Die Intention dieser Arbeit ist, zu zeigen, warum die Frage nach Verantwortung im globalen Marktgefüge so schwierig zu beantworten scheint und Lösungen aufzuzeigen, wie sie dennoch beantwortet werden kann. Ausgehend vom aktuellen Stand der Dinge bezieht der Autor sich rein auf die praktische Anwendbarkeit des sozialen Konstrukts der Verantwortung auf die globalen Märkte. Um Verantwortungsübernahme rechtfertigen zu können und zu begründen, gibt es in der Literatur noch andere Wege.
Doch in dieser Arbeit wird der Autor nicht den Weg über einen Kosmopolitismus auf Basis der Menschenrechte, noch die Rechtfertigung zur Bekämpfung der Menschenrechtsverletzungen durch begründete Hilfspflichten diskutieren. Vielmehr soll allein über den Weg einer Verantwortungszuschreibung aufgrund rechtlicher Bestimmungen der Versuch unternommen werden, Lösungsstrategien für dieses Problem zu eruieren. Mithilfe der Verantwortungsfrage soll geklärt werden, wem die Verantwortung zugeschrieben werden muss und wer diese Zuschreibung rechtmäßig durchführen darf. Aufgrund welchen Maßstabs müssen sich Akteure innerhalb einer Verantwortungsrelation für welche Handlungen verantworten? Aufgrund welchen Maßstabs ist ein nationaler Gesetzgeber gezwungen, die Verantwortungsfrage im globalen Wirtschaftssystem zu beantworten? Welche Rolle spielen Informationen bei der Konzeption einer Verantwortungsrelation?
Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, werden zunächst Menschenrechte als ethische Axiome postuliert. Der anschließenden Begründung und Spezifizierung der Leitfrage folgt eine Bestimmung des Begriffes Verantwortung. Danach werden die aktuellen Problematiken in Bezug auf die Akteure Konsument, Produzent und Einzelhändler herausgestellt. Das letzte Kapitel widmet sich dem wohl wichtigsten Akteur: dem Staat. Sofern nicht anders beschrieben, beziehen sich die Aussagen auf Deutschland mit allen dazugehörigen Rechtsorganen.
GLIEDERUNG:
VERZEICHNIS FÜR ABKÜRZUNGEN (S.1)
EINLEITUNG (S.2-3)
1. MENSCHENRECHTE ALS ETHISCHE AXIOME (S.3-8)
2. BEGRÜNDUNG DER NOTWENDIGKEIT FÜR DIE BEANTWORTUNG DER LEITFRAGE S.(8-10)
3. DIE ART DER VERANTWORTUNG (S.10-13)
3.1 DIE BEDINGUNGEN (S.13-17)
3.2 FÜRSORGEVERANTWORTUNG - DER ADDITIVE CHARAKTER DER VERANTWORTUNG (S.17-22)
3.3 DREI NORMATIVE DIMENSIONEN DER VERANTWORTUNG (S.22-25)
3.4 ZUSAMMENFASSUNG (S.25-27)
4. DIE AKTEURE AUF DEM WELTMARKT (S.27)
4.1 KONSUMENTENVERANTWORUNG (S.27-28)
4.1.1 DER KONSUMENT IN DER VIERSTELLIGEN RELATION ALS VERANTWORTUNGSSUBJEKT (URHEBER) (S.28-32)
4.1.2 DER KONSUMENT ALS VERANTWORTUNGSINSTANZ (S.32-34)
4.1.2.1 INFORMATIONSDEFIZITE SEITENS DER KONSUMENTEN (S.34-40)
4.1.2.2 DIE BEEINFLUSSBARKEIT DER KAUFENTSCHEIDUNG DURCH ANWENDUNG VON KONSUMENTPSYCHOLOGIE SEITENS DER UNTERNEHMER (S.40-42)
4.1.2.3 DIE WIRKUNGSKRAFT DES SANKTIONSPOTENZIALS DER KONSUMENTEN (S.42-44)
4.2. ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT (S.44-45)
5. VERANTWORTUNG VON UNTERNEHMEN (S.45-47)
5.1 UNTERNEHMENSVERANTWORTUNG DER PRODUZENTEN (S.47-49)
5.2 UNTERNEHMENSVERANTWORTUNG DER EINZELHÄNDLER (S.49-51)
5.2.1 DER EINZELHANDEL IN DER VERANTWORTUNGSRELATION (S.52-52)
5.2.2 ECKPRODUKTE UND DIE VERANTWORTUNG DES EINZELHÄNDLERS GEGENÜBER DEN PRODUZENTEN (S.52-54)
5.2.3 VERANTWORTUNG DES EINZELHANDELS GEGENÜBER DEN KONSUMENTEN (S.55)
5.2.4 VERANTWORTUNG ZWISCHEN EINZELHANDEL UND STAAT (S.56)
5.2.5 VERANTWORTUNG DES EINZELHANDELS GEGENÜBER DER GESELLSCHAFT (S.56-58)
5.3 ZUSAMMENFASSUNG (S.59-60)
6. ZWISCHENFAZIT (S.60-64)
7. DIE ROLLE DES STAATES (S.65)
7.1 DIE ROLLE DES STAATES ALS LIEFERANT UND ERZWINGER VON INFORMATIONEN (S.65-70)
7.1.2 DIE BEDEUTUNG EINER INFORMATIONSPFLICHT FÜR EINE GERECHTFERTIGTE VERANTWORTUNGSZUSCHREIBUNG (S.70-73)
7.2 DIE ROLLE UND VERANTWORTUNG DES STAATES ALS LEGITIMATOR DES WIRTSCHAFTSSYSTEMS UND ALS VÖLKERRECHTSSUBJEKT (S.73-77)
8. FAZIT (S.77-79)
LITERATURVEZEICHNIS (S.80-82)
VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
EINLEITUNG
Wenn Sie eine Banane kaufen, sind Sie dann schuld an den Menschenrechtsverletzungen, die bei der Produktion in fernen Ländern geschehen? Sind Sie schuld daran, dass die Menschen, die auf den Plantagen arbeiten, mit Chemikalien besprüht werden und erkranken, sich aber nicht einmal medizinisch versorgen lassen können1 Müssen Sie sich als Konsument direkt für diese Menschenrechtsverletzungen verantworten? Schließlich sind wir als Konsumenten diejenigen, die diese extreme Nachfrage an beispielsweise Bananen und Ananas erzeugen. Nur durch uns Konsumenten ist die finanzielle Grundlage geschaffen, auf der dann Einzelhändler, Zulieferer und Produzenten, als ein Gesamtsystem, den Bau und Betrieb einer Bananenfarm wirtschaftlich gestalten. Nun könnten wir argumentieren, dass nicht wir als Konsumenten diese Menschenrechtsverletzungen begehen. Es ist nicht