In dieser Arbeit wird die Darstellung des argentinischen Gauchos in ausgewählten Cuentos von Jorge Luis Borges verglichen. Die analysierten Erzählungen "El Muerto", "El Fin" und "El Sur" sind der Gattung der "Cuentos Argentinos" zuzuordnen. Diese Gattung der Novellistik bezeichnet Kurzerzählungen in Argentinien. Die angeführte Art der Novelle ist laut dem Literaturwissenschaftlichen Wörterbuch für Romanisten vom lat. "novellus" im Sinne von "novus", jung abgeleitet worden. Ihren ursprünglichen Sinn, Neuigkeiten oder neue Begebenheiten zu erzählen, ist bis in die Gegenwart erhalten geblieben.
In diesem Zusammenhang wurden für alle Arten der Novelle die altspanische Benennung des Cuento (Erzählung, Geschichte) aufgegriffen. Auch die Cuentos von Jorge Luis Borges beinhalten gattungstypologische Merkmale einer Erzählung, die unter anderem herausgearbeitet werden. Wie bereits erwähnt, bilden die drei Cuentos Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. In einer intensiven Auseinandersetzung mit den Inhalten der jeweiligen Erzählungen, soll darüber hinaus analysiert werden, wie die Figur des Gauchos in den eben genannten Werken des argentinischen Schriftstellers dargestellt wird.
Die Figur des Gauchos stellt für Argentinien nicht nur einen einfachen Viehhirten der südamerikanischen Pampa dar, sondern gilt als Identitätsfigur einer ganzen Nation. In der langen Geschichte des Landes hat sich der Gaucho zu einer prestigeträchtigen Figur entwickelt, die unter anderem mit grenzenlosem Freiheitswillen, Einsamkeit und rebellischer Unabhängigkeit assoziiert wird. Das mittlerweile deutlich ausgeprägte Identitätsbewusstsein der Argentinier hängt stark mit der Entwicklung des Gauchos als Nationalsymbol zusammen.
Mit der Figur des Gauchos ist es Argentinien gelungen eine Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität zu finden. Die bemerkenswerte und besondere Beziehung der Argentinier zur Figur des Gauchos wurde nicht nur in der Gesellschaft deutlich, sondern auch in der argentinischen Literatur. Besonders der Schriftsteller Jorge Luis Borges behandelte die Thematik des Gauchos in seinen Cuentos auf eine einzigartige und fantastische Weise. Die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes der Masterarbeit entstand vor dem Hintergrund der bemerkenswerten Entwicklung der Figur des Gauchos sowohl in der argentinischen Gesellschaft als auch in der Literatur.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der argentinische Gaucho
2.1 Der Gaucho im historischen Kontext
2.2 Der Gaucho in der Literatur
3. Der Mythos gaucho als Identitätsfigur
4. Jorge Luis Borges und die Figur des gaucho
5. Inhalt und Struktur des cuento El muerto
5.1 Inhaltsangabe von El muerto
5.2 Strukturelle Analyse
5.3 Gattungstypologische Aspekte
5.4 Motive
5.5 Interpretation und Deutung der Motive
6. Inhalt und Struktur des cuento El fin
6.1 Inhaltsangabe von El fin
6.2 Strukturelle Analyse
6.3 Gattungstypologische Aspekte
6.4 Motive
6.5 Interpretation und Deutung der Motive
7. Inhalt und Struktur des cuento El Sur
7.1 Inhaltsangabe von El Sur
7.2 Strukturelle Analyse
7.3 Gattungstypologische Aspekte
7.4 Motive
7.5 Interpretation und Deutung der Motive
8. Vergleich der Darstellungen des gaucho
9. Schlussbetrachtung
10. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In der vorliegenden Masterarbeit wird die Darstellung des argentinischen Gauchos in ausgewählten cuentos von Jorge Luis Borges verglichen. Die in dieser Masterarbeit analysierten Erzählungen El muerto, El fin und El Sur sind der Gattung der cuentos argentinos zuzuordnen. Diese Gattung der Novellistik bezeichnet Kurzerzählungen in Argentinien. Die angeführte Art der Novelle ist laut dem Literaturwissenschaftlichen Wörterbuch für Romanisten (LWR) vom lat. novellus im Sinne von novus, neu, jung abgeleitet worden. Ihren ursprünglichen Sinn, Neuigkeiten oder neue Begebenheiten zu erzählen, ist bis in die Gegenwart erhalten geblieben.1 In diesem Zusammenhang wurden für alle Arten der Novelle die altspanische Benennung des cuento (Erzählung, Geschichte) aufgegriffen.
Auch die cuentos von Jorge Luis Borges beinhalten gattungstypologische Merkmale einer Erzählung, die unter anderem herausgearbeitet werden. Wie bereits erwähnt, bilden die drei cuentos El muerto, El fin und El Sur den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. In einer intensiven Auseinandersetzung mit den Inhalten der jeweiligen Erzählungen, soll darüber hinaus analysiert werden, wie die Figur des Gauchos in den eben genannten Werken des argentinischen Schriftstellers dargestellt wird.
Die Figur des Gauchos stellt für Argentinien nicht nur einen einfachen Viehhirten der südamerikanischen Pampa dar, sondern gilt als Identitätsfigur einer ganzen Nation. In der langen Geschichte des Landes hat sich der Gaucho zu einer prestigeträchtigen Figur entwickelt, die unter anderem mit grenzenlosem Freiheitswillen, Einsamkeit und rebellischer Unabhängigkeit assoziiert wird. Das mittlerweile deutlich ausgeprägte Identitätsbewusstsein der Argentinier hängt stark mit der Entwicklung des Gauchos als Nationalsymbol zusammen. Mit der Figur des Gauchos ist es Argentinien gelungen eine Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität zu finden.2 Die bemerkenswerte und besondere Beziehung der Argentinier zur Figur des Gauchos wurde nicht nur in der Gesellschaft deutlich, sondern auch in der argentinischen Literatur. Besonders der Schriftsteller Jorge Luis Borges behandelte die Thematik des Gauchos in seinen cuentos auf eine einzigartige und fantastische Weise.
Die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes der Masterarbeit entstand vor dem Hintergrund der bemerkenswerten Entwicklung der Figur des Gauchos sowohl in der argentinischen Gesellschaft als auch in der Literatur.
Zunächst findet in einer inhaltlichen Einführung die Vorstellung des argentinischen Gauchos statt. Ziel ist es im 2. Kapitel zu verdeutlichen, was unter dem argentinischen Gaucho in der Realität als auch in der Literatur verstanden wird. Im Anschluss an die inhaltliche Einführung wird im 3. Kapitel der Mythos Gaucho als Identitätsfigur für die argentinische Gesellschaft näher betrachtet. Darüber hinaus wird im 4. Kapitel dargestellt, welchen persönlichen Bezug der Autor Jorge Luis Borges zur Figur des Gauchos besitzt.
