Die Ambivalenz des sozialen Wandels. Triumph oder Trauma
Die Ambivalenz des sozialen Wandels. Triumph oder Trauma von Piotr Sztompka (Übersetzte Zusammenfassung des Orginaltexts: The ambivalence of social change: Triumph or Trauma in: Polish Sociological Review (noch nicht veröffentlicht) Text für die Vorlesung: ,,Social and Cultural Trauma - The experience of post- communist change" im Studiengang Europäische Studien (www.ces.uj.edu.pl) an der Jagiellonen Universität WS 2000 von P. Sztompka.
In dem Artikel wird die Theorie des kulturellen Trauma entwickelt und am Beispiel des postkommunistischen Polens beschrieben.
Studium des Wandels als Kern der Soziologie
Die Gesellschaft wird durch ihr soziales Werden (social becoming) definiert und nicht durch ihr sein. Ebenso wie Leben durch das lebendig sein bestimmt wird. Ebenso wie die Gesellschaft ist auch der die Wahrnehmung des Wandels Veränderungen unterworfen. Im frühen 19ten Jahrhundert dominierte die ausnahmslose positive Wahrnehmung des Wandels. Der Wandel wurde mit Fortschritt, Evolution, Wachstum und Entwicklung gleichgesetzt.
In der zweiten Hälfte des 19ten und im 20ten Jahrhundert wurde der Wandel zunehmend als ,,Krise" empfunden. Der Wandel führt nicht zu gleichmäßigen Fortschritt in allen Bereichen sondern führt zu Zusammenbrüchen oder bleibenden Rückschlägen in einzelnen Bereichen. Der Wandel trägt hohe soziale Kosten. Zunehmen wurde die Schaffung der modernen Gesellschaft wegen der permanenten und chronischen Krise als ganze Projekt in Frage gestellt.
Die Gegenüberstellung der beiden extremen Ansichten über den sozialen Wandel macht den Weg frei für einen ambivalenten Diskurs und die Diskussion über das Trauma des sozialen Wandels. Das Konzept des Traumas drückt aus daß alle sozialen Veränderungen auch solche die von der Gesellschaft herbeigesehnt werden, das soziale und kulturelle Gewebe verletzen und von der Bevölkerung als schmerzhaft wahrgenommen werden. (,,Anomie des Erfolges" von Emile Durkhiem)
Traumaerzeugende soziale Veränderungen
Das Konzept des Traumas soll nicht ausdrücken, daß die Gesellschaft immerwährend traumatisiert ist, sondern das Trauma nur manchmal in verschiedener Stärke auftritt und auch wieder heilen kann. Das wirft die Frage auf: Welche Arten des Wandels sind Trauma erzeugend (traumatogen)?
Was ist für diese Wandel charakteristisch?
1. Diese Änderungen sind plötzlich, entweder plötzliche Ereignisse wie Revolutionen oder langanhaltende Prozesse die plötzlich bewußt werden, wie Umweltverschmutzung oder Kulturimperalismus
2. Diese Änderungen haben einen breiten Wirkungskreis, sie betreffen viele Aspekte der Gesellschaft (Wirtschaft, Institutionen, Moral) und viele Akteure in der Gesellschaft.
3. Diese Veränderungen sind radikal und tiefgreifend und/oder sie Verändern die generelle Wahrnehmung der Gesellschaft.
4. Diese Ereignisse sind völlig unerwartet und schockierend. (Krieg, Putsch)
Es gibt sehr viele Ereignisse auf gesellschaftlicher aber auch auf privater Ebene auf die diese Kriterien zutreffen. Es muß zwischen persönlichen und kollektiven traumatischen Ereignissen unterschieden werden. Erst wenn die Individuen erkennen, daß nicht nur sie alleine von dem Ereignis betroffen sind spricht man von kollektiven Traumas. In der Folge erzeugen diese Ereignisse soziale Bewegungen, Ausbruch von Protesten, ...
Kulturelle Traumas im ,,Zeitalter der Veränderungen"
Im folgenden werden nur Traumas behandelt, die die Kultur betreffen. Diese sind besonders interessant, weil traumatische Veränderungen das kulturelle Gewebe (Erbe, Traditionen, Identität von Gemeinschaften) am schwersten treffen und ebenso am schwersten heilen.