unsere Handlung (der Kauf einer Banane im Einzelhandel), die diese Menschenrechtsverletzungen verursacht. Es sind schließlich die Produzenten, die Menschenrechtsverletzungen wie zum Beispiel Kinderarbeit dulden und vielleicht sogar fördern. Ähnlich argumentieren auch die Einzelhändler: Es sind nicht sie, die die Menschenrechtsverletzungen auf den Plantagen begehen. Ihre Handlung (der Ankauf und Verkauf von Bananen) ist nicht die unmittelbare Ursache für die Menschenrechtsverletzungen. Außerdem wissen sie, ebenso wenig wie wir als uninformierte Konsumenten, wie die Zustände auf den Plantagen wirklich sind. Denn die Zuliefererstrukturen sind so komplex, dass der Weg der einzelnen Frucht von einer bestimmten Plantage hin zu ihnen kaum nachzuvollziehen ist. Sind folglich die Zulieferer mitverantwortlich für die Verstöße gegen die Menschenrechte? Ist es ihre Handlung (Ankauf, Transport und Verkauf), welche Ausbeutung und Unrecht direkt verursacht? Wen trifft hier die Schuld? Diese Darstellung der Problematik ist selbstverständlich viel zu verkürzt, aber spiegelt die gängige Praxis bei der Schuldzuschreibung im Konsumsystem wider. Alle Akteure geben die Schuld entlang der Lieferkette nach unten weiter, bis es am Ende die bösen Produzentenunternehmen sind, welche die Menschenrechtsverletzungen auf den Plantagen begehen. Dazu zählen dann auch durch Korruption gekennzeichnete Regierungen, die nichts gegen diese Handlungen unternehmen. Schließlich sind sie als Völkerrechtssubjekte direkt zuständig für die Einhaltung der Menschenrechte in ihrem Land.
Wie können wir dieser Problematik angemessen begegnen? Der erste Schritt ist die Abwendung vom Begriff der Schuld hin zu dem der Verantwortung. Erst nach einem solchen Paradigmenwechsel kann untersucht werden, welcher Akteur sich jeweils für welchen Missstand zu verantworten hat. Die Intention dieser Arbeit ist, zu zeigen, warum die Frage nach Verantwortung im globalen Marktgefüge so schwierig zu beantworten scheint und Lösungen aufzuzeigen, wie sie dennoch beantwortet werden kann. Ausgehend vom aktuellen Stand der Dinge beziehe ich mich rein auf die praktische Anwendbarkeit des sozialen Konstrukts der Verantwortung auf die globalen Märkte. Um Verantwortungsübernahme rechtfertigen zu können und zu begründen, gibt es in der Literatur noch andere Wege. Doch in dieser Arbeit werde ich nicht den Weg über einen Kosmopolitismus auf Basis der Menschenrechte2, noch die Rechtfertigung zur Bekämpfung der Menschenrechtsverletzungen durch begründete Hilfspflichten3 diskutieren. Vielmehr soll allein über den Weg einer Verantwortungszuschreibung aufgrund rechtlicher Bestimmungen der Versuch unternommen werden, Lösungsstrategien für dieses Problem zu eruieren. Mithilfe der Verantwortungsfrage soll geklärt werden, wem die Verantwortung zugeschrieben werden muss und wer diese Zuschreibung rechtmäßig durchführen darf. Aufgrund welchen Maßstabs müssen sich Akteure innerhalb einer Verantwortungsrelation für welche Handlungen verantworten? Aufgrund welchen Maßstabs ist ein nationaler Gesetzgeber gezwungen, die Verantwortungsfrage im globalen Wirtschaftssystem zu beantworten? Welche Rolle spielen Informationen bei der Konzeption einer Verantwortungsrelation? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, werden zunächst Menschenrechte als ethische Axiome postuliert. Der anschließenden Begründung und Spezifizierung der Leitfrage folgt eine Bestimmung des Begriffes Verantwortung. Danach werden die aktuellen Problematiken in Bezug auf die Akteure Konsument, Produzent und Einzelhändler herausgestellt. Das letzte Kapitel widmet sich dem wohl wichtigsten Akteur: dem Staat. Sofern nicht anders beschrieben, beziehen sich die Aussagen auf Deutschland mit allen dazugehörigen Rechtsorganen.
1. MENSCHENRECHTE ALS ETHISCHE AXIOME
Da es für meine Argumentation unerlässlich ist, Menschenrechte als Zielscheibe wirtschaftlicher Akteure unter staatlicher Billigung herauszustellen, möchte ich kurz exemplarisch darstellen, welche philosophischen Ansätze in der Debatte der Menschrechtskonzeptionen existieren. So sollen zuerst die zwei Grundkonzeptionen der Menschenrechte erläutert werden, zum Schluss werden sie als ethische Axiome postuliert.4 Hierbei dient Tasioulas' interessenbasierter Ansatz zur Begründung der Menschenrechte in der moralischen Konzeption als Erklärung, warum diese universellen Rechte als moralische Axiome verstanden werden können. In der Menschenrechtsdebatte gibt es verschiedene Fragestellungen, die Philosophen zu beantworten versuchen:
1. Wie können Menschenrechte existieren (welche Funktion haben sie)?
2. Wie können sie gerechtfertigt werden, beziehungsweise was ist ihre Basis?
3. Welche Rechte können als Menschenrechte postuliert werden und warum? Welchen Inhalt sollen die Menschenrechte demnach haben?
Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Konzeptionen der Menschenrechte: die politische und die moralische. Gerade aufgrund dieser Unterscheidung ergeben sich unterschiedliche Antworten auf die oben genannten Fragen. Generell werden Menschenrechte als Rechte verstanden, die uns qua unseres Menschseins zukommen.5 Bei der politischen Konzeption der Menschenrechte (wie etwa bei Rawls) liegt der Fokus auf ihrer Funktion als praktisches völkerrechtliches Instrument. Eine Evidenz dafür ist der praktische Umgang mit Menschenrechten im Völkerrecht. Verstößt ein Staat gegen die Menschenrechte, indem er beispielsweise Foltermethoden bei der Ausübung exekutiver Funktionen zulässt, können andere Staaten militärisch oder wirtschaftlich Sanktionen ausüben. Gerade bei militärischen Sanktionen wird dabei die Souveränität des Staates, der Menschenrechtsverletzungen begeht, eingeschränkt.6 7 Ziel der politischen Konzeption ist es also, die Menschenrechte als Rechtfertigungsbasis für etwaige zwischenstaatliche Interventionen zu benutzen. Dabei erkennen Unterstützer der politischen Konzeption die Universalität dieser Rechte an.
Die moralische Konzeption (beispielsweise zu finden bei Tasioulas) deklariert die Menschenrechte als moralische Standards für das zwischenmenschliche Zusammenleben.8 Die Evidenz für diesen Status der Menschenrechte leitet er aus ihrer Rechtfertigungsbasis ab: Sie bedienen wesentliche menschliche Interessen.9 Diese Interessen haben drei fundamentale Eigenschaften:
1. Universalität: Jeder Mensch hat bestimmte Interessen. Der allgemeine ontologische Status von Interessen ist so zu beschreiben: Sie werden von Menschen besessen.10
2. Interessen haben einen objektiven Status: Es ist nicht von Bedeutung, ob ein Mensch glaubt oder nicht glaubt, dass er ein bestimmtes Interesse überhaupt besitzt oder dessen Erfüllung wünscht. Es bleibt ein menschliches Interesse, welches von Menschen im Allgemeinen besessen wird.11 12 13 Zum Beispiel existiert das allgemeine Interesse nach körperlicher Unversehrtheit in gewisser Weise objektiv: Es mag Menschen geben, die sich aus psychologischen Gründen gerne verletzen lassen. Trotzdem können wir festhalten, dass Menschen im Allgemeinen ein Interesse daran haben, von anderen nicht verletzt zu werden.
3. Es sind die Interessen selbst, die überhaupt den „Anlass/Antoß“ zur Einführung bestimmter Menschenrechte geben. Zum Beispiel gibt das Interesse an Autonomie Anlass zur Einführung des Menschenrechts nach Freizügigkeit. Tasioulas beschreibt hier ein auslösendes Momentum der Interessen. Dabei sind die Interessen aber nicht losgelöst von anderen Interessen zu betrachten: „Indeed, any given human right will typically be grounded in a cluster of affected interests.“14 So spielt sicherlich nicht nur das Interesse an Autonomie eine Rolle bei der Einführung eines Rechts auf Freizügigkeit, sondern auch ein Interesse an Wissen (zum Beispiel, wenn man die Welt bereisen möchte, um Erfahrungen zu sammeln). Danach geht Tasioulas noch auf den Mechanismus ein, durch den wir von Interessen zu den konkreten Inhalten von Menschenrechten und den sich daraus ergebenden Pflichten kommen können.15 An diesem Punkt steht Tasioulas vor einem Problem: Er schreibt, es sei ein Kategorienfehler, wenn man versucht, Interessen mit Menschenrechten gleichzusetzen.16 17 Denn Interessen gehören seiner Ansicht nach zu einer Kategorie, die psychologische Zustände von Menschen beschreibt. Sie entstehen aus Motivationen, die in effizienter Weise das Wohlbefinden einer Person steigern sollen. Dagegen sind Menschenrechte moralische
Standards für Verhaltensweisen, aus denen Pflichten generiert werden. Für die Beantwortung der Frage, wie wir nun von Interessen zu Pflichten kommen, führt er zwei Schwellen ein, die ein Interesse „überwinden“ muss, um als ein Menschenrecht postuliert werden zu können:
Schwelle 1: „Possibility” - „Möglichkeit”:
„Passing the first threshold requires that it is possible to serve the putative right-holder’s interest through the putative duty.“18 19 20 21 22
Ein Menschenrecht und die sich daraus ergebenden Pflichten müssen die „Möglichkeit“ besitzen, die menschlichen Interessen zu bedienen (also schützen und fördern). Wie ist „Möglichkeit“ hier zu verstehen? Dazu gibt Tasioulas verschiedene Beispiele: Es muss logisch „möglich“ sein, dass das Interesse eines Rechtsinhabers „durch eine Pflicht bedient“ wird. Die Formulierung eines Menschenrechts wie „Jeder hat das Recht auf einen überdurchschnittlichen Lebensstandard“ ist offensichtlich unmöglich anwendbar. Neben logischen Unmöglichkeiten nennt Tasioulas noch andere Beispiele, die eine Typenunterscheidung dieser „Unmöglichkeiten“ zulässt: 21 „Sometimes it is a matter of scientific law: there can be no duty to enable men to give birth.“ Hier bestimmen Naturgesetze die „Un-möglichkeit“ eines entsprechenden Menschenrechts. Daneben gibt es noch eine Un-möglichkeit, die sich aus kontingenten empirischen Fakten ergibt: „[.] given the scarcity of available resources, there can be no duty to provide everyone with the option of a Rodeo Drive Lifestyle.“
So legen die Fakten der Welt (eben die begrenzten Rohstoffressourcen) fest, dass es unmöglich wäre, ein Recht auf eine extrem ausgelassene, verschwenderische Lebensführung zu postulieren. Streng genommen ist es nicht unmöglich, aber es würde viele andere Rechte einschränken und wäre kaum praktizierbar, was uns zur nächsten Schwelle führt:
Schwelle 2: „burden“ - „Bürde“ oder „Belastung“:
Nach der Überwindung der ersten Hürde muss ein Interesse erneut auf die Probe gestellt werden: „burden“ beschreibt die Bürde beziehungsweise die Belastungen, die die Postulierung eines Menschenrechts und der sich daraus ergebenden Pflichten erzeugt. Diese Belastungen dürfen nicht auf gewisse Dimensionen einwirken: 1. Sie dürfen das Pflichtsubjekt (also denjenigen, der die Pflichten befolgen muss) nicht überlasten. 2. Die sich aus einem Menschenrecht ergebende Pflicht darf nicht den Ausschluss anderer Rechte fördern23. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Nehmen wir an, es gibt ein Menschenrecht auf die höchstmögliche medizinische Versorgung24. Extreme Verpflichtungen wären die Folge: Die gesamte Menschheit wäre nur noch mit der Bereitstellung dieses höchstmöglichen medizinischen Standards auf der gesamten Welt beschäftigt und könnte so andere Menschenrechte nicht wahrnehmen (zum Beispiel das Recht auf Bildung: Artikel 26 der AEMR). Bedingung 2 wäre also verletzt. Die übermäßige Belastung (Bedingung 1) ist offensichtlich: Jeder, der fähig wäre, an der Etablierung dieses Standards mitzuwirken, dürfte nichts anderes mehr tun, da eine solche Etablierung ein enormer Aufwand wäre.