Im 5., 6. und 7. Kapitel werden die inhaltlichen und strukturellen Elemente der cuentos El muerto, El fin und El Sur analysiert. Unter Angabe der jeweiligen Themen werden die Rahmenstruktur, die inhaltliche Analyse sowie wichtige Motive und gattungstypologische Aspekte herausgearbeitet. In einem weiteren Unterkapitel findet eine subjektive Interpretation und Deutung der erarbeiteten Merkmale und gattungstypologischen Aspekte statt. Nachfolgend werden im 8. Kapitel die Darstellungen des Gauchos in allen drei analysierten cuentos verglichen.
Den Abschluss dieser Masterarbeit bildet die Schlussbetrachtung, in der unter den herausgearbeiteten Erkenntnissen eine Beurteilung darüber gegeben wird, inwieweit die Darstellungen des Gauchos in den analysierten cuentos von Jorge Luis Borges übereinstimmen oder Unterschiede aufweisen.
2. Der argentinische Gaucho
Der argentinische Gaucho ist nicht nur, wie sein Name vermuten lässt, ein gebräuchlicher Name für einen südamerikanischen Viehhirten, der einsam durch die endlosen Pampalandschaften am Río de la Plata streift.
Bei diesem Begriff beziehungsweise Beruf und gleichzeitiger Lebenseinstellung, geht es um viel mehr als nur um einen einzelgängerischen Reiter der Pampa. Die Lebensweise und die Geschichten der Gauchos haben eine lange Tradition. Im Vergleich zu den anderen Bewohnern des Landes hat der Gaucho eine sehr spezielle Verbindung zu seiner Heimat Argentinien. Nicht nur der historische Kontext, seine bescheidenen Besitzverhältnisse oder seine speziellen Charaktereigenschaften sorgten für eine Sonderstellung in der argentinischen Gesellschaft. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Entwicklung des argentinischen Gauchos ist die Literatur im eigenen Land. Ihm widmeten viele Autoren in der poesía gauchesca unzählige romantische und heldenhafte Werke, die in gleicherweise dazu beitrugen, dass der Gaucho nicht bloß als Viehhirte betitelt werden konnte.3
Damit die Herkunft und die beschriebenen Besonderheiten des argentinischen Gauchos in einer inhaltlichen Einführung genauer dargestellt werden können, wird im folgenden Kapitel sowohl der historische Kontext des Gauchos als auch die Darstellung in der Literatur näher betrachtet.
2.1 Der Gaucho im historischen Kontext
Zur Herkunft des Wortes Gaucho gibt es verschiedene Theorien. Zum einen wird es vom Wort gauderio (Bandit) abgeleitet und zum anderen vom indianischen Wort guacho (Waisenkind). Darüber hinaus wird das Substantiv gaucho unter anderem auch als Adjektiv verwendet, das tüchtig, gefällig oder hilfsbereit bedeutet.4
Im Zusammenhang dieser Herkunftstheorien entstanden viele Assoziationen mit der Lebensweise und den Charaktereigenschaften der Gauchos in Argentinien. Dementsprechend wurden den umherstreifenden Waisenkindern der Pampa sowohl affirmative (tüchtig, hilfsbereit und gefällig) als auch schädliche Eigenschaften (Bandit, Schmuggler, Trinker, Vagabund) zugesprochen. Folglich war die Außenwahrnehmung des Gauchos in der damaligen argentinischen Öffentlichkeit nicht sonderlich positiv. Aus Polizeiberichten vom Anfang des 19. Jahrhunderts geht beispielsweise hervor, dass den Gauchos weitere miserable Eigenschaften nachgesagt wurden. ,,[...] El gaucho no sabía de leyes, no conocía ninguna religión, raptaba y abandonaba mujeres, no se detenía ante el robo y el crimen [ y ] huía del trabajo. “ 5
In dieser Stellungnahme wird der Gaucho als gesetzes- und religionsloser Landstreicher beschrieben, der Frauen raubt und ohne weiteres im Stich lässt. Darüber hinaus wird er als Krimineller bezeichnet, der nicht vor Raub zurückweicht und vor der Arbeit flieht. Auf der einen Seite wird deutlich, dass die Erscheinung und das Ansehen des Gauchos negativ behaftet waren. Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Berichte, die den Gaucho durchaus positiver beschreiben. Ein französischer Reisender, der Argentinien im 19. Jahrhundert besuchte, schildert die Erscheinung des Gauchos folgendermaßen:
[...]Im Allgemeinen [ist er] groß, und hat ein braunes knochiges Gesicht. Die Haare sind schwarz und hart wie bei einem Indianer. Während er sich nicht richtig zu bewegen weiß, wenn er einmal zu Fuß durch die Straßen geht, ist er zu Pferde elegant und erregt Aufmerksamkeit. Vom Spanier hat er den Stolz und die Eitelkeit, aber auch die Einfachheit und Bescheidenheit […].6
Das Ebenbild des Gauchos ist auf Grundlage der angeführten Belege aus dem 19. Jahrhundert sowohl negativ als auch positiv dargestellt worden. Allerdings ist bei dem Reisebericht darauf hinzuweisen, dass es sich lediglich um eine Beschreibung des Aussehens handelt und keine Verhaltensweisen, wie im Polizeibericht, genannt werden. Um den ersten Eindruck zur Figur des Gauchos weiter zu vertiefen, werden im Folgenden die Herkunft und die Gewohnheiten der Gauchos näher betrachtet.
Die Gauchos waren Nachfahren und Söhne spanischer Konquistadoren aus Andalusien, die sich mit der indigenen Bevölkerung Argentiniens vermischt hatten. Demnach waren sie zum größten Teil Mestizen, die als Halbnomaden in der Pampa lebten. In ihrer Kultur und Gesinnung fühlten sie sich allerdings den Weißen zugehörig.7 Das eben kurz erwähnte Leben der Gauchos als Halbnomade entstand vermutlich durch die frei herumziehenden Herden entlaufener Pferde und Rinder. Dieser Umstand sorgte dafür, dass die Gauchos die Pferde zähmten und sie zum Einfangen der Rinder verwendeten. Die in der Pampa lebenden Rinder hatten für die Gauchos keinen sonderlich Wert, da zu dieser Zeit noch kein Rindfleisch nach Europa exportiert wurde. Sie verdienten ihr Geld hauptsächlich mit dem Verkauf von Häuten und Talg. Dafür erhielten sie als Gegenleistung neben Geld unter anderem Rum, Mate und Tabak.
