Aufgaben:
Analysieren Sie den vorliegenden Redeauszug unter der Berücksichtigung inhaltlicher und formaler Elemente.
Bewerten Sie aufgrund eigener literarischer Kenntnisse Brandts Thesen zu den Chancen und Aufgaben der Literatur.
Willy Brandt, eigentlich Herbert Ernst Karl Frahm, am 18.12.1913 in Lübeck geboren und am 08.10.1992 in Unkel gestorben, war ein großer SPD - Politiker seiner Zeit. Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands war er seit 1930. Von 1969 - 1974 war er Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.
In seiner Rede, gerichtet an die Schriftsteller Deutschlands, spricht er von ,, den bedrückenden Verhältnissen der Emigration " und er sagt selbst von sich: ,, Und wenn ich die Emigration bedrückend nenne, weiß ich, was ich sage. " ( Z. 25 - 27 ) Er spielt damit auf seine Emigration nach Norwegen, im Jahr 1933, an. Von 19358 - 1947 war er norwegischer Staatsbürger und zeigt als Ausgebürgerter Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Im Jahr 1947 wird unter dem Namen Brandt wiedereingebürgert.
Willy Brandt benutzt in seiner Rede ausschließlich Aussagesätze, welche mit sehr komplexem Aufbau zu finden sind. Er war ein Künstler der Rhetorik. So bestehen zum Beispiel einige kurze Abschnitte zumeist nur aus ein, zwei oder drei Satzgefügen.
Brandt unterteilt seine Rede in fünf größere Abschnitte, wobei sich jeder Abschnitt mit einem bestimmten Thema befasst. Im ersten Abschnitt spricht von der Beziehung zwischen der Kunst, der Gesellschaft und der Politik. Er erkennt das zwischen diesen ,, Institutionen " ein dialektisches Wechselverhältnis gibt. Die Gesellschaft benötigt die Kunst und die Kunst benötigt die Gesellschaft. Doch er ist der Ansicht das die Kunst sich Ihrer Rolle nicht so ganz bewusst ist. Auf die Schwierigkeiten der Künstler, sprich der Schriftsteller geht er in seinem zweiten Abschnitt ein. ,, Die Geschichte von Literatur ist von Ovid bis Brecht hinaus bis in unsere Zeit immer wieder eine Geschichte der Verfolgung gewesen. " ( Z. 22 - 23 ) Schriftsteller haben schon immer Leid erfahren, aber er ist froh darüber, dass die ,, Schriftsteller in so großer Zahl der Diktatur des Nationalsozialismus widerstanden haben. " ( Z. 24 - 25 ) Er ist jedoch ebenfalls sehr froh darüber, dass diese Zeit überwunden ist. Jetzt ist es an der Zeit in der Gegenwart zu leben und zu regieren im Wohle des Volkes, wie er es in seinem dritten Abschnitt seiner Rede anführt. Brandt lässt nun auch seine politischen Ziele einfließen, denn er hofft jetzt auf eine weiterführende ,, Er-neuerung " ( Z. 31 ) der Demokratie. Dabei sollen aber die Schriftsteller mithelfen, denn sie sind die belesenere Bevölkerungsschicht und es wird darum von Ihnen verlangt ,, beispielhaftes Engagement " zu zeigen. ( Z. 37 ) Der vierte ist auch gleichzeitig der wichtigste Abschnitt, denn hier stellt er seine Thesen zu den Chancen und Aufgaben der Literatur auf. Diese Thesen besagen, dass das Handwerkszeug des Schriftstellers das Wort ist und das es sein Beruf ist, sich bewusster als alle anderen mit der Sprache auseinander setzen muss. Da Politiker in Ihrer mit Stress verbundener Arbeit selten die Zeit und Muße finden, um sich seiner Sprache bewusst zu werden, bedarf es also der Literatur als sprachliches Korrektiv. Durch einen engen Kontakt zwischen Literatur und Politik kommt es zu mehr Aufgeschlossenheit der Demokratie. ( frei zitiert aus dem Abschnitt von Z. 38 - 53 )
Im fünften und hiermit letzten Abschnitt des Redeauszuges, wirft er eine weitere Rolle der Literatur auf. Er besagt, das der Schriftsteller es vermag, ,, die Vergangenheit [ zu reflektieren und eine] gesellschaftliche Entwicklung für die Zukunft aufzuzeigen, bevor sich der Politiker aus den Verstrickungen der Gegenwart lösen kann.
