Barbara M. Baron
Kritische Untersuchung von Nuissls Begriff der „Männlichkeit“ und dessen Bedeutung für die Männerbildung
1. Einleitung
Diese Arbeit steht im Rahmen des Gesamtseminarthemas ,,Männerbildung". In diesem Seminar soll untersucht werden welche Bilder über Männer in der Gesellschaft bestehen, wie die gegenwärtige Situation für Männer in bestimmten Bereichen ist, das Selbstbild der Männer - sowie ob, und wenn ja, was für Probleme und Krisen Männer haben. Das Thema meiner Arbeit ,,Kritische Untersuchung von Nuissls Begriff der ,,Männlichkeit" und dessen Bedeutung für die Männerbildung" ist in diesem Zusammenhang zu sehen. In seinem Buch ,,Männerbildung ,,Vom Netzwerk bildungsferner Männlichkeit"1 erläutert Nuissl das Problem, warum Männer einer ,,bildungsfernen Gruppe"(Nuissl 1993, S.13) entsprechen. Er versucht in dem Text ,,...den Stand der Männerforschung und das, was über ,,Männlichkeit" bekannt ist, zusammenzufassen und auf diejenigen Punkte zu konzentrieren, die bei Männerbildung wichtig sind."(Nuissl 1993, S.9) Ihm geht es darum, ,,... die Stärken und Schwächen von Männern zu definieren, deren Zusammenhang zu verstehen und die jeweilige Balance männlicher Identität zu suchen."(Nuissl 1993, S.10) Hierbei sieht Nuissl ,,... einen deutlichen Unterschied zwischen dem, was ,,Mann" ist, und dem, was gesellschaftlich als ,,Männlichkeit" beschrieben und bewertet wird."(Nuissl 1993, S.9) Im Folgenden soll untersucht werden, ob Nuissl diesen Ansprüchen gerecht wird. Hierfür möchte ich zunächst die Hauptaussagen Nuissls zusammenfassen. Zur Verdeutlichung wird zu jedem Aspekt ein Zitat vorgeführt.
2. Nuissls Hauptaussagen in seinem Buch ,,Männerbildung- Vom Netzwerk bildungsferner Männlichkeit"
2.1. Repräsentation der Norm:
,,Der Normalmann sagt nicht, welches die gesellschaftliche Norm ist, er repräsentiert sie. Was und wie er ist, ist normal, alles andere ist auf die eine oder andere Weise defizitär. Probleme, welche die genannte Norm in Frage stellen könnten, werden ausgegrenzt und zum Stigma einzelner Bevölkerungsgruppen gemacht. Die Arbeitslosen sind dafür ein gutes Beispiel, aber auch die Homosexuellen."(Nuissl 1993, S.17) Nuissl sieht die ,,Normalmänner" bei den berufstätigen heterosexuellen Deutschen, die zwischen 25 und 50 Jahre alt sind. Sie repräsentieren die Norm, und die Zielgruppen für die Bildungsarbeit werden von ihnen bestimmt. Diese Zielgruppen zeigen Mängel auf, die behoben werden müssen, während die Normalmänner selber keine Probleme haben. Ihre Probleme sind die der Gesellschaft: ,,Probleme des Mannes sind gesellschaftliche Probleme, also auch solche der Frauen, eben Probleme der Allgemeinheit."2 Das bedeutet, daß der Mann seine Identität auf die gesellschaftliche Allgemeinheit überträgt und dabei seine eigenen Körperwünsche, Energie und Sehnsüchte abtötet. Laut Nuissl kennt man Probleme des männlichen Geschlechts gar nicht, denn ,,...Männer sind immer nur Individuen, [und] haben überhaupt keine Geschlechtsidentität."3 Hat der Mann Schwächen, so sind das individuelle Defizite gegenüber der Norm.
An dieser Stelle läßt sich die Erläuterung Nuissls von Objektivität und Subjektivität einbringen, da er die Objektivität als eine der engsten mit Männlichkeit verknüpfte Kategorie bezeichnet. Der Mann formuliert die Norm der Gellschaft - doch eine Norm ist erst dann legitim, ,,...wenn sie intersubjektiv gültig, also objektiv ist." (Nuissl 1993, S.41) So darf der Mann als ein Vertreter der Objektivität in der von ihm gelenkten Gesellschaft keine geschlechtsspezifischen Eigeninteressen haben. Da der Mann als rational, logisch denkend und damit objektiv gilt, wird der Frau die Subjektivität zugesprochen, wobei letzteres mit Chaos gleichzusetzen ist. Hierin sieht Nuissl auch die geschlechtsbezogene Bestimmung von Ordnung und Chaos, die in der Gesellschaft gültig ist. Auch ist die Objektivität eine Legitimation der männlichen Herrschaft, denn während die Identität des Mannes gesellschaftlich und öffentlich ist, ist die der Frau privat und individuell. Hierin sieht Nuissl ,,...gewissermaßen die ,,Normalverteilung" patriarchaler Gesellschaftsverhältnisse."4
2.2. Männer haben
,,Männer sind weniger als sie haben."(Nuissl 1993, S.44)
Männer identifizieren sich durch das Haben: da den Frauen durch ihre Gebähr- und Stillfähigkeit die Weiblichkeit gesichert ist, glauben die Männer ihr Geschlecht immer wieder erneut bestätigen zu müssen. Mit Haben sind auch Attribute verbunden - wie Benutzten oder Gewalt. Mit Gewalt können zunächst Dinge und Menschen in Besitz genommen werden, dann aber auch ungerecht mit ihnen als eigenen Besitz umgegangen werden. Haben und Sein stehen weiter im Zusammenhang mit Innen und Außen. Da Haben aus dem äußeren entspringt und Sein aus dem Inneren, bedeutet die Bestimmung der männlichen Identität über das Haben auch, daß ein Teil von ihnen selber verlustig geht: ihr Inneres. Nuissl folgert hieraus, daß sich Männer einen Panzer bauen, um das Innere vom äußeren zu isolieren. Dadurch bleibt ihr Inneres verschlossen und geschützt, und die Rationalität des äußeren wird nicht durch eigene innere Gefühle gestört. Dieser Panzer ermöglicht die Existenz des Inneren und die Beherrschung des äußeren. Nuissl deutet jedoch darauf hin, daß das geschützte Innere der Männer in der Entwicklung ,,wie ein nicht benutzter Muskel"(Nuissl 1993, S.46) zurückbleibt, was bei Druck oder Problemen hervortritt - wie in kindischen Reaktionen, wie schmollen, jammern, beleidigt sein o.ä. ,,Je mehr ein Mann ,,hat", je mehr Menschen und Dinge er beherrscht, desto sicherer ist der Panzer um sein Inneres."(Nuissl 1993, S.47) ,,Haben" dient dem Aufbau der Identität. Finanziell schwächere Männer regeln dies über bestimmte Kommunikationsformen oder bedienen sich an Symbolen, die für Haben stehen können - wie das Auto, Motorrad, Messer, Orden u.s.w. Nuissl legt dar, daß diese Art von Identitätsbildung der Grund dafür ist, daß Männer Schwierigkeiten beim Abschiednehmen haben. Für sie findet kein ,,Abschied" statt, sondern nur ein Wechsel im Besitz. ,,So gesehen bleiben Männer ihr Leben lang zu Hause, nämlich zusammen mit ihrem Habbesitz."(Nuissl 1993, S.48)
