Inhaltsverzeichnis
Diakonische Gemeinde - eine Gr öß e, die wir alle wollen?
H. Steinkamp: „ Alphabetisierung in der Ersten Welt... ”
Widerspruch in der Diskussion um diakonische Gemeinde
Formen der Mitgliedschaft
Dienstleistungsempfang bzw. passive Mitgliedschaft
Vereinsmäßige Mitgliedschaft
Die aktive Mitgliedschaft
Das „depressive Syndrom” der Kerngemeinde - Christen
Option für die Armen: Zur Vergewisserung des Maßstabes einer Diakonie der Gemeinde
Exkurs: „Option für die Armen”
Diakonie der Gemeinde: Option für die Armen - Bekehrung der Metropole - Lernziel
Solidarität
Diakonie lernen: Alphabetisierung der Ersten Welt
Kirche mit anderen - von Fremden lernen
Ulrich Bach: Die diakonische Gemeinde als Freiraum für uns alle
Jahve-Glaube oder Baals-Glaube?
Baals-Glaube und Diakonie
Jahve-Glaube und Diakonie
Kirche Jesu Christi als Kirche im Unten
Zur Anthropologie
Zur Frömmigkeit
Die an der diakonischen Praxis beteiligten Mitarbeiter
Mut oder Resignation?
Kritische Beurteilung
Literaturverzeichnis
Diakonische Gemeinde - eine Größe, die wir alle wollen?
Die vorliegende Arbeit stellt zunächst die Ansätze diakonischen Gemeindeaufbaus von Hermann Steinkamp und Ulrich Bach dar. Anschließend werden in einer kritischen Beurteilung, die Vor- und Nachteile der beiden Ansätze erörtert und danach gefragt, welche Aspekte für einen diakonischen Gemeindeaufbau von Bedeutung sein könnten.
H. Steinkamp: „Alphabetisierung in der Ersten Welt...”
Widerspruch in der Diskussion um diakonische Gemeinde
Innerhalb der Diskussion um Konzepte diakonischer Gemeinde existiert ein Widerspruch. Zwar werden die Programme einer diakonischen Gemeinde, wie etwa die von Jürgen Moltmann „Diakonisierung der Gemeinde” und Ernst Lange „Kirche für andere”, innerhalb der Kirchen weitestgehend ak- zeptiert und befürwortet, allerdings werden diese Programme diakonischer Gemeinde nicht in die Tat umgesetzt. Man stimmt der Programmatik der diakonischen Gemeinde zu, aber in der Gemeindepraxis ändert sich nichts. Es sind zwar viele diakonische Aktionen in den einzelnen Gemeinden und in der Kirche festzustellen, aber man „wird aufs Ganze der hiesigen lokalen Ge- meindepraxis gesehen nicht von einem großen diakonischen Aufbruch spre- chen können.”1
Um diesen Widerspruch besser verstehen zu können, muß man sich neu mit den wissenschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten der Diakonie in der Gemeinde auseinandersetzen. Dies geschieht, indem man nach den Subjekten solcher Diakonie, ihren Bewußtseinsformen und ihren Motiven fragt.
Formen der Mitgliedschaft
Das die Programme einer diakonischen Gemeinde auf so breite Zustimmung treffen, ist darauf zurückzuführen, daß es ein entfremdetes Bewußtsein gibt, das Ähnlichkeit mit dem Bewußtsein des sogenannten „Helfersyndroms” hat, d.h., daß die Zustimmung zu einer diakonischen Gemeindearbeit nicht unbe- dingt deshalb erfolgt, weil man motiviert ist, den Armen zu helfen. Sie kann auch deshalb erfolgen, weil man das eigene Gewissen beruhigen und zeigen will, daß man sich um die Armen kümmert. Weiterhin kann es auch dazu kommen, daß man als Kirche und Gemeinde diakonisch aktiv wird, um Ansehen und Macht bei den Hilfsbedürftigen oder anderen Institutionen, wie der Stadt oder dem Staat zu erlangen.
Eine Gemeinde kann auch deshalb diakonisch handeln, um sich selber in der Vorstellung zu bestärken, daß sie gebraucht wird.
Es wird ein Bild von Gemeinde aufrecht erhalten, daß der Realität nicht mehr ganz entspricht. Steinkamp vermutet, daß hinter diesem Handeln und der breiten Zustimmung zu einer Programmatik der diakonischen Gemeinde, „eine Form entfremdeten Bewußtseins verbirgt, die Ähnlichkeit mit der des sogenannten Helfersyndroms hat.”2
Die entfremdeten Bewußtseinsformen, mit der Analogie zum Helfersyndrom, lassen sich an der Teilnahme am kirchlichen Leben verdeutlichen. Die Teilnahme am Leben der Gemeinde vollzieht sich auf unterschiedliche Art und Weise und kann in drei Formen der Mitgliedschaft eingeteilt werden.
Dienstleistungsempfang bzw. passive Mitgliedschaft
Diese Form der Mitgliedschaft ist die am meisten praktizierte Form. Man ist Mitglied der Kirche, weil man Kirchensteuer zahlt, aber am Gemeindeleben an sich wird nicht teilgenommen, d.h. die Gottesdienste werden nicht oder nur sehr selten besucht (z.B. Weihnachten). Ab und zu nimmt man eine Leistung der Kirche in Anspruch (Taufe, Konfirmation, Hochzeit, Beerdigung, seltener soziale Dienste oder kirchliches Altenheim), aber ansonsten ist die Kirche für das Gelingen des persönlichen Lebens nicht relevant. Man braucht die Kirche nicht, man ist unabhängig und fühlt sich selber sehr gut in der Lage, die Herausforderungen des Leben zu bewältigen.