Geographisch entfalteten sich die Gauchos in den Provinzen Entre Ríos, Santa Fé, Córdoba und Buenos Aires, die überwiegend von der eintönigen, trostlosen und unendlich erscheinenden Pampa gekennzeichnet waren. Innerhalb dieser Provinzen führten die Gauchos ein wildes Vagabundenleben und besaßen häufig nicht mehr als ein Pferd, einen Sattel, ein Messer und einen Poncho. ,,[...] Der Gaucho [war] im Grunde ein Philosoph der Zufriedenheit und des Anspruchslosen [...]“8. In den unendlichen Weiten der Pampa entstanden viele Traditionen der Gauchos. Zu diesen Gewohnheiten und Traditionen gehören zum Beispiel: ihr meisterhaftes Geschick als Reiter und im Umgang mit dem Pferd, ihre Wettkämpfe (Messerkampf, Wettrennen zu Pferd, dem Kartenspiel oder Sängerwettstreit), ihre melancholischen Lieder, die zur Gitarre gesungen wurden (traurige Balladen von Abschied, Tod und Verbannung), ihre Unabhängigkeit und große Freiheitsliebe. Darüber hinaus war es für einen Gaucho üblich, dass er nie lange an einem Ort arbeitete und bereits nach kurzer Zeit weiterzog.
Ein beliebter Treffpunkt der Gauchos war die sogenannte pulpería, eine Art Ladenkneipe mit Alkoholausschank. Dort konnten sie neben Wein und Schnaps auch jegliche Ausstattung für den täglichen Gebrauch (Poncho, Messer, Stiefel, Zaumzeug usw.) erwerben. Die pulpería war und ist ein Ort der Begegnung und kann als wichtiges Kommunikationszentrum im Leben eines Gauchos bezeichnet werden. Es wurde geredet, getanzt und gesungen. Darüber hinaus wurden auch Auseinandersetzungen im Sängerwettstreit oder im Messerkampf ausgetragen.9 Dabei setzte der argentinische Gaucho das Messer in einer Meinungsverschiedenheit nicht primär zum Töten ein, sondern ,,[...] el gaucho argentino lo desenvaina para pelear, y hiere solamente. […] Su objeto era sólo darle una tajada en la cara, dejarle un señal indeleble. “10
Kam es in der pulperia allerdings zu intensiveren Auseinandersetzungen, wurde das Messer auch zum Töten des gegnerischen Kontrahenten eingesetzt. Grundsätzlich weichen Gauchos vor keinem Konflikt oder Wettstreit zurück, da es wichtig ist die eigene Ehre zu verteidigen. Der Stolz und das Selbstbewusstsein, dass durch einen gewonnenen Messerkampf oder Sängerwettstreit gestärkt werden konnte, sollte in gleicher Weise auch durch die Kleidung der Gauchos verdeutlicht werden. Sie trugen als Beinkleider entweder die chiripá (ein zwischen den Beinen gewundenes Stoffstück), gefranste Hosen oder bombachas (zugeknöpfte Pluderhose). Außerdem gehörten zu ihren Kleidungsstücken die Faja (Wollschärpe) und die rastra (steifer Ledergürtel), worin das wichtige facón (Messer) steckte. Komplettiert wurde die Kleidung der Gauchos durch Lederstiefel, Weste, Poncho, Hut und Halstuch.11 Um einen vollständigen Eindruck davon zu bekommen, wie ein traditioneller Gaucho in der vorherigen Beschreibung ausgesehen hat, folgt auf der nächsten Seite ein Bild eines Gauchos aus dem Jahr 1868. In der Abbildung 1 sind einige typische Kleidungsstücke der Gauchos zu erkennen. Der dargestellte Gaucho trägt einen Hut, Halstuch, Poncho und das wichtige Messer an seinem Gürtel. Über den Beinen ist das gewundene Stoffstück der chiripá dargestellt.
Diese Abbildung wurde aus urheberrechtlichen Gründen durch das Lektorat entfernt.
Abbildung 1: Gaucho aus Argentinien 186812
Ihre Arbeit verrichteten die Gauchos in der endlosen Pampa bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, indem sie unter anderem entlaufene Rinder einfingen oder ganze Rinderherden von einem Ort zum nächsten trieben. Durch das aufkommende Interesse der estancieros (Viehfarmer, Großgrundbesitzer) am Grund und Boden der Pampa, änderte sich die Lebensweise der Gauchos. Sie mussten für niedrige Löhne in Diensten der estancieros arbeiten oder wurden zu Viehdieben. Ferner hatten sie keine Rechte, wurden zum Militärdienst gezwungen, dienten in Privatarmeen der caudillos (Heerführer) oder wurden zur Ausrottung der Indianer eingesetzt. Zum Ende des 19. Jahrhunderts war das ungebundene Leben der Gauchos in der Pampa vollkommen beendet. Viele Gauchos zogen als Tagelöhner in die Städte oder arbeiteten unter schlechten Bedingungen weiter auf den estancias.13
Der umherstreifende Viehhirte aus der einsamen und abgelegenen Grassteppe am Río de la Plata ist mittlerweile verschwunden und gehört der Vergangenheit an. Eine Entwicklung, die an vielen Stellen des Landes im Verlauf der Jahrhunderte sichtbar wurde. Der Gaucho als solches, wie er im 19. Jahrhundert beschrieben worden ist, existiert zwar zum Teil noch auf vereinzelten estanicas, lebt aber überwiegend in den Geschichten weiter, die sich die Leute erzählen. Um den erwähnten Aspekt der Geschichten fortzuführen, wird im nachfolgenden Kapitel die Figur des Gauchos in der Literatur ausführlich erläutert.
2.2 Der Gaucho in der Literatur
Im 19. Jahrhundert setzte mit dem Dichter Bartolomé Hidalgo die literarische Strömung der poesía gauchesca ein. Obwohl die Anfänge dieser Stilrichtung schon Jahre vor der Romantik in Lateinamerika entstand, kennzeichneten zahlreiche Elemente der romantischen Lyrik die poesía gauchesca. Der Gaucho stellt das Leitmotiv der vielen Veröffentlichungen dar.14 Die Konzeption der literarischen Figur des Gauchos weist romantisierte Charakteristika auf und verleiht ihr auf diese Weise einen anmutigen und ehrenvollen Glanz.
