Sind einvernehmliche Beendigungen von (Steuer-)Strafverfahren mit den bewährten Grundsätzen des deutschen Strafprozesses in Einklang zu bringen? Gefährden Verständigungen gar das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat?
Ziel der vorliegenden Bachelorarbeit ist es, diese Fragen zu beantworten und zu prüfen sowie zu bewerten, inwieweit Verständigungen im Steuerstrafverfahren legitim sind.
Öffentliche Hauptverhandlungen garantieren, dass sich jeder Bürger selbst davon ein Bild machen kann, ob die Richter zu einem gerechten Urteil gelangen. Die Möglichkeit der Bevölkerung, die Justiz auf diese Weise zu kontrollieren und ihre Ergebnisse kontrovers zu diskutieren, ist die Basis des Vertrauens in den Rechtsstaat.
Ein gänzlich anderer Eindruck entsteht hingegen, wenn es zu vertraulichen, kooperativen Gesprächen zwischen Ermittlern, Beschuldigten und ggf. auch Richtern kommt. Eine solche Praxis ist gerade in frühen Stadien von Steuerstrafverfahren alles andere als selten.
Vor diesem Hintergrund können sehr ernstliche Zweifel an der Legitimation dieser Praxis aufkommen.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Symbolverzeichnis
1 Einleitung
2 Rechtsstaatliche Grundsätze im Steuerstrafverfahren
2.1 Überblick
2.2 Offizial- und Legalitätsprinzip sowie Anklagegrundsatz
2.3 Ermittlungsgrundsatz und freie richterliche Beweiswürdigung
2.4 Unmittelbarkeit, Mündlichkeit und Öffentlichkeit
2.5 Weitere Maximen
3 Umsetzung durch Steuerfahndung und Justiz
3.1 Hürden rechtlicher Natur
3.2 PraktischeProbleme
4 Mittel derVerständigung im Steuerstrafverfahren
4.1 Überblick Verständigungen und Bedeutung
4.2 Rechtsgrundlagen fürAbsprachen vor Einleitung eines Gerichtsverfahrens
4.3 Rechtsgrundlagen fürAbsprachen in der Hauptverhandlung (§ 257c StPO)
4.3.1 Charakter und Voraussetzungen
4.3.2 Gegenstand derVerständigung
4.3.3 Wirkung, Verfahren und Rechtsfolgen
4.4 Abgrenzung zur tatsächlichen Verständigung im Besteuerungsverfahren
5 Verständigung im Spannungsfeld rechtsstaatliche Grundsätze vs Verfahrensökonomie
5.1 Kollisionen und Verletzungen rechtsstaatlicher Grundsätze
5.2 Mögliche Rechtsfertigungsgründe
5.3 AbschließendeBeurteilung
5.4 Reformvorschläge
6 Zusammenfassung
Anhang
Literaturverzeichnis
Rechtsprechungsverzeichnis
Verzeichnis derVerwaltungsanweisungen
Rechtsquellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Erledigung von Steuerstrafverfahren
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Symbolverzeichnis
§ Paragraph
% Prozent
1 Einleitung
Tief verwurzelt im System eines rechtsstaatlichen Strafprozesses, ob in Deutschland oder in anderen demokratischen Ländern, ist das Konzept einer Hauptverhandlung, in der ein offener und mündlicher Austausch über den Tatvorwurf sowie über Beweise stattfindet, die für oder gegen die Schuld des mutmaßlichen Täters sprechen. Da die Verhandlung vor den Augen der Öffentlichkeit stattfindet, kann jeder sich selbst davon ein Bild machen, ob die Richter zu einem gerechten Urteil gelangen. Die Möglichkeit der Bevölkerung, die Justiz auf diese Weise zu kontrollieren und ihre Ergebnisse kontrovers zu diskutieren, ist die Basis des Vertrauens in den Rechtsstaat.
Ein gänzlich anderer Eindruck entsteht hingegen, wenn es zu vertraulichen, kooperativen Gesprächen zwischen Ermittlern, Beschuldigten und ggf. auch Richtern kommt. Eine solche Praxis ist gerade in frühen Stadien von Steuerstrafverfahren alles andere als selten. Derartige Verständigungen lösen aber möglicherweise die Vorstellung von geheimen Hinterzimmerdeals aus, die nichts mehr mit einer transparenten Justiz zu tun haben. Somit erscheint der Charakter einer solchen Absprache gerade konträr zu dem einer öffentlichen Hauptverhandlung, sodass sehr ernstliche Zweifel an der Legitimation dieser Praxis aufkommen können. Unter anderem stellen sich Fragen wie: Sind einvernehmliche Beendigungen von (Steuer-)Strafver- fahren mit den bewährten Grundsätzen des deutschen Strafprozesses in Einklang zu bringen? Gefährden Verständigungen gar das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat?
Ziel dieser Bachelorarbeit ist es daher, diese Fragen zu beantworten und zu prüfen sowie zu bewerten, inwieweit Verständigungen im Steuerstrafverfahren legitim sind. Dazu werden im Folgenden zunächst bedeutende strafverfahrensrechtliche Prinzipien ausführlich erläutert, die sich aus dem Grundgesetz, der Strafprozessordnung oder auch aus supranationalem Recht ergeben. Um Absprachen im Strafprozess einordnen zu können, wird außerdem auf Probleme eingegangen, die in der Praxis bei der Umsetzung der erörterten rechtstheoretischen Grundsätze aufkommen. Schließlich erfolgt eine Darstellung und Aufarbeitung der aktuellen Rechtslage zu Erörterungen und Verständigungen. Diese Basis ermöglicht es dann, Kollisionen, aber auch Einklänge zwischen Absprachen und Strafprozessmaximen aufzuzeigen und zu analysieren. Schließlich erfolgt abschließend eine Gesamtbewertung der Legitimität der derzeitigen Praxis der einvernehmlichen Beendigung von Steuerstrafverfahren und es wird ein Reformvorschlag erarbeitet, wie der Status quo möglicherweise verbessert werden kann.
