetreuung und die Problemkreditbearbeitung.[399] Die Phase der Intensivbetreuung ist die Vorstufe der Problemkreditbearbeitung und durch eine gesonderte Beobachtung der Kreditengagements gekennzeichnet. Durch sie soll eine Problemkreditbearbeitung bestenfalls verhindert und möglicher Schaden von Kreditnehmer und Kreditinstitut abgewendet werden.[400] Danach hat ein Institut nach Textziffer 1 Kriterien festzulegen, wann ein Engagement einer besonderen Beobachtung zu unterziehen ist. Ob die Kriterien einen Automatismus statuieren oder ob es sich um Indikatoren handelt, auf deren Grundlage die Überprüfung durchgeführt wird, liegt im Ermessen des Instituts.[401] Ziel ist die zügige Identifikation der problembehafteten Engagements, um möglichst frühzeitig geeignete Maßnahmen einleiten zu können. Das Teilmodul BTO 1.2.4.1 legt Kreditinstituten auf, Kriterien festzulegen, wann ein (Kredit-)Engagement einer gesonderten Beobachtung (Intensivbetreuung) zu unterziehen ist, und einen Überprüfungsturnus festzulegen, in welchem die weitere Behandlung des Engagements zu überprüfen ist (darunter fallen etwa die weitere Intensivbetreuung, Rückführung in die Normalbetreuung, Abgabe an die Abwicklung oder die Sanierung). In Bezug auf notleidende Kredite werden als geeignete Prüfungsparameter unter anderem die Gefahr der wirtschaftlichen und somit bilanziellen Abwertung bis hin zum Untergang von Kreditengagements, die Tragfähigkeit des Zinsausfalls sowie die stetige Überprüfung der Kontrollprozesse der vorgenannten Risikomessungen.[402] Als Kriterien für den Übergang in die Intensivbetreung werden beispielhaft rückläufige Kontoumsätze innerhalb der letzten sechs Monate; um mehr als zwei Monate andauernde Limitüberschreitungen; Rückstände auf Darlehenskonten mit mehr als einer Rate; Stundungsanträge oder Tilgungsaussetzungen; betragsmäßige und/oder zeitliche Abweichungen zwischen angekündigten und tatsächlichen Zahlungseingängen; Scheck- und Lastschriftrückgaben; hohe Personalfluktuationen, insbesondere bei leitenden Mitarbeitern; verspätete Einreichungen von Unterlagen über die wirtschaftlichen Verhältnisse und eine Erhöhung des Branchenrisikos angeführt.[403]
Die Entscheidung über die konkrete Ausgestaltung der Kriterien und Umsetzung der Überwachung nach BTO 1.2.4.1 obliegt aber nach wie vor den Kreditinstituten selbst, sodass sich aus den allgemein gehaltenen Vorgaben der MaRisk 2017 BTO 1.2.4 keine allgemeingültige Definition ableiten lässt.[404]
b) Problemkreditbearbeitung (BTO 1.2.5)
Für den Fall, dass die Intensivbetreuung nach BTO 1.2.4 nicht zum gewünschten Erfolg führt oder die Intensivbetreuung nicht die geeignete Maßnahme darstellt, sehen die MaRisk in BTO 1.2.5 Textziffer 1 vor, dass die Kreditinstitute in ihren Organisationsrichtlinien Kriterien für die Abgabe von Problemkrediten an einen auf die Sanierung bzw. Abwicklung spezialisierten Bereich festzulegen haben.[405] Problemkredite werden auch hier wieder nicht legaldefiniert. MaRisk BTO 1.2.5 Tz. 1 bezeichnet den Problemkredit lediglich als Kreditengagement, das an die auf die Sanierung bzw. Abwicklung spezialisierten Mitarbeiter abgegeben wird.[406] In der Praxis gebräuchlich ist das Verständnis als Darlehensengagement, bei dem bereits Leistungsstörungen auftreten oder bei denen diese unmittelbar bevorstehen.[407]
Die MaRisk überlässt es den Banken wiederum selbst, ab wann sie Kredite als Problemkredite bezeichnen und das Kreditengagement in die Intensiv-, Sanierungs- oder Abwicklungsabteilung überleiten. Indes ist eine Orientierung an der Ausfallwahrscheinlichkeit, ausgedückt in Ratings, gelebte Praxis.[408]
Als Beispiele für Kriterien zur Überleitung eines Kreditengagements in die Intensiv- oder Sanierungsabteilung werden aufgezehrte Eigenmittel; negativer Cashflow; nachhaltige Leistungsstörungen; fehlende oder unzureichende Kapitaldienstfähigkeit; Ratenrückstände auf Darlehenskonten mit mehr als einer Rate; Stundungsanträge und Tilgungsaussetzungen; Scheck- oder Lastschriftrückgaben; Kontoüberziehungen um mehr als zwei Monate; rückläufige Kontoumsätze innerhalb der letzten sechs Monate; vermehrte Bankauskünfte; Pfändungen; hohe Personalfluktuation im Management; Nichteinhaltung von Auflagen im Kreditvertrag trotz Erinnerung; persönliche Differenzen unter den Gesellschaftern oder den Geschäftsführern; verspätete Einreichung der Unterlagen über die wirtschaftlichen Verhältnisse; ein Insolvenzantrag und Betreiben der Zwangsvollstreckung durch Gläubiger genannt.[409]
Im Ergebnis lassen die Vorschriften zum Kreditrisikomanagement in KWG und MaRisk den Kreditinstituten große Umsetzungsspielräume, sodass diesen Normen wenig für die weitere Schärfung des Begriffes der notleidenden Kredite zu entnehmen ist. Nicht auszuschließen ist, dass im Zuge der MaRisk-Novelle 2020, welche einige Leitlinien der EBA umsetzt, das Korsett für das interne Kreditrisikomanagement enger geschnürt werden wird.
2. Prüfungsberichtsverordnung
In der Prüfungsberichtsverordnung (PrüfbV)[410] werden in § 34 Abs. 2 Nr. 2 PrüfbV unter anderem solche Kredite als „bemerkenswert“ eingestuft, bei denen die begründete Gefahr besteht, dass sie mit größeren, im Rahmen des gesamten Kreditgeschäfts bedeutenden Teilen notleidend werden. Der Begriff „notleidend“ wird in der PrüfbV wiederum nicht definiert, ebenso wenig in den Ermächtigungsnormen für die PrüfbV.[411] Daher kann aus der PrüfbV keine weitere Erkenntnis gewonnen werden.
3. Solvabilitätsverordnung
Sofern die zuvor untersuchten, aus europäischer Feder stammenden Vorschriften zu den Eigenkapitalanforderungen noch in nationales Recht umzusetzen sind, geschieht dies in Deutschland in der Solvabilitätsverordnung, zu deren Erlass das Bundesministerium der Finanzen gemäß §§ 10, 10a KWG ermächtigt ist.[412]
Art. 178 Abs. 2 lit. d) CRR II überträgt die Definition dessen, was beim 90 days past-due-Kriterium als „wesentliche Verbindlichkeit“ (material credit obligation) anzusehen ist, an die zuständigen nationalen Aufsichtsbehörden. Diese Präzisierung erfolgt in § 16 Solvabilitätsverordnung (SolvV)[413], welche infolge des Inkraftretens der CRR II zuletzt 2019 neu gefasst wurde. Die Überschrift der Bestimmung lautet Erheblichkeitsschwelle für den 90-Tage-Verzug, womit der Bezug zum 90-Days-past-due-Kriterium in Art. 178 CRR II im nationalen Recht bereits in der Normüberschrift hergestellt wird.
In der seit 2019 geltenden Fassung des § 16 SolV wird der zuvor untersuchte[414] Technische Regulierungsstandard zum Schuldnerausfall gemäß Art. 178 CRR bezüglich der Erheblichkeitsschwelle für überfällige Verbindlichkeiten EBA/RTS/2016/06 beziehungsweise dessen Umsetzung durch die DVO (EU) 2018/171 direkt referenziert. § 16 SolV n.F. folgt der Systematik des Technischen Regulierungsstandard, indem er zwischen Positionen aus Mengengeschäft und Nicht-Mengengeschäft unterscheidet und zwischen einer absoluten und einer relativen Komponente der Erheblichkeitsschwelle unterscheidet. Gemäß den Empfehlungen wird die absolute Komponente der Erheblichkeitsschwelle für Risikopositionen aus dem Mengengeschäft gemäß § 16 Abs. 2 SolvV auf 100 € und für Risikopositionen außerhalb des Mengengeschäfts gemäß §16 Abs. 4 SolvV auf 500 € festgelegt. Die relative Komponente der Erheblichkeitsschwelle – also der Prozentsatz, der das Verhältnis der überfälligen Kreditpositionen zur Gesamtsumme aller Kreditverpflichtungen des Kreditnehmers ausdrückt, wird gemäß § 16 Abs. 3 SolvV auf 1 % Prozent festgelegt. Damit werden auf nationaler Ebene die Vorgaben der EBA vollständig umgesetzt und europäisches und nationales Recht sind insoweit harmonisiert.
VI. Zwischenergebnis
Notleidende Kredite stehen noch immer im Fokus der europäischen und nationalen Regulierung.[415] Sie werden als entscheidendes Hindernis für die Verwirklichung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion gesehen, weshalb ihr Abbau als ein entscheidendes Element zur Vollendung der Finanzunion angesehen und daher innerhalb Europas auf zahlreichen Ebenen mit hoher Priorität vorangetrieben wird.[416] Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der noch nicht absehbaren wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise.[417]
Während es zeitweise angesichts der schier unübersehbaren Fülle an Normgebungsinitiativen und Anknüpfungspunkten kein leichtes Unterfangen war, gemeinsame Elemente aus der Begriffsflut zwischen „Ausfall“, „wertgemindert“, „notleidender Risikoposition“ etc. herauszudestillieren, hat sich in jüngerer Zeit mehr Klarheit über das Begriffsverständnis des notleidenden Kredites aus bankrechtlicher Sicht herausgebildet.