[...] Der Gaucho, Sohn der endlosen weiten Pampa, Herr der menschenleeren Ebenen, in dessen Adern sich das Blut der indianischen Ureinwohner mit dem der spanischen Konquistadoren vermischte und dessen Individualismus in ihm ein Gefühl von absoluter Unabhängigkeit entstehen ließ. Er fühlt sich frei, niemandem untertan; nichts vermag ihn zu binden, nichts zu erschrecken. Stolz durchschreitet er die Pampa, das Messer stets griffbereit im Gürtel, mutig draufgängerisch und unendlich einsam. Seine einzigen Begleiter: Das Pferd und die Gitarre […].15
Hier wird deutlich, in welchem Kontext die Figur des Gauchos in der Lyrik einzuordnen ist. In der romantischen Dichtung wird der Gaucho als stolzer und ehrenvoller Mann beschrieben, der einsam mit seinem Pferd und seine Gitarre das Abenteuer in der endlosen Pampa sucht. Darüber hinaus verkörpert der Gaucho das Ideal der Bescheidenheit, aufgrund seines begrenzten Eigentums. Außerdem zeichnet er sich durch Demut und Schweigsamkeit aus.
In anderen berühmten Dichtungen, wie beispielsweise von Hilario Ascasubi, einem Schüler Hidalgos, wird der Gaucho als gesetzloser Außenseiter der Gesellschaft beschrieben. In der Gaucho-Romanze Santos Vega o los Mellizos de la Flor berichtet die Hauptfigur Santos Vega von einem kriminellen Gaucho, der für seine Verbrechen mit dem Tod bestraft wird.16 Der romantische Held der Pampa wird in dieser Erzählung, ebenso wie in dem Polizeibericht, mit negativen Eigenschaften in Verbindungen gebracht. Dennoch überwiegen in der Literatur die romantischen und heldenhaften Darstellungen eines Gauchos.
Den Beginn der Gauchodichtung begründete der eben erwähnte Bartolomé Hidalgo, der den Gaucho in gereimten Schilderungen durch die weite Pampa reisen ließ. Darüber hinaus enthalten die Dichtungen von Hidalgo auch sozialkritische Elemente, die auf die Missstände der Gesellschaft hinweisen. Außerdem sorgte die Behandlung von nationalen Themen und Motiven dafür, dass der Gaucho allmählich zum Nationalsymbol von Argentinien aufstieg.
Ein wichtiges Motiv für Argentinien ist zum Beispiel die Frage nach der eigenen Identität. Woraus setzt sich die argentinische Identität zusammen und worauf besinnt man sich im Hinblick auf die Geschichte des Landes? Argentinien wurde sowohl durch die indigene Bevölkerung als auch durch die Konquistadoren und die nachfolgenden Einwanderer geprägt. In diesem Kontext entstand die Suche nach der eigenen Identität, die nicht eindeutig bestimmt werden konnte. Eine detailliertere Ausführung dieses Motivs wird unter anderem in der späteren Analyse der cuentos vorgenommen.
Die Bewunderung für die Figur des Gauchos spiegelte sich nicht nur in der Literatur wider, sondern konnte auch stufenweise in der argentinischen Gesellschaft festgestellt werden. Weitere Autoren, die einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung und Anerkennung der Gaucholiteratur leisteten, waren unter anderem Esteban Echeverría mit seinem Gedicht La Cautiva und Estanislao del Campo mit seinem Werk Fausto. Doch den Höhepunkt der poesía gauchesca stellt das Gedicht Martín Fierro von José Hernández dar. Mit diesem Epos erreichte Hernández einen Meilenstein in der argentinischen Gaucholiteratur und wurde mit ihm auch weit über die Grenzen Argentiniens bekannt. Der internationale Durchbruch dieser Lyrik war dafür verantwortlich, dass Hernández wenige Jahre später einen zweiten Band, La vuelta de Martín Fierro, veröffentlichte.17
Auch in dem zweiten Teil von José Hernández wird der Gaucho, ähnlich wie bei Hilario Ascasubi, als Ausgestoßener der Gesellschaft dargestellt. Der grundlegende Unterschied besteht allerdings darin, dass der Gaucho Martín Fierro als Verachteter hinsichtlich seiner sozialen Stellung kontextualisiert wird. Darüber hinaus wird Martín Fierro als Opfer gesellschaftlicher Missstände illustriert. Dieses persönliche Unglück trägt er allerdings mit Würde und reagiert auf diesen Umstand nicht mit brutaler und stumpfer Gewalt. José Hernández besinnt sich dabei auf die Charaktereigenschaft der Gauchos, ihre Schmerzen und das Leid schweigend zu ertragen.
,,[Denn] der Schmerz ist ein Geheimnis des Gauchos. Aber für seine Verletztheit, die ihn begleitete, für seine Innigkeit und für seinen Stolz […] sucht er die Einsamkeit, dieselbe bedeutungsvolle Einsamkeit, die Kondore suchen, um zu sterben.“18
Durch die Werke der Autoren Hidalgo, Ascasubi, Echeverría und Estanislao del Campo, erlebte der Mythos des Gauchos in der Literatur einen enormen Aufschwung. Nicht unerwähnt dürfen in diesem Zusammenhang die Geschichten des Martín Fierro bleiben, die den Gaucho in die Weltliteratur einführten. Üblicherweise arbeiten romantische Dichter und Autoren vor allem mit idealisierten Realitäts- und Landschaftsbildern, Zuständen oder Eigenschaften. Der Gaucho wird in der poesía gauchesca oft als Held gefeiert oder als Antwort auf die argentinische Frage nach der eigenen Identität gegeben. Obwohl der Gaucho auch als gesetzloser Verbrecher in Erscheinung tritt, überwiegen die Darstellungen als Volksheld der Pampa. Mit seinen Normen und Werten als bescheidener und äußerst männlicher Ehrenmann streift er durch die endlosen Weiten des großen Südens. Er ist kontinuierlich auf der Suche nach Einsamkeit und dem Wunsch der grenzenlosen Freiheit. Ferner statteten die Dichter und Schriftsteller der Stadt den Gaucho mit den positiven Eigenschaften der Landleute aus (unerschrocken, kämpferisch, rebellisch). Außerdem wurden dem Gaucho in der Literatur Kenntnisse der Religion und Poesie zugeschrieben, die er in der Realität nie nachweisen konnte. Auf diese Weise wurde eine Literaturfigur des Gauchos erschaffen, die ,,[...] absolut unrichtig, völlig künstlich und in keiner Weise das Abbild des wirklichen Lebens [ist].“19
In der Legende kämpfte der Gaucho nur um seine Ehre zu verteidigen und floh in die Pampa, um sich vor den ausbeuterischen caudillos oder Polizeichefs in Sicherheit zu bringen. Ferner war der Gaucho ein Beschützer der Armen, ein argentinischer Patriot und heldenhafte Figur, die in der romantisch behafteten poesía gauchesca stark idealisiert dargestellt wurde. An dieser Stelle lässt sich festhalten, dass das Abbild des Gauchos in der Literatur stark vom wirklichen Leben des argentinischen Viehhirten abweicht. Dennoch fußt die literarische Konzeption dieser Figur nicht vollkommen auf den fantastischen und poetischen Gedanken der Dichter und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Einige Elemente, die die Figur des Gauchos in der Literatur geprägt haben, lassen sich trotz der Kritik von Bolko von Hahn in der historischen Entwicklung des Gauchos wiederfinden (vgl. Kapitel 2.1). Nachdem die Figur des Gauchos sowohl in der historischen Entwicklung als auch in der literarischen Darstellung erläutert worden ist, wird im Anschluss an dieses Kapitel der Mythos Gaucho als Identitätsfigur näher betrachtet.