2 Rechtsstaatliche Grundsätze im Steuerstrafverfahren
2.1 Überblick
Maßstab dafür, ob eine Verständigung im Rechtsstaat als legitim im Sinne der Themenstellung dieser Arbeit anzusehen ist oder nicht, ist die eingangs aufgeworfene Frage, ob sie geeignet ist, das Vertrauen in ihn zu unterminieren. Was als gerecht und auch was als rechtsstaatlich empfunden wird, ist dabei gewiss oft subjektiv und unterliegt einem ständigen Diskurs in der Gesellschaft. Nichtsdestotrotz kann generell festgehalten werden, dass sich die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland einschließlich des Rechtsstaatsprinzips in Art. 20 Abs. 3 GG als besonders stabiles und menschenwürdiges Staatsfundament bewährt hat, das ein hohes Vertrauen in der Bevölkerung genießt.1 Daher kann bei allen nachfolgenden Ausführungen dieser Bachelorarbeit von der Prämisse ausgegangen werden, dass ein Vorgang wie eine Verständigung das Vertrauen in die Justiz umso mehr beschädigt und folglich umso illegitimer ist, je stärker er die verfassungsmäßigen Prinzipien rechtsstaatlicher Strafverfahren verletzt.
Diesen Maximen ist das übergeordnete Ziel gemein, dem Strafurteil eine hieb- und stichfeste Legitimation verleihen zu wollen, schließlich stellen Strafmaßnahmen, insbesondere bei Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, einen tiefgreifenden Eingriff in die Grundrechte des betroffenen Bürgers dar.2 Entsprechend ist es wiederum der Zweck des Strafprozesses, zum einen festzustellen, ob eine Straftat begangen wurde und zum anderen eine gerechte Entscheidung hinsichtlich des entstandenen staatlichen Strafanspruchs zu treffen.3 Eine gesicherte Feststellung darüber, ob ein solcher staatlicher Strafanspruch besteht, bedingt zwangsläufig eine größtmögliche Erforschung der Wahrheit.4 Die Ermittlung des Sachverhalts, so wie er tatsächlich geschehen ist, ist daher der unbestrittene Leitgedanke jedes Strafprozesses, dem sich andere Prinzipien im Zweifel unterordnen müssen.5
Das hehre Ziel der Wahrheitsfindung stößt jedoch schnell an seine Grenzen, sobald unverhältnismäßig in die Rechte Dritter oder des Beschuldigten eingegriffen werden müsste.6 In letzterem Fall ist die Verhältnismäßigkeit insbesondere auch in dem Kontext zu sehen, dass sich im Laufe des Verfahrens seine Unschuld heraussteilen könnte.7 Folglich wird im Einzelfall eine Abwägung zwischen dem Interesse des Staates und der Öffentlichkeit an der Feststellung und Durchsetzung möglicher Strafansprüche einerseits und der Wahrung der Bürgerrechte der Beteiligten andererseits erforderlich.
Die nachfolgend dargestellten Einzelgrundsätze dienen hauptsächlich dazu, dass der Strafprozess in diesem Spannungsfeld einem möglichst ausgewogenen Mittelweg folgt. Umgekehrt führt ihre Verletzung wohl in aller Regel dazu, dass es in die eine oder andere Richtung zu einem einseitigen und damit unter Umständen als ungerecht empfundenen Urteil kommt.
2.2 Offizial- und Legalitätsprinzip sowie Anklagegrundsatz
Zunächst ist von Bedeutung, wer überhaupt zur Einleitung eines Strafverfahrens befugt bzw. für seine Durchführung zuständig ist. Als Initiatoren kämen neben dem Staat etwa die Opfer einer Straftat in Betracht, auch wenn beide Parteien im Falle von Steuerstraftaten freilich identisch sind. Im deutschen Strafprozess besagt das sog. Offizialprinzip, dass das Recht zur Strafverfolgung, mit wenigen hier nicht relevanten Ausnahmen, alleine bei staatlichen Akteuren liegt.8 Hierbei handelt es sich i.d.R. nach §152 Abs. 1 StPO um die Staatsanwaltschaft bzw. bei Steuerstraftaten gern. § 386 AOje nach Verfahrensstadium auch um die Finanzbehörde.
Das Offizialprinzip wird durch das Legalitätsprinzip in § 152 Abs. 2 StPO ergänzt, sodass das staatliche Strafverfolgungsmonopol gleichermaßen Recht und Pflicht darstellt: Liegt der Anfangsverdacht vor, dass eine Straftat begangen wurde, dürfen die Strafverfolgungsorgane nicht nur entsprechende Ermittlungen einleiten, sondern müssen es im Übrigen auch.9 Diemer gesteht diesem Grundsatz gar Verfassungsrang zu, sodass entsprechend nur wenige Ausnahmen zulässig seien.10 Das BVerfG hingegen verneint grundsätzlich einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Strafverfolgung. Dennoch spricht für die Bedeutung des Legalitätsprinzips, dass die Literatur, z.B. Hamm, Beeinträchtigungen seiner Ausübung aus rein fiskalischen bzw. verwaltungsökonomischen Gründen klar für rechtswidrig hält.11 Eine Auffassung, die an dieser Stelle hervorzuheben ist, schließlich könnte sie im Rahmen einer späteren Beurteilung von Verständigungen noch eine wichtige Rolle spielen.