Für diejenigen Menschen aber, die auf Hilfe anderer angewiesen sind und das Leben selber nicht bewältigen können, weil sie arm, krank oder behindert sind, soll die Kirche da sein. Die Kirche braucht nicht der Starke, sondern der Schwache. Man achtet das soziale und diakonische Engagement der Kirche und man erwartet von ihr, daß sie Initiativen und Personen hervorbringt, die Diakonie betreiben. Man selber unterstützt sie dabei, indem man sich mit seiner Mitgliedschaft mit ihr solidarisiert und mit der Abgabe der Kirchen- steuer auch finanziell unterstützt. Dieses Bewußtsein kann auch als Mäzenentum bezeichnet werden. „Diese Mentalität stellt [...] eine ent- fremdete Bewußtseinsform dar, von der Ulrich Bach sagt: ´´Selbstverständlichkeit ist der Name eines ... Götzen, der uns in seinen Klauen hält ... Paulus behauptet, der Satz ´ich bedarf dein nicht´ (1.Kor. 12, 21) sei ein gottloser Satz, der dem Leib Christi völlig unangemessen sei.´´ Wo solche Selbständigkeit gar die Kehrseite bürgerlicher Vereinzelung darstellt, kann man in einem analogen Sinn durchaus von Helfersyndrom sprechen.”3
Vereinsm äß ige Mitgliedschaft
Von der passiven Mitgliedschaft ist die vereinsmäßige zu unterscheiden. Diese ist mit der Mitgliedschaft in einem Sportverein oder einer politischen Partei zu vergleichen. Die Teilnahme am kirchlichen Leben dieser Gruppe zeichnet sich durch häufigen Kirchenbesuch aus.
„Im landläufigen Bewußtsein dieser Gruppe (und übrigens auch von Pfarrern, Religionssoziologen und anderen Professionellen) gilt diese Weise der Betei- ligung am kirchlichen Leben als die normale, wünschenswerte, jedenfalls nicht als defizitäre. Aber auch zu ihr gehört nicht per definitionem: diako- nisch aktiv zu sein.”4
Die aktive Mitgliedschaft
Da die zwei dargestellten Mitgliedschaftsformen, kein diakonisches Handeln beinhalten, so können nur die aktiven Mitglieder in der Gemeinde Diakonie betreiben. Die Aktiven sind Mitglieder in wohltätigen Vereinen, arbeiten in verschiedenen Gemeindegruppen, wie Haus- und Krankenbesuchsdienst, Kinderbetreuung oder Hausaufgabenhilfe, o.ä., mit.
Nach einer Untersuchung der EKD stellen sie nur einen geringen Teil der Mitglieder der EKD, die sich mit der Kirche sehr oder stark verbunden fühlen und man kann nicht unbedingt davon ausgehen, daß sie mit der Kerngemeinde gleich zu setzen sind, sondern eher davon, daß sie eine besonders zu betrachtende Gruppe innerhalb der Kirchengemeinde darstellen.
Am Anfang wurde ein Widerspruch, zwischen dem Wunsch nach einer diakonischen Gemeinde und der Umsetzung des Wunsches in die Praxis, dargestellt. Desweiteren wurden verschiedene Mitgliedschaftstypen erläutert. Wie ist nun dieser Widerspruch auf dem Hintergrund der verschiedenen Mitgliedschaftstypen zu interpretieren?
Für Steinkamp resultiert der Konsens über den diakonischen Gemeindeaufbau aus zwei unterschiedlichen Motiven: „aus der Mäzenen- Attitüde des durchschnittlichen volkskirchlich- distanzierten Kirchenmitglieds und dem depressiven Syndrom der Kerngemeindlichen.”5
Erstere ist als Realität anzusehen, allerdings nicht als diakonisches Handeln. Die Mäzenenmentalität als Bewußtsein diakonischen Handelns zu interpretie- ren, hält Steinkamp für schwierig, weil „von diesem Standpunkt aus betrach- tet, stellt die Kirche eher etwas für die anderen dar, für solche Gruppen und Menschen, von denen man sich in der eigenen Vorstellung gerade abhebt.”6 Solange man sich von diesen Menschen abhebt und die Gemeindeglieder mit diesem falschen Bewußtsein sich voneinander isolieren, wird es keine diako- nische Gemeinde geben.
Das „ depressive Syndrom ” der Kerngemeinde - Christen
Die Kerngemeinde, ist sich bewußt, das ihre Mitgliederzahlen immer mehr zurückgehen und ihr der Fall in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit droht. Dies deutet sie (unbewußt) in eine „Option für die anderen” um, denn dadurch würden sie in ihrem eigenen Bewußtsein immer noch die starke, hilfsbereite und überlegene Kirche bleiben, die von den Schwachen der Gesellschaft benötigt wird. Dadurch, daß es andere gibt, die ihre Hilfe benötigen, sichert sich die Gemeinde ihre Überlegenheit.
In diesem Selbstbewußtsein der Kirche, spiegelt sich nach Meinung Steinkamps, eine Verlagerung der Herrschaftsansprüche wieder, wie es die großen Kirchen nach dem zweiten Weltkrieg praktiziert haben.
Diese hatten nämlich, parallel zu ihrer schwindenden Bedeutung, ihre großen Diakoniezentren aufgebaut. Dadurch sicherten sie sich ihre Macht und ihren Einfluß innerhalb der Gesellschaft und des Staates „Helfen bzw. Diakonie als unbewußte Strategie der Machtausübung stellt eben nicht nur eine Versuchung des Einzelnen dar, sondern auch von Gemeinden, Gruppen und Institutionen.”7
Der Konsens über die Programmatik der diakonischen Gemeinden ist also nicht nur eine Folge der Mäzenen - Mentalität und des Helfersyndroms, sondern auch eine Selbsttäuschung.
Option für die Armen: Zur Vergewisserung des Maßstabes einer Diakonie der Gemeinde
Weder Resignation noch eine Entwicklung zu oberflächlicher Kurskorrektur in Randbereichen oder zu hektischem Diakonismus dürfen die Folgen dieser Bewußtseinsformen sein. Vielmehr ist es notwendig, sich theologisch des Maßstabes der gemeindlichen Diakonie zu vergewissern.
Dies ist schon in vielen Bereichen festzustellen, beeinflußt durch Theologie der Befreiung. Diese Besinnung erfolgt in der Auseinandersetzung mit der sogenannten „Option für die Armen”, welche sich als die diakonische Option mehr und mehr erweist.