3. Der Mythos gaucho als Identitätsfigur
Der Mythos gaucho als Identitätsfigur hängt in Argentinien stark mit den in der Romantik behandelten Fragen und Motiven zusammen. In dieser Zeit war die Frage nach der argentinischen Identität ein grundlegender Aspekt in der Literatur. Die Antworten auf diese Frage wurden von den Protagonisten häufig in der einsamen Pampa gesucht. Ziel war es dabei herauszufinden, was es bedeutet argentinisch zu sein.
Als Antwort auf diese Frage musste zunächst geklärt werden, woraus Argentinien überhaupt besteht und worauf sich diese gesuchte Identität stützen kann. Grundsätzlich kann festgehalten werden: ,,[ ... ] que la Argentina se caracterizó como una zona habitada por los indios [...]“20. Demnach ist das erste Element der argentinischen Identität die indigene Vergangenheit des Landes. Neben der beheimateten Urbevölkerung prägte natürlich auch die Besiedelung und Eroberung der Spanier das südamerikanische Land am Río de la Plata. Im weiteren Verlauf der Geschichte Argentiniens vermischten sich die spanischen Konquistadoren mit der indigenen Urbevölkerung und eine Generation der Kreolen entstand. Darüber hinaus kamen in den darauffolgenden Jahren immer mehr Europäer in das Land, die den indigenen Ursprung weiter verwässerten.21
Die hier kurz skizzierten geschichtlichen und ethnischen Entwicklungen Argentiniens soll verdeutlichen, dass eine Antwort auf die Frage nach der argentinischen Identität nicht eindeutig gegeben werden konnte. Als was konnten sich die Einwohner und Nachfahren spanischer und europäischer Einwanderer mit indigenen Wurzeln also bezeichnen?
Mit der Revolution und Absetzung des spanischen Vizekönigs 1810 und der vollständigen Unabhängigkeit im Jahr 1816 fühlte sich die Bevölkerung schon als eigenständige und selbstbewusste Argentinier. Dennoch konnten die Einwohner Argentiniens eigentlich noch keine eigene Identität vorweisen. ,,[ En 1810 ] los argentinos ya eran algo y alguien, aunque no fueran más que una briza de pampero. “22 In der richtungsweisenden Zeit der Unabhängigkeitsbewegung, dem anschließenden Bürgerkrieg und der brutalen Diktatur des Generals Juan Manuel Rosas, entwickelte sich der Gaucho zur Identitätsfigur der argentinischen Landbevölkerung. Unter der Herrschaft von Rosas kämpften die Gauchos unfreiwillig an den Landesgrenzen gegen die indigene Bevölkerung Argentiniens. Sie wurden als Helden der Pampa präsentiert, weil sie für das eigene Land gezwungenermaßen in den Krieg zogen und die Landbevölkerung vor den Angriffen der indigenen Urbevölkerung schützten. Darüber hinaus sorgten die Gauchos mit ihren Eroberungen der feindlichen Gebiete für eine Ausdehnung der politischen Macht Rosas und stabilisierten auf diese Weise seine Herrschaft. Jedoch zwang Rosas die Gauchos zu ihren Einsätzen und unterdrückte sie gleichermaßen wie die Landbevölkerung. Die starke Identifikation der Landbevölkerung mit der Figur des Gauchos entwickelte sich demzufolge nicht nur aus den kriegerischen Erfolgen und dem Beschützen der eigenen Heimat, sondern auch durch das ebenfalls unterdrückte Schicksal vieler Gauchos.
Darüber hinaus konnten sich viele kreolische Teile der Bevölkerung mit der Figur des Gauchos identifizieren. Der Gaucho, der ebenfalls ein Mestize war (vgl. Kapitel 2.1), entwickelte sich zu einem Identifikationsmuster der Unterschicht, wodurch die kreolischen Bewohner des Landes auf ihre eigene nationale Vergangenheit zurückblicken konnten.23
Der Mythos gaucho als Identitätsfigur rückte allmählich immer stärker in den Fokus der argentinischen Arbeiterklasse. Eine weitere Gemeinsamkeit, die dazu beitrug, dass sich die Landbevölkerung intensiver mit dem Gaucho auseinandersetzen konnte, war die Aufteilung der argentinischen Gesellschaft in civilización y barbarie. Durch die Interpretation der argentinischen Realität von Domingo Faustino Sarmiento in seinem Werk Facundo. Civilización y barbarie, gliederte er die argentinische Gemeinschaft in zwei Teile. Zur civilización gehörte die Stadt Buenos Aires mit ihrem intellektuellen und kulturellen Fortschritt. Darüber hinaus beschrieb er die civilización und die dort ansässige städtische Bevölkerung als gebildet, berufstätig und vollkommen zivilisiert. Im Gegenentwurf dazu schrieb er der barbarie diejenigen Gebiete zu, die jenseits der Stadtgrenzen von Buenos Aires lagen. Dazu gehörten die Provinzen, die Landbevölkerung, die umherziehenden Gauchos und das Territorium der Indianer. Für Sarmiento waren diese ethnischen Gruppen der argentinischen Realität ungebildete, rückständige, engstirnige, brutale, verrohte und wilde Barbaren, die das Leben der sesshaften und belesenen Städter verachteten.24
Der Gaucho wurde neben der Landbevölkerung und den Indigenen als Teil der Unterschicht angesehen, wobei er im Gegensatz zu seinen Landsleuten in der Provinz eine edlere Stellung einnahm. ,, Nada hay en el mundo que pueda dar una idea más noble de independencia que un gaucho a caballo. “25
Im Zusammenhang mit der poesía gauchesca und vor allem durch die Veröffentlichungen des Martín Fierro von José Hernández (1872) veränderte sich der Mythos gaucho als Identitätsfigur. Durch die Aufnahme der Figur des Gauchos in die Literatur wurde die Thematik auch der civilización in Buenos Aires zugänglich gemacht. Die Aufmerksamkeit der Intellektuellen und der städtischen Presse sorgte dafür, dass der Gaucho sukzessiv als Repräsentant Argentiniens in der Welt dargestellt wurde. Der einstige Held der Unterschicht stieg zu einer schillernden Identitätsfigur der Mittel- und Oberschicht auf. Die Einwohner der Städte orientierten sich an den Traditionen der Gauchos und integrierten einige Konventionen in ihr alltägliches Leben.