Einschränkungen erfährt die Legalitätsmaxime dennoch durch eine Reihe von gesetzlichen Einzelvorschriften, die unter dem Begriff Opportunitätsprinzip zusammengefasst werden. So darf etwa ein Verfahren, sofern es sich bei der betroffenen Straftat nur um ein Vergehen und kein Verbrechen handelt, nach § 153 StPO mit Zustimmung des Gerichts eingestellt werden, wenn die Schuld des Täters gering ist und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. Bei Steuerstraftaten gilt gern. § 398 AO eine ähnliche Regelung, wobei die Finanzbehörde dazu nicht einmal die Genehmigung eines Richters benötigt.12 In Anlehnung an Beulkes Fallbeispiel13 ist im Rahmen einer dieser Vorschriften etwa die Einstellung eines Steuerstrafverfahrens gegen einen Rentner vorstellbar, der sich seine zu geringe Rente durch entgeltliche Gartenarbeiten bei den Nachbarn aufgebessert hat, ohne die Einkünfte entsprechend zu deklarieren. Sind die Voraussetzungen für § 153 StPO oder § 398 AO nicht erfüllt, kann es eine Option sein, im Rahmen des § 153a StPO unter Auflagen von der weiteren Verfolgung abzusehen. Die Verfahrenseinstellung ist dann etwa daran gebunden, dass Geldzahlungen zugunsten der Staatskasse oder einer gemeinnützigen Einrichtung geleistet werden.
Liegt ein hinreichender verdacht und keine Möglichkeit zur Einstellung des Verfahrens oder zur Beantragung eines Strafbefehls vor, wird die Staatsanwaltschaft Klage erheben. Die Klageerhebung ist gemäß dem Anklagegrundsatz nach §151 StPO notwendige Voraussetzung dafür, dass eine gerichtliche Untersuchung ausgelöst werden kann. Ab dem Zeitpunkt der Klageerhebung bzw. dem Antrag auf Strafbefehl tritt in Form der Gerichte ein zweiter staatlicher Akteur in das Strafverfahren ein, der die Strafsache völlig unabhängig von der Staatsanwaltschaft bearbeitet. Im Ergebnis ist diese Trennung zwischen dem Organ, das Anklage erhebt und dem Organ, das das Urteil fällt, Ausprägung des Prinzips der staatlichen Gewaltenteilung, hier der Trennung von Exekutive in Form der Strafverfolgungsbehörden und Judikative in Form der Gerichtsbarkeit.14
2.3 Ermittlungsgrundsatz und freie richterliche Beweiswürdigung
Als Ausfluss der Gewaltenteilung kann auch die Spaltung der Normierung des Er- mittlungs- oder Untersuchungsgrundsatzes in die §§ 160 Abs. 2 und 244 Abs. 2 StPO aufgefasst werden. Darin ist es, unabhängig voneinander, sowohl den Strafverfolgungsbehörden als auch den Gerichten auferlegt, den Sachverhalt in vollem Umfang aufzuklären. Hier manifestiert sich das in Kapitel 2.1 erläuterte Ziel des Strafprozesses, eine größtmögliche Erforschung der Wahrheit zu gewährleisten, um zu einem gerechten Urteil zu gelangen.15 Die große Bedeutung dieser Intention strahlt damit auch auf den Ermittlungsgrundsatz ab und verleiht ihm eine zentrale Rolle im Verfahren.
In einem ersten Schritt nach Einleitung des Strafverfahrens werden die Staatsanwaltschaft bzw. die Steuerfahndung als Ermittlungsorgan der Finanzbehörde im Rahmen der pflichtgemäßen Anwendung des § 160 Abs. 2 StPO sowohl be- als auch entlastende Umstände erforschen. Sie sind zur Objektivität verpflichtet und haben unvoreingenommen in alle Richtungen zu ermitteln.16 Praktische Bedeutung kommt dem etwa zu, wenn im Falle einer Steuerstraftat eine Selbstanzeige abgegeben wurde. Auch wenn in diesem Rahmen den Behörden regelmäßig wohl eine vollumfängliche Offenlegung der hinterzogenen Steuern bereits zugänglich gemacht wird, muss die Finanzbehörde aufgrund des Ermittlungsgrundsatzes stets ein Strafverfahren einleiten, um die Angaben auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen und darf den Ausführungen des geständigen Steuerstraftäters nicht blind vertrauen.17
Unabhängig von dem vorangehend Erläuterten hat im nächsten Schritt das Gericht, sofern es nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft unter Berücksichtigung der entlastenden Umstände überhaupt noch zur Klagerhebung kommt, gern. § 244 Abs. 2 StPO von Amts wegen sämtliche bedeutsame Tatsachen, also nicht etwa nur die von den Parteien vorgebrachten, der Beweisaufnahme zu unterwerfen und zu würdigen. Analog gilt auch in diesem Stadium, dass Geständnisse in jedem Fall substantiiert zu überprüfen sind und nicht ungeprüft als glaubhaft und Protokoll des tatsächlichen Geschehens verstanden werden dürfen.18
Der vollständig ermittelte Sachverhalt unterliegt dann gern. § 261 StPO der sog. freien richterlichen Beweiswürdigung. Das bedeutet, dass der zuständige Richter das Urteil nach seiner Überzeugung fällt, die er sich auf Basis der Verhandlung gebildet hat. Einschränkungen seiner Entscheidungsfreiheit sind auf sehr wenige Ausnahmen begrenzt, etwa Verwertungsverbote und den Nemo-tenetur-Grundsatz. Darüber hinausgehend gibt es aber keine starren Vorschriften, was ein Richter wann für erwiesen zu erachten hat.19 Die finale Entscheidung im Strafprozess ist also an eine subjektive Komponente, genauer gesagt an die subjektive Überzeugung des zuständigen Gerichts, geknüpft. Der BGH fordert „ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit“20, damit eine Sachverhaltsdarstellung Grundlage des Urteils sein kann. Es ist also für eine Verurteilung keine Voraussetzung, dass jedweder vorstellbarer abweichender Ablauf des Geschehens durch objektiv überprüfbare Beweismittel sicher ausgeschlossen werden kann.21
Konkret im Steuerstrafverfahren führt die dieser Argumentation zugrundeliegende Logik dazu, dass es grundsätzlich auch zulässig ist, die Höhe der hinterzogenen Steuern zu schätzen, sofern es nur an einer genauen Angabe des Hinterziehungsbetrags mangelt, jedoch erwiesen wurde, dass der Angeklagte sich nach § 369 ff. AO schuldig gemacht hat. Der große Spielraum der Richter ist aber sowohl in diesem Kontext als auch generell nicht mit einer Art Freiheit zur Willkür zu verwechseln, sodass Schätzungen im Steuerstrafverfahren hohe Hürden passieren müssen.22
All dies lässt erahnen, dass die (Haupt-)Verhandlung nicht nur eine große, sondern sogar die zentrale Rolle im Strafprozess spielt. Es rückt daher auch die Frage in den Mittelpunkt, unter welchen Umständen sie stattfindet. Dieser Thematik widmet sich das folgende Kapitel.