Ausgangspunkt einer einheitlichen bankrechtlichen Definition des notleidenden Kredits ist die Definition der notleidenden Risikoposition (NPE) aus Anhang V VO (EU) 680/2014.
Zentrale Indikatoren für die Annahme eines Notleidens sind damit eine Überfälligkeit über 90 Tage von wesentlichen/erheblichen Verbindlichkeiten (90 days past-due) oder das Vorliegen von Indikatoren für eine Unwahrscheinlichkeit des Begleichens einer Verbindlichkeit (Unlikely-to-pay). Die Ausfalldefinition des Art. 178 CRR II sowie die Wertgemindert-Definition des IFRS 9 § 5.5 ff. enthalten diese Indikatoren ebenfalls und führen allenfalls in Randbereichen zu unterschiedlichen Ergebnissen.[418]
Die drei Definitionen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Anforderungen an Gesundungsprozesse für notleidende Kredite und die Einräumung von Stundungsmaßnahmen, sofern ein Kredit als notleidend klassifiziert ist.[419] Ferner bestehen Unterschiede bei der Behandlung notleidender Kredite auf Institutsebene sowie hinsichtlich einer automatischen Einstufung als notleidend gegenüber einer widerlegbaren Vermutung des Notleidens.[420]
Die Regelung von Anforderungen an Gesundungsprozesse betreffen das interne Workout einer Bank, zu dem es im Falle des Aufkaufs eines notleidenden Kredites durch einen Loan-to-own-Investor nicht mehr kommt. Gleiches gilt für die Möglichkeit, die Rückführung eines notleidenden Kredites zunächst zu stunden: Dies stellt keinen Bestandteil der Loan-to-own-Strategie dar. Für eine Loan-to-own-Investition entscheidend ist der wahre Wert eines Kreditengagements zum Zeitpunkt des Erwerbs – mit einem möglichst hohen Abschlag vom Nominalwert. Wird in Folge eines Krediterwerbs ein Debt-Equity-Swap durchgeführt, spielen Fragen einer Gesundung des Kredits oder einer Stundung keine Rolle mehr, denn der Kredit wird in Eigenkapital umgewandelt.
Für die vorliegende Untersuchung von Relevanz sind somit die Kriterien für die erstmalige Einordung eines Kredites als notleidend, denn sobald ein Kreditengagement erstmalig als notleidend einzustufen ist, wird das Kreditinstitut die Möglichkeit des Weiterverkaufs eines solchen Engagements an spezialisierte Investoren zumindest in Betracht ziehen.
In dieser Konsequenz ist als Zwischenergebnis festzuhalten, dass die zuvor untersuchten bankrechtlichen Ansätze – die regulatorischen, aufsichtlichen und rechnungslegungsbezogenen – im Wesentlichen einheitliche Kriterien zur erstmaligen Einordnung von Krediten als notleidend verwenden: Die Überfälligkeit über 90 Tage (90 days past due) sowie die Unwahrscheinlichkeit des Begleichens einer Verbindlichkeit (Unlikeliness-to-pay).
K. Zivilrechtliche Ansätze
Eine Legaldefinition des notleidenden Kredites existiert im Zivilrecht nicht. Der Gesetzgeber hat im Zusammenhang mit der zum 01.01.2002 erfolgten Schuldrechtsmodernisierung davon abgesehen, den Begriff des „Kredits“ als in das BGB zu übernehmen.[421] Zu verstehen wäre „Kredit“ als jegliche Überlassung von Kaufkraft auf Zeit – innerhalb der Systematik des BGB umfasst der Begriff daher neben dem Gelddarlehen auch das Sachdarlehen gemäß §§ 607 ff. BGB.[422] Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe „Kredit“ und „(Geld-) Darlehen“ synonym verwendet.
Die Verschaffung und Belassung eines Geldbetrages auf Zeit wird im BGB im Darlehensrecht geregelt, §§ 488 ff. BGB. Der Darlehensvertrag ist ein (Geld-) Gebrauchsüberlassungsvertrag und damit ein Dauerschuldverhältnis. Folglich sind die für Dauerschuldverhältnisse geltenden allgemeinen Regelungen anzuwenden. Demgemäß tritt nach Ausreichung der Geldmittel anstelle des gesetzlichen Rücktritts das Recht zur Kündigung.[423]
Eine zivilrechtliche Definition des notleidenden Kredites muss sich folglich nach den gesetzlichen Voraussetzungen für eine außerordentliche Kündigung eines Darlehensvertrages richten. Diese Voraussetzungen sind nun im Einzelnen zu untersuchen.
Nach dem allgemein anerkannten zivilrechtlichen Verständnis ist ein Kredit als notleidend einzustufen, wenn das Vertragsverhältnis wegen einer wesentlichen Vertragsverletzung des Darlehensnehmers vom Kreditgeber bereits gekündigt wurde oder jederzeit außerordentlich gekündigt werden kann – auf den Ausspruch der Kündigung kommt es nicht an.[424] Individualvertragliche Abweichungen von den gesetzlichen Bestimmungen wie etwa marktübliche Covenants[425] sind nicht Gegenstand der folgenden Betrachtung, da der Anspruch ist, eine am Wortlaut des Gesetzes orientierte Definition zu entwickeln.
I. § 490 Abs. 1 BGB
Das außerordentliche Kündigungsrecht nach Maßgabe des § 490 Abs. 1 BGB bezweckt, den Darlehensgeber vor einem durch die Insolvenz des Darlehensnehmers eintretenden Vermögensverlust zu bewahren.[426] Der Darlehensgeber soll eine sich abzeichnende Insolvenz des Darlehensnehmers nicht abwarten müssen, um sich vom Darlehensvertrag lösen zu dürfen, sondern ihm soll in den tatbestandlich erfassten Fällen unter Preisgabe der Interessen des Schuldners die Möglichkeit eröffnet werden, so schnell wie möglich zu retten, was zu retten ist.[427]
Das Kündigungsrecht gemäß § 490 Abs. 1 BGB weist vier aufeinander aufbauende Voraussetzungen auf: Es muss (i) eine Verschlechterung der Vermögensverhältnisse, die (ii) wesentlich ist und (iii) dazu führen würde, dass die Realisierung des Rückzahlungsanspruches gefährdet ist, (iv) eingetreten sein oder einzutreten drohen.[428]
1. Verschlechterung der Vermögensverhältnisse
Ursache für ein Szenario, bei dem es nicht zu einer vollständigen Befriedigung des Kreditgebers kommt, muss eine „Verschlechterung“ der Vermögensverhältnisse, also eine negative Entwicklung der Vermögenslage, sein.[429]
Das BGB definiert nicht, wann eine „wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse“ vorliegt; auch an anderer Stelle finden sich im BGB keine Bestimmungen, die Rechtsfolgen für den Fall vorsehen, dass „die Vermögensverhältnisse des Verpflichteten sich erheblich verschlechtert haben“.[430]
Einigkeit besteht jedenfalls darüber, dass die Verschlechterung zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung anhand objektiver Kriterien feststellbar sein muss und es insoweit auf eine Kenntnis der kreditgewährenden Bank bzw. den Zeitpunkt eines Nachschiebens von Gründen nicht ankommt.[431]
Als maßgeblich für die Verschlechterung wird ein Vergleich der Vermögensverhältnisse bei Vertragsschluss und zum Zeitpunkt der Kündigung angesehen.[432]
Zu der Frage, was in den Begriff der Vermögensverhältnisse einzubeziehen ist, werden verschiedene Auffassungen vertreten:
a) Weites Verständnis der Vermögensverhältnisse
Nach einer Ansicht umfasst der Begriff der Vermögensverhältnisse die gesamte wirtschaftliche und finanzielle Situation des Kreditnehmers und schließt auch externe Faktoren ein – vorausgesetzt, dass diese sich auf seine konkrete Vermögenslage auswirken. Die Verschlechterung muss demnach in den speziellen Verhältnissen des Kreditnehmers liegen; eine negative Veränderung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage, wie etwa eine rückläufige Konjunktur, Wirtschaftskrisen oder Kriegsausbruch, sowie das Eingreifen von Kreditrestriktionen genüge nicht. Etwas anderes könne nur dann gelten, wenn die Änderungen der allgemeinen wirtschaftlichen Lage den Kreditnehmer auf Grund seiner besonderen wirtschaftlichen Verhältnisse besonders betreffen würden.[433]
Vorrangig vor externen Faktoren ist zunächst jeweils das (liquide) Vermögen des Kreditnehmers maßgeblich, auf das tatsächlich zugegriffen werden kann, mithin das gesamte der Zwangsvollstreckung unterliegende Vermögen des Darlehensnehmers.[434]
Darüber hinaus müssen bei der Beurteilung, ob eine Vermögensverschlechterung vorliegt, alle den Rückzahlungsanspruch gefährdenden wirtschaftlichen Umstände unter Berücksichtigung der Verkehrsauffassung einbezogen werden. Zu beachten sind demnach u.a. die Realisierbarkeit der Aktiva, die Flüssigkeit der Mittel, die Fälligkeit der Schulden sowie etwaige Zahlungsstockungen und Krediterschütterungen.[435]
b) Enges Verständnis der Vermögensverhältnisse
Eine andere Ansicht erkennt einen normativen Anknüpfungspunkt in § 6 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen (VermG), wonach eine wesentliche Verschlechterung der Vermögenslage vorliegt, „wenn sich bei der Aufstellung der Eröffnungsbilanz [zum 1. Juli 1990 nach dem D-Markbilanzgesetz] oder der [für die Rückgabe aufgestellten] Schlussbilanz eine Überschuldung oder eine Unterdeckung des für die Rechtsform gesetzlich vorgeschriebenen Mindestkapitals ergibt“.[436]
c) Stellungnahme
Gegen das enge Verständnis des Begriffes der Vermögensverhältnisse ist vorzubringen, dass das VermG einen völlig anderen Zweck als die Identifikation notleidender Kreditengagements verfolgt – nämlich die Wiedergutmachung bestimmter Eingriffe in das Privateigentum durch die DDR, insbesondere sogenanntes „Teilungsunrecht“.[437] Ursache für eine „wesentliche Verschlechterung der Vermögenslage“ im Sinne des VermG ist regelmäßig einer der Schädigungstatbestände des § 1 Abs. 1 lit. a)–d) VermG, also Enteignungen durch die DDR und die darauf folgende Überführung in sogenanntes „Volkseigentum“.[438]
Die historische Spezifität dieser Eingriffe lässt sie als allgemeinen zivilrechtlichen Maßstab für die Identifizierung von notleidenden Kreditengagements für ungeeignet erscheinen.