2.3. Männer als Väter, Männer als Söhne
,,Männer sind nicht nur so, weil sie so geboren wurden, sondern vor allem, weil sie so geworden sind."(Nuissl 1993, S.56)
Nuissl führt weiter, daß daran die Mütter beteiligt waren, die Väter, das soziale Umfeld, Menschen im Umkreis von Vater und Mutter, Alterskameraden und -kameradinnen und neuerdings auch Medien, Fernsehen und Bücher. Den zentralen Ansatz für die Forschung der männlichen Sozialisation sieht Nuissl in der Beziehung zu den Müttern. Auch läßt sich hier die Ursache für die fehlende Geschlechtsidentität der Männer finden. Beobachtet werden vor allem ,,...die verbreitete Unfähigkeit von Männern, einen individuellen Zusammenhang zwischen Gefühlen und Gedanken herzustellen. Dem Mann mangelt es an dem, was Frauen ausprägen können: Eine Beziehung zwischen Gefühl und Gedanken, Verständnis des eigenen Geschlechts, ein Kontakt zu sich selbst."5 Nuissl erläutert, daß Männer diese Eigenschaften nicht entwickeln können, da sie sich über die Abgrenzung vom Weiblichen definieren. Schon von Kindheit an werden ihnen weibliche Eigenschaften als gesellschaftlich schwach beigebracht. Unterstützt wird dies alles vom Vater - denn wegen seiner ständigen Abwesenheit haben die Söhne niemanden, der ihnen Vorbild und Leitfigur ist und ihnen Verhaltensmuster zeigt: Sie können sich nur an einem Idealbild orientieren, daß aus besonderen Situationen, Erzählungen oder Visionen entstanden ist - nicht jedoch aus dem Alltag eines Mannes. Dies führt auch dazu, daß die Söhne Beziehung, Kommunikation, Liebe und alle Arten von Fürsorge mit weiblicher Identität gleichsetzten. So erleben die Söhne bei der Ablösung von der Mutter einen inneren Bruch der zwar verdrängt wird, aber später als Frauengeringschätzung oder Schwulenhaß wiederkehrt (hier bezieht sich Nuissl auf die Hessische Jugend 1992). So haben Jungen Schwierigkeiten mit ihrer Geschlechtsrolle zurechtzukommen und ihre Bedürftigkeit nach Hilfe deutlich zu machen sowie Hilfe anzunehmen.
Das Vaterbild enthält wenig Anteil von Gefühl, ist jedoch sehr von Norm und abstrakter Rationalität geprägt. Durch seine Abwesenheit beschränkt sich sein Kontakt zu seinen Kindern nur auf das Nötigste. Zwar ist der Vater derjenige der die Regeln in der Familie vorgibt und diese vertritt, doch das einzige was die Kinder von ihm haben ist ein fernes Bild. ,,Diejenigen Väter, die in der Familie von ihren Söhnen wahrgenommen wurden, sind meist solche, die man sich als Vater eher weniger wünschen würde."(Nuissl 1993, S.58)
2.4. Männer im Beruf
,,Produktivität wird von Männern als ausschließliches Kriterium von Erfolg gesehen; ein Haus bauen, ein Kind zeugen, einen Baum pflanzen ist nicht eine allgemein menschliche, sondern eine männliche Vision erfüllten Lebens. Die männliche Vorstellung vom Leben ist die, zu produzieren."(Nuissl 1993, S.27) Dazu gehören nicht die menschlichen Tätigkeiten wie Liebes- und Beziehungsarbeit, Pflege, Fürsorge und Hege, da hierin nichts erschaffen wird und so auch kein männlicher Erfolg erzielt werden kann. Daher ist das System der Berufstätigkeit auf die Männer zugeschnitten - denn dadurch, daß die Frauen den reproduktiven Teil wie die Hausarbeit übernehmen, ist die produktive Arbeit möglich. Nuissl hat hier die tiefenpsychologische Annahme, daß der Drang der Männer immer erneut Sachen hervorzubringen und zu produzieren aus Neid geschieht, um Ausgleich für die Gebährfähigkeit der Frauen zu schaffen. Hierbei ist es ihnen gelungen die Produktion von Gegenständen gesellschaftlich höher einzustufen, woraus resultiert, daß Männer ihre Interessen von sich weg auf Sachen lenkt. ,,Diese Verdinglichung umfaßt die gesamte männliche Wahrnehmung, vor allem aber auch sich selbst."(Nuissl 1993, S.28) Dies erklärt das Schweigen der Männer, aber auch ihr unbeirrbares Akzeptieren von Sachgesetzlichkeiten, Technikfaszination und technologischem Fortschritt. Da die Berufstätigkeit also ein wichtiger Faktor für die Konstitution der männlichen Identität ist, empfinden die Männer den Abgang als eine Degradierung: denn der Abgang aus dem produktiven Leben bedeutet den Eintritt in das weibliche reproduktive.
2.5. Männer im Gespräch
,,Männer sprechen von der Sache, sie schweigen von sich. Aber Männer sprechen nicht wegen der Sache, sondern wegen sich."(Nuissl 1993, S.36)
Wenn Männer sprechen, dreht es sich immer um ihre Leistungen, Erfolgen und Ideen, aber nie darum, wie sie selber sind. Daß in dem ständigen Wettstreit- und Argumentiergehabe das Lernen und die Kreativität unterdrückt wird, zeigt sich deutlich darin, daß Männer kaum Fragen stellen und selten zuhören. Das männliche Schweigen von sich wird mit dem Bild des harten einsamen ,,lonesome cowboy"(Nuissl 1993, S.35) geschmückt, während in den meisten sozialen Situationen, vor allem wenn die Mehrheit männlich ist, fast ausschließlich nur Männer reden. Nuissl meint, daß entgegen dem traditionellen Bild die Männer geschwätziger sind als Frauen. Weiterhin macht er die Feststellung, daß nicht nur das Sprachverhalten sondern auch die Sprache an sich männlicher ist als angenommen wird: männliche Kompetenzzuschreibungen wie z.B. ,,analytische Kompetenz" oder ,,Reflexionskompetenz" sind inhaltsneutral und frei übertragbar, während Begriffe wie ,,Beziehungskompetenz" oder ,,Gefühlskompetenz" die man den Frauen zuschreibt, gebunden sind an Inhalten, die Männer gesellschaftlich nicht so hoch bewerten. Nuissl spricht von ,,...der Unfähigkeit von Jungen und Männern, über das zu sprechen, was sie bewegt."(Nuissl 1993, S.38) Der Grund hierfür ist, daß Männer häufig ,,...nichts ,,bewegt", d.h. emotional anspricht."(Nuissl 1993, S.38) Jedoch existiert ein ,,schweigendes Verstehen der Männer untereinander"(Nuissl 1993, S.38). Dies wird vor allem deutlich, wenn sich Männer trotz Sprachgrenzen gemeinsam gegenüber den Frauen abgrenzen - laut Nuissl ist dies das Schweigen der gemeinsam erfahrenen Kultur von Herrschaft.