Exkurs: „ Option für die Armen ”
Die Option für die Armen unterstreicht die Aufgabe jedes einzelnen Christen und jeder einzelnen Gemeinde, sich für die Armen einzusetzen. Sie beinhaltet ein neues Muster der christlich- kirchlichen Praxis. Sie beinhaltet ein Umdenken und eine Neustrukturierung in den Gemeinden.
Bevor die Konzeption der Option für die Armen näher betrachtet werden kann, muß man „Option” definieren.
„Option meint zunächst Vorentscheidung. Eine Option im Sinne einer Vor- entscheidung hat die Funktion eines erkenntnisleitenden Interesses.[...] Opti- onen haben zum zweiten den Charakter existentieller Entscheidungen [...], theologisch gesehen: Optionen sind existentielle Glaubensentscheidungen. Zum dritten haben Optionen die Funktion, das Handeln anzuleiten und zu orientieren. Optionen sind in diesem Verständnis regulative Normen, die im Konfliktfall einer Grundverständigung handelnder Subjekte dienen sollen.”8 Die Option für die Armen wurde besonders im Blick auf Lateinamerika und die katholische Kirche entwickelt. Auf der Bischofskonferenz in Puebla 1979 wurde sie ausgeformt. Sie beinhaltet die Umkehr der Kirche, weg vom jahrhundertelangen Kartell von Kirche und Macht, hin zu einem konsequenten Eintreten der Kirche für die Armen und Machtlosen.
Drei Aspekte kennzeichnen die Option für die Armen:
Es gibt verschiedene Formen der Armut, aber es ist die materielle Armut die am häufigsten in den Blick genommen wird. Die Armen werden nicht einfach arm, sondern sie werden aufgrund struktureller Ungerechtigkeit arm ge- macht. Die Option für die Armen will diese strukturelle Ungerechtigkeit ü- berwinden und setzt an der fehlenden Teilhabe derjenigen an, die von mate- rieller Armut nicht betroffen sind. „Fehlende Teilhabe meint die Ausgrenzung von Menschen aus wirtschaftlichen und sozialen, kulturellen und politischen Entwicklungen einer Gesellschaft. Die Option für die Armen weißt darauf hin, daß materielle Armut als stärkste und entwürdigenste Form fehlender Teilhabe anzusehen ist.”9
Der zweite Aspekt ist die biblisch- theologische Begründung, daß Gott ein primäres Interesse an den Armen hat, weil die Ausbeutung, Unterdrückung und Ausgrenzung der Armen das Ebenbild Gottes, welches auch die Armen darstellen, entehrt und somit Gott selbst betroffen ist. Das Gott in besonderer Weise auf der Seite der Armen steht, ermöglicht und fordert die Option für die Armen. Diese Option für die Armen soll keine Über-Ich Forderung dar- stellen und auch keine moralische Überforderung sein, sondern vielmehr eine existentielle Glaubensentscheidung und Handlungsperspektive, sich mit auf die Seite der Armen zu stellen und an dem Interesse Gottes an den Armen teilzuhaben.
Der dritte Aspekt, der die Option für die Armen kennzeichnet ist ihr partizi- patorischer Charakter. D.h., daß die Armen nicht Objekte irgendwelcher Hilfeleistungen oder politischer Strategien sein sollen. Diejenigen, welche nicht von Armut betroffen sind, sollen nicht stellvertretend für die Armen handeln, sondern die Armen sollen Subjekte ihrer eigenen Befreiung sein, sie sollen selber handeln. „Die Option für die Armen kommt deshalb erst da zu ihrem eigentlichen Sinn, wo dem Handeln für die Armen ein Gefälle zum Handeln mit den Armen und schließlich zum Handeln der Armen selbst innewohnt. Stellvertretendes Handeln hat sein Recht nur als Moment in einem Prozeß, [...] der von der Betreuung zur Selbstbestimmung, von der Abhängigkeit zur Selbstverantwortung führt.”10
Steinkamp versucht das Modell der Option für die Armen auf die hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse zu übertragen. Er vertritt die These, daß „christliche Religion und Kirche in ihrer gegenwärtigen Gestalt weithin da- durch gekennzeichnet seien, daß sie sich den gesellschaftlichen Trends zu- meist kritiklos anpassen bzw. verstrickt sind in die krisenhaften gesellschaft- lichen Entwicklungen.”11 Dies drückt sich in der Abspaltung der Diakonie von der Gemeinde und des Sonntagschristentums vom gesellschaftlichen Alltag. Die Kirche steuert nicht gegen die Trends der Zeit an, weil sie einen weiteren Mitgliederverlust fürchtet.
Die Frage ist, wie das Verhältnis zwischen Diakonie und der Option für die Armen zu definieren ist.
Die beiden Befreiungstheologen Coldovis Boff und Jorge Pixley definieren den Zusammenhang von Diakonie und „Option für die Armen” wie folgt: „Wir können auch sagen, daß die Option für die Armen ein neuer Name, eine neue Bezeichnung für die altbekannte Caritas, die tätige Nächstenliebe, ist [...] eine neue Form der Agape, die man heute als Option für die Armen bezeichnet..., in der gesellschaftlichen Dimension der Caritas besteht oder im politischen Charakter der evangelischen Liebe.”12
D.h., daß Diakonie nicht nur Auswirkungen auf das Handeln der Menschen hat, sondern auch auf das Verständnis von Kirche und Gemeinde, was an den Entwicklungen in Lateinamerika zu veranschaulichen ist. Dort ist die Kirche nach und nach eine „Kirche der Armen” geworden. Kirche kann, wenn sie diakonisch sein will, nicht Kirche der Reichen bleiben, sondern muß Kirche der Armen werden.
In Lateinamerika bekam diese Entwicklung eine doppelte Resonanz: Auf der einen Seite wurde sie befürwortet, weil sich die Armen bekehrten und die Kirche wieder eine glaubwürdige, lebendige Kirche mit Hoffnung wurde; andererseits aber traten ideologische Konflikte mit der römischen Zentrale hervor, weil diese „sich in diesen Auseinandersetzungen zunehmend als Komplizin des internationalen Kapitals und der Machteliten”13 erwies.