Wirtschaftliche und finanzielle Umstände des Darlehensnehmers begründen in der Regel das Notleiden eines Kreditengagements. Dem wird das weite Verständnis der Vermögensverhältnisse besser gerecht, indem es solche Umstände bei der Beurteilung des Vorliegens einer Verschlechterung einbezieht. Die aufgrund des weiten Verständnisses recht unscharfe Konturierung des Begriffes der Verschlechterung der Vermögensverhältnisse ist dabei hinzunehmen.[439] Durch die COVID-19-Pandemie und die durch sie hervorgerufene Wirtschaftskrise gewinnt die Unterscheidung zwischen allgemeiner Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und konkrete, besondere Betroffenheit eines bestimmten Kreditnehmers an praktischer Bedeutung.[440]
2. Wesentlichkeit der Verschlechterung
Die Wesentlichkeit der Verschlechterung bemisst sich danach, ob aufgrund dieser Verschlechterung eine Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs eintritt. Erforderlich, aber auch hinreichend ist, dass gerade aufgrund dieser Entwicklung der Rückzahlungsanspruch des Darlehensgebers gefährdet ist. Eine zur Kündigung berechtigende „wesentliche Verschlechterung“ besteht demnach dann, wenn eine Verschlechterung der Vermögensverhältnisse bzw. der Werthaltigkeit einer bestellten Sicherheit kausal die Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs zur Folge hat.[441]
Sind lediglich die Regelmäßigkeit der Rückzahlung oder der Zahlung der vereinbarten Zinsen betroffen, reicht dies für die Annahme von Wesentlichkeit regelmäßig nicht aus.[442] Umgekehrt erfordert die Annahme einer wesentlichen Verschlechterung nicht eine schon vorliegende Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit des Darlehensnehmers.[443]
3. Gefährdung des Rückzahlungsanspruches
Eine Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs ist gegeben, wenn der Darlehensnehmer den Anspruch aus § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB zu dem vereinbarten Fälligkeitstermin voraussichtlich nicht oder nur zum Teil erfüllen kann, dieser mithin akut ausfallgefährdet ist, sofern die bestellten Sicherheiten voraussichtlich nicht ausreichen.[444] Zwischen Verschlechterung und Gefährdung muss ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehen, wofür in der Regel auf eine Prognose abzustellen ist.[445] Die Darlegungs- und Beweislast hierfür trägt das Kreditinstitut.[446]
4. Eingetretene oder drohende Verschlechterung
Aus dem Wortlaut „einzutreten droht“ in § 490 Abs. 1 BGB wird deutlich, dass eine Verschlechterung noch nicht eingetreten sein muss – das Recht zur außerordentlichen Kündigung besteht also bereits dann, wenn eine ins Gewicht fallende Kreditausfallgefahr besteht.[447] Davon ist auszugehen, wenn die Verschlechterung der Vermögensverhältnisse oder das Ausmaß der Vermögensgefährdung einen Grad erreicht hat, der die Rückzahlung der Bankforderungen gefährdet erscheinen lässt.[448]
Müsste zunächst die Insolvenz abgewartet werden, würde diese gerade jenen Vermögensverlust herbeiführen, vor welchem § 490 Abs. 1 BGB schützen will. Allerdings ist auch hier zu berücksichtigen, dass § 490 Abs. 1 BGB dem Darlehensgeber kein Kündigungsrecht bei bloßem Verdacht der Vermögensverschlechterung gewährt. Erforderlich ist daher, dass sich die Vermögensverschlechterung auf Grund objektiv verifizierbarer Indizien konkret abzeichnet. Dies hat der Darlehensgeber nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen. Entscheidend für seine Prognose ist sein Kenntnisstand im Zeitpunkt der Kündigungserklärung. Der Kündigungsgrund fällt also nicht rückwirkend weg, wenn sich später herausstellt, dass auf Grund unvorhersehbarer Entwicklungen oder wegen unbekannter, auch durch pflichtgemäße Prüfung nicht erkennbarer Umstände die zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung erstellte Prognose falsch war. Die vorläufige Insolvenzeröffnung schließt das Kündigungsrecht der Bank nicht aus.[449]
5. Exkurs: Verschlechterung der Sicherheiten
Wenngleich (Immobilar-)Sicherheiten aufgrund der Themenstellung nicht im Fokus der Betrachtung stehen – es geht um die schuldenbasierte Übernahme des gesamten Unternehmens, nicht um die Verwertung von Sicherheiten – sei der Vollständigkeit halber erwähnt, dass nach § 490 Abs. 1 BGB auch eine Verschlechterung der Werthaltigkeit einer Sicherheit vorliegen muss. Entgegen des Wortlautes muss diese kumulativ mit der Verschlechterung der Vermögensverhältnisse vorliegen, um ein Kündigungsrecht anzunehmen.[450] Es ergibt Sinn, die außerordentliche Kündigung nicht zuzulassen, wenn aufgrund der gestellten Sicherheiten die Rückerstattung des Darlehens möglich ist.[451] Eine Verschlechterung der Sicherheit beurteilt sich dabei anhand des Zerschlagungswertes, d.h. des durch Notverkauf oder Zwangsversteigerung zu erzielenden Veräußerungswertes.[452] In der Praxis wird ein Kreditinstitut im Falle der Verschlechterung einer Sicherheit eine Verstärkung der Sicherheiten bzw. eine Nachbesicherung verlangen, bevor sie zum scharfen Schwert der außerordentlichen Kündigung greift.[453]
Allerdings sind bei der Kündigung wegen Verschlechterung der Werthaltigkeit einer Sicherheit jedoch die allgemeinen Vermögensverhältnisse des Darlehensnehmers – einschließlich Kreditsicherheiten – zu berücksichtigen, da eine Gefährdung des Rückerstattungsanspruchs bei ansonsten intakter Bonität nicht besteht. Allein der Wertverlust einer Sicherheit wird daher selten eine Kündigung rechtfertigen.[454] Ferner sind Unternehmenskredite in der Regel mit dem gesamten Anlage- und Umlaufvermögen des Darlehensnehmers und gegebenenfalls aller zum Darlehensnehmer gehörenden Konzerngesellschaften besichert; Vermögensverhältnisse und Wert der Sicherheiten sind bei den im Rahmen dieser Arbeit beleuchteten Krediten häufig deckungsgleich.