2.6. Männer und ihr Körper
,,Männer funktionalisieren und technisieren häufig ihren eigenen und den fremden weiblichen Körper."(Nuissl 1993, S.50)
Nuissl bezieht sich hier auf das archaische Modell: Der Kopf ist Sitz des Menschen, und Körper Sitz der Natur. So bedeutet die von den Männern übernommene Aufgabe, die Herrschaft der Menschen über die Natur zu organisieren, auch die Beherrschung und Kontrolle des eigenen Körpers. Um die äußere Natur beherrschen zu können wird die eigene innere Natur verdrängt und abgewertet - wobei die Frauen als menschliche Vertreterinnen der Natur gesehen werden. ,,Die Beherrschung der Natur durch den Mann ist Abenteuer und Ausbeutung, die der Frau durch den Mann ist Unterdrückung, die der Natur im Mann ist Verleugnung und Verdrängung."(Nuissl 1993, S.50) Das Wissen über den eigen und erst recht über den fremden Körper ist sehr beschränkt, Signale werden kaum verstanden. Männer haben daher ein eingeschränktes Gefühlsleben, ein begrenztes Lustempfinden, eine reduzierte bzw. Genitale Sexualität, eine verkürzte Lebenserwartung sowie vielfältige Gesundheitsrisiken und -schäden. Auch haben Männer ein gestörtes Verhältnis zum Älterwerden, das Altern existiert laut Nuissl für sie nicht. Ab Anfang 20, wo die Norm erreicht ist, altert der Mann nicht mehr. Leistungsansprüche an den Körper bleiben gesteigert, Einschränkungen werden unterdrückt. Daher ist das Ende der Berufstätigkeit besonders niederschmetternd, denn hier wird der Mann meist zum ersten Mal mit der Tatsache des eigenen Alterns und ihren Folgen konfrontiert. Männer definieren das Altern also als unproduktiv und Krankheiten als störende Einschränkungen ihrer Produktivität.
2.7. Männerbildung und ihre Probleme
,,...Da dies so schwierig ist, kann man in der Tat sagen, daß Männer zu den ,,bildungsfernen Schichten" gehören."(Nuissl 1993, S.69)
Die männliche Herrschaft in der Gesellschaft führt eine Reihe von Problemen für Jungen und Männer mit sich. Es wird schwierig für sie, sich selbst in den eigenen Stärken und Schwächen, Interessen und Bedürfnissen als Subjekt wahrzunehmen - denn als Vertreter der Objektivität müssen sie die eigene Subjektivität ausgrenzen. Auch beherrschen sich die Männer mit ihrer eigenen Norm. Wenn der Mann sich nicht entsprechend der Norm verhält, wird er individuell und gesellschaftlich bestraft. Oft geschieht dies auch durch die Frauen die verhindern wollen, daß ihr Mann oder Sohn in der Gesellschaft versagt. Stärker als dieser Druck von außen ist jedoch der innere, nämlich die Angst vor dem Verlust der Norm. Nuissl erläutert, daß auch wenn die Männer die Normen in der Regel gar nicht erfüllen, diese als ein äußeres Skelett von Geschlechtsidentität dienen. So bedeutet ein Angriff auf die gesellschaftliche Norm auch einen angsteinflößenden Eingriff auf die Identität des Mannes. Männer können nicht einfach auf die Norm verzichten, da dies auch den Verlust ihrer Identität bedeuten würde. Weitere Probleme sind die Angst um den Arbeitsplatz, die Angst vor einem Machtverlust durch die zunehmende Emanzipation der Frauen, die Angst vor der eigenen Erotik sowie vor der Unsicherheit im Umgang mit ihr und die Angst vor der Ziellosigkeit und Unzufriedenheit. Offensichtlich helfen da auch nicht die Ausgrenzung der Zielgruppe ,,Arbeitslose" oder ,,Homosexuelle".
Solche Bildungsanlässe werden laut Nuissl typischerweise auf zwei Arten verarbeitet: entweder durch eine erhöhte Aggressivität z.B. gegenüber Frauen und Ausländern oder durch die Betrachtung solcher Probleme als persönliche Mängel in der Erfüllung der Norm. Um die ,,Männlichkeit" zu steigern arbeiten sie dann noch härter und leisten noch mehr. Durch diese Art von Problembewältigung, sagt Nuissl, kann höchstens ein Bildungsinteresse entstehen, mit dem Zweck ihre Leistungen zu sichern und zu steigern. Dadurch lernen Männer zwar weitere spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten - aber dafür erst recht nicht ihre Geschlechtsidentität in den Blick zu bekommen. So werden Männer die sich um Weiterbildung bemühen oft verdächtigt, daß es ihnen dabei nur um die Sicherung der Herrschaft geht. Nicht nur Nuissl, sondern auch andere Pädagogen erläutern, daß bei der Männerbildung ein großes Motivationsproblem besteht. Volkshochschulen mit Männerangeboten berichten, daß so gut wie kein Interesse bei den Männern besteht, aber auch innerhalb der Seminare sei die Eigenmotivation sehr gering. Nuissl plädiert, das die Angebote trotzdem weiterhin bestehen bleiben sollen, auch wenn sie über viele Jahre hinweg ohne Zuspruch bleiben. Denn Männer müssen zunächst ,,...gewissermaßen eine doppelte Hürde (...) überwinden."(Nuissl 1993, S.65): eigene Probleme müssen erkannt und akzeptiert werden, darauf müssen diese als Bildungsproblem erfaßt werden, welche dann zielgerichtet bearbeitet werden können. Ein weiterer Grund der es erschwert Männer für die Männerbildung zu gewinnen ist, daß es mit einer Veränderung in der Machtstruktur in Verbindung gebracht wird - Männer befürchten einen Machtverlust.