Es wird deutlich, daß es nicht um eine Kirche für beliebig andere geht, son- dern es geht um die Parteinahme für die Armen und Unterdrückten. Daraus ergibt sich für das eigentliche Subjekt der Diakonie, daß es immer nur die Kirche, die Gemeinde selbst sein kann. Für die nach innengewandte, auf ihre eigenen Probleme fixierte Gemeinde und der einzelnen Mitglieder und Leiter, bedeutet diese Option für die Armen nicht nur eine kleine Kurs- änderung in Teilbereichen des Gemeindelebens, sondern ein Aufruf zur Be- kehrung. Dann kann diese Option nicht nur eine Über-Ich-Anstrengung sein, sondern ein fundamentaler Glaubensakt.
Diakonie der Gemeinde: Option für die Armen - Bekehrung der Metropole - Lernziel Solidarität
Es muß ein Programm der Diakonie der Gemeinde geben, welches die Möglichkeit bietet, die Kirche für die Armen umzusetzen.
Dazu dienen Lernprozesse, welche die Gemeinde und die einzelnen Gemeindemitglieder für die Diakonie in der Gemeinde sensibilisieren. Hierzu lassen sich die Grundfunktionen der Gemeinde unterscheiden in die Verkündigung als Bewußtseinsbildung, die Diakonie mit dem Lernziel der Solidarität und die (politische) Diakonie als Weltdienst.
Die Verkündigung nennt das durch die Gesellschaft hervorgerufene Unrecht beim Namen. Desweiteren zeigt sie auf, daß in diesem Aufschrei gegen Ungerechtigkeit und im Kampf gegen das Unrecht, der Anbruch der Gottesherrschaft bezeugt wird. Diese Verkündigung lehnt sich früher oder später gegen die Machthaber auf und führt zu einer Art von Märtyria, wie sie früher vorhanden war: Diskriminierung, Verfolgung und Tod.
Die Verkündigung richtet sich auch an die Gemeinde und deren Gemeindeglieder, die von dem Unrecht profitieren und mit Schuld tragen. Verkündigung will hier dieses Schuldbewußtsein hervorrufen, im Zusammenhang mit der Heilszusage Gottes und dem Aufruf zur Umkehr.
Beim Gemeindeglied kann folgender Prozeß ausgelöst werden:
Es bekommt ein zunehmendes Wissen über die Armut auf Weltebene. Dies führt zu einem Eingeständnis der eigenen Beteiligung an den Zusammenhängen (z.B. durch Konsumverhalten,...). Das kann die Wut über die ungerechten Zustände und die Entdeckung der eigenen, deformierten Bewußtseinsformen bzgl. Armut und Reichtum resultieren.
Das Gemeindeglied kann dahin übergehen, einfachere Lebensformen auszu- probieren. Dies ist der Übergang von einer mentalen Zustimmung zur Idee der Gerechtigkeit, zu einem ganzheitlichen Erleben. Es kann sogar dazu füh- ren, daß sich jemand entschließt in Armut zu leben, oder aber wie der reiche Jüngling nichts zu tun.
Diakonie lernen: Alphabetisierung der Ersten Welt
Steinkamp zieht das Fazit, daß die bestehenden und praktizierten diakoni- schen Arbeiten der Gemeinden neu unter dem Vorzeichen der Option für die Armen gesehen werden sollen. Es ist zu überprüfen, wie z.B. die gut gemein- ten Krankenbesuche, bei denen die Besuchten oft das Gefühl haben, aus- tauschbare Objekte von Aktionen und Aktivierungskampagnen zu sein, wirk- lich gemeint sind. Wie gehen wir mit den Spendenempfängern um, die ent- sprechende Demutsgebärden und Dankbarkeitsgesten vorzeigen müssen, um weiter Hilfe zu bekommen, um? Sehen wir die Situation der Hilfsbedürftigen mit unseren Vorstellungen von gelingendem Leben, mit unseren Maßstäben, wie Leben aussehen sollte, oder sehen wir sie mit den Augen der Armen?
Es ist wichtig, sich in die Situation der Armen hineinzudenken und diese als Maßstab für Hilfsaktionen zu nehmen. Gut gemeinte Aktionen haben leider nicht immer politische Wirkung. Wir tun etwas Gutes für Armen, aber die Wurzel der Armut gehen wir nicht an. Mit den Mächtigen und politisch Ver- antwortlichen legen wir uns nicht an, weil es uns Ärger und Ansehen kosten würde. Auch hier ist zu prüfen, ob wir den Armen wirklich helfen wollen oder ob wir für sie die Armut nur etwas erträglicher machen wollen und die Ursachen der Armut nicht bekämpfen, weil es Unannehmlichkeiten mit sich bringen würde.
Kirche mit anderen - von Fremden lernen.
Dort, wo Gemeinde diakonisch aktiv werden will, stellt sich auch die Frage der Zusammenarbeit mit anderen Initiativen und Hilfsorganisationen. Hier ist das Problem der Mitgliedsfrage und der Frage nach der missionarischen Verzweckung der Diakonie, oftmals ein Hinderungsgrund mit anderen „nichtchristlichen” Initiativen zusammenzuarbeiten.
Die Rivalität zwischen den Basisinitiativen, Selbsthilfegruppen, Wohlfahrts- verbänden mit der Kirche, schlägt sich bis auf die Gemeindeebene nieder. Es geht dabei meist um den Kampf um die staatlichen Gelder. Die Frage ist allerdings: Welche neue Perspektive eröffnet uns die Option für die Armen, auf das Problem der Zusammenarbeit mit den genannten Einrich- tungen?
Konkret könnte das bedeuten: „Von den Armen lernen, ihre Kompetenz, die Kompetenz der Betroffenen wahrnehmen und zur Geltung bringen. Von den Armen können wir vor allen Dingen lernen, daß die Armen ihre Sache selbst in die Hand nehmen und daß die Selbstorganisation als Basisgemeinde oder - Gruppe, den entscheidenden Faktor der Selbsthilfe darstellt.“14 Es geht nicht um die Frage, ob wir andere Gruppen und Initiativen an unse- ren Projekten beteiligen, oder wir mit ihnen zusammenarbeiten, sondern dar- um, daß wir von den anderen lernen müssen, wie Hilfe geht, wie man sie erlernen kann.