2.4 Unmittelbarkeit, Mündlichkeit und Öffentlichkeit
Die Verhandlung vor Gericht wird von drei Leitlinien geprägt: der Unmittelbarkeit, der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit. Alle drei Grundsätze beabsichtigen eine transparente Durchführung des Strafverfahrens und versuchen, es so gut wie möglich der Kontrolle durch die Bevölkerung zu unterwerfen. Es handelt sich also um weit mehr als triviale verfahrensrechtliche Vorschriften, wie genau ein Prozess stattzufinden hat. Vielmehr geht es darum, zu vermeiden, dass durch das Entstehen einer Art „Geheimjustiz“23 das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat konterkariert wird.24
Daher sind strafgerichtliche Verhandlungen grundsätzlich öffentlich durchzuführen. Dies ergibt sich bereits aus dem Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG,25 ist aber auch in§169 GVG noch einmal explizit positivrechtlich normiert. In der Praxis wird das Öffentlichkeitsprinzip dadurch verwirklicht, dass „grundsätzlich jedermann (...) jederzeit das Recht (hat), eine öffentliche Gerichtsverhandlung zu betreten (und) dieser passiv beizuwohnen“26. Es besteht jedoch explizit nicht die Möglichkeit, Ton- und Filmaufnahmen zur Veröffentlichung anzufertigen.27 Insoweit verursacht der Öffentlichkeitsgrundsatz ohnehin bereits ein Spannungsverhältnis zu dem Recht der Verfahrensbeteiligten auf Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte, das durch das Verbot der Herstellung von allgemein zugänglichen Aufnahmen entschärft werden soll. Insbesondere ist es ferner auch nicht verfassungswidrig, den Zugang der Öffentlichkeit im Sinne der Wahrheitsfindung zumindest nicht uneingeschränkt zuzulassen.28 Hierin manifestiert sich die zu Beginn dieses Themenkomplexes aufgestellte These, wonach sich einzelne Prozessmaxime im Zweifelsfall dem Ziel der Erforschung des Geschehens unterzuordnen haben.
Der Öffentlichkeitsgrundsatz, der kein Recht auf Einsicht relevanter Urkunden begründet,29 würde jedoch ins Leere laufen, wenn es gar keinen mündlichen Austausch gäbe, dem die Bevölkerung beiwohnen könnte. Demnach bedingt er das nicht explizit gesetzlich geregelte Mündlichkeitsprinzip als logische Folge.30 Ganz wesentlich beeinflusst dieser Grundsatz, wonach der Austausch in der Hauptverhandlung mündlich erfolgen muss und nicht etwa schriftlich erfolgen darf, die Beweisaufnahme von Urkunden. Bezüglicher derer sieht § 249 StPO nämlich vor, dass sie in der Hauptverhandlung laut zu verlesen sind. Sind für die Aufklärung des Sachverhalts relevante Teile einer Urkunde nicht verlesen worden, kann dies zu einer Aufhebung des Urteils im Revisionsverfahren führen.31
Auch der Grundsatz der Unmittelbarkeit lässt sich zumindest partiell als Ergänzung der Maßnahmen zur Erhöhung der Transparenz interpretieren. Dem Wortlaut des Begriffs Unmittelbarkeit folgend besagt dieses Prinzip, dass sich das Gericht in der Hauptverhandlung, und damit transparent vor den Augen der Öffentlichkeit, einen möglichst unmittelbaren Eindruck vom Tatgeschehen verschaffen soll, indem es das „tatnächste Beweismittel verwendet“32. In der StPO ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz vor allem in § 250 StPO umgesetzt, wonach Zeugen in der Hauptverhandlung persönlich zu vernehmen sind und somit nicht nur das Protokoll einer früheren Vernehmung verlesen werden darf. Es wird dabei auch unterstellt, dass die Möglichkeit des Gerichts, sich einen persönlichen Eindruck von den Zeugen zu machen, die Qualität der Beweiserhebung erheblich erhöht.33 Dem ist insbesondere im Kontext der freien (auch subjektiven) richterlichen Beweiswürdigung zuzustimmen. Insoweit ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz klar auch Ausfluss des Ziels der Wahrheitsfindung bzw. Sachverhaltsaufklärung. Angemerkt sei an dieser Stelle der Vollständigkeit halber noch, dass die Maxime gerade vor diesem Hintergrund nicht zu restriktiv auszulegen ist. So verstößt es beispielsweise nicht gegen die Unmittelbarkeit, wenn Schöffenrichtern ergänzend auch Protokolle der Vernehmung zur Verfügung gestellt werden, sodass sie den Sachverhalt besser verstehen.34
2.5 Weitere Maximen
Bei der bisherigen Darstellung wurden drei Maximen im Strafprozess vernachlässigt, die jedoch das Verfahren in nicht weniger großem Ausmaß prägen, sodass sie im Folgenden noch hinreichend Beachtung finden. Diese Prinzipien dienen primär dazu, den Beschuldigten bzw. Angeklagten zu schützen und so dem Strafprozess, mitsamt seinen tiefgreifenden Eingriffen in die Grundrechte des Betroffenen, insgesamt eine größere rechtsstaatliche Legitimation zu verleihen.