Nuissel macht deutlich, daß, um einen Abbau dieser Probleme zu ermöglichen, zunächst einmal offen geklärt werden muß, was und wozu Männer lernen sollen. Hierbei reicht es nicht, ständig Ideen und Methoden von Frauenbewegungen zu holen. Männer müssen erst einmal begreifen und erfahren, was jenseits der Herrschaftssicherung der Sinn und Zweck von Männerbildung überhaupt ist: Sie müssen Erfahrungen machen, daß es befreiend, hilfreich und belebend ist Schwächen, Probleme und Ängste zuzugeben und darüber zu reden. Nuissl erläutert, daß ,,solange es diese Erfahrungen nicht gibt, solange sie nicht zugelassen werden, hat Männerbildung große Schwierigkeiten."(Nuissl 1993, S.69)
3. Kritische Untersuchung von Nuissls Begriff der ,,Männlichkeit" mit Hilfe von Wolfgang Mertens ´ Theorie der ,,Psychoanalyse als männlichen Ideologie"
Wie bereits oben angesprochen verfolgt Nuissl bei seinem Buch das Ziel: ,,den Stand der Männerforschung und das, was über ,,Männlichkeit" bekannt ist, zusammenzufassen und auf diejenigen Punkte zu konzentrieren, die bei Männerbildung wichtig sind."(Nuissl 1993, S.9) Ihm geht es darum, ,,... die Stärken und Schwächen von Männern zu definieren, deren Zusammenhang zu verstehen und die jeweilige Balance männlicher Identität zu suchen."(Nuissl 1993, S.10) Hierbei sieht Nuissl ,,... einen deutlichen Unterschied zwischen dem, was ,,Mann" ist, und dem, was gesellschaftlich als ,,Männlichkeit" beschrieben und bewertet wird."(Nuissl 1993, S.9) Ob diese Ansprüche tatsächlich erfüllt werden, möchte ich im Folgenden untersuchen. Wie Nuissl erläutert, handelt es sich bei der Männerbildung um ein ,,unbekanntes Gebiet"(Nuissl 1993, S.11) Im Gegensatz zur Frauenbildung ist sie noch weit im Rückstand und unemanzipiert. Sebastian Krumbein erwähnt in der Einleitung seines Buches6, daß es seit Neuestem zwar eine Reihe von Literatur zu diesem Thema gibt, ,,...diese jedoch vornehmlich essayistischer, journalistischer oder autobiographischer Natur sind, während kaum empirische Arbeiten vorliegen..."(Krumbein 1995, S.2) Auch bei Lothar Böhnisch und Reinhard Winter ist von einem selektiven und spekulativen Charakter in der Männerforschung die Rede7. Vor diesem Hintergrund wird es wohl schwer sein eine Zusammenfassung zu erstellen, die als ,,für die Praxis von Männerbildung konstruktive Synthese"(Nuissl 1993, S.9) gelten kann. Fraglich ist auch, ob man im Hinblick auf die Vielfalt der Männerliteratur und wenigen empirischen Arbeiten Entscheidungen darüber fällen kann, was letztlich für die Männerbildung wichtig ist und was nicht.
An dieser Stelle möchte ich die Annahme von Wolfgang Mertens heranziehen, daß die Psychoanalyse selbst eine männliche Ideologie sein könnte8. Mertens stellt in Frage, ob man das Thema Männlichkeit überhaupt kritisch betrachten kann ,,wenn die Psychoanalyse selbst von vielen, häufig unerkannten männlichen Vorurteilen durchwirkt ist."(Mertens 1997, S.36) Als Beleg nennt er den ,,...schon zum populärpsychologischen Topos verkommene Penisneid..." und ,,...die Definition des Weiblichen durch Freud und die erste Generation nach ihm"(Mertens 1997, S.37). Er macht auch auf Themen aufmerksam, die sich erst nach genauerem Untersuchen als geschlechtsideologisch erweisen: als Beispiele nennt Mertens unter anderem ,,die Betonung von Autonomie und Abgrenzung im Entwicklungsprozeß", ,,Rationalität gegenüber dem Leidenschaftlichen", ,,Trennung zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft"(Mertens 1997, S.38). Mit diesen Gegenständen befaßt sich auch Nuissl. Mertens kritisiert, daß bei solchen Themen ,,...eine Ausweitung ins Generelle..." erfolgt, ,,...als böte die Flucht ins Transindividuelle einen Schutz vor der als prekär empfundenen Subjektivität."(Mertens 1997, S.37) Wichtig ist jedoch, sich mit dem Psychischen des Einzelnen auseinanderzusetzen, individuelle Gefühle und Probleme ernst zu nehmen ,,...ohne gleich in männliche Abstraktionen zu flüchten."(Mertens 1997, S.38)
4. Ergebnis
Im Hinblick auf Nuissl Worte, daß sein Buch eine ,,für die Praxis von Männerbildung konstruktive Synthese" der Männerforschung sein soll, die ,,eigentlich (...) beachtenswert für die Bildung schlechthin"(Nuissl 1993, S.9) ist, wäre wohl zu hart gewertet seine Arbeit als eine bloße Aufzählung von männlichen Abstraktionen zu bezeichnen. Was man aber mit Sicherheit behaupten kann ist, daß Nuissl weder in seinem Buch noch in seien Artikeln sich mit einzelnen Männern, also mit Individuen beschäftigt. Sie werden in Gruppen wie ,,Männer", ,,Söhne" und ,,Väter" zusammengefaßt, und mit Aspekten von das ,,...was über ,,Männlichkeit" bekannt ist..."(Nuissl 1993, S.9) behaftet. Auch durch seine deterministischen Aussagen wirken die Texte sehr verallgemeinernd und vorurteilsbehaftet. Daher kann Nuissls Anspruch, ,,ich sehe einen deutlichen Unterschied zwischen dem, was ,,Mann" ist, und dem, was gesellschaftlich als ,,Männlichkeit" bewertet wird"(Nuissl 1993, S.9), auch nicht bestätigt werden. Weiterhin geht es in Nuissls Buch ,,...darum, die Stärken und Schwächen von Männer zu definieren, deren Zusammenhang zu verstehen und die jeweilige Balance männlicher Identität zu suchen."(Nuissl 1993, S.10) Es ist fraglich, ob es überhaupt möglich ist Stärken und Schwächen von Männern zu definieren, ohne daß auf den Einzelnen eingegangen wird. Da dies bei Nuissl der Fall ist liegt nahe, daß bei den Beschreibungen wieder Verallgemeinerungen vorliegen.
5. Vergleich von Nuissls Begriff der ,,Männlichkeit" sowie ,,Weiblichkeit" mit gesellschaftlichen Aspekten
Um zu verdeutlichen, daß es sich bei Nuissls Beschreibungen von ,,Männlichkeit" um ,,männliche Abstraktionen"(Mertens 1997, S.38) handelt, möchte ich folgende Aussage von ihm heranziehen: ,,Der Text behandelt die Norm von ,,Männlichkeit", an der sich Männer ,,normalerweise" orientieren." Betrachtet man die Eigenschaften, die nach Nuissl dem Mann zugesprochen werden so sind dies zum Beispiel ,,produktiv"(Nuissl 1993, S.26ff), ,,objektiv"(Nuissl 1993, S.41ff), ,,öffentlich"(Nuissl 1993, S.26), ,,beherrscht"(Nuissl 1993, S.49ff) und ,,herrschend über Natur"(Nuissl 1993, S.49). Dementsprechend ordnet er den Frauen gegenteilige Begriffe zu, wie ,,reproduktiv"(Nuissl 1993, S.26ff), ,,subjektiv"(Nuisssl 1993, S.41ff), ,,privat"(Nuisssl 1993, S.26) und ,,unterdrückte Natur"(Nuisssl 1993, S.49ff). Diese Themen sind, wie bereits erläutert, laut Mertens geschlechtsideologisch: Der Grundsatz der Definition von ,,Männlichkeit" ist die These seiner Überlegenheit. Die Annahme Mertens, daß die Psychoanalyse einer männlichen Ideologie entspricht, könnte hier also bestätigt werden.