Ulrich Bach: Die diakonische Gemeinde als Freiraum für uns alle
Ulrich Bach sieht einen Widerspruch zwischen dem, was geglaubt und wie mit Behinderten innerhalb der Gemeinde umgangen wird. Zum einen hält man es mit Paulus, der zwischen Juden und Griechen, Knecht und Freien, Mann und Frau, bezüglich ihrer Stellung in der Gemeinde keinen Unterschied macht; und aktualisiert das Pauluswort aus Galater 3, 28, indem man einfügt, daß zwischen behinderten und nichtbehinderten Gemeindegliedern ebenfalls kein Unterschied gemacht werden dürfe.
Aber in der Praxis sieht der Umgang mit Behinderten in der Gemeinde anders aus. Die Gemeinden müssen sich die Frage gefallen lassen, inwiefern sie für Behinderte sensibilisiert ist, in ihren Gemeindegruppen Behinderte integriert sind und die Gemeinde behindertengerecht eingerichtet ist. „Praktizieren wir nicht ständig Trennungen, die von der Botschaft her, die wir vertreten, zu dem Alten gehören, das durch Christus vergangen ist (2. Kor. 5, 17)?”15
Die Folgerungen, die wir aus dieser Frage ziehen, sind meist gesetzliche, die besagen, daß wir etwas ändern müssen, daß wir mehr tun müssen für die Menschen am Rande. Diese gesetzlichen Folgerungen stellen allerdings einen falschen Weg dar. Bach versucht in seinem Aufsatz einen anderen Weg auf- zuzeigen, einen Weg, der in erster Linie nichts mit Aktion zu tun hat, son- dern mit einem Lebensstil. Einen Ansatz als Weg, der nicht der Frage nach- geht: „Was sollen wir tun?”, sondern nach dem „Wer sind wir? Wie gestalten wir unser Leben?” fragt.
Einen Weg will er beschreiten, der nicht den Helfenden und den Hilfsbedürf- tigen als zwei Gruppen gegenüberstellt, sondern das Miteinander aller her- vorhebt.
Jahve-Glaube oder Baals-Glaube?
Es ist ein Irrtum, zu meinen, daß sich Menschen mit einer unterschiedlichen Theologie ohne Probleme auf ein diakonisches Konzept einigen könnten. Wie unterschiedlich wir diakonisch denken und handeln zeigt sich nicht nur in der Frage nach der Methode, nach fachlichen Kompetenzen, sondern schon die Art und Weise, wie wir von Gott reden und denken zeigt, wie wir diakonisch handeln und leben. Wie aber wird von Gott gesprochen?
Käsemann findet in der Bibel zwei Arten von Gott. Er kommt als Jahve vor, welcher der Gott Jesu ist und als der Baal, welcher ein Götze ist. Sprechen wir von „Jesus und meinen tatsächlich den Gekreuzigten oder sa- gen wir Jesus und meinen einen halbwegs verchristlichten Baal?”16 Der Baal-Gott ist der Gott, der dafür zu sorgen hat, daß es uns gut geht, daß in unserem Leben alles glatt läuft und wir in stabilen Verhältnissen leben.
Jahve-Gott ist der Gott, der in die Wüste führt und uns nicht die Sicherheit gibt, daß alles gut geht. Er ist der Gott, der uns „vom Haben zum Sein ruft.”17
Die Art und Weise, wie wir von Gott reden, hat etwas mit unserem diakoni- schen Handeln und Leben zu tun. „Sage mir, wie du von Gott redest, und ich sage dir, wie deine Diakonie aussieht, etwa: was behinderte Menschen von dir zu erwarten haben, bzw. ob du etwas von behinderten Menschen erwar- test.”18
Bach möchte nicht zwei Personengruppen gegenüberstellen, sondern möchte zwei theologische Denkweisen veranschaulichen, die gleichzeitig eine be- stimmte Art diakonischen Handelns prägen und theologische Grundlegungen für Diakonie sind.
Bach stellt die beiden Typen anhand des Glaubensbekenntnisses dar, und fragt, was es für die Diakonie bedeutet, wenn man eine Baal- oder eine Jah- ve-Theologie zur Grundlage diakonischen Denkens und Handelns macht.
Baals-Glaube und Diakonie
Was bekennen wir, wenn wir das apostolische Glaubensbekenntnis nehmen und von Gott als den Schöpfer, von Jesus als Gottes Sohn und Erretter der Menschen und von der Berufung des Menschen zur Mission und Diakonie sprechen und dabei in Richtung Baal denken?
Wenn wir bekennen, die Welt sei von Gott ohne Schäden und Defizite er- schaffen worden, so stellen wir den Behinderten, der Defizite zu ertragen hat, in eine Randposition. Wir vermitteln dem Behinderten, daß Gott bei ihm ei- nen Fehler gemacht hat, das er kein richtiger Mensch ist, sondern ein Fehl- produkt der Schöpfung.
Wenn wir bekennen, daß Jesus alle Menschen nach oben bringen, aufbessern und heilen will, dann hat er bei den Behinderten, die sich im Unten lebend fühlen, versagt und sein Ziel bei ihnen nicht erreicht.
Wenn wir bekennen, daß jeder Christ von Gott zur Mission und Diakonie an andere Menschen berufen worden ist, so bedeutet das für den Behinderten, daß er nur das Objekt der Berufenen ist und nicht selbst Berufener, weil Gott jeden Menschen nach oben bringen, wiederherstellen und heilen will, und dazu die Gesunden, die Nichtbehinderten als seine Helfer auserwählt hat. Das Behinderte selber einen göttlichen Auftrag anderen Behinderten oder Nichtbehinderten zu helfen haben, wird ausgeschlossen.