Ein anhängiges Strafverfahren stellt für den Beschuldigten regelmäßig eine große psychische Belastung dar. In einer ganz besonderen Dimension gilt dies für jemanden, der die Zeit der Verfahrensdauer in Untersuchungshaft verbringen muss. Gerade in diesem Fall treten oftmals auch massive materielle Nachteile ein, etwa wenn der Betroffene in Folge der Inhaftierung seinen Arbeitsplatz verliert. Eine Kompensation im Falle eines Freispruchs erfolgt jedoch nur bedingt.35 Daher erfordert das Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG, dass ein Strafverfahren möglichst zügig durchzuführen ist, sodass der Beschuldigte Klarheit und Rechtssicherheit erhält.36 Die Problematik hat auch Beachtung in der Europäischen Menschenrechtskonvention gefunden: Gern. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ist „innerhalb einer angemessenen Frist“37 in Strafsachen zu verhandeln. Bei einer sachverhaltsbezogenen Einzelauslegung dieses Zeitrahmens sind u.a. die Schwere des Tatvorwurfs und die Komplexität des Verhandlungsgegenstandes in die Würdigung einzubeziehen.38 Bemerkenswert ist, dass das BVerfG das Beschleunigungsgebot bereits aus ganz anderen Motiven als dem Schutz des Beschuldigten abgeleitet hat. So stellen die Richter im Beschluss 2 BvR 2044/07 darauf ab, dass die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in möglichst kurzer Zeit notwendig sei, damit die Öffentlichkeit die Strafe noch als Ahndung des getätigten Unrechts wahrnimmt. Ferner steige im Laufe der Zeit die Gefahr von Beweisverfälschungen und damit auch das Risiko einer Torpedierung der Wahrheitsermittlung.39 Auch wenn die unterschiedlichen Begründungen für das Beschleunigungsgebot im Ergebnis die selben Rechtsfolgen haben mögen, nämlich dass das Strafverfahren möglichst zügig zu beenden ist, ist die Thematik dennoch gegebenenfalls im Rahmen einer späteren Bewertung dieses Prinzips in Relation zu Verständigungen relevant und wurde daher an dieser Stelle etwas ausführlicher erörtert.
Ein landläufig wohl sehr bekannter Grundsatz, der jedoch auch schnell missverstanden werden kann, ist das Prinzip ln-dubio-pro-reo.40 Wie das BVerfG in seinem Beschluss 2 BvR 553/08 noch einmal klargestellt hat, handelt es sich um eine Ent- scheidungs- und nicht um eine Beweisregel.41 Soll heißen: ln-dubio-pro-reo besagt, dass ein Richter einen Angeklagten nicht verurteilen darf, wenn er an seiner Schuld zweifelt. Tut er es doch, liegt eine Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften im Strafprozess vor. Gegebenenfalls kann dies dazu führen, dass eine höhere Instanz das Urteil im Revisionsverfahren aufhebt.42 Bringt das Gerichtjedoch in der Urteilsbegründung zum Ausdruck, dass es einen Geschehensablauf für erwiesen hält und entsprechend gar keine Zweifel hegt, kann, der Systematik des Grundsatzes folgend, keine Verletzung von ln-dubio-pro-reo vorliegen. Die Prozessmaxime entfaltet also keinerlei Regelungsgehalt hinsichtlich der Frage, wann ein Richter etwas für erwiesen zu halten hat. Insoweit wird § 261 StPO hinsichtlich der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht berührt. Zu beachten ist daher, dass sich ln-dubio-pro- reo in der Praxis, genauer gesagt in der Revision, trotz seiner großen Bedeutung als wirkungslos erweisen kann, da erfahrene Richter es in der Regel vermeiden, in ihrer Urteilsbegründung Zweifel an der Sachverhaltsdarstellung erkennen zu lassen.43 Des Weiteren geht mit ln-dubio-pro-reo auch die Unschuldsvermutung einher, d.h. ein Beschuldigter einer Straftat muss bis zum Beweis seiner Schuld, d.h. regelmäßig bis zum Urteil, als unschuldig erachtet werden.44 Daraus ergeben sich nicht nur Konsequenzen für die Behandlung des mutmaßlichen Täters, sondern auch eine klare Verteilung der Beweislast: Die Ankläger müssen die Schuld beweisen und nicht der Beschuldigte seine Unschuld.45
Im Kern schützt ln-dubio-pro-reo den Betroffenen also grundsätzlich davor, im Zweifel zu seinen Ungunsten behandelt bzw. verurteilt zu werden. Doch wäre dieser Schutz überhaupt wirksam, wenn er gleichwohl gezwungen wäre, durch eigene Aussagen Beweise für seine Schuld zu liefern oder mögliche Zweifel aus dem Weg zu räumen? Der moderne Rechtsstaat verneint dies und gesteht dem Beschuldigten eines Strafverfahrens zu, keine Aussage machen zu können, ohne dass dies zu seinen Ungunsten ausgelegt wird: „nemo tenetur se ipsum accusare“46. Ableitbar ist dieser nicht explizit im nationalen Recht geregelte Grundsatz aus einer Vielzahl von Vorschriften: Entweder direkt aus dem Grundgesetz,47 aus den §§ 136, 136a StPO,48 aus der EMRK oder aus Artikel 7 der Richtlinie (EU) 2016/343, wobei einzig letztere das Aussageverweigerungsrecht explizit im Wortlaut regelt. Bedeutsamer als die genaue Herleitung des Nemo-tenetur-Grundsatzes ist im Kontext dieser Bachelorarbeit seine Rechtsfolge. Zunächst ist diesbezüglich festzuhalten, dass kein Beschuldigter einer Straftat