Wenn wir Tasioulas' Darstellung folgen, sind der Inhalt und die gerechtfertigte Existenz eines Menschenrechts untrennbar verbunden25. Die wahre Quintessenz für die Postulierung der Menschenrechte als ethische Axiome liegt in der Verbindung dieser fundamentalen menschlichen Interessen mit der Menschenwürde: „The resultant view of the grounds of human rights is doubly pluralistic: it affirms both moral (equal human dignity and prudential (universal human interests) elements among the grounds of human rights [...]“ .26 Wichtig ist festzuhalten, dass aufgrund der Universalität dieser Interessen (in Verbindung mit der Universalität der Menschenwürde), die Inhalte von Menschenrechten als ethische Axiome angenommen werden können. Die Rechtfertigung der Existenz der Menschenrechte und ihrer Allgemeingültigkeit kann davon gesondert moralisch mit der Menschenwürde begründet werden. Die Menschenwürde allein würde aber nicht zu konkreten Inhalten von Menschenrechten führen (im Gegensatz zu fundamentalen Interessen etwa nach Nahrungsversorgung und Gesundheitsschutz). Wenn Menschenrechte genau diese Interessen schützen und fördern sollen, dann müssen wir bei Menschenrechten, beziehungsweise bei den sich daraus ergebenden Pflichten, von ethischen Axiomen sprechen. Denn aufgrund der Menschenwürde, die die Grundlage der Zusprechung von Menschenrechten an Menschen bildet, kommen die Rechte jedem Menschen zu, der diese Interessen hat.
Aus dieser kurz gehaltenen Erörterung sollen nur einige wichtige Aspekte für die weiteren Schritte in dieser Arbeit im Gedächtnis bleiben:
1. Menschenrechte schützen fundamentale Interessen. Diese Rechte gestehen wir jedem einzelnen Menschen zu. Im Sinne der moralischen Konzeption unter Bezugnahme auf die Menschenwürde schulden wir als Individuen jedem Menschen die Pflicht, auf die Wahrung dieser Rechte achtzugeben.
2. Jeder Staat hat im Sinne der politischen Konzeption die Aufgabe, diese Menschenrechte mittels (und gerade wegen) seines Gewalt- und Rechtsprechungsprimats zu schützen und muss gegebenenfalls durch interstaatliche Maßnahmen zum Schutz dieser Rechte beitragen. Dies folgt aus dem Status eines Staates als Völkerrechtssubjekt. Noch deutlicher ist er dazu gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, wenn aufgrund der nationalen Gesetzgebung die Möglichkeit besteht, Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten zu fördern oder sogar direkt zu verursachen. Die Verantwortlichkeit des Staates, diese Gesetzgebungen zu ändern, ist aufgrund seines Status als Völkerrechtssubjekt unter Bezugnahme auf einen Maßstab (Menschenrechte) gerechtfertigt zurechenbar, beziehungsweise kann ihm diese Verantwortung rechtmäßig zugesprochen werden. Die Pflicht, die Menschenrechte durchzusetzen, ergibt sich wiederum aus der moralischen Konzeption. Umso wichtiger erscheint es auf nationaler Ebene, Rechtswege zu schaffen, um Verantwortungszuschreibungen für Handlungen von Unternehmen vornehmen zu können, die international agieren und deren Handlungen in anderen Ländern zu Missständen führen.
2. BEGRÜNDUNG DER NOTWENDIGKEIT FÜR DIE BEANTWORTUNG DER LEITFRAGE
In diesem Kapitel soll lediglich knapp die Notwendigkeit der Beantwortung der Verantwortungsfrage herausgestellt werden, die in dieser Arbeit thematisiert wird. Aus welchem Grund sollte man Verantwortungszuschreibungen unter moralischen Gesichtspunkten im Konsumsystem diskutieren? Die Antwort ist evident: Durch das aktuelle Wirtschaftssystem entstehen Ungerechtigkeiten. Noch viel entscheidender ist aber der Umstand, dass Menschenrechtsverletzungen aufgrund internationaler wirtschaftlicher Handlungen von Großkonzernen geschehen.