,, Todos los habitantes de Buenos Aires participan de las costumbres del Gaucho […] . El médico hace sus visitas a caballo, el corredor visita a caballo todas las tiendas; cada mujer, cada muchacha, ha aprendido desde su infancia a montar. “26
Im Hinblick auf die eigene Identität und Geschichte des Landes wurde mit dem Gaucho ein Motiv gefunden, das etwas Argentinisches darstellt. Das Bewusstsein für eine eigene Kultur und Tradition wurde weiter vorangetrieben und Argentinien konnte sich allmählich vom Einfluss Europas abgrenzen. Ziel war es nun eine argentinidad, eine argentinische Gesellschaft, zu entwickeln und keine fremden Gesellschaften aus Europa zu kopieren. Für die neuen Einwanderer galt der Gaucho als erster Zugang zum Verständnis der neuen Welt und Kultur. Darüber hinaus war der Gaucho für die männlichen Einwanderer beziehungsweise auch für die jungen Argentinier ein Vorbild, dem nachgeeifert wurde. Ziel war es selbst der wahre, unbeugsame, freie Mann der Pampa zu werden. Der Gaucho wuchs zum nationalen Symbol argentinischer Männlichkeit heran und wurde zum folkloristischen Gut der argentinidad. Für die eigene Identität beziehungsweise für die argentinidad war es notwendig einen Mythos zu finden, der ein Gefühl von Einheit, Freiheit, Zugehörigkeit und Verantwortung im Umgang mit den unendlichen Weiten des Landes und den darin ansässigen Bewohnern teilte.27 Die einzige Figur, die in der Entwicklung Argentiniens mit diesen Eigenschaften ausgezeichnete wurde, ist der Gaucho.
Der Aufstieg des Mythos gaucho als Identitätsfigur von der Unterschicht zu einem nationalen Symbol der Männlichkeit und Repräsentant Argentiniens macht deutlich, dass die Literatur einen bedeutenden Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet hat. Wie bereits erwähnt worden ist, war der Gaucho häufig Leitmotiv vieler Veröffentlichungen im 19. Jahrhundert und den folgenden Jahren. Ein bisher noch nicht genannter Autor, der das Motiv des Gauchos ebenfalls in seinen Werken prägend behandelte, ist der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges. Die cuentos El Muerto, El fin und El Sur, in denen sich Borges mit dem Motiv des Gauchos auseinandersetzt, bilden die Grundlage der Analyse dieser Masterarbeit im 5. Kapitel. Bevor allerdings die Analyse der cuentos stattfindet, soll zunächst in einer vertiefenden Betrachtung im 4. Kapitel der persönliche Bezug zwischen dem Autor und der Figur des Gauchos herausgearbeitet werden.
4. Jorge Luis Borges und die Figur des gaucho
Der in Buenos Aires geborene Schriftsteller Jorge Luis Borges zählt mit Franz Kafka zu den prägendsten Autoren im 20. Jahrhundert. Die Adjektive borgiano oder borgesiano sind Neologismen der spanischen Sprache und unterstreichen den herausragenden Stil von Borges in seinen überwiegend fantastischen Werken.28
Durch den borgesianischen Schreibstil und die Verwendung von immer wiederkehrenden Motiven sind die magischen Erzählungen und Gedichte von Borges an einige bestimmte Dingsymbole angelehnt. Solche Symbole sind zum Beispiel das Labyrinth, die Bibliothek, der Spiegel, der Tiger, die Enzyklopädie oder der Traum. Unter den periodisch wiederkehrenden Dingsymbolen finden sich in den Werken von Borges selbstverständlich auch Motive wieder, die mit der argentinischen Identität aus dem vorherigen Kapitel in Verbindung gebracht werden können. Kennzeichnende Motive der argentinischen Identität sind in seinen Werken beispielsweise: Buenos Aires, der Süden Argentiniens, die Pampa und vor allem die Figur des Gauchos.29
Über den Gaucho schrieb Borges einst: „ Vivieron su destino como en un sueño, sin saber quiénes eran o qué eran. Tal vez lo mismo nos ocurre a nosotros.“30 Es scheint, als könnte sich Borges mit dem Schicksal der Gauchos identifizieren, weil er möglicherweise ebenso auf der Suche nach der eigenen (argentinischen) Identität ist und sich selbst Fragen zu seiner Herkunft und zu seinem Platz in der Gesellschaft stellt. Weiterhin verwendet Borges in dem angegebenen Zitat die Personalformen nos und nosotros, dass eine zusätzliche Identifikation der Gesellschaft mit der Figur des Gauchos unterstreicht. Um den hier formulierten ersten persönlichen Bezug zwischen Borges und der Figur des Gauchos weiter ausführen zu können, ist es notwendig in die Biographie von Jorge Luis Borges zu blicken, um weitere Zusammenhänge herstellen zu können.
Bei der Betrachtung des Werdegangs von Borges können bei flüchtiger Ansicht wenig Parallelen zur Figur des Gauchos erkannt werden. Vergleicht man allerdings einige genannte Eigenschaften des Gauchos aus der Historie (vgl. Kapitel 2.1), können dennoch einige persönliche Affinitäten beziehungsweise Übereinstimmungen festgestellt werden.
Das Verhältnis zwischen Argentinien und dem in Buenos Aires geborenen Schriftsteller erwies sich sehr lange als prekär. Durch umstrittene politische Äußerungen und der begrüßenden Haltung gegenüber der Militärdiktatur, die unter anderem politisch begründete Morde beging, wurde die öffentliche Wahrnehmung und Würdigung der Werke von Borges stark beeinträchtigt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts befand sich der Gaucho, wie der Schriftsteller Jorge Luis Borges, in einer ähnlichen Situation. Durch sein Vagabundenleben ohne festen Wohnsitz und die Beschreibungen, die aus den Polizeiberichten dieser Zeit hervorgingen (vgl. Kapitel 2.1), war das Ansehen in der argentinischen Gesellschaft durchaus negativ behaftet. Obwohl dem Gaucho ehrenhafte Eigenschaften und Fähigkeiten zugeschrieben wurden, fehlte die Würdigung der positiven Eigenschaften, ähnlich wie bei Borges, zunächst völlig.