Quellen kultureller Traumas:
- Zunehmender interkultureller Kontakt: einerseits gewaltsam: Imperialismus und Kolonialismus oder friedlich wie Globalisierung (McDonaldisierung, Amerikanisierung)
- Zunehmende räumlich Mobilität: Immer mehr Menschen werden durch Flucht, Emigration, Reisende oder Gastarbeiter einer ihnen fremden Kultur ausgesetzt.
- Wandel von fundamentalen Institutionen: Änderungen der Technik, Wirtschaft oder der politischen Institutionen treffen die Menschen oft unvorbereitet. Die Traumas sind um so härter je mehr diese Veränderungen von Außen kommen. Beispiele hierfür sind Schwarzafrika (jahrhundertealte verinnerlichte Gebräuche werden überflüssig) oder auch die postkommunistischen Staaten in denen die neuen Institutionen nicht funktionieren, da die Menschen noch in der durch das alte System erzeugten ,,zivilisatorischen Inkompetenz"(Piotr Sztompka) gefangen sind.
- Wandel der Ideen: Einerseits werden bestehende Ereignisse durch den Wertewandel neu verstanden (Entdeckung Amerikas = Genozid an den Indianern) oder es entstehen neue Werte die den bestehenden gegenüberstehen. (Zähmung der Natur durch die Technik vs. ökologisches Bewußtsein). Der Konflikt zwischen altem und neuem Wertesystem wird in der Psychologie als ,,kognitive Dissonanz" bezeichnet.
Beschleunigende Faktoren: Traumatisierende Bedingungen und Situationen
Die oben genannten Ereignisse sind notwendig für eine Traumatisierung, aber stellen nur die Bedingungen dar. Hinzukommen noch auslösende und beschleunigende Faktoren, die in einem Klima von Unsicherheit und Angst vorkommen. Diese Faktoren liegen außerhalb der Kultur, aber greifen in das Leben ein. Am Beispiel der postkommunistischen Gesellschaften sind dies Armut, Arbeitslosigkeit, umgestürzte Hierarchien.
Trauma ist sowohl subjektiv als auch objektiv. Trauma sind immer kulturelle
Konstruktionen aus der bestehenden Kultur. Traumas können ausgelöst werden von fiktiven Bedingungen (Millenium-Hysterie). Ebenso können Traumas verhindert werden in dem man sie wegdiskutiert oder erklärt.
Empfindlichkeit für kulturelle Traumas
Verschiedene Gruppen sind auf verschiedene Weise anfällig für kulturelle Traumas. Je höher der Bildungsgrad ist um so sensibler und anfälliger sind die Menschen für Traumas. Jedoch sind diese Gruppen auch besser in der Lage ihre Traumas auszudrücken und zu bekämpfen. Hierfür scheint eine breite, generelle Bildung nützlicher als Spezialistentum. Ein zweiter Faktor ist die soziale Verwurzelung, je besser das Netz sozialer Kontakte und der Rückhalt in der Familie ist um so leichter können diese Menschen die Traumas bekämpfen. Finanzieller Reichtum sichert die Menschen vor den Folgen von Veränderungen ab und schützt sie vor Traumatisierung.
Reaktionen auf kulturelle Trauma
Es werden vier Reaktionen zu kulturellen Trauma beschrieben:
- Innovation (Idealisieren der neuen Kultur und Verwerfen der alten oder Beleben und Anpassung der alten Kultur)
- Rebellion (Auflehnung gegen die neue Kultur)
- Ritualisierung (Rückkehr zur bestehenden Verhalten, aber im neuen Umfeld) · Rückzug (Ignorieren des Traumas und Rückzug in das private Leben)
Traumatische Sequenz
Im folgenden wird das kulturelle Trauma als sowohl als Ereignis als auch Folge eines Ereignisses verstanden also als Prozeß: ,,Traumatische Sequenz". Diese besteht aus sechs Phasen:
1. Initiierung des Trauma auslösenden Ereignis (plötzlich, tief und überraschend)
2. Desorganisation der Kultur und kulturelle Desorientierung der Akteure
3. Traumatisierende Situation oder Ereignis ausgelöst durch Änderungen in anderen Bereichen, die aber die Menschen betreffen.
