Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der mehr als 5100 Jahre alten Mumie eines Mannes aus der sog. Kupfersteinzeit, die 1991 am Tisenjoch gefunden wurde, auch bekannt als "Ötzi". Der Autor geht dabei anhand des bei der Mumie gefunden Pfeilköchers und anderen Hinterlassenschaften der viel diskutierten Frage nach, ob "Ötzi" ein "Multitalent" oder ein "Spezialist" war: In der frühen Literatur zu „Ötzi“ schlussfolgerte man, dass er mit dem „bohrerartigen Feuersteingerät“, das er mit sich führte, die „Durchlochungen im Haselstab“ des Pfeilköchers hergestellt hat. Diese Schlussfolgerung auf der Basis einer rein phänomenologischen Analyse ist leider falsch. Erst eine technologische Analyse des Zusammenwirkens von „bohrerartigem Feuersteingerät“ als Werkzeug und der „Durchlochungen im Haselstab“ (Werkstück) führt zu der richtigen Erkenntnis, dass der von „Ötzi“ mitgeführte Bohrer keinesfalls zur Herstellung der Löcher im Haselstock verwendet werden konnte. Untersuchungen des Autors zeigten, dass es unmöglich war, die 18 „Durchlochungen im Haselstab“ mit dem mitgeführten „bohrerartigen Feuersteingerät“ herzustellen, weil erstere Durchmesser von jeweils etwa 4mm bei einer Länge von etwa 14mm aufweisen, letzteres Gerät aber, außer einer kurzen Spitze von etwa 6mm Länge, einen Durchmesser von etwa 6mm besitzt. Es muss also eine „Werkstatt“ oder ein „Fachgeschäft“ im Tal vorausgesetzt werden, die über den passenden Bohrer für die Löcher im Haselstab verfügten. Da "Ötzi" aber auf Grund seiner erstaunlich gut erhaltenen und an das Hochgebirge angepassten Ausrüstung „hauptberuflich“ mit großer Wahrscheinlichkeit ein auf die Hochgebirgsjagd spezialisierter Jäger war, muss es als äußerst unwahrscheinlich gelten, dass „Ötzi" selbst die feinen und präzise angeordneten Löcher im Haselstab gebohrt hat. Die große Kunstfertigkeit, die allein bei der Anfertigung des Pfeilköchers zur Anwendung kam, lässt den Schluss zu, dass „Ötzi“ kein „Multitalent“, sondern ein „Spezialist“ war, der wichtige Teile seiner Ausrüstung durch geeignete „Fachleute“ in seiner Heimatsiedlung und darüber hinaus herstellen ließ, die eine Vielzahl verschiedener Gewerke beherrschen mussten.
Inhaltsverzeichnis
1. Ein Rückblick
2. Der Haselstab des Pfeilköchers
3. Schlußfolgerungen
a) Mögliche Folgerungen aus der rein phänomenologische Analyse
b) Mögliche Folgerungen aus der technologischen Analyse der Ursache-Wirkungs-Beziehungen
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Ein Rückblick
Im September 1991 entdeckten Helmut und Erika Simon, ein Ehepaar aus Nürnberg, bei einer Bergtour zur Finailspitze in den Zentralalpen am Tisenjoch einen etwas merkwürdig aussehenden Leichnam, der nur mit dem Oberkörper aus dem Eis herausragte (Abb. 1). Wie später festgestellt wurde, liegt die Fundstelle in einer Felsmulde am Alpenhauptkamm auf etwa 3210m Seehöhe zwischen dem Südtiroler Schnalstal und dem Nordtiroler Ötztal1.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: „Ötzi“, der Mann vom Tisenjoch, Fundsituation
Nach seiner Bergung wurde der Leichnam von verschiedenen Universitäten und Forschungsinstituten wissenschaftlich akribisch untersucht, zunächst koordiniert von der Universität Innsbruck unter Leitung von Prof. Dr. K. SPINDLER und seinem Team. Die Untersuchungen ergaben, dass der Leichnam, später als „Ötzi“, „Mann vom Hauslabjoch“, „Mann aus dem Eis“, „Frozen Fritz“ oder einfach „Eismann“ bezeichnet, vor etwa 5250 Jahren, also in der sog. Kupfer-Steinzeit des Spät-Neolithikums gelebt haben musste. Medizinische Untersuchungen zeigten, dass „Ötzi“ zu Lebzeiten diverse Verletzungen erlitten hatte. Er wurde sogar hinterrücks von einem Pfeil getroffen. Offenbar hatte er sich aber zunächst seinem Mörder entziehen können, sonst hätte dieser ihm sicher zumindest seine wertvolle Pelzkleidung und das Kupferbeil geraubt. Die meisten seiner zahlreichen Ausrüstungsgegenstände wurden aber offenbar in aller Ruhe und mit Sorgfalt abgelegt, denn sie wurden in guter Ordnung und ganz in seiner Nähe aufgefunden. Dies kann nur er selbst getan haben, ehe er, über einen kleinen Felsen gebeugt, sein Dasein in der Bergeinsamkeit der Zentralalpen in einer zur Zeit seines Todes eisfreien Felsmulde ausgehaucht hat. Ötzis Leichnam wird im Südtiroler Archäologie-Museum in Bozen verwahrt.