Wie sehr unsere Theologie und Verkündigung vom Baal herkommen, zeigt sich auch in der Art und Weise, wie wir über Gottes Niedrigkeit reden. Zwar sprechen wir immer von dem kleinen Jesus, der in der Krippe lag, und von dem Jesus, der sich um die Armen gekümmert hat. Das Jesus am Kreuz ge- storben ist verschweigen wir nicht, aber es folgt sofort die Auferstehung, die unser eigentliches Bild von Jesus wiederherstellt, nämlich das Bild von dem starken, allmächtigen Gottessohn, der uns stark macht. „Krippe und Kreuz mögen für unser Heil noch so wichtig sein. Aber es sind Einzelaktionen, die zum Wesen Gottes in Spannung stehen.”19
Der revolutionäre Gedanke des NT ist aber eben dieser, daß Gott niedrig wurde und das Krippe und Kreuz keine Einzelaktionen Gottes sind, sondern „die Benennung seines Wesens.”20
Jahve ist der niedrige, der menschgewordene, der leidende Gott.
Jahve-Glaube und Diakonie
Auf das Glaubensbekenntnis angewandt bedeutet es, daß wir die Dinge, die in der Schöpfung scheinbar mißlungen sind, nicht verschweigen und subtrahieren. Wir sehen den Behinderten genauso als geliebtes Geschöpf Gottes an, wie den Nichtbehinderten.
Jesus kam nicht als der Starke in die Welt, sondern er wurde selbst ein Hilf- loser. Jesus ist in erster Linie gekommen, um mit den Menschen Gemein- schaft zu haben und Gemeinschaft zwischen Menschen zu stiften. Für unser diakonisches Handeln bedeutet das, daß wir nicht füreinander et- was tun (der eine ist der Gebende und der andere der Empfangende), son- dern daß wir miteinander etwas tun, also wir von einander lernen und von- einander Hilfe erfahren. „Als Kirche Jesu Christi müssen wir uns also davor hüten, uns einzuteilen in Therapeuten und Klienten.[...] Jeder ist auf Hilfe angewiesen, jeder kann mittun. Keiner ist nur Belastung für die anderen, und keiner ist nur Lastenträger.”21
Kirche Jesu Christi als Kirche im Unten
Wenn eine Kirche nicht nur in ihren Aktionen diakonisch ist, sondern auch schon in ihrem Bekenntnis, so ist zu fragen, wie das diakonische Leben der Gemeinde nun gestaltet werden muß.
Bach versucht dies an einzelnen Bereichen des kirchlichen Lebens deutlich zu machen, wie Kirche im Unten in diesen Bereichen aussehen kann.
Zur Anthropologie
Wenn wir von dem Menschen reden, so reden wir meist so, als ob der Mensch eigentlich der starke, stabile und gesunde ist. Das ist das eigentliche Wesen des Menschen.
Die Folge ist, daß wir damit automatisch den Behinderten, den Schwachen und Kranken ausgrenzen.
Es ist wichtig, daß wir uns in Erinnerung rufen, daß wir völlig unselbständig und hilflos auf diese Erde gekommen sind, und die im Laufe des Lebens vermeintlich gewonnene Selbständigkeit und Stärke, mit zunehmenden Alter wieder verloren gehen wird.
Defizite gehören zum Menschsein und es wird immer Situationen geben, in denen wir auf die Hilfe anderer angewiesen sein werden.
Für die Kirche ist es deshalb unumgänglich, im Menschen eben nicht in erster Linie den Starken oder den Schwachen zu sehen, sondern wichtig, den Menschen als Menschen wahrzunehmen, zu sehen, daß wir zusammengehören und ohne den anderen nicht auskommen können.
„Als Kirche im Unten bemühen wir uns eben nicht nur um eine veränderte Einstellung zu den Behinderten, sondern um eine neue Einstellung zu uns selber.”22
Zur Frömmigkeit
Wenn wir von dem Gott im Unten reden, so muß dies auch Auswirkungen auf unsere Frömmigkeit haben.
„Gott läßt sich aus der Welt hinausdrängen an das Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade nur so ist er bei uns und hilft uns... nur der leidende Gott kann uns helfen.”23
Für uns bedeutet dies, daß wir uns auf den Weg Jesu begeben müssen und in seinem Leiden lernen müssen, wie man glaubt.
„Fange da an, wo Gott angefangen hat, im Menschen Jesus; laß die Spekula- tionen fahren und bleibe schlicht klaben an dem Menschen Jesus, der sich als Mittelsmann vor dich gestellt hat und sagt: Halte dich an mich.”24 Wir müssen uns fragen, ob wir Jesus als die Starken nachfolgen, oder ob wir Nachfolge dort praktizieren, wo wir einander nötig haben. Es ist die Frage, ob wir erwarten, daß sich der Schwache in einen Starken verändert, oder wir uns auf die gleiche Stufe mit den Schwachen stellen. Wir müssen uns ändern, denn der Kranke kann es nicht!
Es gibt nicht nur die, die schon fertig sind und die, die hinterherhinken und Hilfe und Veränderung nötig haben, sondern wir müssen alle bereit sein zu geben und zu nehmen. „Das Leben der Gemeinde Jesu entfaltet sich nur so, daß jeder zum Geben und zum Nehmen bereit ist; und das jeder dem anderen das Nehmen und das Geben zutraut.”25
Für die Diakonie bedeutet dies, daß nur der diakonisch aktiv sein kann, der selber Diakonie erfahren hat.
Die an der diakonischen Praxis beteiligten Mitarbeiter
Auch wird noch einmal das Miteinander und nicht das Gegenüber deutlich. Wir sind alle gleichwertige Menschen in Gottes Augen.