Willy Brandt ist also der Ansicht, dass die Literatur eine Position in der Gesellschaft einnimmt, die erzieherischen Charakter hat. Er steht mit dieser Meinung nicht allein da, denn selbst der von ihm selbst angeführte Berthold Brecht, geboren am 10.02.1898 und gestorben am 14.08.1956, vertritt diese Meinung. Brecht bevorzugt den Begriff des dialektischen Theaters, in dem es darum geht, das gesellschaftliche Zusammenleben auf der Bühne so darzustellen, das ,, der Zuschauer in eine Haltung versetzt werden kann, aus der heraus er bereit und fähig ist, in dieses Zusammenleben verändernd einzugreifen. " ( Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller Band 1; u.a. Günter Albrecht; 1976; VEB bibliographisches Institut Leipzig; Seite168 ) Ebenso ,, verlangte Brecht das Mitdenken, die ,, Verfremdung " der dramatischen Vorführung um die Bewusstheit und Urteilskraft des Zuschauers zu aktivieren; ... Brechts Stücke zwingen [ einfach ] zum Denken; die Welt soll durch Erkenntnis und Verbreitung der Wahrheit verändert werden. " ( ebd. ) Er steht mit dieser Meinung nicht allein da, denn schon Friedrich Schiller, geboren am 10.11.1759 und gestorben am 09.05.1805, war ähnlicher Ansicht. ,, In seinem Aufsatz , Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet ' ( 1785 ) hat er, an die vorwärtsweisenden, volkserzieherischen Tendenzen der Aufklärung anknüpfend, seine hohe Auffassung von der moralisch - politischen Aufgabe des Theaters formuliert ... " ( ebd. Band 2; Seite 422 ) ,, Die Schaubühne solle , ein offener Spiegel des menschlichen Lebens ' sein, sie habe die Menschen zu erziehen. " ( ebd. ) Diese Ansicht wird schon in seinem Erstwerk ,, Die Räuber " deutlich. Kunst soll erziehen. Das ist Genau das was Willy Brandt fast 200 Jahre später wieder aufgreift. Aber selbst ein weiterer Schriftsteller seiner Zeit vertritt diese Ansicht der Aufgabe der Kunst und Literatur. Erwin Strittmatter, geboren am 14.08.1912 und gestorben Anfang Februar 1994, zeichnet sich durch seine unmittelbare Anschaulichkeit, seine schöpferische Sprachkraft und seinen einfachen Satzbau aus. Er wählt oft einen sehr naiven Erzählerstandpunkt, der einerseits dem Leser eine ideologische Vorgabe einräumen, andererseits aber die erzieherische Absicht des Autors unterstreichen soll.
Alles in allem gibt es, gab es und wird es Schriftsteller geben, die sich Ihrem Einfluss auf Politik und Gesellschaft bewusst sind, waren und sein werden.
Die Literatur hat Aufgaben, sie lehrt den Menschen, sie klärt über Dinge auf, sie schafft zum Beispiel einen Verbindungspol zwischen den Politikern und dem Volk. Ohne Literatur, ohne die Kunst allgemein, wäre das Leben auch gar nicht so lebenswert. Aber die Literatur hat eben nicht nur Unterhaltungscharakter sondern auch die Funktion eines Lehrinstrumentes. Literaten und Schriftsteller haben gerade in unserer Zeit, einer Zeit mit vorherrschender Meinungs- und Pressefreiheit, viele, nahezu die meisten Chancen von allen anderen Menschen, auf Politik und Gesellschaft Einfluss zu nehmen. Sie tragen heute zur politischen Meinungsbildung bei. Jedoch Willy Brandts Gedanken von der Überwindung der ,, Kluft zwischen Volk und Behörde " konnten bis heute nicht durchgesetzt und verwirklicht werden, denn das sogenannte ,, Bürokratendeutsch " ist heute immer noch vorherrschend und macht so manchen Bürger das Leben schwer. ( Z. 46 + 48 )