Nuissls Beschreibungen von ,,Männlichkeit" sowie von ,,Weiblichkeit" Spiegeln eine in der Gesellschaft verbreitete Vorstellung wieder, wie ein Mann oder eine Frau zu sein hat. Sieht man in einem Wörterbuch sinnverwandter Ausdrücke9 unter ,,weiblich" nach, so findet man neben ,,mädchenhaft", ,,feminin", ,,fraulich" auch die Bezeichnungen ,,weibisch", ,,zimperlich", ,,dämlich" und ,,schwach". Unter ,,männlich" dagegen lassen sich viermal so viele Begriffe finden, wobei es sich bei allen um positive, verherrlichende Ausdrücke handelt: ,,tauglich", ,,heldenhaft", ,,willensstark", ,,entwickelt", ,,tapfer" u.s.w. Die Zuordnung ,,schwach gleich weiblich" und ,,stark gleich männlich" scheint im Laufe vieler Jahrzehnte selbstverständlich geworden zu sein. Es gibt biologische, ethnologische und soziologische Ansätze, die diese Entwicklung zu erklären versuchen. Siegmund Freud zu Beispiel wies der Frau aufgrund der biologischen Tatsache, daß sie keinen Penis besitzt eine zweitrangige Rolle zu10. Diese Art von Begründung gilt heute zwar als längst überholt, doch es steht fest, daß diese Betrachtungsweise in unserem Denken verankert ist. Helge Pross folgert, daß durch die Zuschreibung von Fähigkeiten die Mehrheit der Auffassung ist, daß sich in erster Linie der Mann für Führungs- und Vorgesetztenpositionen sowie für eine größere Zahl von Berufen eignet11. Der Alltag spiegelt wieder: ,,Nach wie vor werden vielmehr Entscheidungspositionen in unserer Gesellschaft fast ausnahmslos von Männern besetzt. Männer regieren den Staat, machen seine Gesetze, sprechen Recht; Männer lenken die Wirtschaftsunternehmen und die einflußreichen Verbände; Männer nehmen die kulturellen Führungsstellen ein."(Pross 1987, S.12).
6. Vergleich von Bedeutung der Geschlechtsidentität für die Sozialisation bei Nuissl, Adler, Mertens
6.1.Ekkehard Nuissl
Dieses Konzept der Geschlechtsidentität, welche bewußte Vorstellungen und unbewußte Phantasien einer individuellen Kombination von Männlichkeit und Weiblichkeit umfaßt12, darf nicht bei der Sozialisation von Männern unterschätzt werden. Mertens sieht den Grund für die ,,...Aufrechterhaltung eines Geschlechterarrangements, aus dem die Männer scheinbar als Gewinner hervorgehen, tatsächlich aber nicht weniger darunter leiden als die Frauen..." in der primären Sozialisation. Nuissl spricht zwar im Kapitel ,,Vater und Sohn" kurz an, daß die Eltern, das soziale Umfeld und die eigene Generation daran beteiligt waren daß die Männer ,,... so geworden sind"(Nuissl 1993, S.56), jedoch wird hierauf nicht tiefer eingegangen. Er sieht den pychoanalytischen Grund dafür, ,,..daß Männer ihre eigene Identität in der Abwertung der Frau bzw. des Weiblichen finden müssen, also in einer negativen Identifikation, nicht in einer positiven"(Nuissl 1993, S.59) im Folgendem: Der Vater ist aufgrund seines Berufes nie zu Hause und somit nicht im Alltag der Kinder präsent. Die Söhne können sich so nur an der Mutter orientieren, bis sie feststellen, daß die Mutter ein anderes Geschlecht hat und ihnen für die Identitätsbildung kein Vorbild sein kann. Der Junge beginnt sich von der Mutter abzugrenzen und versucht sich an dem Bild seines abwesenden Vaters zu orientieren.
Wolfgang Mertens kritisiert jedoch an dieser Theorie, die erstmals von Ralph Greenson (1968)13 erbracht worden ist, daß sie heute so nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Es müßte eine genauere Differenzierung vorgenommen werden, wovon sich der Junge zu entidentifizieren beginnt: ,,von mütterlichen Eigenschaften schlechthin oder nur von eindeutig geschlechtsbezogenen, die polar zum Männlichkeitsstereotyp angeordnet sind."(Mertens 1997, S.48) Nuissls Bezeichnung ,,Abwertung des Weiblichen" genügt also nicht, hier handelt es sich wieder um eine Verallgemeinerung. Außerdem unterstellt eine solche These auch ,,...,daß Väter bezüglich der Identifizierungsliebe ihrer Söhne in den ersten zwei oder drei Lebensjahren noch keine bedeutende Rolle spielen, was nachweislich falsch ist."(Mertens 1997, S.48)
6.2.Alfred Adler
Ein Konzept von Geschlechtsidentität, das die männliche Überlegenheit manifestiert und die Differenzen, welche in der Gesamtheit der Männer sowie in der Gesamtheit der Frauen bestehen, ignoriert, wurde schon bereits vor 70 Jahren kritisiert. Alfred Adler erläuterte im Jahre 192714, daß ,,...unsere Kultur dem Kind aufgegeben hat, seine Stellungnahme im Leben so zu wählen, daß sie in einer Art von Gegensatz zum anderen Geschlecht erfolgt."(Adler 1972, S.136) Im Kapitel ,,Das Verhältnis der Geschlechter"(Adler 1972, S.113ff) setzt er sich mit dem ,,Vorrang des Mannes in der heutigen Kultur"(Adler 1972, S.115ff) auseinander sowie mit dem ,,Vorurteil von der Minderwertigkeit der Frau"(Adler 1972, S.121ff). Entgegen den meisten Gelehrten seiner Zeit, wie zum Beispiel Siegmund Freud, ging Adler damit vom Grundsatz der Gleichheit aller Menschen aus. Er stellte auch fest: ,,Gewisse Charakterzüge gelten als ,,männlich", andere als ,,weiblich", ohne daß irgendwelche Grundtatsachen zu diesen Wertungen berechtigen."(Adler 1972, S.119). Er verdeutlicht auch das Problem, daß diese Bilder bei der Erziehung an die Kinder weitergegeben werden, auch wenn diese es nicht beabsichtigen. Alle Einrichtungen und Sitten manifestieren die privilegierte Stellung des Mannes, und ,,...sie dringen bis in die Kinderstube und nehmen ungeheuren Einfluß auf die kindliche Seele."(Adler 1972, S.116) Laut Adler können also Charaktereigenschaften nicht in ,,männliche" und ,,weibliche" unterteilt werden, auch können Beobachtungen bei Jungen und Mädchen, die die traditionelle Erwartungen bestätigen, nicht als Beweis genommen werden, da das Kind vom ersten Lebenstag an auf geschlechtsspezifische Charakterentwicklung hingedrängt wird.