Beispiele finden sich in zwei OXFAM-Studien zum Bananen- und Ananasanbau aus 28 Für eine sehr übersichtliche Darstellung zum Armutsproblem siehe Pogge 2011, 123. den Jahren 2007 und 2015, die in den folgenden Kapiteln immer wieder herangezogen werden. Hier zeigen sich desolate Bedingungen für die Herstellung der Südfrüchte, die wir in Einzelhandelsketten wie Rewe, Lidl, Aldi und Co. kaufen. Der Kostendruck, den diese Einzelhändler beim Wareneinkauf in Ländern wie Costa Rica ausüben, ist extrem: „Zwischen 2002 und 2014 ist der Importpreis für Ananas nach Deutschland inflationsbereinigt um ca. 45 Prozent gesunken, von 1,34 Euro auf 0,71 Euro pro Kilo. Und das bei steigenden Produktionskosten [.]. Nicht weiter verwunderlich also, dass Produzenten an Löhnen und an Ausgaben für ökologische und nachhaltigere Anbaumethoden sparen.“ Direkt kann davon auch die Gesundheit der Plantagenarbeiter betroffen sein, wie ein ehemaliger Mitarbeiter des Konzerns Agricola Agromonte, Produzent für Aldi, Edeka und Rewe in einem Interview mit OXFAM schildert: „Ich war einen Monat lang im Krankenhaus wegen einer Vergiftung. Als ich wiederkam, musste ich wieder mit Pestiziden und ohne Schutzkleidung arbeiten.“ Wenn die Gesundheit der Arbeiter Schaden nimmt, lässt sich im Sinne von Artikel 25 der AEMR (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte) von Menschenrechtsverletzungen sprechen. Derartige Menschenrechtsverletzungen treten ebenso im Bereich der Bananenproduktion auf: Allein auf den Bananenplantagen in Ecuador schätzte die ILO (International Labour Organisation) 2007 die Zahl der Kinderarbeiter auf 30.000. Die Beschäftigung von Kindern auf den Plantagen wird nicht zuletzt auch mit einem Kostendruck erklärbar sein - vor allem aber mit fehlenden rechtlichen Möglichkeiten zur Verantwortungszuschreibung an die Unternehmen, die durch ihre Handlungen den Kostendruck verursachen. Das Problem ist, dass solche Exportländer (beziehungsweise die Produzenten) in nicht unerheblichem Maße abhängig von Abnehmerländern wie Deutschland sind. Costa Rica deckt 66 Prozent des weltweiten Ananasbedarfs und 2014 gingen 46 Prozent der gesamten Produktion in die EU mit Deutschland als Hauptabnehmer. Das bedeutet, dass deutsche Supermarktketten, die den Markt unter sich aufteilen (und auch andere Filialen in der EU und den USA betreiben) , einen großen Druck auf die Betreiber der Plantagen ausüben können. Wenn sie die Ware nicht abnehmen, bleibt fast die Hälfte der Produktion unverkauft, was vielen Betreibern wahrscheinlich die Existenzgrundlage entziehen würde. Doch wie steht es um die gesetzlichen Grundlagen, um Supermarktketten wie Aldi direkt für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu machen? Antje Hennings beschreibt die rechtliche Situation von multinationalen Konzernen in Bezug auf Menschenrechte als äußerst kritisch: „In gewisser Hinsicht agieren MNU also in einem rechtsfreien Raum, kontrolliert lediglich durch eine mehr oder minder interessierte Öffentlichkeit [...]. Eine wirksame rechtliche Einschränkung unternehmerischen Wirkens existiert in diesem Zusammenhang nicht.“27 Es bedarf einer raschen Beantwortung der Frage, wer aufgrund welcher Rechtfertigung wie für Menschenrechtsverletzungen im globalen Marktgefüge verantwortlich gemacht werden kann. Denn wenn wir als Konsumenten Menschenrechte als ethische Axiome ansehen, dann sind wir moralisch dazu angehalten, diese auch durchzusetzen. Es stellt sich bloß die Frage des Wie. Natürlich ist es wünschenswert und moralisch richtig, die Missstände auf diesen Plantagen zu beheben, doch ohne eine deutliche Verantwortungszuschreibung wird es keine Folgen für die faktisch verantwortlichen Akteure geben. Daher ist es unabdinglich, Möglichkeiten für die Beantwortung solcher Verantwortungsfragen zu klären und sie rechtlich als gerechtfertigt verabschieden zu können. Denn nach Artikel der AEMR hat jeder das Recht auf eine internationale Ordnung, die den Schutz der in der AEMR verkündeten Rechte gewährleistet. Wenn Staaten als Völkerrechtssubjekte die Menschenrechte der Arbeiter auf den Plantagen schützen müssen, wenn also direkt Menschenrechtsfragen betroffen sind, dann liegt es demnach in der Verantwortung des Staates, die entsprechenden gesetzlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, sofern dies durch Änderungen nationaler Gesetzgebungen fruchtbar erscheint. Wenn ein Staat keine Bestrebungen in diese Richtung unternimmt, billigt er ein System, welches ethisch nicht vertretbar ist. Daher soll im nächsten Kapitel zunächst der dieser Arbeit zugrunde liegende Begriff der Verantwortung schärfer konturiert werden, um nach einer Prüfung der Übernahme von Verantwortung seitens der Unternehmer und Konsumenten wieder auf die Rolle des Staates zurückzukommen.
3. DIE ART DER VERANTWORTUNG
Da diese Arbeit die Möglichkeit einer Verantwortungszuschreibung (und deren Rechtfertigung) für bestimmte Ereignisse verschiedener Akteure auf dem Markt behandelt, muss zunächst dargestellt werden, was unter dem Begriff Verantwortung hier verstanden werden soll. Der Begriff der Verantwortung kann hinsichtlich verschiedener Aspekte untersucht werden, zunächst wird jedoch eine Begriffsbestimmung im Sinne von Herkunft und Semantik vorgenommen. Dies geschieht nicht im etymologischen Sinne, sondern in Anlehnung an Bayertz in einem gesellschaftlichen Sinne. Es soll diskutiert werden, wann wir von Verantwortung sprechen, um später untersuchen zu können, wie eine schematische Zuschreibung erfolgen kann. Anhand übergeordneter Fragestellungen wird dann abschnittsweise das Phänomen von Verantwortung genau beschrieben. Hierbei sei noch angemerkt, dass eine Diskussion des freien Willens nicht geleistet werden kann, sondern ein Menschenbild mit einem freien Willen vorausgesetzt wird.