6. Zwischenergebnis
Die Tatbestandsmerkmale des § 490 Abs. 1 BGB haben teilweise starken Prognosecharakter. Unsicherheiten bei der Feststellung, Bewertung und Prognose können daher schwere Auswirkungen sowohl auf Darlehensgeber als auch auf Darlehensnehmer haben, denn eine Klärung durch die Gerichte kann stets nur ex post erfolgen.[455] Andererseits verbietet sich eine starre Anwendung holzschnittartiger oder schablonenhafter Kriterien, denn die Gründe für eine wesentliche, die Rückzahlung gefährdende Vermögensverschlechterung können sehr spezifischer, auf den Darlehensnehmer bzw. auf dessen Marktumfeld bezogener Natur sein. Nicht zuletzt deshalb behelfen sich Rechtsprechung und Literatur mit einer umfangreichen Kasuistik, welche unter § 4D.IV näher dargestellt wird.[456]
II. § 490 Abs. 3 BGB i.V.m. § 314 BGB[457]
Nach § 490 Abs 3 BGB bleiben die Vorschriften der §§ 313, 314 BGB unberührt. Diese im Rahmen der Schuldrechtsmodernisierung eingeführten Vorschriften übernehmen die zuvor in Rechtsprechung und Schrifttum entwickelten Grundsätze über die Störung der Geschäftsgrundlage und die Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund.[458] Neben das spezialgesetzliche Kündigungsrecht aus § 490 Abs. 1 BGB tritt daher das außerordentliche Kündigungsrecht nach Maßgabe der §§ 490 Abs. 3 i.V.m. 314 BGB.[459]
Der wichtige Grund für eine außerordentliche Kündigung setzt nach § 314 BGB voraus, dass dem kündigenden Vertragsteil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertrags bis zur vereinbarten Beendigung oder bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist umzumutbar ist.[460] Dafür bedarf es einer Gesamtwürdigung der besonderen Umstände des einzelnen Falles und einer Abwägung der Interessen beider Vertragsteile, ein Verschulden des Kündigungsgegners ist nicht erforderlich.[461]
Im Unterschied zu § 490 Abs. 1 BGB, welcher neben der Vermögensverschlechterung nach überwiegender Ansicht kumulativ eine Sicherheitenverschlechterung erfordert (siehe oben § 4D.I.5, ist eine außerordentliche Kündigung des Darlehensgebers auch bei Vorhandensein ausreichender Sicherheiten möglich.[462]
Für die Annahme wichtiger Gründe haben sich Fallgruppen herausgebildet, welche nun im Einzelnen behandelt werden, ferner wird unter § 4D.IV die von Schrifttum und Rechtsprechung entwickelte Kasuistik zu außerordentlichen Kündigungsgründen dargestellt.[463]
1. Wesentliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation des Darlehensnehmers
Wie bei § 490 Abs. 1 BGB bildet die wesentliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation des Darlehensnehmers im Grundsatz einen Kündigungsgrund für den Darlehensgeber.[464] Das allgemeine Kündigungsrecht aus § 314 BGB hat insoweit allerdings nur einen beschränkten Anwendungsbereich, weil § 490 Abs. 1 BGB als lex speciales vorgeht, soweit es um die Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs des Darlehensgebers durch eine eingetretene oder drohende Verschlechterung in den Vermögensverhältnissen des Darlehensnehmers oder einer bestellten Sicherheit geht (siehe oben).[465]
Eigenständige Bedeutung verbleibt § 490 Abs. 3 i.V.m. § 314 BGB aber dann, wenn zwar nicht der Rückzahlungsanspruch, aber der Anspruch des Darlehensgebers auf Zahlung der zukünftig fällig werdenden Zinsen gefährdet ist.[466] Dies trifft insbesondere auf langfristige Darlehen ohne ordentliches Kündigungsrecht zu, wo es für den Darlehensgeber aufgrund der absehbaren Verschlechterung beim Darlehensnehmer unzumutbar sein kann, quasi „sehenden Auges“ auf Zinszahlungen zu verzichten.[467]
Im Unterschied zu § 490 Abs. 1 BGB ist eine objektive Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage des Darlehensnehmers nicht erforderlich; es genügt, wenn der Darlehensgeber bei der Darlehensgewährung (irrtümlich) von einer besseren finanziellen Lage des Darlehensnehmers ausging.[468]
2. Schwerwiegende Verstöße gegen vertragliche Haupt- oder Nebenpflichten
Eine zweite Gruppe wichtiger Kündigungsgründe bilden schwerwiegende Verstöße gegen vertragliche Haupt- oder Nebenpflichten.[469] Bedeutsamste Fallgruppe ist hierbei der Verzug mit Zinszahlungen im Sinne der §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB.[470]
Zu beachten ist hier, dass gemäß § 314 Abs. 2 Satz 1 BGB die Kündigung erst nach einer erfolglosen Fristsetzung zulässig ist, wenn der wichtige Grund in einer Vertragspflichtverletzung besteht. Für Rückausnahmen wird auf die allgemeinen Vorschriften des § 323 Abs. 2 Nr.1 und 2 BGB sowie auf § 314 Abs. 2 Satz 3 BGB verwiesen. In letzterem Fall kann auch ohne Fristsetzung gekündigt werden, wenn besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die sofortige Kündigung rechtfertigen. In Bezug auf Verzug bei Darlehensverträgen haben sich hier Fallgruppen gebildet, bei deren Vorliegen ausnahmsweise fristlos nach § 490 Abs. 3 i.V.m. § 314 Abs. 2 Satz 3 BGB gekündigt werden kann. So werden besondere Umstände angenommen, wenn der Schuldner an mindestens zwei[471], jedenfalls aber drei[472] aufeinander folgenden Zahlungsterminen keine Zahlung mehr geleistet hat. Unter Umständen kann bereits die einmalige Nichtbedienung einer Darlehensrate für den Darlehensgeber das Festhalten am Vertrag unzumutbar machen. Dies hat die Rechtsprechung für den Fall der Nichtzahlung einer vierteljährlichen Zins- und Tilgungsrate für einen gewerblichen Millionenkredit anerkannt.[473]
3. Gesellschafts-, konzern- oder umwandlungsrechtliche Strukturmaßnahmen
Die Vertrauensgrundlage zwischen Darlehensgeber und Darlehensnehmer kann auch dadurch erschüttert werden, dass ein neuer wesentlicher Gesellschafter in das darlehensnehmende Unternehmen eintritt oder sich die Konzernlage des Darlehensnehmers durch Strukturmaßnahmen o.ä. ändert.[474] In der Praxis wird dem in Form sogenannter Change of Control-Klauseln in Darlehensverträgen begegnet.[475] In Anbetracht der Aufgabenstellung – der Erarbeitung einer Definition des notleidenden Kredites anhand gesetzlicher Anhaltspunkte – werden solche Vertragsgestaltungen hier aber nicht näher untersucht.
4. Sonstige schwerwiegende Verstöße
Das Vertrauen zwischen Darlehensgeber und Darlehensnehmer kann des Weiteren durch besonders schwerwiegende Verstöße gegen vertragliche Haupt- und Nebenpflichten erschüttert werden, sodass eine fristlose außerordentliche Kündigung gerechtfertigt ist. Zu diesen Fällen gehört das nicht hinreichend substantiierte Bestreiten der Zahlungsverpflichtung in Verbindung mit der fehlenden Bereitschaft, sich weiter vertragstreu zu verhalten.[476] Erst recht genügt eine kategorische Ablehnung oder die endgültige Einstellung weiterer Zinszahlungen.[477]
Falsche, unzureichende oder beharrlich unterlassene Angaben zu vertragswesentlichen Umständen der Vermögensverhältnisse des Darlehensnehmers – etwa im Rahmen der Selbstauskunft (§ 18 KWG) oder zwischen Vertragsschluss und Valutierung des Darlehens – stellen ebenfalls besonders schwerwiegende Verstöße dar.[478]
III. Nr. 19 Abs. 3 AGB-Banken und Nr. 26 Abs. 2 AGB-Sparkassen
Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Banken und Sparkassen dienen vorrangig der Standardisierung der Bankverträge sowie der Risikobegrenzung und -abwälzung für das Kreditinstitut.[479] Praktisch verwenden alle Kreditinstute in Deutschland die AGB-Banken bzw. AGB-Sparkassen einheitlich, sodass ihnen eine quasi-normative Bedeutung zukommt.[480]
Die vertraglichen Kündigungsrechte in Nr. 19 AGB-Banken bzw. Nr. 26 AGB-Sparkassen konkretisieren die gesetzlichen Kündigungsrechte, ohne abschließend zu sein.[481] Nr. 19 Abs. 3 AGB-Banken und Nr. 26 Abs. 2 AGB-Sparkassen regeln dabei jeweils das außerordentliche Kündigungsrecht aus wichtigem Grund.[482] Dieses ist jeweils gegeben bei Vorliegen eines wichtigen Grundes, aufgrund dessen dem Kreditinstitut die Fortsetzung der Geschäftsbeziehung[483] – unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Kunden – nicht zugemutet werden kann. Beide AGBen enthalten nicht abschließende Regelbeispiele für wichtige Gründe.[484]
Das Regelbeispiel in Nr. 19 Abs. 3 Spiegelstrich 2 AGB-Banken bzw. in Nr. 26 Abs. 2 lit- a) AGB-Sparkassen – wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse oder der Werthaltigkeit einer Sicherheit – ähnelt dem Tatbestand des § 490 Abs. 1 BGB.
Die weiteren Regelbeispiele in Nr. 19 Abs. 3 Spiegelstrich 1 und 3 AGB-Banken bzw. in Nr. 26 Abs. 2 lit. b) und c) AGB-Sparkassen – unrichtige Angaben sowie Unterlassung der (fristgemäßen) Bereitstellung von Sicherheiten – gehören zu den auch für § 490 Abs. 3 i.V.m. § 314 BGB von Rechtsprechung und Schrifttum entwickelten Fallgruppen von wichtigen Gründen (siehe oben § 4D.II). Nr. 26 Abs. 2 lit. d) und e) AGB-Sparkassen enthalten noch ergänzende Regelbeispiele für wichtige Gründe, namentlich die Einleitung der Zwangsvollstreckung gegen den Kunden, die Verschlechterung der Vermögensverhältnisse eines Mitverpflichteten oder eines persönlich haftenden Gesellschafters sowie der Eintritt des Todes oder der Wechsel eines persönlichen Gesellschafters.