6.3.Wolfgang Mertens
Wie bereits oben beschrieben, geht Nuissl nicht auf dieses Problem ein. Er beschreibt die männliche Identitätsfindung durch die Abwertung der Frau, als ein Resultat der fehlenden Identitätsfigur des Vaters.
Als Vergleich möchte ich das Konzept heranziehen, wie laut Mertens die Entwicklungslinie der Geschlechtsidentität gegenwärtig demonstriert wird15. Hierbei spielen drei Komponenten eine Rolle: die Kern-Geschlechtsidentität, die Geschlechtsrolle und die Geschlechtspartner- Orientierung. In der Kern-Geschlechtsidentität erfährt das Kind zum ersten Mal durch das biologische Geschlecht ein Junge oder ein Mädchen zu sein. Psychisch beeinflußt wird es von den Eltern, die mit ihrer Geschlechtszuweisung geschlechtsstereotyp auf das Kind als Junge oder Mädchen reagieren. Die Kern-Geschlechtsidentität ist gegen Ende des zweiten Lebensjahres als (relativ) konfliktfreie Gewißheit etabliert. Die Fortsetzung auf einem höheren symbolisch-sprachlichen Niveau ist die Geschlechtsrolle. Sie entspricht der Gesamtheit der Erwartungen, die das Kind bezüglich ihres Geschlechts an das eigene Verhalten wie auch an das Verhalten des Interaktionspartners hat. Die Geschlechtspartner- Orientierung bezieht sich auf das bevorzugte Geschlecht des Liebespartners. Sie wird bereits in der Kindheit geprägt, gestaltet sich aber erst im Verlauf der Adoleszenz aus. Die Sozialisation des Kindes ist also, wie Mertens beschreibt, von klein auf geschlechtspezifisch - Mütter und Väter gehen von Geburt an jeweils unterschiedlich mit ihren Jungen oder Mädchen um. Mertens erläutert, daß psychoanalytisch davon ausgegangen werden muß, daß auch die ,,...unbewußt bleibenden Phantasien von Eltern über die Geschlechtlichkeit ihres Kindes auf dem Weg subtiler Verhaltensäußerungen, Belohnungs- und Bestrafungsmuster schon auf das Identitätserleben des Neugeborenen Einfluß nehmen."(Mertens 1997, S.44) Schon im Verlauf des primären Sozialisationsprozesses eignet sich das Kind bestimmte Verhaltensweisen an, die in gewissen Situationen von der Gesellschaft je nach biologisch männlichen oder weiblichen Geschlecht erwartet werden. Dabei stellen ,, die Geschlechtsrollen zumeist eine mehr oder weniger dichotome Aufspaltung in zwei sich ausschließende Stereotype von typisch männlich und typisch weiblich..." dar (Mertens 1997, S.46).
7. Rolle des Vaters in der frühen Sozialisation des Mannes
Hier möchte ich kurz auf die Rolle eingehen, die der Vater bei der frühen Sozialisation des Mannes spielt.
In ihrem Buch ,,Die Männer"16 beschreibt Helge Pross 1978 ein folgendes Bild von den Vätern: ,,Der Vater hält auf Abstand. An die Stelle des übermächtigen Vaters ist der distanzierte Vater getreten."(Pross 1987, S.135) Diese sehen die Vaterrolle nur als Nebenrolle und zwischen ihnen und den Kindern herrscht meistens eine große Fremdheit. Hierzu schreibt Hermann Bullinger in seinem Buch ,,Wenn Männer Väter werden"17, daß heute auf viele dieses Vaterbild nicht mehr zutrifft, da sich die Vaterrolle in den letzten zehn Jahre geändert hat und sich immer noch im Wandel befindet (Bullinger 1983, S.13). Im Kapitel ,,Die neuen Väter"(S.13ff) berichtet er von Männern, die ihre neue Rolle ,,...aktiv und bewußt..."(Bullinger 1983, S.14) gestalten. Dies gilt für die Zeit vor und nach der Geburt des Kindes. Auch beschreibt er die ,,...Benachteiligungen und Diskriminierungen..."(Bullinger1983, S.26) die dem Vater erschweren, seine Rolle auszuüben. Er kritisiert: ,,Unsere Gesellschaft hat an den neuen Vätern kein großes Interesse"(Bullinger 1983, S.26). Nuissl dagegen scheint nur auf das alte Vaterbild zu bestehen. Bei ihm ist der Vater bloß so weit von Bedeutung, daß wegen seiner ständigen Abwesenheit der Sohn kein Vorbild für die Identitätsbildung hat und sich zunächst an der Mutter orientieren muß. Aufgrund der Berufstätigkeit ist der Vater kaum zu Hause und somit auch nicht im Alltag seines Sohnes vorhanden. Werden aber Väter in Familien von den Söhnen wahrgenommen, dann ,,...sind es meist solche, die man sich als Vater eher weniger wünschen würde."(Nuissl 1993, S.58) Kaum ein Mann hat, so erläutert Nuissl, eine positive Identifikationsfigur. Allerdings muß hier dazugesagt werden, daß bei der Beschreibung der Väter nicht deutlich wird, auf welche Generation von Vätern sich Nuissl bezieht. In seinem Vorwort wird zwar dargelegt, daß die Auslegungen seines Buches für seine Generation sowie für die Generationen davor gelten. Doch da in seiner ganzen Arbeit durchgehend nur von ,,Männer", ,,Väter" und ,,Söhne" die Rede ist, besteht der Eindruck der Allgemeingültigkeit. Weiterhin bleibt offen, wie sich die Söhne in den Familien entwickeln, in denen der Vater öfters präsent ist ohne negativ aufzufallen. Auch ist fraglich, wie Nuissl die Geschlechtsidentität der Männer einschätzt, die eine positive Identifikationsfigur hatten. Mertens erläutert, daß bereits bei der Schwangerschaft der Mutter ein indirekter Einfluß vom Vater ausgeht (Mertens 1997, S.50). Je nach dem ob der Mann die Schwangerschaft ablehnt oder sich auf das Kind freut, löst er bei seiner Frau andere Empfindungen aus. Nach der Geburt spielt er für die ,,frühe Triangulierung"(Mertens 1997, S.51) eine Rolle. Durch die wichtige Funktion des Vaters und als einen Dritten in der Mutter-Sohn Beziehung, wirkt er als Vermittler in Konflikten und regt auch die Loslösung von der Mutter an. Durch das Miterleben der Beziehung des Vaters als Dritten zur Mutter und durch die Identifizierung mit ihm, werden dem Jungen ,,...selbstreflexive Prozesse, Einfühlung in die Rolle des anderen und die Entstehung einer mentalen Innenwelt mit Bedürfnissen und Intention als Handlungsgründen ermöglicht"(Mertens 1997, S.51). Weiterhin schildert Mertens eine ,,homoerotische Liebe", die in der Vater-Sohn Beziehung aus der ,,...gegenseitigen narzißtischen Anziehung und ihrer identifikatorischen Liebe..." entsteht (Mertens 1997, S.51). Diese homoerotische Liebe, so erläutert Mertens, kann als eine der Grundlagen für die Entwicklung der männlichen Identität betrachtet werden. Entgegen Nuissls Theorie besteht also hier ein direkter Einfluß des Vaters auf die Identitätsbildung des Mannes. Auch Yvonne Schütze legt dar, daß das Kind bereits im Säuglingsalter gleichermaßen eine Beziehung zu Mutter und Vater hat18. Mit Bezug auf Anderson/Nagle/Roberts (A/N/R et al.: Attachment of substitute caregivers as a funktion of center quality and caregiver involvment. In: Child Development, 52, 1981, 53-61) macht sie deutlich, daß die Bindung eines Kindes nicht von der ständigen Verfügbarkeit der betreffenden Person abhängig ist. ,,Das heißt, nicht die Quantität, sondern die Qualität der Beziehung ist sowohl im Hinblick auf die Mutter als den Vater ausschlaggebend."(Schütze 1989, S.56). Dieses Ergebnis widerlegt Nuissl Aussage, daß der Vater aufgrund seiner ständigen Abwesenheit keinen Einfluß auf die Identitätsbildung des Sohnes hat.