Die Bedeutung des Begriffs der Verantwortung stellt Neuhäuser wie folgt dar:
„Verantwortung lässt sich allgemein als vierstellige Relation analysieren; dies gilt auch für Konsumenten- und Unternehmensverantwortung. Damit ist gemeint, dass vollständige Sätze der Zuschreibung von Verantwortung grundsätzlich diese Form haben:
Urheber (U) ist gegenüber Adressat (A) für Ereignis (E) auf Grundlage des Maßstabes (M) verantwortlich.“28 29
Es sind auch mehr als vierstellige Relation in der Literatur zu finden, doch die vierstellige Relation scheint die Debatte zu dominieren:
„Es gibt sechs- und sogar achtstellig-relationale Analysen des Verantwortungsbegriffs (Lenk 1992; Lenk/Maring 1993; Beck 2016). Eine vierte Relation, die sehr häufig noch genannt wird, ist die des normativen Maßstabes (Lohmann 2002). Sie erlaubt es, beispielsweise zwischen moralischer, politischer, rechtlicher und metaphysischer Verantwortung zu unterscheiden, wie etwa Karl Jaspers es tut, der allerdings von Schuld und nicht von Verantwortung spricht (Jaspers 1946/2012).“30
Andere Autoren präferieren eine dreistellige Relation, die den Maßstab (M) zunächst vernachlässigt. So stellt Aßländer in seinem Text „Corporate und Consumers' Social Responsibility im Konzept geteilter sozialer Verantwortung“ heraus, dass es zumindest eine dreistellige Relation gibt, mit der Verantwortung beschrieben werden kann31 - also ein Handlungssubjekt oder Urheber, der gegenüber einem Adressaten „etwas“ (Ereignis als Folge einer Handlung) zu verantworten hat. Bevor ich näher auf die Relationen eingehe, möchte ich zunächst die Entwicklung des Begriffs der Verantwortung in Anlehnung an Bayertz skizzieren.
Wie lässt sich das Prinzip der Verantwortung beschreiben?
Das Besondere an der Verantwortung ist der Gedanke einer Zuordnung eines Ereignisses zu einem Handlungssubjekt, welches immer ein Mensch ist. Dabei geht es um Folgen (also Folgen von Ereignissen), die ein Mensch durch seine Handlung(en) verursacht hat. Verantwortung ist somit ein soziales Konstrukt. Es hat sich, nach Bayertz, aus einer „[.] anthropomorphen bzw. soziomorphen Deutung der Natur [entwickelt] [...]“.32 33 So wird der Begriff der Verantwortung lediglich auf Menschen und nur im übertragenen Sinn auf Ereignisse angewandt, die nicht durch menschliches Handeln verursacht wurden. Man kann zwar sagen, dass ein Erdbeben beispielsweise für das Zusammenstürzen eines Hauses verantwortlich ist, doch gemeint ist dann, dass ein Erdbeben die Ursache des Zusammensturzes war. Bayertz spricht bei der Verantwortung von einer bestimmten Denkweise über Kausalität, die sich von der Kausalität bei Naturgeschehen hinsichtlich eines wichtigen Punktes unterscheidet: nämlich der Intentionalität.34 35
Naturgeschehnisse haben niemals eine Intention, sondern sind die Abfolge der vollkommenen deterministischen Physik. Von daher werden Folgen von Ursachen auch als solche benannt. Bei Menschen als Verursachern von Ereignissen werden die Begriffe „Schuld“ oder „Verantwortung“ verwendet. Das Prinzip der Schuld ist ein wichtiger Schritt zur Entwicklung des Verantwortungsbegriffs in der Moderne. Denn es unterscheidet sich vom Prinzip der Verantwortung insofern, als dass sich Verantwortung additiv zur Schuld verhält. Nachdem die Gemeinsamkeiten von Schuld und Verantwortung in ihren Bedingungen skizziert worden sind, soll daher im Rahmen des Kapitels 3.2 der additive Charakter der Verantwortung näher erläutert werden.
Wenn ein Mensch eine beliebige Handlung vollzieht, deren Folge ein negatives Ereignis in der Welt verursacht, sprechen wir von seiner Schuld an diesem negativen Ereignis als Handlungsfolge. Auch bei der Verantwortung geht es meist um negative Handlungsfolgen und in diesem Punkt sind die beiden Begriffe ähnlich verwendbar.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Person X wirft gezielt einen Stein und das Fenster der Person Y wird dadurch zerstört. Die negativen Folgen der Handlung von X sind offensichtlich: X hat Schuld an der Zerstörung des Fensters der Person Y. Es lässt sich somit konstatieren: X muss sich für die negativen Folgen seiner Handlung gegenüber Y verantworten. Also wird X die Schuld beziehungsweise die Verantwortung zugesprochen. Dieses simple Beispiel soll uns dazu dienen, alle Bedingungen zu untersuchen, die erfüllt sein müssen, damit von Schuld beziehungsweise Verantwortung (allerdings noch nicht im allumfassenden Sinne) gesprochen werden kann. Diese Bedingungen können in subjektive36 und objektive Bedingungen aufgeteilt werden, was insofern wichtig ist, als dass eine Schuldbeziehungsweise Verantwortungszuschreibung immer aus mehreren Perspektiven erfolgen kann: und zwar aus der Perspektive des Verursachers selbst, aus der Perspektive des Geschädigten oder der eines Dritten beziehungsweise mehrerer Dritter. Aus allen Perspektiven werden die verschiedenen Bedingungen vermutlich anders bewertet werden. Jemand, der einem anderen Schaden zugefügt hat, wird stets darauf bestehen, dass eine der Bedingungen eingeschränkt war und so eine Verantwortungszuschreibung für den Schaden nicht gerechtfertigt ist. In der Konsumentenethik, so wird sich im Verlauf dieser Arbeit zeigen, ist die Rolle der Verantwortungszuschreibung eines unbeteiligten Dritten die entscheidendste, da der Staat stets diese Rolle übernimmt. Im Folgenden sollen die einzelnen objektiven und subjektiven Bedingungen kurz dargestellt werden:
3.1 DIE BEDINGUNGEN
Objektive Bedingung 1: X muss Verursacher der Handlung sein. X muss der kausale Urheber des Steinwurfes sein. Es ist der Körper von X, der den Stein aufgelesen und geworfen hat. Ich beschränke mich hier lediglich auf die objektiv zu beobachtenden Tatsachen.