Neben den zweifelhaften politischen Ansichten von Borges, wurde er obendrein für seine Herkunft kritisiert. Nestór Ibarra schrieb 1951 über Borges, ,,[...] dass kein Mensch weniger Heimat besäße als Jorge Luis Borges“.31 Nestor deutete anhand dieser Kritik daraufhin, dass Borges viele Jahre außerhalb von Argentinien in Europa verbracht hatte, in seinen Werken nur in Ansätzen die argentinische Identität vertrat und im Ausland als europäischer Argentinier galt. Nestor sprach Borges seine argentinische Heimat und Herkunft ab. In diesem Zusammenhang betonte Borges allerdings auch, dass sein Stammbaum eigentlich dafür spreche kein Argentinier zu sein. Vielmehr fühlte er sich als Weltbürger und bezeichnete sich zudem als peripherer Dichter.32
Möglicherweise war es gerade deshalb für Borges wichtig das Motiv der fehlenden Identität in seinen späteren Niederschriften zu behandeln. Darüber hinaus lässt sich anhand der Kritik von Néstor ein weiterer Bezug zur Figur des Gauchos herstellen. Übereinstimmend mit dem heimatlosen Borges, zog auch der Gaucho ohne wirkliche Heimat auf der Suche nach Arbeit, dem Sinn des Lebens, der eigenen Bestimmung und Identität durch die peripheren Weiten der Pampa. Darüber hinaus wurde zugleich darüber diskutiert, ob der Gaucho zur argentinischen Identität gezählt werden konnte, als es darum ging die Grundelemente der argentinidad zu identifizieren. In der argentinischen Gesellschaft wurde der Gaucho als Außenseiter beziehungsweise als Outlaw bezeichnet, ebenso wie Jorge Luis Borges, der als argentinischer Fremdkörper durch seine Nähe zu Europa wahrgenommen wurde.
Ein weiterer Aspekt, der einen persönlichen Bezug zwischen Borges und der Figur des Gauchos darstellt, ist der bekannte Wunsch des Autors den heldenhaft Tod in einer Messerstecherei zu finden. In der Tradition der Gauchos heißt es, dass sie vor keiner Auseinandersetzung zurückweichen und es nichts Ehrenhafteres gebe, als sich in der unendlichen Pampa in einem Messerkampf zu duellieren.33 Diese Darstellungsweise des heldenhaften Todes, war bereits in der Romanik ein grundlegendes Motiv. Darüber hinaus zeigt es die Verbundenheit des Schriftstellers zur Tradition der Gauchos, die er als persönliches Vorbild betrachtet.
Um obendrein den persönlichen Bezug zwischen Borges und dem Wesen des Gauchos noch deutlicher zu skizzieren, ist es notwendig eine bedeutungsvolle Situation in der Biographie des Schriftstellers aufzugreifen. Wie bereits erwähnt, war die Wahrnehmung von Borges in der argentinischen Öffentlichkeit nicht unumstritten. Seine Aussagen über Politik und Rassismus sorgten für viele intensive Diskussionen und Auseinandersetzungen. Obwohl er in den 60er Jahren mit den größten nationalen und internationalen Preisen für seine Werke ausgezeichnet wurde (u.a mit dem Premio Cervantes, dem Formentor-Preis und ca. sieben Ehrendoktorwürdigungen von Elite-Universitäten), blieb ihm die höchste Auszeichnung der Welt, der Nobelpreis für Literatur, verwehrt. Die Außenwahrnehmung von Borges, begründet durch seine Äußerungen, schmälerten seine Leistungen und Erfolge. Dennoch wurde Jorge Luis Borges ab den 1980er Jahren zum argentinischen Nationalheld und seine Werke erhielten höchste Wertschätzung und Anerkennung.34
Ähnlich erging es dem Gaucho, der durch seine negativ behaftete Wahrnehmung in der Öffentlichkeit sehr lange ignoriert und missachtet wurde, bevor er schließlich zum Nationalsymbol Argentiniens aufstieg. Sowohl die Traditionen und Bedeutung der Gauchos als auch die nationalen und internationalen Erfolge von Borges wurden ,,[...] wie die Reliquien eines in seinem eigenen Land nicht geltenden Propheten gesammelt [und] als Beweis für die nationale Bedeutung [im Nachhinein] ausgestellt.35
Die aufgezeigten Parallelen zwischen Borges und dem Viehhirten der Pampa unterstreichen, dass er in der Figur des Gauchos einen autobiographischen Charakter aus Argentinien gefunden hat, der ihn wie keinen anderen in der Gesellschaft und Literatur repräsentieren kann. Dahingehend ist es keineswegs verwunderlich, dass Borges unter anderem den Mythos gaucho in seinen cuentos als zentrales Thema behandelt.
Inwieweit sich die Darstellung des Gauchos in den ausgewählten cuentos von Borges unterscheidet und welche möglichen autobiographischen Inhalte mit in die Erzählungen einfließen, wird in den folgenden Kapiteln näher erläutert. Hierfür werden die cuentos El muerto, El fin und El Sur analysiert.
5. Inhalt und Struktur des cuento El muerto
5.1 Inhaltsangabe von El muerto
Der cuento El muerto beginnt mit einer direkten Beschreibung des Protagonisten der Erzählung. Benjamín Otálora, ein neunzehnjähriger Junge aus den Vierteln der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, tötet in einer Auseinandersetzung unbekümmert seinen Kontrahenten. Aufgrund des Mordes, flieht Otálora auf Empfehlung des Vorsitzenden der Gemeinde nach Uruguay. Mit dem Hinweis sich an einen gewissen Azevedo Bandeira zu wenden, verlässt Otálora die Stadt in Richtung Montevideo. Auch in Montevideo gerät Benjamín zufällig in einen Konflikt, bei dem ein Messer gezogen wird. Innerhalb des Handgemenges schafft es Benjamín einen gefährlichen Messerstich abzufangen und rettet dadurch dem zweiten Protagonisten, Azevedo Bandeira, das Leben. Für die erste Nacht in Montevideo schließt sich Benjamín einigen Viehtreibern an und begleitet sie zu ihrem Lager. Am folgenden Morgen wird Otálora von einem Bauernknecht geweckt, der in der Nacht zuvor Bandeira mit einem Messer angegriffen hat.
Otálora wird von dem erwähnten Bauernknecht in das Büro von Bandeira geführt. Er erhält das Angebot, sich den Männern von Bandeira als Herdentreiber anzuschließen. Ohne weitere Bedenken willigt Otálora ein und erlernt in den folgenden Jahren das Handwerk des Gauchos. Benjamín Otálora strebt jedoch nach mehr Einfluss und Macht. Er beginnt selbstständig, ohne Anweisung von Bandeira, mit dem Schmuggel von Schnaps und versucht sich auf diese Weise mehr Macht zu verschaffen. Als es zum Streit zwischen Benjamín und einem seiner Kameraden kommt, verwundet er seinen Begleiter und tritt an seine Stelle in der Hierarchie.
