1. Allgemeines und Vorgeschichte
1.1. Das wachsende Europa
1.1.1. Beitrittsrunden bis 1995
- 1. Beitrittswelle 1973: Irland, Großbritannien, Dänemark
- 2. Beitrittswelle 1981: Griechenland
- 3. Beitrittswelle 1986: Portugal, Spanien
- 4. Beitrittswelle 1995: Österreich, Schweden, Finnland
1.1.2. Offene Beitrittsanträge
- Türkei (1987): im November 1999 in erweiterten Bewerberkreis aufgenommen, Verhandlungsbeginn offen.
- Malta (1990): Beitrittsverhandlungen 2000 aufgenommen
- Zypern (1990): Beitrittsverhandlungen 2000 aufgenommen
1.2. Europa nach dem Ende des Kalten Kriegs: Die Mittel- und Osteuropäischen Staaten (MOES)
- Öffnung der ehemalig kommunistischen Länder Mittel- und Osteuropas → Rückorientierung nach Europa
- Breite Zustimmung der EU-Mitgliedsstaaten zu den Entwicklungen → Bündelung der Zusammenarbeit bei der Europäischen Kommission, Mandat für weitreichende vis-à-vis-Verhandlungen
1.2.1. Erste Abkommen: die TCAs (,Trade and Cooperation Agreement’)
- Erste Schritte zum Aufbau wirtschaftlicher Beziehungen zu Staaten des Warschauer Paktes.
- Erstes TCA bereits 1988 mit Ungarn.
1.2.2. Phare-Programm (.Pologne-Hongrie Assistance à la Restructuration des Économies’)
- Umfassendes Konsultationsprogramm der Kommission, zunächst insbes. für wirtschaftliche T ransformation.
- Ab 1992 auf Druck des EP auch für demokratische Entwicklung.
- Asymmetrische Zusammenarbeit zunehmend ineffizient.
1.2.3. Europa-Abkommen
- Im Wesentlichen schrittweise Schaffung einer Freihandelszone zwischen EU und MOES.
- Asymmetrische Beseitigung der Handelshemmnisse: zunächst für Exporte in EU, später für Importe aus EU.
- Abgestufte Übergangszeiträume: von Estland (Freihandel in Kraft seit 1995) bis hin zu 10 Jahren.
- Sonderregelungen für sensible Bereiche wie Landwirtschaft, Kohle und Stahl → Großteil der Exporte beschränkt
- Verpflichtung zu politischem Dialog und demokratischer Entwicklung
- Nicht verbunden mit einer Aussicht auf EU-Mitgliedschaft → Schwere Enttäuschung der MOES.
1.2.4. Kopenhagener Kurswechsel
Definition der Kopenhagener Kriterien für Beitrittsländer als Einladung an MOES zum EU-Beitritt → Beitrittsanträge der MOES:
- Ungarn, Polen, Rumänien (1994)
- Slowakische Republik, Lettland, Estland, Litauen, Bulgarien (1995)
- Tschechische Republik, Slowenien (1996)
2. EU-Osterweiterung aus der Sicht der Beitrittskandidaten
2.1. Aufnahmeverfahren
2.1.1. Kopenhagener Kriterien
- Stabilität der Demokratie und ihrer Institutionen
- Eine funktionierende Marktwirtschaft, die dem Wettbewerbsdruck standhält
- Übernahme der europäischen Gesetzgebung
- Einverständnis mit den Zielen der Politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)
- Fähigkeit der EU zur Aufnahme neuer Mitglieder, ohne an Integrationsdynamik zu verlieren
2.1.2. Weitere Pflichtkriterien
- Übernahme der EU-Verträge
- Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
- Unabhängigkeit der Zentralbank
- Aufbau neuer administrativer Strukturen für die Umsetzung der EU-Gesetzgebung
2.1.3. Unterstützung von Seiten der EU und Kontrollmechanismen
- Die Heranführungsstrategie
- Das Prüfungsverfahren - regelmäßige Berichte
- Das Screening des Aquis Communautaire
- Beitrittspartnerschaften
- Vorbeitrittshilfe
2.1.4. Aktueller Stand der Verhandlungen und Erfüllung der Kriterien
- Verhandlungen in zwei Beitrittswellen begonnen, inzwischen gilt Prinzip des individuellen Fortschritts
- Schrittweise Eröffnung von 31 Verhandlungskapiteln, zum Teil bereits abgeschlossen
- Aufnahme der ersten Vorreiter zwischen 2003 (Planung EU) und 2005 (Erwartungen der Kandidaten)
2.1.5. Risiken des EU-Beitritts für Kandidaten
- Industrielle Wettbewerbsfähigkeit der MOE-Staaten gering - große Investitionen der EU in den Modernisierungsprozess notwendig
- Überschwemmung der MOE-Staaten mit den Gütern aus der restlichen EU (durch Subventionen günstigere Preise) - eigene Produkte finden keinen Absatzmarkt mehr (z. B. landwirtschaftliche Erzeugnisse)
2.2. Case Study: Estland
3. EU-Osterweiterung aus der Sicht der EU-Mitgliedsländer
3.1. Chancen und Risiken der Erweiterung für Deutschland und die EU
3.1.1. Stärkung des Wirtschaftsraumes gegenüber anderen Regionen der Welt
- In vielen Regionen der Welt entstehen Wirtschaftsräume: NAFTA, Mercosur, ASEAN-AFTA, Comesa (s Abb. 1)
- Erweiterung erhöht wirtschaftliches Volumen des Gemeinsamen Marktes und schafft neue Märkte mit Nachholbedarf.