gezwungen oder mit unlauteren Mitteln dazu verleitet werden darf, Auskunft zum Sachverhalt zu geben.49 Die Tatsache, dass er von diesem Recht Gebrauch macht, darf im Strafprozess nicht als belastendes Indiz gewertet werden. Diese scheinbar klaren Prinzipien führen in der Praxis jedoch regelmäßig zu Grauzonen und eröffnen zahlreiche Folgefragen. So sind etwa zulässige und häufig aus polizeilicher Sicht auch unabdingbare ermittlungstaktische Winkelzüge von unlauteren Maßnahmen, die den Beschuldigten zur Aussage verleiten, abzugrenzen. Es soll in diesem Zusammenhang z.B. noch legitim sein, wenn der Ermittlungsbeamte einen Verdächtigen bei der Vernehmung auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses hinweist.50 Grundsätzlich ist aber das (vorgetäuschte) in Aussicht stellen von nicht gewährbaren Vorteilen im Falle einer Aussage oder eines Geständnisses unlauter51 und kann, wie die meisten Verletzungen von Nemo- tenetur, dazu führen, dass die getätigte Aussage vor Gericht nicht als Beweismittel verwertet werden darf.52
3 Umsetzung durch Steuerfahndung und Justiz 3.1 Hürden rechtlicher Natur
Zusammengefasst ergibt sich aus den vorherigen Kapiteln eine klare Aufgabe für die exekutiven und judikativen Organe der Justiz im Strafprozess: Kernmaxime ist die Aufklärung der begangenen Straftat, wobei der schwierige Spagat zwischen der Ermittlung der Wahrheit und der Wahrung anderer Prozessprinzipien, insbesondere derer zum Schutz des Verdächtigen, gelingen muss. Der Sachverhaltsermittlung stehen dabei verschiedene einzelrechtliche Hürden und praktische organisatorische oder personelle Probleme im Weg. Solche Probleme bei der Ermittlungs- und Aufklärungsarbeit könnten dazu führen, dass es für die Behörden attraktiv erscheint, im Rahmen einer Verständigung ein Geständnis des Beschuldigten auszuhandeln und auf diesem Wege die aufwendige Nachforschung erheblich abzukürzen oder im besten Fall völlig entbehrlich zu machen. Um das Motiv und den Hintergrund steuerstrafrechtlicher Absprachen zu verstehen, ist daher eine kurze Erörterung der Rahmenbedingungen der Ermittlung der materiellen Wahrheit unerlässlich, sodass diese Thematik in den folgenden Kapiteln näher untersucht wird. Diesbezüglich ist zwischen rechtlichen und praktischen Hürden zu unterscheiden, wobei bei der Untersuchung der gesetzlichen Einschränkungen wiederum zwischen zwei Verfahrensstadien zu differenzieren ist.
Im ersten Stadium liegt kein Anfangsverdacht vor, d.h. es mangelt (noch) an konkreten Anhaltspunkten für eine Steuerstraftat,53 sodass sog. Vorfeldermittlungen durchgeführt werden. Rechtsgrundlage dafür ist § 208 Abs. 1 Nr. 3 AO, wonach die Steuerfahndung auch die Aufgabe hat, bisher noch nicht aufgedeckte Steuerfälle zu ermitteln.54 Bereits geringfügige Anzeichen einer Steuerverkürzung reichen dafür aus. Solange die Ermittlungsgründe nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, sollten sie zulässig sein.55 Dabei kann die Aufdeckung von verwirklichten, aber nicht gemeldeten Steuertatbeständen zur Einleitung eines Strafverfahrens führen, bedingt es aber nicht zwangsläufig, schließlich qualifiziert bei Weitem nichtjede Steuerverkürzung als Steuerhinterziehung. Rechte und Pflichten der Behörde richten sich insoweit in diesem Verfahrensstadium rein nach den allgemeinen Vorschriften für das Besteuerungsverfahren.56 Im Besteuerungsverfahren stehen grundsätzlich weitreichende Befugnisse zur Sachverhaltsaufklärung zur Verfügung. Besonders wirksam dürfte die Möglichkeit sein, gern. § 93 Abs. 1 AO auch bei Dritten Auskünfte einzuholen oder sogar zu erzwingen. Jedoch sieht die Abgabenordnung in diesem Rahmen zahlreiche Ausnahmen vor, die die Ermittlungen der Steuerfahndung erschweren. Insbesondere sind dabei die Auskunftsverweigerungsrechte der §§ 101 ff. AO hervorzuheben. So ist gern. § 101 AO mit den Angehörigen eine Gruppe, die naturgemäß mit hoher Wahrscheinlichkeit Auskünfte zu den relevanten Fragestellungen in Bezug auf die Verwirklichung von Besteuerungstatbeständen geben könnte, gänzlich davon befreit, mit den Finanzbehörden kooperieren zu müssen.57 Auch bei bestimmten Berufsgruppen, etwa bei Rechtsanwälten und Steuerberatern, sowie unter gewissen Umständen auch bei Journalisten, stellt die Abgabenordnung in §102 AO den Schutz der jeweiligen Berufsgeheimnisse über das Interesse des Staates, Steuerquellen aufzudecken.58 Im Übrigen sind Dritte auch immer dann davon befreit, Auskünfte geben zu müssen, wenn sie sich oder Angehörige der Gefahr aussetzen würden, wegen einer Straftat verfolgt zu werden. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob es sich um die Straftat handelt, wegen derer die Steuerfahndung Vorfeldermittlungen tätigt, oder um einen gänzlich anderen Sachverhalt.59 Das Auskunftsverweigerungsrecht des § 103 AO ist letztlich eine mittels Einzelgesetz normierte notwendige Folge des in Kapitel 2.5 erörterten Nemo-tenetur-Prinzips.