Nach einem Jahr kehrt Otálora mit den Männern Bandeiras zurück nach Montevideo und erfährt, dass ihr Anführer stark erkrankt ist. Otálora wird mit der Weisung beauftragt, dem kranken Bandeira seine Wärmevorrichtungen und Mate-Tee zu bringen. In der Regel führen solche Tätigkeiten nur Sklaven und Dunkelhäutige aus. Ohne der offensichtlichen Demütigung weitere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, führt Otálora den Auftrag aus.
Einige Tage nach dem Treffen zwischen Otálora und Bandeira sollen die Viehtreiber zum Anwesen El Spuspiro in der Pampa reiten. Kurz nach dem Eintreffen der Männer heißt es, dass Bandeira ebenfalls auf dem Weg zu dem Anwesen sei, da es scheinbar Probleme mit einem verbündeten politischen Anführer geben soll. Darüber hinaus ist den Knechten und Bandeira zu Ohren gekommen, dass ein aufsässiger Halbgaucho das Kommando übernehmen möchte. Otálora gefällt dieses Gerücht und empfindet es als große Ehre, dass solche Behauptungen über ihn existieren.
Von seinem Vorhaben, Bandeira als Anführer zu stürzen, lässt sich Otálora nicht abbringen und weiht den wortkargen Gaucho Ulpiano Suárez in seine Pläne ein. Im weiteren Verlauf ihres Aufenthalts auf der estancia widersetzt sich Otálora weiterhin den Befehlen Bandeiras und handelt eigenmächtig. Eines Tages kommt es zu einer Schießerei und Otálora führt Bandeiras Männer selbstverständlich auf dessen Pferd an. Darüber hinaus verbringt Otálora die Nacht bei der Frau von Bandeira.
In der letzten Nacht des Jahres 1894 feiern die Männer von Bandeira ein ausgelassenes Fest, nur ihr Anführer hüllt sich in geheimnisvolles Schweigen. Als die Uhr zwölf schlägt, geht Bandeira mit seinen Männern in das Zimmer seiner Frau und entdecken Otálora in ihrem Bett. Noch bevor Ulpiano Suárez das Feuer eröffnet, soll die rothaarige Frau Otálora vor allen Männern einen Kuss geben. Kurz darauf drückt Suárez ab. Mit dieser Beschreibung endet der cuento.
Nachdem der Inhalt des cuento dargestellt wurde, schließt sich diesem Kapitel die strukturelle Analyse an.
5.2 Strukturelle Analyse
Bei der Identifizierung der Rahmenstruktur konnte bereits durch die inhaltliche Zusammenfassung des cuento das Thema der Erzählung herausgestellt werden. Zur Chronologie dieses Werkes ist zu sagen, dass es sich um einen kontinuierlichen Ablauf der Erzählung handelt. Der zeitliche Rahmen von El muerto lässt sich auf ungefähr vier Jahre eingrenzen. Innerhalb dieser doch recht langen Zeit entwickelt sich der junge Benjamín Otálora aus Buenos Aires in der Pampa zu einem Gaucho, zumindest ist er davon überzeugt.
Darüber hinaus besteht der cuento aus zwölf unterschiedlichen Teilen, die eigene abgeschlossene Situationen darstellen. Diese Situationen werden durch die anschließenden Abschnitte und neue Handlungsfelder ergänzt. Jeder Abschnitt steht mit einer eigenen Handlung für sich und verdeutlicht, dass der cuento aus vielen kleinen Erzählungen besteht, die zu einer großen Handlung zusammengeführt werden. Im Folgenden wird nun eine exakte Einteilung der entsprechenden Textabschnitte gegeben.
Der erste Abschnitt (S. 32 Z. 1 bis Z. 14), befindet sich im Buch Aleph von Jorge Luis Borges. Hier wird durch den Erzähler in einer inhaltlichen Vorwegnahme die Geschichte von Benjamín Otálora skizziert. Es wird von einem Jungen aus Buenos Aires berichtet, der es zum Hauptmann einer Schmugglerbande gebracht haben soll. Der Erzähler beginnt den cuento wie eine Geschichte beziehungsweise wie eine Neuigkeit, die er selbst nur berichtet bekommen hat. Aus diesem Grund verdeutlicht er dem Leser, dass er sich nur auf die wesentlichen Punkte konzentriert. ,, Ignoro los detalles de su aventura; cuando me sean revelados, he rectificar y ampliar estas páginas. Por ahora, este resumen puede ser útil. “36
[...]
1 Vgl. Hess et al. (42003: 223).
2 Vgl. Hernández (1995: 223-239).
3 Vgl. Carretero (2002: 228-232).
4 Vgl. Hernández (1995: 10, 223).
5 Borcosque (1974: 21).
6 Von Hahn (1943: 165).
7 Vgl. Hernández (1995: 10).
8 Burri et al. (1959: 17).
9 Vgl. Burri et al. (1959: 17), Carretero (2002: 225-228).
10 Kornberger (1990: 30).
11 Vgl. Monla (1912: 17-27).
12 Entnommen von: Wikipedia (online).
13 Vgl. Hernández (1995: 226).
14 Vgl. Zapata (1978: 282).
15 Ebd.
16 Vgl. Hernández (1995: 236).
17 Vgl. Zapata (1978: 283-283).
18 Hernández (1995: 231).
19 Von Hahn (1943: 164).
20 Martínez (2010: 132).
21 Vgl. Munzinger Online (2016: 1).
22 Martínez (2010: 114).
23 Vgl. Teltscher (2002: 75).
24 Vgl. Sarmiento (2003: 27-69).
25 Borcosque (1974: 20).
26 De Estrada (1981: 101).
27 Vgl. Telscher (2002: 73-75), Martínez (2010: 161, 189).
28 Vgl. Hanke-Schaefer (1999: 7).
29 Vgl. Gentz (2014: 65-66).
30 Schlickers (2007: 11).
31 Gentz (2014: 70).
32 Vgl. ebd., 72-74.
33 Vgl. Hernández (1995: 224-226), Gentz (2014: 152).
34 Gentz (2014: 41-42).
35 Ebd., 134.
36 Borges (342008: 32).
- Citation du texte
- Julian Knörich (Auteur), 2018, Darstellung des Gauchos in ausgewählten Cuentos von Jorge Luis Borges. Der argentinische Gaucho, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/983726
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