- Einbindung von Niedriglohnländern „vor der Haustür“ stärkt langfristig Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie durch Spezialisierung und Ausgliederung (vgl. Mexiko in der NAFTA)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Wirtschaftsräume im Entstehen
3.1.2. Verschiebung des Schwerpunkts gen Osten
- Einbeziehung „natürlicher“ Handelspartner Deutschlands in den gemeinsamen Markt
- Zu erwartende gegenseitige Interessenpartnerschaft der MOES und Deutschlands
- Sprachrohr- und Koordinationsfunktion Deutschlands → Machtzuwachs
3.1.3. Stabilisierung Mittel- und Osteuropas
- Überwindung der ehemaligen Blockgrenze
- Risiko der Abschottung der MOES und aufkeimenden Nationalismus
3.1.4. Heterogenisierung der EU
- Beitritt wirtschaftlich und in politischer Kultur rückständiger und instabiler Staaten
- Gefährdung der langjährigen Kooperation und Kohäsion
- Ohne Flexibilisierungskonzepte weitere Integrationsschritte in absehbarer Zeit nicht zu erwarten
3.1.5. Institutionelle Handlungsunfähigkeit
- Einstimmigkeitsentscheidungen in intergouvernementalen Bereichen → Interessenblockaden
- Massive Vergrößerung aller Institutionen
- Über 20 Amtssprachen (statt heute 11) → Aufblähung des Dolmetscher- und Übersetzerapparates
3.1.6. Zuwanderung aus den neuen Mitgliedsländern
- Unionsbürgerschaft → Freizügigkeit in Bezug auf Wohnsitz und Arbeitsplatz
- Mögliche Massenauswanderung von Arbeitskräften in den Westen
3.2. Erweiterung oder Vertiefung?
3.2.1. Erweiterung und Vertiefung?
- Doppelbelastung und schwieriger Abstimmungsprozess aufgrund gegenseitiger Beeinflussung.
- Setzt Flexibilisierung der Abstimmungsverfahren voraus.
3.2.1. Kern-Europa als Avantgarde?
Vieldiskutierter Vorschlag der abgestuften Integration. Beispielszenario (siehe Abb. 2):
- Deutschland, Frankreich und Benelux bilden gemeinsamen föderalen Staat („Vereinigte Staaten von Europa“)
- 11 Staaten bilden die „Eurozone“.
- EU-15 (status quo) intensiviert ihre gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik („GASP plus“)
- EU-30 verbleibt beim heutigen Integrationsstand („EU“)
Probleme der abgestuften Integration:
- Mit zunehmender Differenzierung wächst rechtliche und institutionelle Heterogenität
- Institutionen wie EP oder Europäische Kommission müssten bei Einbeziehung in supranationalen Bereich gedoppelt oder ebenfalls abgestuft werden
- Nehmen an weiteren Integrationsschritten unterschiedliche Konfigurationen von Mitgliedsländern teil („Europa à la carte“), so zerfällt das Gesamtgebilde EU in zahlreiche multilaterale Teilabkommen (siehe Abb. 2)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Europa des institutionellen Chaos
3.3. Bis wohin reicht Europa?
3.3.1. Nordafrikanische Mittelmeeranrainer
- Mittelmeer traditionell Bindeglied, nicht Grenze zwischen Europa und Afrika.
- Besondere Beziehungen Frankreichs mit dem Maghreb, Italiens und Maltas mit Libyen.
- Intensive Handelsbeziehungen aller Mittelmeerstaaten der EU mit Nordafrika.
- Interesse an EU-Mitgliedschaft nach Annäherung an Türkei neu erwacht (Bsp. Ägypten).
3.3.2. Nachbarstaaten der künftigen Mitgliedsländer
- Russland, Weißrussland, Ukraine, Georgien
- Uralgrenze Europas untauglich für politische Selbstdefinition Europas
3.3.3. Sonder- und Problemfall Türkei
- Beitrittsgesuch bereits 1987, jedoch erst 1999 nach langen (wenngleich ergebnislosen) Diskussionen als potentieller Beitrittskandidat anerkannt.