Objektive Bedingung 2: Die Folge einer Handlung ist negativ (beziehungsweise nicht neutral) gegenüber einem Adressaten.
Gegeben sei, dass Y ein Recht auf die Unversehrtheit seines Privateigentums (in diesem Fall sein Fenster) hat. Das bedeutet, dass jeder Mensch es unterlassen muss, das Eigentum eines anderen zu zerstören. Der Begriff der negativen Pflicht wird hier oft angewendet. Nun ist die Zerstörung des Fensters von Y nicht nur deshalb als negativ zu bewerten, weil es bei frostigen Temperaturen ziemlich kalt in seiner Wohnung wird und er frieren muss (also körperliches Leid erfährt), sondern auch aus einem weiteren Grund, den man als objektiv einstufen kann.
Wenn das Prinzip des Privateigentums in einem Staat gilt, dann hat der Steinwurf von X noch einen anderen negativen Aspekt: Er hat das Recht von Y auf die Unversehrtheit seines Eigentums verletzt. In unserem Beispiel ist die Handlung von X also in zweierlei Hinsicht als negativ zu bewerten. Diese negative Bewertung geht aus zwei Wertvorstellungen hervor: 1. Schutz des Privateigentums und 2. Schutz der Gesundheit (niemand soll durch Frieren körperliches Leid erfahren). Ohne auf weitere Implikationen einzugehen, lässt sich hieraus schlussfolgern, dass in einem bestimmten Wertesystem die Folge der Handlung von X negativ ist.
Diese Bedingungen sind insofern objektiv, als dass sie einerseits in der physischen Welt verortet sind, andererseits die Rechtsgrundlage des Privateigentums und des Schutzes der Person aus allen drei Perspektiven als objektiv gerechtfertigt angesehen werden kann. Dazu müssen wir natürlich annehmen, dass die beiden involvierten Parteien, sowie Dritte, das gleiche Werte- beziehungsweise Rechtssystem teilen, da es um die rein objektive Bewertbarkeit einer Handlung geht. Dabei ist nicht zwingend von einer expliziten Moral auszugehen. Hier ließe sich ein Einwand gegen Bayertz' These anführen, dass „[...] die Zurechnung von Verantwortung stets mit einem Werturteil verknüpft ist“.37 Zur Verdeutlichung des Verantwortungsprinzips bin ich im vorigen Abschnitt von „negativen“ Folgen ausgegangen. Dies ist zwar ein Werturteil, aber kein zwingendes, denn X hat sich gegenüber Y eben nur in einer bestimmten Weise zu verantworten: nämlich für die Folgen, die das Handeln von X für Y hat (von Y als negativ bewertet). Es muss Y nur in irgendeiner Weise tangieren, damit sich X ihm gegenüber verantworten muss. Wenn sich Y zum Zeitpunkt des Steinwurfs gerade auf einer Weltreise befindet, von der er niemals zurückkehrt, hat X sich nur gegenüber der Rechtsgemeinschaft zu verantworten, in der X zum Zeitpunkt des Steinwurfs lebt.38 Rechtsgemeinschaften werten aber nicht, sondern kategorisieren Handlungen nach Gesetzen und verhängen gegebenenfalls Strafen. Somit geben sie eine objektive Bewertungsgrundlage (einen objektiven Maßstab) vor: das geltende Recht. Zwar spiegeln sich in Gesetzen Werturteile einer zum Beispiel demokratischen Gesellschaft wider, doch mit einem direkten Werturteil hat dies nichts zu tun. Somit besteht zwar kein direkter Gegensatz zwischen Werturteil und Gesetz, doch für die Definition eines Bewertungsmaßstabes (M), aufgrund dessen Verantwortung zugeschrieben werden soll, besteht zumindest ein Unterschied zwischen einem objektivem Gesetz und einem subjektiven Werturteil.
Subjektive Bedingung 1: Die Handlung muss die Folge der Intention von X sein.
Wie schon oben angedeutet, zeigt sich in der Verwendung der Begriffe Schuld oder Verantwortung ein Unterschied zu den Begriffen Ursache und Folge (oder Wirkung). Intentionalität ist hier das essentielle Element, eine intendierte Handlung „hebt [...] sich aus dem natürlichen Fluss des kausalen Geschehens heraus“39 40 41 und unterscheidet sich in diesem Punkt deutlich von Naturereignissen. Denn es geht beim Prinzip der Verantwortung um die Zurechnung von Handlungsfolgen. Die Handlung von X (den Stein zu werfen), muss aus seinem (freien) Willen heraus veranlasst worden sein. Das bedeutet, dass der Steinwurf keine reflexartige Körperbewegung als Ursache hat. Es ist das Ziel seiner Absicht, welches hier im Fokus steht und abzugrenzen ist zu anderen Formen der Intentionalität. Wir können hier Searles Begriff der „prior intention“ verwenden, um zu einer Definition von Intentionen in diesem Kontext zu gelangen: „In Searle's terminology, a ‘prior intention' corresponds to the initial representation of the goal of the action prior to the initiation of the action.“ So sprechen wir erst von einer Zurechnung von Handlungsfolgen, im Sinne der Verantwortung oder Schuld, wenn die Handlung, wie soeben definiert, aus einer Intention heraus erfolgt. Dies ist aber nicht die einzige subjektive Bedingung, denn auch die „prior intentions“ können gewissen Zwängen unterliegen, die in den weiteren subjektiven Bedingungen berücksichtigt werden. Diese weiteren Bedingungen müssen auch erfüllt sein, damit wir von einer rechtmäßigen Verantwortungszuschreibung sprechen können. Subjektive Bedingung 2: Frei-Willigkeit.