In Anbetracht der Entstehungsgeschichte des § 490 BGB überraschen die strukturellen Ähnlichkeiten nicht, diente doch der – wesentlich ältere – Nr. 19 AGB-Banken als Vorbild für die Neufassung des § 610 BGB a.F., heute § 490 BGB im Rahmen der Schuldrechtsreform.[485]
Nicht zuletzt aufgrund der praktisch flächendeckenden Verbreitung der AGB-Banken bzw. der AGB-Sparkassen dürften diese in den meisten Fällen vorrangig vor den – vertraglich abdingbaren – Regelungen des § 490 BGB zur Anwendung kommen.[486]
IV. Präzisierung des wichtigen Grundes und Kasuistik
Das Tatbestandsmerkmal des wichtigen Grundes bzw. jenes der Verschlechterung der Vermögensverhältnisse tragen die Züge von Generalklauseln[487] und bedürfen daher der weiteren Präzisierung. Insbesondere in Krisensituationen sind alle Vertragsparteien auf verlässliche Indikatoren angewiesen. Rechtsprechung und Schrifttum haben mittlerweile eine umfangreiche Kasuistik entwickelt, welche – im Wesentlichen der Darstellung bei Bales/Brinkmann und Köchling/Schalast/Bales folgend – im Folgenden einige Fälle vorstellt, in denen das Vorliegen eines wichtigen Grundes bzw. Vermögensverschlechterung bejaht wurde:[488]
- Verzug des Kreditnehmers mit Zins- und Tilgungsleistungen oder diesbezügliche Zahlungsverweigerung des Kreditnehmers[489]
- Verzug des Kreditnehmers mit zwei aufeinander folgenden Raten in Höhe von mindestens 10 % der Darlehensschuld[490]
- Ständige und erhebliche Überschreitung der eingeräumten Kreditlinie[491]
- Nichterfüllung des Verlangens, Schuldsalden auf erheblich überzogenen Konten zurückzuführen[492]
- Gefährdung der Realisierung von Kreditsicherheiten[493]
- Anordnung der Zwangsversteigerung oder Zwangsverwaltung eines beliehenen Grundstücks[494]
- Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Kreditnehmers, unabhängig von der Stellung von Sicherheiten[495]
- Vorladung des Kreditnehmers zur Leistung der eidesstattlichen Versicherung[496]
- Pflichtwidriges Unterlassen richtiger und vollständiger Vermögensangaben durch den bereits in Zahlungsschwierigkeiten befindlichen Kreditnehmer[497]
- Unzureichende Offenlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse im Sinne des § 18 KWG[498]
- Unmittelbar drohende Gefahr einer Insolvenz wegen Zahlungsunfähigkeit des Kreditnehmers, auch wenn dessen Überschuldung nicht feststeht.[499] Verschuldung oder Zahlungsunfähigkeit im Sinne der §§ 17, 19 InsO sind hierbei nicht erforderlich, aber in jedem Falle ausreichend.[500]
- Negative unternehmensinterne Faktoren wie z.B. eine fehlerhafte Finanzplanung[501]
- Unfähigkeit der Geschäftsführung zur Unternehmensleitung bzw. zur Kooperation mit Geschäftspartnern[502]
V. Mögliche Verwirkung des Kündigungsrechts
Das Kreditinstitut kann im Einzelfall das außerordentliche Kündigungsrecht verlieren, wenn es dieses nicht innerhalb einer angemessenen Frist nach Kenntniserlangung von den kündigungsrelevanten Tatsachen ausübt.[503] Dies kann im Zusammenspiel mit der bankrechtlichen Definition des notleidenden Kredites zu interessanten Wechselwirkungen führen, auf welche im weiteren Verlaufe der Untersuchung noch einzugehen ist.
VI. Begriff der Lästigkeit in § 366 Abs. 2 BGB
Reifner vertritt ferner, notleidende Kredite aufgrund ihrer negativen wirtschaftlichen Effekte – Schmälerung der Eigenmittel sowie Verringerung der Ertragskraft der Kreditinstitute[504] – diese als „lästig“ im Sinne des § 366 Abs. 2 BGB einzuordnen.[505] Dem ist der Normzweck und der Wortlaut des § 366 BGB entgegenzuhalten: Zweck des § 366 BGB ist die Tilgungsverrechnung einer Erfüllungsleistung bei Forderungsmehrheit.[506] Bereits eine Mehrheit von gleichartigen Forderungen ist keine Voraussetzung für die Klassifikation eines Kredites als notleidend, es genügt ein einzelnes Darlehensschuldverhältnis. Ferner ist der Begriff der Lästigkeit dem Wortlaut nach auf den Schuldner bezogen, nicht auf den Gläubiger.[507] Anhaltspunkte für die Lästigkeit aus Sicht des Schuldners sind die mit der Nichterfüllung für den Schuldner verbundenen Rechtsfolgen, wie etwa Zinsansprüche, Vertragsstrafe oder Eintritt der Rechtshängigkeit.[508] Von daher kann eine aus Bankensicht notleidende Bankenforderung zwar durchaus spiegelbildlich eine für den Darlehensnehmer „lästige“ Verbindlichkeit im Sinne des § 366 BGB sein, sofern eine Mehrheit gleichartiger Forderungen besteht. Einen Beitrag zu einer verallgemeinerungsfähigen Definition des notleidenden Kredites vermag § 366 BGB jedoch nicht zu leisten.
VII. Zwischenergebnis
Nach den zivilrechtlichen Ansätzen ist vom Vorliegen eines notleidenden Kredites auszugehen, wenn dem Kreditgeber ein Kündigungsrecht nach den gesetzlichen Vorschriften oder den AGB-Banken bzw. AGB-Sparkassen zusteht.[509] Die einzelnen Voraussetzungen dieser Kündigungsrechte sind teilweise unbestimmt und/oder prognostischer Natur, sodass sich die Praxis mit der Entwicklung von Fallgruppen beholfen hat. Diese knüpfen teilweise an externe Faktoren und teilweise auch an betriebswirtschaftliche Kenngrößen des Darlehensnehmers an.
L. Gemeinsame Elemente des bankrechtlichen und zivilrechtlichen Ansatzes
I. Verhältnis der Definitionsansätze zueinander
Während bei früheren Definitionversuchen stärker vom Zivilrecht her angesetzt wurde, haben in jüngerer Zeit zunehmend die Befürworter der bankrechtlichen, wirtschaftlich geprägten Ansätze an Bedeutung gewonnen.[510] Der Bedeutungsgewinn ergibt sich nicht zuletzt aus der wahren Flut an Regulierung, die seit der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 über Europa hereingebrochen ist und wirtschaftliche Kennzahlen sowie Rechengrößen auch Gegenstand von Normen wurden. Ein Extrembeispiel ist insoweit die CRR II, die an zahlreichen Stellen – etwa in Art. 72e, 132c, 153f, 161, 220 ff., 257 ff., 279a ff., 325r ff. oder 501 CRR II – komplexe mathematische Formeln enthält – wohlgemerkt als vollwertiger Bestandteil des Normtextes einer unmittelbar geltenden Rechtsverordnung im Sinne von Art. 288 AEUV.
Zum Teil wurde in diesem Zusammenhang vertreten, dass betriebswirtschaftliche Kenngrößen einer juristischen Definition nicht zugrunde gelegt werden könnten.[511] Angesichts der zunehmenden Verrechtlichung der Bankenaufsicht, welche häufig an wirtschaftlich-quantitative Kennzahlen anknüpft, erscheint eine solche Unterscheidung nicht mehr sinnvoll:[512] Eine aufsichtliche Bestimmung ist nicht deswegen weniger „juristisch“, weil sie an Bilanzkennzahlen oder betriebswirtschaftliche Kenngrößen anknüpft anstelle von subsumtionsbedürftigen Anknüpfungstatsachen wie zum Beispiel außerordentliche Kündigungsrechte.[513] Hinzu kommt, dass – wie im vorangegangenen Abschnitt festgestellt – die Tatbestandsmerkmale für außerordentliche Kündigungsrechte von Darlehen auch alles andere als trennscharf subsumierbar sind, sondern ebenfalls die Einbeziehung wirtschaftlicher Tatsachen, finanzieller Kenngrößen sowie faktischen Geschehens erfordern.
Auch das noch 2010 zugunsten des zivilrechtlichen Definitionsansatzes vorgebrachte Argument, dieser würde eine zeitnahe Anpassung an relevante aktuelle Ereignisse durch die Rechtsprechung garantieren[514], verfängt nicht mehr: Ganz im Gegenteil erscheint eine ausschließlich an nationalem Zivilrecht orientierte Begriffsdefinition angesichts der zunehmenden Europäisierung der Bankenaufsicht nicht mehr bedarfsgerecht. Die Vorgaben europäischer Institutionen wie die EBA bzw. die EZB sind für europäische Kreditinstitute – unmittelbar-rechtlich oder mittelbar-faktisch – verbindlich und entfalten auch zivilrechtliche Wirkungen.
Sinnvoller erscheint es daher, auf eine möglichst einheitliche Auslegung von aufsichtlichen und zivilrechtlichen Normen hinzuarbeiten – insbesondere wenn derselbe Sachverhalte für beide Rechtsgebiete Rechtsfolgen verursacht.[515]
Dies ist beim notleidenden Kredit der Fall: auf bankrechtlicher Seite sind erhöhte Eigenkapitalvorhaltungspflichten, Berichtspflichten sowie organisatorische Anforderungen an die interne Kreditbearbeitung die Folge einer Einstufung; auf zivilrechtlicher Seite ist die Kündbarkeit eines Kreditengagements der zentrale Anknüpfungspunkt.
II. Vorschlag für eine einheitliche Auslegung de lege lata
Bei genauer Betrachtung liegen zwischen dem bankrechtlichen und dem zivilrechtlichen Verständnis des notleidenden Kredits keine unüberbrückbaren Differenzen:
Die beiden zentralen Kriterien der bankrechtlichen Ansätze – 90 days past-due und Unlikeliness to pay – erfüllen die zuvor untersuchten Voraussetzungen einer außerordentlichen Kündigung nach § 490 BGB: Das 90 days past-due-Kriterium fällt unter die Fallgruppe des Verzuges mit Zins- oder Tilgungsleistungen im Sinne des § 490 Abs. 3 i.V.m. § 314 BGB, wobei die 90 Tage in der Regel dem Zeitraum von zwei oder mehr Zinsterminen entsprechen[516], sodass auch eine Fristsetzung entbehrlich ist.
Das Unlikely-to-pay (UTP)-Kriterium wird teils durch aufsichtliche Normen und teils durch ergänzende Veröffentlichungen der Aufsichtsbehörden konkretisiert. Auffallend groß ist die Schnittmenge zwischen den Fallgruppen, welche UTP-Ereignisse darstellen und jenen Fallgruppen, die Schrifttum und Rechtsprechung zur Konkretisierung des wichtigen Grundes im Rahmen des § 490 BGB entwickelt haben. Ferner enthalten sowohl die außerordentlichen Kündigungsgründe nach § 490 Abs. 1 und Abs. 3 BGB als auch einige UTP-Ereignisse ein prognostisches Element.