Die Frage ist, ob wir als Mitarbeiter auch so unseren Dienst am anderen tun, oder ob wir uns durch unsere Leistung nach oben mogeln wollen und uns selber, Gott oder den anderen zeigen wollen, daß wir doch nicht mit leeren Händen dastehen. „Wir müssen uns immer wieder fragen: Wer sind wir? Und nicht sofort: Wie ist unsere Einstellung anderen gegenüber? Was tun wir?”26 Es geht nicht darum, daß jeder in einen sozialen Beruf eintritt, auch nicht darum, daß jeder seinen Reichtum aufgibt und in Armut lebt, um sich auf die Stufe der Armen zu stellen. „Der gesellschaftliche Standort, von dem aus die Jüngergruppe die Welt in den Blick nimmt, kann nur der Ort der Ausgeschlossenen, der Unterdrückten, das jeweilige gesellschaftliche Unten sein, und zwar unabhängig vom sozialen Standort, von der sozialen Zusammensetzung der Gruppe selbst.”27
Als diakonisch Handelnde, haben wir dort einzugreifen, wo der Staat ver- sagt. Dort, wo Behinderte keinen geeigneten und ihnen gesetzlich zustehen- den Lebensraum bekommen, weil es keinen interessiert, wie Behinderte le- ben, können wir als Kirche eingreifen und die Umstände verbessern. Dort, wo Behinderte keine Hoffnung und keine Zukunft mehr sehen, können wir als Gemeinde mit unserem Glauben und dem Evangelium Hoffnung vermit- teln; Hilfe geben, die Lebensumstände anzunehmen. Wer von Gott als den Jahve - Gott, als den Gott im Unten redet, kann Menschen Hoffnung vermit- teln.
Mut oder Resignation?
Bach geht es nicht darum, daß Unten zu glorifizieren, auch nicht um die Verherrlichung des Behindertseins, des Kreuzes oder des Unten in der Lehre der Kirche. Der Autor möchte dazu bewegen, den gegebenen Realitäten, dem Leben, mit all seinen Defiziten, ins Auge zu schauen. Er möchte dazu bewegen, sich mit den Defiziten auseinanderzusetzen.
Das Ziel soll eben nicht das Wegschauen und das Nicht-wahr- haben- wollen der Defizite sein, sondern die Integration der Behinderten. „Die heutige Menschheit ist so sehr auf Trennung aus (Leistungsprinzip, Konkurrenzden- ken), das Integration der Schwächeren eigentlich ein bißchen regelwidrig ist [...].“28 Diejenigen, die Christus nachfolgen, erhalten die Möglichkeit, nicht neben und gegeneinander zu leben, sondern miteinander. „Jeder darf so sein, wie er ist, mit seinen Stärken und Schwächen. Beides integrieren wir (ohne Verdrängung der Schwäche, ohne Stolz auf die Stärke) in unser Leben.“29 Für die Diakonie bedeutet dies einen neuen Ansatz: Nicht die Integration als ein Anhängsel der diakonischen Arbeit zu sein, die unorganisch ist, sondern als eine integrierte Integration, die nicht nur das Handeln, sondern auch das Denken und Leben des diakonisch Handelnden umfaßt.
Kritische Beurteilung
Die Stärken in Steinkamps Aufsatz liegen m.E. darin, daß die kirchliche (und somit eigentlich auch die freikirchliche) Situation und deren Verhältnis zur Diakonie, sehr treffend beschrieben werden. Er stellt eindrücklich dar, daß die Kirchen innerhalb der Gesellschaft enorm an Bedeutung verloren haben, und daß die Folge dieser Entwicklung in vielen Gemeinden, Resignation und Frustration sind. Es ist nicht zu leugnen, daß viele Gemeinden sich nur noch um sich selbst drehen, ihre eigenen Probleme versuchen zu lösen und dabei die Not in ihrem Umfeld, außerhalb ihrer Kirchenmauern, aus dem Blick ver- lieren. Dies hat zur Folge, daß Diakonie losgelöst vom Gemeindeleben be- trieben wird. Steinkamp versucht anhand der „Option für die Armen“ und dem Beispiel der Lateinamerikanischen Basisgemeinden, eine Lösung zu bie- ten, wie die Trennung von Diakonie als Institution und dem Gemeindealltag aufgehoben werden kann. Steinkamp macht deutlich, daß Diakonie und Ge- meindeleben, nur dort zusammenfinden können, wo Gemeindeglieder Ge- meinschaft pflegen, ihr Leben mit allen Höhen und Tiefen miteinander teilen und sich gegenseitig helfen und helfen lassen. Die Herausforderung, die mit der „Option für die Armen“ an die hiesigen Gemeinden gestellt wird, liegt nach Steinkamp darin, „daß in der basisgemeindlichen Praxis jene Spaltungen aufgehoben sind: Die Rückgewinnung des Primats der Koinonia als Urform christlicher Diakonie und die gesellschaftliche Erdung durch diakonisches Handeln, ermöglichen die Integration der gemeindlichen Grundfunktionen - die Einheit von Gottes- und Weltdienst, von Reich-Gottes-Verkündigung und Heilen -, die Aufhebung des Gefälles zwischen Hilfsbedürftigen und Hel- fern in der vorrangigen Solidarität der Betroffenen sowie die Verklammerung von innen und außen, insofern der Selbsthilfeaspekt mit gesellschaftlichem Engagement verbunden ist.“30
Um diakonischen Gemeindeaufbau zu betreiben, ist es also zunächst notwen- dig, sich nicht ständig um sich selbst zu drehen, sondern den gesellschaftli- chen Auftrag die Gemeinden haben und die Möglichkeiten, die sie besitzen, Armut und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft zu bekämpfen, wieder in Blick zunehmen. Um dies zu erreichen, müssen wir durch die Verkündigung ein Bewußtsein, für die in Armut lebenden Menschen schaffen. Wir müssen uns gegen den Trend der Individualisierung innerhalb der Gemeinden stellen und aufhören uns nur mit Mitgliederfragen zu beschäftigen. Die Motivation und die Formen unseres bisherigen diakonischen Handelns müssen hinterfragt werden und wir müssen lernen, die Situation der Armen neu mit den „Augen der Armen“ zu sehen. „Einfühlsame Hilfe anstelle von demütigender und objektivierender Mildtätigkeit auf der einen, sowie For- men politischen Protests als Ausdruck der Parteilichkeit für Marginalisierte auf der anderen Seite markieren Leitgesichtspunkte einer veränderten Ge- meindepraxis.“31
Es ist wichtig, daß wir lernen, die Kompetenz der Betroffenen selber, in unsere diakonischen Aktivitäten einzubinden, und nicht Diakonie für, sondern mit den Armen zu betreiben.