8. Auswirkung des vorherrschenden Begriffs der ,,Männlichkeit" auf die Gesellschaft
Mertens, Adler, Pross und Nuissl sind sich einig darüber, daß ,,...daß die gegenwärtige Konstruktion der männlichen Geschlechtsrolle nicht nur Vorteile, sondern auch erhebliche Belastungen für die Rolleninhaber mit sich bringt."(Pross 1987, S.160) Mertens erläutert, daß durch die Aufrechterhaltung der Rollenverteilung in der Gesellschaft ,,...aus dem die Männer scheinbar als Gewinner hervorgehen..." die Männer ,,...tatsächlich aber nicht weniger darunter leiden als die Frauen...". Neben den Männern scheinen auch Jungen von Problemen betroffen zu sein. In einem Handbuch für Erwachsenenbildung19 bezieht sich Nuissl auf eine Studie von Schnack und Neutzling20 die besagt, daß Jungen zum Beispiel häufiger physisch und psychisch krank sind als Mädchen, mehr Probleme in der Schule haben, häufiger Selbstmord begehen und häufiger stottern. Allerdings muß hier dazugesagt werden, daß Schnack und Neutzling betonen, daß die Interpretation diese Ergebnisse schwierig ist und wissenschaftliche Arbeiten, die solche Fakten mit der geschlechtsspezifischen Lebenssituation der Jungen in Zusammenhang bringen, nicht existieren (Schnack/Neutzling 1994, S.111f). Schon Alfred Adler bemerkte 192721: ,,So stört auch das Vorurteil von der Minderwertigkeit der Frau und die damit zusammenhängende Überheblichkeit des Mannes fortwährend die Harmonie der Geschlechter."(Adler 1972, S.135) Zu seinem Appell an die Gesellschaft: ,,Die Schwierigkeiten und Lasten, die beiden Teilen daraus erwachsen, sind so groß, daß jedermann diesem Problem seine Aufmerksamkeit schenken sollte"(Adler 1972, S.135) kann man sagen, daß er trotz der 70 Jahre die seit dem Ausspruch vergangen sind, seine Gültigkeit bis heute noch nicht verloren hat.
9. Zusammenfassung der Ergebnisse
Zu Beginn wurden die Hauptaussagen Nuissls zusammengefaßt. Darauf sollte untersucht werden, ob die Ansprüche, die Nuissl in seiner Einleitung stellt, erfüllt werden. Mit Hilfe von Wolfgang Mertens Theorie, daß die Psychoanalyse einer männlichen Ideologie entspricht, konnte herausgearbeitet werden, daß es sich bei Nuissls Beschreibungen von Männlichkeit und Weiblichkeit um geschlechtsideologische und verallgemeinernde Thesen handelt. Es wurde verdeutlicht, daß Nuissl ein Geschlechtskonzept beschreibt, daß die männliche Überlegenheit manifestiert und seit langem im menschlichen Denken verwurzelt ist. Mit Hilfe von Alfred Adlers Theorien wurde verdeutlicht, daß diese Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit bei der Erziehung bewußt und unbewußt weitergegeben werden. Dies wurde mit Mertens Konzept von Entwicklung der Geschlechtsidentität bekräftigt. Hierdurch wurde hervorgehoben, daß Nuissl auf einen wichtigen Aspekt der Sozialisation nicht eingeht. Weiterhin wurde die Rolle des Vaters in der frühen Sozialisation des Mannes beschrieben. Da laut Hermann Bullinger sich das Vaterbild im Wandel befindet, konnte aufgezeigt werden, daß Nuissls verallgemeinernde Beschreibung vom Vater auf heute nicht mehr zutrifft. Als Vergleich wurde dann die Rolle des Vaters nach Yvonne Schütze und Wolfgang Mertens erläutert. So konnte Nuissls Theorie, daß der Vater aufgrund seiner ständigen Abwesenheit auf die Identitätsbildung des Sohnes keinen Einfluß hat, widerlegt werden. Zum Schluß wurde noch die Gemeinsamkeit von Mertens, Adler, Pross und Nuissl aufgezeigt: Sie machen alle auf die Notwendigkeit einer Veränderung der Geschlechterrolle aufmerksam. Im Bezug auf Adler wurde deutlich, daß sich im Laufe der letzten 70 Jahre wenig geändert hat.