Aus Sicht des Kreditinstituts ergibt dieser teilweise „Gleichlauf“ auch Sinn: Die Einordnung eines Kreditengagements als wertgemindert (IFRS 9), ausgefallen (CRR II) oder notleidend (VO (EU) 680/2014) ist für das Kreditinstitut regelmäßig mit Nachteilen verbunden – sei es in Form von erhöhtem Rechnungslegungsaufwand, erhöhten Eigenkapitalunterlegungspflichten oder verschärften Meldepflichten, in jedem Falle aber mit erhöhtem Verwaltungsaufwand und Kosten. Zur Abwendung solcher Nachteile sollte dem Kreditinstitut daher zumindest die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung gegeben werden, selbst wenn dieses im Einzelfall ein Kreditengagement fortführen möchte.
Im Interesse einer einheitlichen Auslegung liegt es daher nahe, einen wichtigen Grund im Sinne der § 490 Abs. 3 i.V.m. § 314 BGB bzw. den AGB-Banken/AGB-Sparkassen in den Fällen anzunehmen, in denen ein Kreditengagement im Rahmen des aufsichtlichen Meldewesens als notleidende Risikoposition (NPE) im Sinne von Anhang V Nr. 213 DVO (EU) 680/2014 eingestuft wird. Die bestehenden Fallgruppen zum wichtigen Grund könnten unter direkter Bezugnahme auf die Bankenregulatorik um diese Fälle erweitert werden. Die Anknüpfung an die NPE-Definition der DVO (EU) 680/2014 verdient den Vorzug, weil die Regulatorik an zahlreichen Stellen auf sie als „Ausgangs-Definition“ rekurriert und die Unterschiede zur Wertminderung nach IFRS 9 und zum Ausfall nach Art. 178 CRR II ohnehin nur marginal ausfallen.[517] Ferner stellen die Berichtspflichten nach FINREP wegen der Meldepflicht auch unterjähriger Finanzdaten eine stets aktuelle Risikoeinschätzung der einzelnen Kreditengagements sicher.[518]
M. Zwischenergebnis
Der soeben unterbreitete Vorschlag für eine Erweiterung der bislang entwickelten Fallgruppen zu § 490 Abs. 3 i.V.m. § 314 BGB kann zwar eine Legaldefinition de lege ferenda schwer ersetzen. Die Anknüpfung von Rechtsfolgen im zivilrechtlichen Verhältnis der Bank zum Kreditnehmer – das Recht zur außerordentlichen Kündigung – an für Banken verbindlich anzuwendendes europäisches Recht würde indes das Risikomanagement für Banken durch ein zuverlässig vorhandenes Gestaltungsrecht zur Beendigung eines Risikoengagements erleichtern und zugleich Planbarkeit für Loan-to-own-Investoren hinsichtlich möglicher Targets herstellen.
Ein weitgehender Gleichlauf bzw. eine rechtsgebietsübergreifende einheitliche Auslegung des Begriffs des notleidenden Kredits ist daher auch wirtschaftlich sinnvoll: Die Kündbarkeit auf zivilrechtlicher Seite ermöglicht den Banken einen „Rettungsweg“ weg von den hohen regulatorischen Anforderungen an das Halten von notleidenden Krediten und den damit verbundenen finanziellen Kosten und Opportunitätskosten.
An dieser Stelle schließt sich auch der Kreis hin zu den Loan-to-own-Investoren, die – anders als Banken – Interesse gerade am Erwerb notleidender Kredite haben und die Banken von ihrer „Last“ insoweit befreien können. Ein einheitliches Verständnis des Begriffs des notleidenden Kredites nützt somit auch der Einschätzung „von außen“, welche Kreditengagements einer Bank demnächst notleidend werden könnten oder bereits geworden sind, und damit der Marktsondierung für einen Loan-to-own-Investor.[519]
§5. Das zweite Transaktionsstadium: Der Handel mit notleidenden Krediten
Im vorangegangenen Kapitel wurde herausgearbeitet, dass notleidende Kredite aus bankrechtlicher Sicht für Banken Kosten verursachen und Liquidität binden, aber auch die außerordentliche Kündbarkeit eines Kreditengagements bewirken, sobald dieses notleidend wird. Banken können ein Interesse daran haben, notleidende Kredite abzustoßen, wobei hierfür mit dem Recht zur außerordentlichen Kündigung die zivilrechtliche Grundlage gegeben ist.
Im folgenden Kapitel wird nun der zweite Schritt einer Loan-to-own-Transaktion – die Veräußerung eines notleidenden Kredites an einen Loan-to-own-Investor – und dessen rechtliche Grundlagen de lege lata untersucht.
Grundlage der folgenden Untersuchung bilden zwei Ausgangsüberlegungen:
Zum einen haben Banken keine Pflichten gegenüber Kreditnehmern, Drittsicherheitengebern oder anderen Gläubigern, an einem Kreditengagement festzuhalten oder Sanierungsbeiträge zu leisten – unabhängig von der Dauer des Kreditengagements oder dem Grad an Vertrautheit der Kundenbeziehung.[520] Dies wurde etwa von Canaris 1979 noch anders gesehen, der unter bestimmten Gegebenheiten sogar eine Pflicht zur Erhöhung des Kreditrahmens in Sanierungssituationen als Treuepflicht einer Hausbank annahm.[521] Angesichts des heutigen regulatorischen Umfeldes für Banken gerade bei notleidenden Krediten und der immer geringer werdenden Bedeutung der Hausbankbeziehung[522] ist diese Ansicht als unzeitgemäß und zur Privatautonomie sowie zu den regulatorischen Vorgaben für den Umgang mit notleidenden Krediten zumindest teilweise im Widerspruch stehend abzulehnen.[523]
Zum anderen findet der Handel von notleidenden Krediten in der Regel außerhalb regulierter Handelsplätze und – jedenfalls bis zum Brexit – überwiegend am Finanzplatz London statt und wird durch bilaterale Verhandlungen unter Vermittlung von Brokern und Investmentbanken abgewickelt.[524] Der Erwerb notleidender Kredite folgt daher den allgemeinen zivilrechtlichen Regeln, sofern man – wie diese Arbeit – die Anwendbarkeit deutschen Rechts auf den Kreditverkauf unterstellt.[525]
N. Rechtsnatur der Übertragung des Kredits vom Kreditinstitut auf den Loan-to-own‑Investor
I. Single-Name-Transaktionen als typische Loan-to-own-Akquisestruktur
Für die Übertragung eines Kreditengagements bestehen unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten. Im Wesentlichen differenziert werden kann zwischen einer Übertragung mittels Asset Deal, Share Deal oder mittels synthetischer Übertragungsstrukturen.[526] Diese Varianten unterscheiden sich hinsichtlich der zu beteiligenden Parteien, der Zustimmungserfordernisse, der Verteilung des Ausfallrisikos sowie der Rechtsrisiken im Bereich Datenschutz und Bankgeheimnis.[527] Maßgeblich für die jeweilige Gestaltungsentscheidung ist die Art des Kreditengagements, welches übertragen werden soll, und die Strategie des Erwerbers. So ergeben sich beispielsweise bei der Übertragung eines gemischten Portfolios von notleidenden und gesunden grundschuldbesicherten Immobilienkrediten andere Rechtsfragen als bei der Übertragung eines notleidenden, unbesicherten Single-Name Unternehmenskredits.[528] Aus Sicht eines Loan-to-own-Investors ist der Erwerb einzelner Kreditengagements einzelner Unternehmen die zielführendste Vorgehensweise, weil auf diese Weise zielorientiert dasjenige Kreditengagement aufgekauft werden kann, das für die spätere Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital das entscheidende Stimmrechtsgewicht hat, also die fulcrum security.[529] Bei einem Loan-to-own-Investor wird daher typischerweise eine Single-Name-Transaktion durchgeführt werden – also der Erwerb eines notleidenden Kredites von einer verkaufswilligen Bank, gegebenenfalls unter Einschaltung eines Intermediärs.[530]
In diesem Abschnitt werden daher nur solche Rechtsfragen thematisiert, die für Loan-to-own-Investoren von Relevanz sind. So werden etwa Kreditportfoliostrukturierungen, Verbriefungen oder Immobiliarsicherheiten bei der Betrachtung außen vor bleiben.
II. Zession als typische Ausgestaltung der Single-Name-Transaktion
Im Falle der Übertragung eines notleidenden, unbesicherten Unternehmenskredites von einem Kreditinstitut an einen Loan-to-own-Investor steht es regelmäßig im Interesse der Parteien, das Ausfallrisiko des Kredites bzw. das Bonitätsrisiko des Kreditnehmers vollständig vom Kreditinstitut auf den Loan-to-own-Investor zu übertragen und die Übertragung nicht von einer Mitwirkung oder Zustimmung des Kreditnehmers abhängig zu machen. Im Idealfall erfährt der Kreditnehmer erst nach erfolgter Übertragung von seinem neuen Gläubiger.