4. Traumatisierende Bedingungen ausgedrückt durch geistige oder verhaltensbedingte traumatische Symptome
5. Post-traumatische Anpassung durch verschiedene Strategien
6. Überwindung des Traumas durch Konsolidierung des neuen kulturellen Komplexes
Diese traumatische Sequenz spielt sich in einem Umfeld von Prozessen ab, die die Sequenz beeinflussen.
1. Veränderung der externen Parameter (außerhalb der Gesellschaft)
2. Veränderung der internen Parameter (Institutionen, Reformen)
3. Generationswechsel der das Erbe der alten Kultur schwächt.
Illustration zur oben beschriebenen Theorie
,,Das postkommunistische Trauma des Sieges" - Polen Der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in Polen (und in den andern Staaten) erfüllt alle oben genannten Bedingungen einer traumatischen Sequenz. Das Ereignis kam plötzlich, betraf die gesamte Bevölkerung, veränderte tiefgreifend nahezu alle Bereiche des Lebens und kam völlig überraschend.
Kulturelle Desorganisation und Desorientierung
Das kommunistische System erzeugte eine bestimmte Blockkultur einerseits durch
direktes Eingreifen (Anti-Elitarismus, Gleichheitsprinzip) und durch die
Abwehrhaltung gegen das System (Mißachtung von Regeln, Ablehnen des Staates).
Dieses Verhalten der Einzelnen wird mit dem ,,Homo Sovietikus" (Zaslavsky, J. Tischner) beschrieben.
Die von dem neuen politischen und wirtschaftlichen System benötigten Qualitäten
stehen der bestehenden Kultur diametral gegenüber (zivilisatorische Inkompetenz): (J. Alexander)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Dieses Bild ist stark vereinfacht den Polen hatte kulturelle Eigenheiten aus der Vorkriegszeit bewahrt und neue entwickelt, die dieses Land besser auf die neuen Ansprüche vorbereitete als andere Länder. Ebenso drang die westliche Kultur durch Produkte und Familienkontakte schon 1989 nach Polen ein.
Traumatisierende Bedingungen
Trotzdem löste der Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit einen ,,kulturellen Schock" aus, um aber das postkommunistische Trauma auszulösen braucht es aber bestimmte Bedingungen.
- Neue Risiken und Bedrohungen ( Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Kriminalität) · Verfall der Lebensbedingungen (Armut) und Institutionen und der Infrastruktur (Straßen, soziale Versorgung)
- Veränderte Wertesystem und veränderte Wahrnehmung (Unterdrückung von Minderheiten, Umweltverschmutzung)
- Problem der Entkommunisierung (in Polen gab es keine Prozesse gegen das alte Regime)
Das Trauma brach aus, da die persönlichen traumatischen Erlebnisse wie
Arbeitslosigkeit viele betrafen und durch die Medien kommuniziert und vervielfacht wurden.
Symptome des Traumas
- Mißtrauen:
Das Vertrauen das in die Politiker der Wende gesetzt wurde, wurde nach einiger Zeit durch Mißtrauen und Ablehnung ersetzt. Es herrscht bei der Mehrheit die Meinung das Fernsehen und Zeitungen lügen. Sogar die katholische Kirche verlor den Rückhalt in der Gesellschaft. Das Mißtrauen unter den Menschen wird ebenso immer stärker.
- Aussicht auf eine finstere Zukunft:
Obwohl sich die polnische Wirtschaft nach dem Zusammenbruch in den frühen 90er ziemlich schnell erholt ist die Mehrheit der Meinung, daß die Zukunft für sie schlecht aussieht.
- Glorifizierung der Vergangenheit (Nostalgie - Ostalgie)
Über die Hälfte der Bevölkerung beurteilt ihre persönliche Situation im neuen System als schlechter als zuvor. Dies ist vor allem unter den Verlierern der Wende zu sehen (Arbeiter, Rentner, Lehrer)
- Politische Enthaltung
Nach dem Solidarnosc als Massenbewegung das System zu Fall gebracht hat, ist die Beteiligung der Bevölkerung an der Politik sehr gering, sowohl in den Parteien als auch bei den Wahlen.