Über diese konkreten gesetzlichen Einschränkungen hinaus ist außerdem bei allen Ermittlungen stets das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu wahren.60 Etwa kann ein Auskunftsersuchen der Steuerfahndung unverhältnismäßig und damit unzulässig sein, wenn zu erwarten ist, dass die Einleitung eines Strafverfahrens nicht mehr in Betracht kommt.61
All diese Hürden können die Ermittlungen im Sande verlaufen lassen und ein Steuerstrafverfahren schon von vorneherein verhindern, auch wenn eine Steuerhinterziehung begangen wurde. Gelingt es hingegen doch, genügend Beweise zu sam- mein, die eine weitere Untersuchung rechtfertigen, wird und muss die Finanzbehörde ab dem Zeitpunkt, ab dem sie einen Anfangsverdacht geschöpft hat, offiziell ein Strafverfahren einleiten. Dann erfolgt die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen durch die Steuerfahndung nicht mehr nach den allgemeinen Vorschriften für Besteuerungsverfahren, sondern ausschließlich nach strafrechtlichem Regelwerk.62
Die Stellung der Steuerfahndung im Steuerstrafverfahren ist in § 404 AO der Rolle der Polizei bei anderen Straftaten insoweit gleichgestellt, als dass ihr gleiche Rechte und Pflichten zu Teil werden. Zusätzlich hat sie die gleichen Möglichkeiten, welche Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft eröffnet sind.63 Je nachdem, ob die Finanzbehörde im Rahmen des § 386 AO das Verfahren selbstständig führt oder nicht, nimmt ihre Strafsachen- und Bußgeldstelle die Stellung der Staatsanwaltschaft (§ 399 AO) oder der Polizeibehörden (§ 402 AO) ein. De facto gelten also bei der Ermittlungsarbeit im Großen und Ganzen die allgemeinen Regelungen der StPO, sodass im Folgenden zu prüfen ist, welche Probleme in diesem Zusammenhang nicht nur die Aufklärung des wahren Geschehens erschweren können, sondern auch die Möglichkeit, die Straftat vor Gericht zu beweisen.
Steuerhinterziehungen dürften, zumindest bei intensiver Untersuchung, regelmäßig in irgendeiner Form dokumentiert sein und Spuren etwa durch Kontoauszüge, unvermeidbaren Schriftverkehr zwischen den Beteiligten o.ä. hinterlassen. Daher ist die Möglichkeit zur Durchsuchung ein wichtiges Mittel der Ermittlungsbehörden, um den vollen Umfang von Steuerstraftaten erkennen und belegen zu können. Auch die Beschlagnahme ist als unverzichtbares Instrument, um einen Beweisverlust zu verhindern, nicht wegzudenken.64 Da diese Maßnahmen aber gleichzeitig wesentlich in die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere in Art. 13 GG bzgl. der Unverletzlichkeit der Wohnung, eingreifen, sind strenge Anforderungen an ihre Zulässigkeit gestellt. So ist es grundsätzlich, Gefahr im Verzug ausgenommen, gern. §105 Abs. 1 StPO nur mit richterlicher Zustimmung möglich, Wohnungen oder Geschäftsräume zu durchsuchen. Auch die Beschlagnahme bedarfder Genehmigung durch einen Richter.65 Das Gericht darf aber auch nur dann grünes Licht geben, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Die Begründung eines Durchsuchungsbeschlusses muss nämlich im absoluten Minimum die Art der hinterzogenen Steuern, den Tatzeitraum und konkrete Tatsachen benennen, auf die sich der Verdacht der Ermittlungsbehörden stützt.66 Das bedeutet, dass aus anderen Beweisquellen schon vor einer Durchsuchung in einem gewissen Maße Beweise für den Tatvorwurf gesammelt werden müssen, um diese Möglichkeit überhaupt zu eröffnen.67 Es leuchtet ein, dass dies dazu führen kann, dass eine Steuerstraftat, auch wenn sie mithilfe der Durchsuchungsergebnisse unter Umständen hätte bewiesen werden können, möglicherweise niemals aufgedeckt wird, wenn nicht vorab genügend andere Beweise gefunden werden, um einen solch schweren Verstoß gegen Art. 13 GG zu rechtfertigen. Ferner sind einige Gegenstände auch von vorneherein gar nicht legal in Beschlag zu nehmen, da sie besonderen Schutz genießen. Beispielhaft trifft dies etwa auf das Tagebuch des Betroffenen als Teil seiner Intimsphäre zu sowie auf Unterlagen, die er zwecks Vorbereitung auf seine Verteidigung angefertigt hat.68 Auch hierbei können für die Steuerfahndung möglicherweise wertvolle Beweismittel verloren gehen.
Des Weiteren gebietet es § 163a StPO, dass dem Beschuldigten die Gelegenheit zu geben ist, sich zum Tatvorwurf zu äußern. Seine Aussagen in der Vernehmung oder bei einfachen Delikten auch seine schriftliche Äußerung können grundsätzlich durchaus hilfreich bei der Sachverhaltsaufklärung sein. Die Hürde besteht jedoch darin, dass der mutmaßliche Täter ein Recht auf Anwesenheit seines Verteidigers hat. Wird der Verteidiger nicht über den Vernehmungstermin informiert, ist es vertretbar, ein Verwertungsverbot anzunehmen.69 In der Praxis wird es daher oft dazu kommen, dass der anwesende Rechtsanwalt oder Steuerberater70 darauf achtet, dass der Beschuldigte keine Aussagen macht, die ihn belasten, sondern sich hilfsweise auf Nemo-tenetur beruft. Zumindest bei einem erfahrenen Verteidiger werden die Ermittler daher oftmals allenfalls bedingt belastende Erkenntnisse aus der Vernehmung des mutmaßlichen Steuerhinterziehers gewinnen.
[...]
1 Vgl. IfD Allensbach (2014), Umfrage 11027, Schaubild 3.
2 Vgl. Murmann (2019), S.17, Rn. 1.
3 Vgl. Beulke (2016), S.3, Rn. 3.
4 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 03.06.1992, 2 BvR 1041/88, 78/89, BVerfGE 86, S. 288, Rn. 98; vgl. Trüg/Habetha (2016), § 244 StPO, Rn. 47.