Daher werden notleidenden Kreditengagements an Loan-to-own-Investoren regelmäßig im Wege einer Abtretung – also mittels eines Asset Deal – übertragen.[531] Beim Verpflichtungsgeschäft handelt es sich um einen Vertrag über einen Rechtskauf gemäß §§ 433 Abs. 1 Satz 1, 453 Abs. 1 BGB, beim Verfügungsgeschäft handelt es sich um eine Forderungsabtretung gemäß §§ 398 ff. BGB.[532] Gemäß § 407 BGB bedarf die Abtretung nicht der Zustimmung des Kreditnehmers.[533] Der ursprüngliche Vertrag zwischen Kreditgeber und Kreditnehmer wird nicht berührt und bleibt als solcher bestehen; Neben- und Vorzugsrechte gehen gemäß § 401 BGB im Wege einer cessio legis ebenfalls auf den Erwerber über.[534] Im Zusammenhang mit den Rechtsfolgen der Abtretung nach §§ 398 ff. BGB stellen sich einige Folgefragen, welche in diesem Abschnitt erörtert werden.
O. Banklizenz
Von enormer praktischer Bedeutung für Loan-to-own-Investoren ist die Frage, ob für den Erwerb von Krediten eine Banklizenz gemäß § 32 KWG erforderlich ist. Die aufsichtsrechtlichen Hürden für den Erwerb der Lizenz sind hoch und der Prozess ist zeitaufwendig. Ferner hat ein Loan-to-own-Investor als schlank aufgestelltes, international tätiges Investmentvehikel in der Regel kein Interesse daran, der (deutschen) Bankaufsicht zu unterliegen.
In der Vergangenheit wurde teilweise vertreten, dass bei der Übertragung eines von einem lizensierten Kreditinstituts ausgereichten Kredites auf einen Investor ohne Banklizenz eine Inhaltsänderung im Sinne des § 399 Alt. 1 BGB darstellen würde.[535] Nach dieser Ansicht bestünde ein gesetzliches Abtretungshindernis für die Übertragung von Bank Sinne des § 32 KWG zur Nichtbank. Als Begründung hierfür wurde vorgebracht, dass der Schuldner ein schutzwürdiges Vertrauen darauf habe, einen unter staatlicher Aufsicht stehenden Gläubiger zu haben, der einen „vertrauensvollen Umgang“ innerhalb der Vertragsbeziehung pflegt.[536]
Dieser Ansicht ist mit Blick auf die hier betrachtete Loan-to-own-Strategie dahingehend zu widersprechen, dass sie vor allem den bis zum Inkraftreten des Risikobegrenzungsgesetz zu beobachtenden Aufkauf von immobilienbesicherten Verbraucherkrediten (‚Häuslebauer‘) in den Fokus nimmt, und nicht Corporate Loans. Außerdem ist festzuhalten, dass auch der (Originär-)Gläubiger ein schutzwürdiges Vertrauen darauf hat, dass der von ihm ausgereichte Kredit vertragsgemäß bedient wird. Schließlich ist mit Blick auf die von § 399 Alt. 1 BGB geforderte Inhaltsänderung zu konstatieren, dass sich die Vertragspflichten des Darlehensnehmers durch eine Abtretung an eine Nichtbank gerade nicht ändern: Geschuldet bleibt nach wie vor die Rückführung der Darlehensvaluta nebst Zinsen in Geld.[537]
Der BGH entschied 2007[538] und 2011[539], dass einer Abtretung von Darlehensforderungen weder das Bankgeheimnis, noch der Datenschutz[540] oder eben das Fehlen einer Banklizenz entgegenstehen. Diese Sichtweise wurde im Hinblick auf die höchstrichterlichen Entscheidungen auch im überwiegenden Schrifttum[541] bevorzugt und wird inzwischen nicht mehr bestritten.[542]
Aus regulatorischer Sicht stimmen BaFin liegt jedenfalls dann kein Kreditgeschäft vor, wenn das Kreditengagement zunächst von einem dem KWG unterliegenden Kreditinstitut ausgereicht wird und das Kreditengagement durch den Loan-to-own-Investor schlicht erworben wird.[543] Etwas anderes würde allenfalls dann gelten, wenn ein Loan-to-own-Investor nach dem Erwerb die Kreditbedingungen ändern und sich somit in die Position eines „Geldverleihers“ begegeben würde, was ein lizenzpflichtiges Kreditgeschäft darstellen würde.[544] Dies gehört indes nicht zum Kerngeschäft von Loan-to-own-Investoren, sodass festgehalten werden kann, dass Loan-to-own-Investoren für den idealtypischen Krediterwerb keiner Banklizenz bedürfen. Die Wirksamkeit des dinglichen Forderungserwerbs durch einen Finanzinvestor wird durch das Fehlen einer Banklizenz nicht beeinträchtigt.
P. Bankgeheimnis
Spätestens nach der Abtretung der Forderung an den Erwerber muss das Kreditinstitut dem Zessionar gemäß § 402 BGB die zur Geltendmachung der Forderung nötigen Auskünfte erteilen und diesem die zum Beweis des Bestehens der Forderung dienenden Urkunden – etwa die Vertragsdokumentation – übergeben.[545]
I. Kein gesetzliches Verbot oder konkludent vereinbartes Abtretungsverbot
Lange Zeit war umstritten, ob das Bankgeheimnis – als gewohnheitsrechtlich anerkannte Verpflichtung von Kreditinstituten, Stillschweigen über sämtliche den Kunden betreffende Angelegenheiten zu bewahren[546] – der Wirksamkeit der Abtretung von Kreditengagements als gesetzliches Verbot im Sinne von § 134 BGB bzw. als stillschweigend vereinbartes Abtretungsverbot entgegensteht.[547] Auftrieb gab der Diskussion ein Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt aus dem Jahr 2004, welches ein stillschweigend vereinbartes Abtretungsverbot als Ausprägung des Bankgeheimnisses annahm und die Forderungsübertragung folglich für unwirksam erklärte.[548] Dieses Urteil ist jedoch vereinzelt geblieben, und der Bundesgerichtshof hat im Jahre 2007 – in Fortsetzung seiner früheren Rechtsprechung[549] – festgestellt, dass die Vertraulichkeitspflichten aus dem Bankgeheimnis einer wirksamen Abtretung von Darlehensforderungen nicht entgegenstehen.[550] Die auf dieses Urteil hin erhobene Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen mit dem Hinweis, dass das angegriffene Urteil des Bundesgerichtshofs die Beschwerdeführer nicht in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletze.[551] Spätestens seit Inkrafttreten des Risikobegrenzungsgesetzes[552] sind die Stimmen, die eine Abtretbarkeit wegen des Bankgeheimnisses anzweifeln, überholt. Es ist heute allgemein anerkannt, dass das Bankgeheimnis eine wirksame Übertragung von Darlehensforderungen nicht verhindert.[553]
II. Schuldrechtliche Schadenersatzansprüche
Allerdings können sich aus Vertragsdokumentationen älteren Typs – bei denen häufig weder das „Ob“ noch das „Wie“ einer Forderungsübertragung ausdrücklich geregelt sind – schuldrechtliche Verschwiegenheitspflichten des Kreditinstituts aus dem Bankgeheimnis ergeben, deren Verstoß einen Schadenersatzanspruch des Kreditnehmers gegen das Kreditinstitut wegen positiver Vertragsverletzung gemäß §§ 280 Abs. 1 i.V.m. 241 Abs. 2 BGB begründen kann.[554] Fraglich ist jedoch, worin in der vertragswidrigen Weitergabe der Daten an den Erwerber ein nachweisbarer, bezifferbarer und im Sinne der §§ 249 ff. BGB ersatzfähiger Schaden liegen soll.[555] Dies betrifft jedoch von vorne herein nur die Beziehung zwischen Kreditinstitut und Kreditnehmer, nicht jedoch den erwerbenden Loan-to-own-Investor. Im Zweifel sind potentielle Schadenersatzansprüche bzw. Kosten eines Rechtsstreits zu deren Abwehr bei der Bestimmung des Kaufpreises für das Kreditengagement zu berücksichtigen.[556]
Ferner ist zu beachten, dass schuldrechtliche Geheimhaltungsverpflichtungen für das Kreditinstitut aus dem Bankgeheimnis nur solange bestehen, wie sich der Kreditnehmer selbst vertragstreu verhält – also Zins- und Tilgungszahlungen leistet. Wird ein Kredit notleidend im Sinne der in § 3 erarbeiteten Definition, ist das Kreditinstitut ohne Weiteres berechtigt, den kündbaren oder gekündigten notleidenden Kredit an einen Dritten zu verkaufen und abzutreten. Entgegen einiger Ansichten in der Literatur kann es dabei nicht auf den Ausspruch der Kündigung als Gestaltungsrecht ankommen.[557] Ein vertragswidriges Verhalten des Kreditnehmers ist bereits dann gegeben, wenn die Voraussetzungen einer außerordentlichen Kündigung vorliegen. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben kann sich der Kreditnehmer unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs nicht auf ein Abtretungsverbot wegen des Bankgeheimnisses berufen, wenn er sich selbst nicht vertragstreu verhalten hat.[558]
III. Das Bankgeheimnis als Amtsgeheimnis bei Sparkassen
In Bezug auf öffentlich-rechtliche Kreditinstitute ist neben dem Bankgeheimnis noch das strafbewehrte Amtsgeheimnis im Sinne von § 203 Abs. 2 Nr. 1 StGB zu berücksichtigen.[559] Der Bundesgerichtshof hat im Jahre 2009 entschieden, dass auch Sparkassen Darlehensforderungen rechtmäßig an Dritte abtreten können, das Bankgeheimnis ist insoweit kein „fremdes Geheimnis“ im Sinne von § 203 StGB.[560] Daher steht das Bankgeheimnis einer Abtretung grundsätzlich nicht im Wege.