- Post-kommunistischer Kater -Trauma des kollektiven Gedächtnisses
Die Verlierer des Wandels verlangen eine Verurteilung der kommunistischen Führer auch wenn eine rechtliche Grundlage dafür nicht gegeben ist. Ebenso werden diese Politiker als Handlanger der Sowjetunion (Verräter) gesehen. Ebenso sind Diskussionen über die jüngste Vergangenheit zu verstehen. ,,War Jaruzelski ein russischer Agent oder hat der Polen vor dem sowjetischen Einmarsch geschützt?"
Reaktionen auf das kulturelle Trauma
- Innovation
Wirtschaftliche Innovation (Handel, Zweitjob, zeitweilige Arbeit im Ausland) Soziale Innovation (politische Nomenklatura wechselt in die Wirtschaft, Gründung von Vereinen, Bildungsboom)
Illegitime Innovation (Korruption, Betrug, Mafia, Autodiebstahl)
- Rebellion
Einige Gruppen rebellieren gegen das neue System (Bauern blockieren
Grenzübergänge, Anti-EU oder -Pornographie Demonstrationen, Skinheads, Hooligans)
- Ritualisierung
Einzelne soziale Gruppen wenden die gleichen Methoden gegen den bestehenden Staat an, mit denen zuvor der Kommunismus Zufall gebracht wurde. (Streiks, Protestmärsche)
- Rückzug
Die Menschen sehen keinen Sinn ihre Zukunft zu planen, weil sich alles zu schnell ändert. Sehnen nach einem starken Führer. Sie schieben den Anderen (Sowjets, Kommunisten, Spekulanten, Deutsche, Juden) die Schuld für alle Probleme zu.
Überwinden des Traumas
Seit Mitte der 90er Jahre lassen die Symptome des Traumas in der polnischen Gesellschaft nach. Welche Faktoren bewirken dies:
- der kulturelle Schock läßt nach, denn man gewöhnt sich an das neue System
- konsequente Weiterführung der Reformen schafft Vertrauen und die politischen Wahlen zeigen, daß das neue System funktioniert
- Wirtschaftswachstum trotz Abwicklung alter Betriebe auf Makro- als auch auf Mikroebene
- Freude an der westlichen Konsumwelt (Reisen, Hypermarket, Fahrzeuge aus dem Westen)
- Erweiterung des persönlichen und sozialen Kapitals (bessere Bildung, neue Vereine geben soziale Sicherheit, Belebung bestehender sozialer Kontakte) · Äußere Rahmenbedingungen (NATO- Mitgliedschaft, EU-Beitrittsverhandlungen geben Sicherheit und Selbstbewußtsein, Auslandsinvestitionen)
- Die innovative Anpassungsstrategie (nur die legale) hilft das Trauma zu überkommen
- Generationswechsel: Absolventen der Universitäten haben die ,,Blockkultur" nicht mehr verinnerlicht und sind im neuen System aufgewachsen, vom Stalinismus geprägte Arbeiter scheiden aus dem Berufsleben aus
Kulturelles Trauma als Mittel des sozialen Werdens
Das Trauma hat sowohl konstruktive Auswirkung auf das soziale Werden (P. Sztompka) in dem es Innovation mobilisiert damit das Trauma überwindet und die
Rahmenbedingungen verbessert.
Ebenso kann das Trauma der Vorgang kulturelle Zerstörung beschleunigen (evtl. Rußland oder Zerstörung von eingeborenen Kulturen)
Welche Faktoren beeinflussen die Auswirkung des Traumas:
- Stärke des traumatisierenden Wandels
- Stärke des Gegensatzes der Kulturen (sind sie sich völlig fremd?)
- Größe der traumatisierten sozialen Gruppe
- Potential zur Innovation (Bildung, Beziehungen, Finanzen)
- Quote paper
- Robert, Pernetta (Author), 2000, Die Ambivalenz des sozialen Wandels. Triumph oder Trauma, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98412
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