Bereits K. SPINDLER war klar, dass „ manche Deutung und Meinung “, die bei den ersten Untersuchungen von „Ötzi“ und seiner Hinterlassenschaften geäußert wurde, „ korrigiert werden muß “2. Dies hat sich in den Folgejahren teilweise bestätigt, besonders im Hinblick auf medizinische Aspekte, seinen möglichen „Beruf“3 und seine Rolle in der „Gesellungsstruktur“4 des Spät-Neolithikums. Der vorliegende Artikel soll ein Beitrag zur Klärung der Frage sein, ob „Ötzi“ ein „Multitalent“ oder ein „Spezialist“ war.
2. Der Haselstab des Pfeilköchers
In der frühen Literatur zum Mann vom Tisenjoch, häufig kurz „Ötzi“ genannt, findet man folgende Passage:
„Es ist bezeichnend, dass der Mann vom Hauslabjoch (gemeint ist „Ötzi“ vom Tisenjoch) … das bohrerartige Feuersteingerät … mit sich führte, mit dessen … feiner Spitze er die Durchlochungen im Haselstab anbringen konnte“5.
Diese rein phänomenologische6 Analyse des in der Realität funktionalen Zusammenhanges zwischen dem „bohrerartigen Feuersteingerät“, das in der Gürteltasche von „Ötzi“ gefunden wurde, und den „Durchlochungen im Haselstab“ seines Pfeilköchers führte leider zu der falschen Schlussfolgerung, dass mit besagtem Feuersteingerät die Löcher im Haselstab gebohrt worden sind.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Maße am Haselstab
Den Ausschnitt eines Fotos des 92,2cm langen Haselstabes zeigt Abb. 2. Der Stab weist insgesamt etwa 18 „Durchlochungen“ im nahezu konstanten Abstand von jeweils 47mm auf. Aus dem Foto und den Maßangaben im zugehörigen Text konnte der Durchmesser der „Durchlochungen im Haselstab“ zu etwa 4mm bestimmt werden. Nun betragen der Durchmesser des Haselstabes und damit die Länge jeder der Durchlochungen im Haselstab etwa 14mm. Die etwa kegelförmige Spitze des „bohrerartigen Feuersteingerätes“ ist aber nur 6mm lang. Diese geht in einen etwa zylindrischen Teil des Bohrers mit einem Durchmesser von ca. 6mm über (Abb. 3). Hieraus folgt, dass es nicht möglich war, die Durchlochungen im Haselstab mit diesem, in der Gürteltasche von „Ötzi“ gefundenen bohrerartigen Feuersteingerät herzustellen!
An diesem Beispiel zeigt sich, dass eine rein phänomenologische Analyse der Hinterlassenschaften des Mannes vom Tisenjoch allein nicht zielführend ist, weil sie zu irreführenden Ergebnissen führen kann. Erst eine Analyse der Ursache-Wirkungs-Beziehungen, im vorliegenden Fall durch technologische Analyse der in Betracht kommenden Gegenstände Feuersteinbohrer („bohrerartiges Feuersteingerät“ als Werkzeug) und Haselstab (Werkstück) und ihres Zusammenwirkens, führt zu der richtigen Erkenntnis, nämlich zum Nachweis der Unmöglichkeit, dass der von „Ötzi“ mitgeführte Bohrer zur Herstellung der Löcher im Haselstock verwendet werden konnte.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Das „bohrerartige Feuersteingerät“ (Lineal-Maßstab in cm)
Man könnte nun einwenden, dass es doch schließlich völlig einerlei sei, mit welchem Bohrer die in Rede stehenden Löcher einstmals gebohrt worden sind. Dem ist aber nicht so, weil sich aus den Ergebnissen der rein phänomenologische Analyse einerseits und der technologischen Analyse der Ursache-Wirkungs-Beziehungen andererseits des Systems „bohrerartiges Feuersteingerät“ - „Durchlochungen im Haselstab“ unterschiedliche Schlussfolgerungen für die Rolle von „Ötzi“ in der Gesellungsstruktur des Spät-Neolithikums ableiten lassen.
3. Schlußfolgerungen
a) Mögliche Folgerungen aus der rein phänomenologische Analyse
„Ötzi“ hatte einen Pfeilköcher mit Haselstab und einen Bohrer bei sich, also hat er die Löcher im Haselstab selbst gebohrt. Das heißt, er hat den Haselstab selbst bearbeitet und möglicherweise auch den kompletten, künstlerisch gestalteten Pfeilköcher selbst hergestellt. Er war also handwerklich sehr geschickt, ja geradezu versiert und vielseitig veranlagt. Dies lässt den Schluss zu, dass er auch andere, bei ihm gefundene Hinterlassenschaften selbst entworfen und angefertigt hat. Er war also ein Multitalent, denn sein eigentlicher „Beruf“ war mit sehr großer Wahrscheinlichkeit Hochgebirgsjäger7.
[...]
1 Spindler K. (1993)
2 Spindler K. (1993), S. 142
3 Hofmann B. (2011), S. 54-55
4 Hofmann B. (2012), S.65
5 Spindler K. (1993), S.138
6 Im Sinne von „formal Sichtbares beschreibende (Analyse)“
7 Hofmann B. (2011), S. 55
- Arbeit zitieren
- Dr. Bernd Hofmann (Autor:in), 2021, Ötzi, der Mann vom Tisenjoch und sein Pfeilköcher, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/984409
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