10. Schlußbemerkung
Abschließend möchte ich erwähnen, daß es sicherlich beachtlich und von großer Bedeutung ist, daß Alfred Adler sich vor 70 Jahren von den Geschlechtsrollen die die männliche Überlegenheit als Tatsache erklärt distanziert hat. Während Freuds Theorie weit verbreitet war, daß aufgrund biologischer Gegebenheiten der Mann der Frau überlegen ist, plädierte Adler auf den Grundsatz von Gleichheit der Menschen. Da dieses Thema aber auch heute noch höchst aktuell zu sein scheint, zeigt sich, daß das Geschlechterverhältnis noch längst nicht den Anspruch von Gleichheit erfüllt. Vor allem aber wird deutlich, wie sehr die Bilder von ,,Männlichkeit" und ,,Weiblichkeit" in unserem Denken verankert sind und wie schwer es ist, sich von ihnen zu lösen. Seit langem wird in Frauenbewegungen um die Gleichberechtigung und Chancengleichheit in der Berufswelt gekämpft. 1978 beschrieb Helge Pross22, daß das Interesse an Frauenfragen ,,...einen Höhepunkt erreicht"(Pross 1987, S.9) hat. ,,Niemals zuvor wurde so viel über Frauenfragen diskutiert, niemals zuvor haben sie in den Medien und Foren der öffentlichen Kommunikation so breite Aufmerksamkeit gefunden, niemals wurden mehr Mittel für ihre Erforschung aufgebracht."(Pross 1987, S.9) In den letzten Jahren wurde immer deutlicher gemacht, daß die Umstrukturierung der herrschenden Geschlechtsrollen auch eine Entlastung für die Männer bedeutet. Für viele ist der Zwang die immer noch vorherrschenden Bilder von ,,Männlichkeit" erfüllen zu müssen, um in der Gesellschaft ein Mann sein zu können, eine große Belastung geworden. So werden ebenfalls immer mehr Diskussionen zum Thema ,,Mannsein" geführt, die klassischen Aspekte von ,,Männlichkeit" werden in Frage gestellt. 1987 schreiben Walter Erhart und Britta Hermann23: ,,Und so wie heute vielleicht jedem einzelnen Mann ein Höchstmaß an Identifikationsmöglichkeiten zur Verfügung steht, um seine Männlichkeit(en) zu inszenieren, so mögen auch die Grenzen zwischen männlichen und weiblichen Identitäten und Körpern durchlässiger geworden zu sein. Kaum noch eine Darstellung der Geschlechterverhältnisse verzichtet heute darauf, ,,Männlichkeit" und ,,Weiblichkeit" mit Anführungszeichen zu versehen - so tief hat sich mittlerweile das Bewußtsein davon eingegraben, daß die Geschlechter nicht auf Naturgegebenheiten beruhen, sondern mit kulturellen Zeichen und Apparaten, eben mit ,,Männlichkeit" und ,,Weiblichkeit" versehen, beschriftet und gezeichnet werden."(Erhart/Herrmann 1997, S.24)
Im Rahmen dieser Arbeit wurde herausgearbeitet, daß entgegen Nuissls Aussage in seinem Buch keine unterschiede ,,...zwischen dem, was ,,Mann" ist, und dem, was gesellschaftlich als ,,Männlichkeit" beschrieben und bewertet wird"(Nuissl 1993, S.9) gemacht werden. Daher wird auch der Anspruch eine Synthese von dem ,,...Stand der Männerforschung und das, was über ,,Männlichkeit" bekannt ist..."(Nuissl 1993, S.9)zu sein, nicht erfüllt. Es handelt sich eher um eine Beschreibung von Männerbilder, die seit langem in der Gesellschaft weitergegeben werden. Es wird dabei so verallgemeinert, daß die Auslegungen auf die Männer von heute nicht mehr zutreffen. Trotzdem ist das Buch für die Männerbildung sicherlich nicht ohne Bedeutung. Es regt zum Nachdenken an - darüber, was hinter dem Bild der ,,starken Männer" tatsächlich steht und darüber, welche Veränderungen in der Gesellschaft vorgenommen werden könnten. Was Nuissl bei seinen Ausführungen nicht bedacht hat ist, daß gerade diese Verurteilungen von ,,Männlich" und ,,Weiblich" abgeschafft werden müssen. Was heute in der Gesellschaft gebraucht wird Reflexionen, wie Veränderungen herbeigeführt werden könnten. Dies wären zum Beispiel Themen wie Arbeitsteilung oder die Vaterschaft. Hermann Bullinger beschreibt in seinem Buch, wie die Rolle des Vaters von der Gesellschaft erschwert wird. Er berichtet von der einzigen Väterinitiative in Berlin, die sich zum Ziel gesetzt hat, ,,...die gesellschaftliche Benachteiligung der Väter öffentlich zu machen..." und ,,...die Gleichberechtigung der Väter..." fordert (Bullinger 1983, S.27). Die Verwirklichung dieser Ziele, so erläutert Bullinger, setzt wiederum eine bestimmte gesellschaftliche Stellung der Frau voraus. Mangelnde Arbeitsplätze für Frauen bedeutet ihre Rückkehr in den Haushalt und zu den alten Aufgabenbereichen. Damit wäre ,,...ein Rückfall der Väter in ihre alte Rolle..." zu befürchten (Bullinger 1983, S.28). Hier bestätigt sich Helge Pross´ Aussage ,,Frauenfragen sind Männerfragen"(Pross 1987, S.11), was sicherlich auch umgekehrt gilt.
Nuissl beschreibt in seinem Buch ein von Vorurteilen behaftetes Bild von ,,Männlichkeit" und macht keine Vorschläge zur Verbesserung der Situation - dies wäre, um den Anspruch einer ,,konstruktiven Synthese" die ,,beachtenswert für die Bildung schlechthin" ist gerecht zu werden, wünschenswert gewesen.
Literaturverzeichnis:
Adler, Alfred (1301972): Menschenkenntnis.
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag
Böhnisch, Lothar/Winter, Reinhard (21994):
Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf.
Weinheim, München: Juventa Verlag
Bullinger, Hermann (661994):
Wenn Männer Väter werden. (Mit Kindern leben).
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag
Erhart, Walter/Herrmann, Britta (1997): Wann ist der Mann ein Mann?
Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler Verlag, (S.3-31)
Krumbein, Sebastian (1995):
Selbstbild und Männlichkeit. Rekonstruktionen männlicher Selbst- und Idealbilder und deren Veränderung im Laufe der individuellen Entwicklung.
München, Wien: Profil Verlag
Mertens, Wolfgang (1997):
Männlichkeit aus psychoanalytischer Sicht. In: Erhart, Walter/Herrmann, Britta (Hg.): Wann ist der Mann ein Mann?.
Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler Verlag, (S.35-57)
Nuissl, Ekkehard (1993):
Männerbildung. Vom Netzwerk bildungsferner Männlichkeit. (Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. 29).
Frankfurt am Main: VAS Verlag für Akademische Schriften oHG
Nuissl, Ekkehard (1994):
Männerbildung.
In: Tippelt, Rudolf (Hg.):
Handbuch Erwachsenenbildung-Weiterbildung. Opladen. (S.541-548)
Pross, Helge (111987):
Die Männer. Eine repräsentative Untersuchung über die Selbstbilder von Männern und ihre Bilder von der Frau.
Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag
Putz, Malte (1984):
Das Problem der Männlichkeit. Berlin.
Schnack, Dieter/Neutzling, Rainer (1221994):
Kleine Helden in Not. Jungen auf der Suche nach Männlichkeit. Reinbeck bie Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Schütz, Yvonne (1989):
Die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung des Kindes. In: Paetzold, Bettina/Fried, Lilian (Hg.):
Einführung in die Familienpädagogik. Weinheim, Basel. (S.52-68)
1 Nuissl, Ekkehard (1993): Männerbildung. Vom Netzwerk bildungsferner Männlichkeit. (Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung; 29). Frankfurt/Main: VAS
- Citar trabajo
- Barbara M. Baron (Autor), 1997, Kritische Untersuchung von Nuissls Begriff der "Männlichkeit" und dessen Bedeutung für die Männerbildung, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98172
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