5 Beispiel vgl. Kapitel 2.4.
6 Vgl. BGH-Beschluss vom 04.06.2014, 2 StR 656/13, wistra 2014, S. 491, Nr.12, Grund II 3a).
7 Vgl. Beulke (2016), S. 4, Rn. 5.
8 Vgl. Beukelmann (2019), § 152 StPO, Rn. 1.
9 Vgl. Gertler (2020), RiStBVNr. 1, Rn. 10.
10 Vgl. Diemer (2019), § 152 StPO, Rn. 3.
11 Vgl. Hamm (1996), S. 236.
12 Vgl. Jäger (2018), § 398 AO, Rn. 4.
13 Vgl. Beulke (2016), S. 230, Fall 41.
14 Vgl. Peters (2016), § 151 StPO, Rn. 1.
15 Vgl. Krehl (2019), § 244 StPO, Rn. 28.
16 Vgl. Griesbaum (2019), § 160 StPO, Rn. 22.
17 Vgl. Eisenberg (2017), Rn. 49. Iö Vgl. BGH-Beschluss vom 05.11.2013, 2 StR 265/13, NStZ 2014, S. 170, Leitsatz;
18 vgl. BGH- Beschluss vom 04.06.2014, 2 StR 656/13, wistra 2014, S. 491 Nr. 12.
19 Abschnitt vgl. Beulke (2016), S. 27, Rn. 22.
20 BGH-Urteil vom 02.08.1995, 2 StR 221/94, BGHSt 41, S. 206, Grund III 2.
21 Vgl. Eschelbach (2019), § 261 StPO, Rn. 43; vgl. auch Einschränkungen in Kap. 2.5.
22 Vgl. Schelling (2015).
23 " BVerfG-Urteil vom 24.01.2001, 1 BvR 2623/95, BVerfGE 103, S. 44, Rn.70.
24 Vgl. Fromm (2015), Abschnitt II.
25 Vgl. Jarass/Pieroth (2014), Art. 20 Abs. 3 GG, Rn. 100.
26 Kulhanek (2018), § 169 GVG, Rn.11.
27 Vgl. §169 Abs. 1 Satz 2 GVG.
28 Vgl. BVerfG-Urteil vom 24.01.2001,1 BvR 2623/95, BVerfGE 103, S. 44, Rn. 72.
29 Vgl. Kulhanek (2018), § 169 GVG, Rn.15.
30 Vgl. Kulhanek (2018), § 169 GVG, Rn. 3.
31 Vgl. Ganter (2019), § 249 StPO, Rn. 22, 30.
32 Beulke (2016), S. 28, Rn. 24.
33 Vgl. Kreicker (2016), § 250 StPO, Rn. 2.
34 Vgl. BGH-Urteil vom 26.03.1997, 3 StR 421/96, wistra 1997, S. 310.
35 ln Anlehnung an Volkmer (2008).
36 Vgl. Beulke (2016), S. 29, Rn. 26.
37 Art.6Abs. 1 Satz 1 EMRK.
38 Vgl. Jarass/Pieroth (2014), Art. 20Abs. 3 GG, Rn. 103.
39 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 15.01.2009, 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, S. 248, Rn. 73.
40 Vgl. Huber (2015), Abschnitt I.
41 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 26.08.2008, 2 BvR 553/08, BeckRS 2008, 42275, Rn. 15.
42 Vgl. z.B. BGH-Beschluss vom 24.01.2006, 4 StR 416/05, BeckRS 2006, 3156.
43 Vgl. Eschelbach (2019), § 261 StPO, Rn. 47.1.
44 Vgl. Art. 6 Abs. 2 EMRK.
45 In Anlehnung an Schwabenbauer (2014), S. 495.
46 BVerfG-Beschluss vom 13.01.1981, 1 BvR 116/77, NJW 1981, S. 1431.
47 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 13.01.1981, 1 BvR116/77, NJW 1981, S. 1431.
48 Vgl. Roxin (1995).
49 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 06.09.2016, 2 BvR 890/16, NJOZ 2016, S.1879, Rn.35.
50 Vgl. Diemer (2019), § 136 StPO, Rn.19.
51 Vgl. Schuhr (2014), § 136a StPO, Rn. 64; vgl. auch Verbot der Täuschung, BGH-Beschluss vom 20.12.1995, 5 StR 680/94, NStZ 1996, S. 200, Grund Nr. 5 a).
52 Vgl. Schuhr (2014), § 136a StPO, Rn. 89.
53 “ Vgl. Möllenhoff (2020), Kapitel 4.2.1.
54 Vgl. Lippross (2013), § 208 AO, Rn.13.
55 Vgl. Durm (2019), Steuerfahndung, Abschnitt 3.
56 30 Vgl. Nr. 2a) in AEAO zu § 208; gl. A.: Maurer(2016), Rn. 3111.
57 Vgl. Wünsch (2014), § 101 AO, Rn. 1.
58 Vgl. Kobor (2020), § 102AO,Rn.1.
59 Vgl. Kobor (2020), § 103 AO, Rn, 6.
60 Vgl. BFH-Urteil vom 19.02.2009, II R 61/07, BFH/NV 2009, S. 1586, Grund Nr. 2 a) aa).
61 Vgl. BFH-Urteil vom 04.12.2012, VIII R 5/10, BStBl. II 2014, S. 220, 2. Leitsatz.
62 Vgl. Lippross (2013), § 208 AO, Rn. 21; vgl. BFH-Beschluss vom 25.06.1991, VII B 136, 137/90, BFH/NV 1992, S. 254, Grund Nr.1 a).
63 Vgl. Maurer (2016), Rn. 3121.
64 Vgl. Eisenberg (2017), Rn. 2324.
65 Vgl. Jäger (2018), § 399 AO, Rn. 5.
66 Vgl. Jäger (2018), § 399 AO, Rn. 28a.
67 Vgl. Jehke (2020), § 399 AO, Rn. 56.
68 Vgl. Eisenberg (2017), Rn.2371a.
69 Vgl. Jehke (2020), § 399 AO, Rn. 52.
70 Ein Steuerberater kann gern. § 392 Abs. 1 AO auch Verteidiger im Steuerstrafverfahren sein.
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- Fabian Barth (Author), 2020, Verständigung im Steuerstrafverfahren. Ein legitimer Vorgang im Rechtsstaat?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/984778
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