Um kompetentere Hilfe zu bieten, ist es notwendig von anderen Organisationen zu lernen und wo es geht mit ihnen zusammenzuarbeiten, ohne das eigene Profil zu verlieren.
Meiner Meinung nach ist Steinkamps Einteilung der Gemeinden in „Kirche der Reichen“ und in „Kirche der Armen“ unglücklich. Ich denke, daß Kirche für beide gleichzeitig da sein soll. Wir brauchen die oben beschriebenen „Pas- siven Mitglieder“, die mit ihrem Geld die Gemeinde unterstützen. „Kirche der Armen“ darf nicht nur im Licht des materiellen Reichtums gesehen werden, denn wenn die Reichen nicht unter materieller Armut zu leiden haben, so doch unter seelischer oder körperlicher. Deswegen ist von diakonischer Ge- meinde besser nicht als „Kirche der Armen“ zu reden, sondern eher von „Kirche der Hilfsbedürftigen“.
Ulrich Bachs Aufsatz zeichnet sich dadurch aus, daß er deutlich macht, daß diakonisches Handeln, nicht nur mit unseren christlichen Taten etwas zu tun hat, sondern unseren Lebensstil betrifft. Diakonisches Handeln ist ein Le- bensstil und wirkt sich in alle Bereiche des Lebens aus. Der Weg, den Bach beschreibt, ist m.E. ein hilfreicher Weg, den Widerspruch zwischen dem, was wir glauben und der Art und Weise, wie wir Behinderte in unsre Gemeinden versuchen zu integrieren, zu überwinden. Die Gemeinden müssen sich einge- hend mit der Frage beschäftigen, inwiefern sie für behinderte Menschen sen- sibilisiert ist. Bachs Darlegung, wie und wodurch Behinderte in unseren Ge- meinden an den Rand gedrängt und ausgeschlossen werden, sollte dazu füh- ren, daß jeder einzelne sein Gottesbild und seine Art von Gott zu reden über- prüft. Es wichtig, daß wir Gottes Niedrigkeit neu in den Blick nehmen und es lernen, Gott als den „Gott der Armen“ zu sehen, dessen erklärtes Ziel nicht ist, alle Behinderten gesund zu machen und „nach oben zu bringen“, sondern den am Rande lebenden und ausgestoßen Menschen Würde verleiht, indem er sie so annimmt wie sie sind. Dies sollte auch die vorrangige Aufgabe der diakonisch handelnden Gemeinde sein, daß sie den Behinderten, in seiner Persönlichkeit fördert und ihm nicht seine Würde nimmt, indem sie ihn nur als Objekt der erbrachten Hilfeleistungen betrachtet. Weiterhin kann sie den behinderten, armen und kaputten Menschen die Hoffnung des Evangelium vermitteln und ihnen mit Jesus eine Hilfe bieten, mit ihren Lebensumständen zurecht zu kommen.
Darüber hinaus sollte Gemeinde (wenn sie es finanziell und personell leisten kann) Behinderten einen menschenwürdigen Lebensraum ermöglichen, wo der Staat dies nicht leisten kann. Zumindest sollte sie auf die Mißstände in Pflegeheimen anprangern und dafür eintreten, daß Veränderung geschieht. Aber auch bei diesem Ansatz, darf Gott nicht nur zu einem „Gott der Ar- men“ gemacht werden, denn Gott ist auch ein Gott der Reichen. Es darf nicht dazu führen, daß, wie Bach selbst auch mahnt, das Behindertsein glori- fiziert wird.
Beide Aufsätze bieten eine gute Grundlage, sich die gemeindliche Situation vor Augen zu führen und wichtige Ansatzpunkte, daß bisherige diakonische Handeln der Gemeinden und jedes einzelnen Christen, zu überprüfen neu zu ordnen.
Literaturverzeichnis
Bach, Ulrich: Die diakonische Kirche als Freiraum für uns alle, in ders., Boden unter den Füßen hat keiner, Göttingen 1986. 193-218.
Schäfer, Gerhard Karl: Die Diakonie der Gemeinde im Licht der Option für die Armen (Hermann Steinkamp), in ders., Gottes Bund entsprechen: Stu- dien zur diakonischen Dimension christlicher Gemeindepraxis, Heidelberg 1994. 386-394.
Schäfer, Gerhard Karl: Die Option für die Armen als Herausforderung für Diakonie und Sozialethik, in „Diakonie der Versöhnung”, Hg. Götzelmann, Arnd; Herrmann, Volker. Suttgart 1998, 204-215.
Steinkamp, Hermann, Alphabetisierung der Ersten Welt - Gemeindediakonie und Basisinitiativen, in: Kleinert, Ulfried, Mit Passion und Profession. Zukunft der Gemeindediakonie, Neukirchen-Vluyn 1992, 27-44.
Anzahl der Wörter 5906:
[...]
1 Steinkamp, 45.
2 Ebd. 46.
3 Ebd. 49.
4 Ebd., 47.
5 Ebd., 48.
6 Ebd., 49.
7 Ebd., 50.
8 Schäfer, 205.
9 Ebd., 206.
10 Ebd., 207.
11 Ebd., 209.
12 Steinkamp, 51.
13 Ebd., 52.
14 Ebd., 59.
15 Bach, 193.
16 Ebd., 194.
17 Ebd., 195.
18 Ebd., 196.
19 Bach., 200.
20 Ebd., 200.
21 Ebd., 203.
22 Ebd., 208.
23 Ebd.
24 Ebd., 209.
25 Ebd., 210.
26 Ebd., 211.
27 Ebd., 212.
28 Ebd., 217.
29 Ebd., 217.
30 Schäfer, Diakonie der Gemeinde, 387.
31 Ebd., 391.
- Citar trabajo
- Lars Schwesinger (Autor), 2000, Diakonische Gemeinde - eine Größe, die wir alle wollen?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98624
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