- Distanz aufgrund der Menschenrechte, kultureller Unterschiede oder geostrategischer Erwägungen?
- Brücke - oder offene Flanke - zu Arabischer Welt, Iran, Kaukasus, Turkvölker am Kaspischen Meer
- Bevölkerungsreicher Staat mit knapp 60 Mill. Einwohnern und hohem Bevölkerungswachstum
- Langjähriges NATO-Mitglied und strategischer „Außenposten“ der USA
4. Fazit
Die EU-Osterweiterung ist notwendig und unumkehrbar.
- Wesentlich für Stabilität Osteuropas
- Orientierung, Ziel und Definierung für MOES
- Europa wächst an der Herausforderung
- Europa hat die Chance, eine selbstbewusstere, eigenständigere Rolle in der Welt zu spielen.
5. Kontroverse Thesen zur Diskussion
5.1. Europa muss sich selbst definieren.
- Europa muss wissen, was Europa ausmacht und von anderen Regionen unterscheidet.
- Die EU muss die Kontrolle über ihre Erweiterung übernehmen und nur „erwünschte“ Länder „einladen“.
- Europa muss auf der Basis strategischer Interessen seine Außengrenzen festlegen.
5.2. Das Fernziel ist die Gründung eines europäischen Bundesstaates.
- Solange kein Endpunkt gesetzt ist, wird die Integration immer weitergehen.
- Ein Europa der Regionen kann den Nationalstaat als identitätsstiftendes Moment ablösen.
- Früher oder später wird es ein Europa erster und zweiter Klasse geben.
5.3. Europa muss sich als weltpolitische Großmacht etablieren.
- Die Weltordnung benötigt neben der einzig verbliebenen Weltmacht USA einen ebenbürtigen Gegenpart.
- Europa kann auf lange Sicht eine friedenschaffende, verbindende und wertstiftende Rolle in der Welt spielen.
- Schon heute könnte die EU selbstbewusstere außenpolitische Akzente setzen.
6. Literatur
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- Europäisches Parlament (Hrsg.), 2000: „Task Force Enlargement, Statistical Annex“, 9. aktualisierte Version (Oktober 2000), Internet: [http://www.europarl.eu.int/enlargement/briefings/pdf/22a1_en.pdf], Stand: 05.11.2000.
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- Jansen, Thomas, 1999: „Die Erweiterung der Europäischen Union, die Reform der Institutionen und die Verfassungsfrage“ in Peter Wittschorek, Hrsg.:„Agenda 2000: Herausforderungen an die Europäische Union und an Deutschland“, Baden-Baden: Nomos, 1999.
- Jansen, Thomas (Hrsg.), 1999: “Reflections on European Identity”, Arbeitspapier der Gruppe für Prospektive Analysen der Europäischen Kommission, Internet: [http://europa.eu.int/comm/cdp/working-paper/european_identity_en.pdf], Stand: 05.11.2000.
- Mintchev, Emil, 2000: “Europa und die Probleme des Balkans. Ein Jahr Stabilitätspakt für Südosteuropa“ in Internationale Politik, 8/2000, 53-58.
- Pernice, Ingolf, 2000: “Die Notwendigkeit institutioneller Reformen. Aussichten für die Regierungskonferenz“ in Internationale Politik, 8/2000, 11-20.
- Pflüger, Friedbert, 2000: “Visionen genügen nicht. Eine Antwort auf Joschka Fischer“ in Internationale Politik, 8/2000, 21-22.
- Sedelmeier, Ulrich und Helen Wallace: „Eastern Enlargement. Strategy or Second Thoughts?“ in Helen Wallace und William Wallace (Hrsg.), 2000: “Policy making in the European Union”, 4. Auflage, Oxford, 427-460.
- Weidenfeld, Werner, 2000: „Erweiterung ohne Ende? Europa als Stabilitätsraum strukturieren“ in Internationale Politik, 8/2000, 1-10.
- Weidenfeld, Werner und Wolfgang Wessels (Hrsg.), 1997: „Europa von A - Z. Taschenbuch der europäischen Integration”, 6. Aufl., Bonn: Europa Union Verlag, 1997.
- Wessels, Wolfgang, 1996: „Die Europäische Union der Zukunft - immer enger, weiter und... komplexer? Die Fusionsthese.“ In Thomas Jäger und Melanie Piepenschneider, Hrsg.: „Europa 2020 - Szenarien politischer Entwicklung“, Opladen: Leske + Budrich, 1997.
- Citation du texte
- Bernd Oliver Sünderhauf (Auteur), 2000, Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft / Union, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98607