Q. Datenschutz
Die Veräußerung von Forderungen macht – unter anderem wegen § 402 BGB – die Weitergabe von Daten des Kreditnehmers an den Erwerber erforderlich.[561] Auch wird sich bereits im Anbahnungsstadium der Transaktion der potentielle Erwerber im Rahmen einer Due Diligence der Existenz und (Rest-)werthaltigkeit der Forderung versichern wollen.[562] Ein solches Bereitstellen von Daten des Kreditnehmers erfüllt den – denkbar weit zu verstehenden[563] – Begriff der Datenverarbeitung gemäß Art. 4 Nr. 2 der Datenschutzgrundverordnung (DS-GVO).
Die DS-GVO entfaltet ihre Schutzwirkung nach Erwägungsgrund 14 sowie Art. 4 Nr. 1 DS-GVO jedoch nur für personenbezogene Daten von natürlichen Personen. Juristische Personen werden von der DS-GVO nicht erfasst, und in Deutschland besteht – anders als in einigen anderen EU-Staaten – kein nationalrechtlicher Datenschutz für juristische Personen.[564] Ebenfalls nicht vom Schutzbereich erfasst sind Personen(handels)gesellschaften.[565] Für die in dieser Arbeit gegenständlichen Single-Name-Kredite mit Unternehmen als Kreditnehmer spielt das Datenschutzrecht daher nur eine untergeordnete Rolle.[566]
Ein personenbezogenes Datum läge allenfalls dann vor, wenn Daten über natürliche Personen, die eine Organfunktion bei einer juristischen Person ausüben, verarbeitet werden. Das Gleiche gilt für Fälle, in denen Daten ausgetauscht werden, die formal auf eine juristische Person bezogen sind, aber dennoch als personenbezogene Daten einer natürlichen Person anzusehen sind. Dies wäre insbesondere bei Ein-Personen-Unternehmen wie etwa einer Ein-Mann-GmbH oder einer GmbH & Co. KG, deren einziger Kommanditist zugleich der Geschäftsführer der Komplementär-GmbH ist, anzunehmen.[567] Auch können Informationen über eine Personengruppe auf ein identifiziertes oder identifizierbares Mitglied „durchschlagen“, was ebenfalls zum Vorliegen von personenbezogenen Daten führt.[568]
Selbst in solchen Fällen konstituiert das Datenschutzrecht indes kein Abtretungsverbot. Vielmehr hat – im Einklang mit der Rechtsprechung des BGH zum BDSG a.F. – eine Interessenabwägung zwischen Weitergabeinteresse und Schutz personenbezogener Daten zu erfolgen.[569] Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Fungibilität von Forderungen eine vom Gesetzgeber ausdrücklich gewollt ist, was in den §§ 399 ff. BGB zum Ausdruck kommt: Es wäre widersprüchlich, wenn eine zivilrechtlich wirksame Forderungsübertragung eine datenschutzrechtliche Sanktion nach sich zöge.[570]
Bei Kreditübertragung mit den soeben beschriebenen Berührungspunkten zu personenbezogenen Daten ist das veräußernde Kreditinstitut gehalten, sich eine Einwilligung des Betroffenen zur Datenverarbeitung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 lit. a, Art. 7 DS-GVO einzuholen.[571] Altfälle sind – jedenfalls in Bezug auf notleidende Kredite – über § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 BDSG-alt auch ohne Einwilligung des Betroffenen lösbar.[572] In den meisten Fällen der Übertragung von notleidenden Unternehmenskrediten wird Datenschutz auch unter der DS-GVO indes keine Rolle spielen.[573]
R. Sonstige Abtretungshindernisse
Einer Abtretung der Kreditforderung könnten – abgesehen von Bankgeheimnis und Datenschutz – noch andere Hindernisse entgegenstehen.
I. Gesetzliche Abtretungsverbote
Ein gesetzliches Abtretungsverbot aus § 399 Var. 1 BGB ist bei notleidenden Unternehmenskrediten regelmäßig nicht anwendbar, denn diese sind weder rechts- noch personengebunden.[574]
II. Allgemeine Geschäftsbedingungen
Die §§ 305 ff. BGB könnten für Loan-to-own-Transaktionen insoweit Bedeutung entfalten, als Forderungsabtretungsklauseln in Kreditverträgen (sogenannte Asset Trading Clauses) mittlerweile im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Banken zum Standard gehören.[575] Abtretungsklauseln erleichtern der Bank den Forderungsverkauf, ihnen könnte aber bei Kreditverträgen, die nach dem 19.08.2008 geschlossen wurden, § 309 Nr. 10 BGB entgegenstehen.[576]
Nach dieser Vorschrift sind Bestimmungen, aufgrund derer unter anderem bei Darlehensverträgen ein Dritter anstelle des Verwenders in die sich aus dem Vertrag ergebenden Rechte und Pflichten eintritt oder eintreten kann, in Allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam. Die Vorschrift soll davor schützen, dass dem anderen Vertragsteil durch den Verwender der AGB ein neuer, unbekannter Vertragspartner aufgenötigt wird.[577] Nach § 309 Nr. 10 BGB sind Asset Trading Clauses unwirksam, wenn der zukünftige Zessionar nicht namentlich bezeichnet oder kein Loslösungsrecht im Falle einer Abtretung eingeräumt wird.[578]
Im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen – Gegenstand der Betrachtung sind gewerbliche Unternehmenskredite – findet § 309 BGB wegen § 310 Abs. 1 BGB jedoch keine direkte Anwendung. Er entfaltet jedoch Indizwirkung für die allgemeine Inhaltskontrolle gemäß § 307 BGB, sofern die jeweilige Klausel bei einer Parallelwertung in der Unternehmenssphäre auch im unternehmerischen Bereich als unwirksam anzusehen wäre.[579]
In der Unternehmenssphäre nimmt die Fungibilität von Krediten eine weitaus größere Rolle ein als in der Verbrauchersphäre. Die Verschärfungen, die § 309 Nr. 10 BGB im Zuge des Risikobegrenzungsgesetzes erfuhr, wurden unter dem Eindruck des teilweise in der öffentlich-medialen Wahrnehmung recht forschen Vorgehens gegen Verbraucher insbesondere bei Hausbaukrediten eingeführt.[580] Im geschäftlichen Verkehr zwischen Unternehmen bzw. zwischen Banken und Unternehmen sind Vorbehalte des Verbraucherschutzes nicht von Belang. Vielmehr gewinnt wegen der EU-Regulierung zur Bekämpfung notleidender Kredite die Möglichkeit für Banken an Bedeutung, sich von riskanten Kreditpositionen trennen zu können.[581] Ferner ist zu berücksichtigen, dass § 309 Nr. 10 BGB dem Wortlaut nach nur die schuldrechtliche Vertragsübernahme im Sinne des § 414 BGB und nicht auch die – hier einzig interessierende – Abtretung erfasst.[582]
Im Ergebnis verstoßen die marktüblichen Asset Trading Clauses nicht gegen AGB, die zwischen Unternehmen und Banken verwendet werden.
III. Vertraglich vereinbarte Abtretungsverbote
Ein zwischen einem Unternehmen und einer Bank vereinbartes vertragliches Abtretungsverbot ist wegen § 354a Abs. 1 HGB grundsätzlich unwirksam.[583] Durch das Risikobegrenzungsgesetz wurde ein Absatz 2 in § 354a HGB eingefügt, wonach § 354a Abs. 1 HGB nicht für Forderungen aus einem Kreditvertrag gilt, deren Gläubiger ein Kreditinstitut im Sinne des KWG ist. Hierdurch wird es auch Unternehmen (alle Kaufleute im Sinne der §§ 1 ff., 6 HGB) ermöglicht, ein absolut wirkendes Abtretungsverbot im Sinne von § 399 Alt. 2 BGB zu vereinbaren.[584] Ohne Zustimmung des Darlehensnehmers kann gemäß § 399 Alt. 2 BGB eine Abtretung an nicht zugelassene Erwerber nicht mehr erfolgen.[585]
In aktuellen Bankdarlehensdokumentationen ist die Abtretung des Darlehens an einen Dritten regelmäßig ausdrücklich erlaubt, die Vereinbarung eines Abtretungsverbotes hingegen unüblich.[586] In Anbetracht der gestiegenen Anforderungen an die Eigenkapitalausstattung der Kreditinstitute aufgrund von Basel III final/CRD V/CRR II/MaRisk ist Flexibilität im Umgang mit notleidenden Krediten wichtig. Daher ist nicht damit zu rechnen, dass Abtretungsverbote in der Vertragspraxis der Kreditinstitute zukünftig eine große Rolle spielen werden.
S. Zwischenergebnis
Die Untersuchung der rechtlichen Voraussetzungen des Kredithandels hat gezeigt, dass dem Handel von Forderungen bzw. deren Erwerb durch Loan-to-own-Investoren in Form der Zession eines Single-Name-Kredites keine nennenswerten rechtlichen Restriktionen in den Weg gestellt werden.[587] Im Lichte der Bekämpfung von notleidenden Krediten in der Europäischen Union ergibt diese Feststellung auch in einem größeren Kontext Sinn: Banken muss im Umgang mit notleidenden Krediten die Möglichkeit zur Portfoliobereinigung durch Abstoßung eines notleidenden Kreditengagements gegeben werden. Eine interne Problemkreditbearbeitung ist für die meisten Banken gerade im „over-banked“ Deutschland[588] wirtschaftlich nicht mehr darstellbar. De lege lata sind die rechtlichen Voraussetzungen für den Kredithandel daher als gut zu bezeichnen.
- Quote paper
- Peter Stainer (Author), 2020, Rechtliche Rahmenbedingungen des Geschäftsmodells Loan-to-own im Lichte der Reformbestrebungen zur Bekämpfung von notleidenden Krediten auf europäischer und nationaler Ebene, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/991075
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