Damit die „prior intentions“ einer Analyse der Zurechnung von Verantwortung (und später einer moralischen Analyse) unterzogen werden können, stützt sich Bayertz auf einen Aspekt, den Aristoteles in der nikomachischen Ethik beschreibt. Freiwilligkeit ist eine notwendige Vorrausetzung für die Zurechnung von Handlungsfolgen. Demnach müssen unfreiwillig vollzogene Handlungen wie folgt klassifiziert werden: Es sind Handlungen, die „[.] unter äußerem Zwang erfolgen, insofern ihr ,bewegendes Prinzip‘ von außen her eingreift“42. Damit wir also eine gerechtfertigte Zurechnung von Verantwortung leisten können, darf kein äußerer Zwang das Handlungssubjekt zwingen, eine „prior intention“ zu formen und auszuführen. In unserem Beispiel dürfte niemand X gedroht haben, ihn zu töten, falls er den Stein nicht wirft, um das Fenster von Y zu zerstören.
Subjektive Bedingung 3: Möglichkeit zur Voraussicht der Folgen.
Bei der Analyse der Zurechnung von Handlungsfolgen ist für vernunftbegabte Wesen die Möglichkeit, die Folgen der eigenen Handlung vorauszusehen, ein essentielles Merkmal. Bayertz führt hier den Begriff der „Unzurechnungsfähigkeit“ an, um herauszustellen, dass Handelnde für eine Verantwortungszuschreibung durch Dritte stets die Folgen ihrer Handlung vorhersehen können müssen: „Kinder, geistig Behinderte oder Bewußtlose gelten als - moralisch wie auch rechtlich - ,unzurechnungsfähig‘. Sie [...] besitzen [...] die geforderte Voraussicht [nicht].“43 Auch ein unzureichender freier Wille wird ihnen unterstellt.44 Bayertz weist darauf hin, dass beide Bedingungen nicht zwingend getrennt voneinander zu betrachten sind45. Wenn eine mangelnde Voraussicht angenommen wird, dann kann ein Subjekt Handlungen vollziehen, die nicht zwingend dem eigentlichen Willen (der sich auf das Ergebnis der Handlung bezieht) entsprechen. Lassen wir moralische und rechtliche Aspekte beiseite, bleibt lediglich die Unzurechnungsfähigkeit. Der Begriff bezieht sich direkt auf das Zurechnungskonzept innerhalb der Verantwortung. So können wir schließen, dass bei mangelnder Fähigkeit zur Voraussicht eine Verantwortungszuschreibung, also eine Zurechnung der Folgen einer Handlung eines Akteurs, nicht korrekt erfolgen kann. Das Prinzip der Verantwortung im Sinne der Zurechnung setzt also ein Wissen um die Folgen einer Handlung voraus. Hier deutet sich schon an, welche entscheidende Rolle das Wissen, das heißt die vorliegenden Informationen, die dem Akteur zur Verfügung stehen, spielen werden.
Bis hierhin konnte geklärt werden, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sich von einer gerechtfertigten Verantwortungszuschreibung sprechen lässt. Die beiden objektiven Bedingungen besagen, dass das Handlungssubjekt kausaler Verursacher eines Ereignisses sein muss und den Adressaten aufgrund des geltenden Rechts (beziehungsweise eines von allen Parteien akzeptierten Wertesystems) in irgendeiner Weise tangiert.
Die subjektiven Bedingungen zeigen die inneren Bedingungen auf, die das Handlungssubjekt erfüllen muss, damit eine gerechtfertigte Verantwortungszuschreibung geschehen kann: 1. Die Handlung ist vom Handlungssubjekt im Sinne der „prior intention“ intendiert worden. 2. Die „prior intention“ wurde nicht unter Zwang geformt und ausgeführt. 3. Dem Handlungssubjekt ist es möglich, die Folgen seiner Handlung vorauszusehen. Schwierig ist hierbei natürlich, das Maß der Vorausschaubarkeit genau zu bestimmen. Im weiteren Verlauf wird sich zeigen, dass die Voraussicht an die Macht des Handlungssubjektes gekoppelt ist.
3.2 FÜRSORGEVERANTWORTUNG - DER ADDITIVE CHARAKTER DER VERANTWORTUNG
Die vorangegangenen Ausführungen zu subjektiven und objektiven Bedingungen für eine Verantwortungszuschreibung treffen genauso auf die Zuschreibung von Schuld zu. Im Rahmen dieses Kapitels soll nun der bereits angesprochene additive Charakter des Prinzips der Verantwortung thematisiert werden und auf diesem Wege eine Abgrenzung vom Schuldbegriff erfolgen. Dass Verantwortung als additiv charakterisiert werden kann, zeigt sich in der Darstellung bei Goppel, Neuhäuser und Mieth, für die Schuld „eine spezifische Form von Verantwortung neben anderen“ ist. Verantwortung hingegen werde oftmals „auch im Sinne von Haftung oder aber im Sinne einer Sorge verwendet“. Gleichzeitig weisen sie auf die Schwierigkeit einer genauen Kategorisierung des Verantwortungsbegriffs hin:
„Darüber hinaus finden sich ganz verschiedene weitere Typen von Verantwortung in der Literatur, etwa Aufgabenverantwortung, Folgenverantwortung, Vergangenheitsverantwortung, Zukunftsverantwortung oder Gruppenverantwortung. Mithilfe einer mehrstellig-relationalen Analyse des Verantwortungsbegriffs und der Unterscheidung in die drei Dimensionen der Schuld, Sorge und Haftung lassen sich all diese verschiedenen Typen von Verantwortung wahrscheinlich kategorisieren.“46 47
Hieraus lässt sich bereits erkennen, dass es sich bei der Verantwortung um ein schwer abzugrenzendes Prinzip handelt. In Bayertz' Darstellung kommen alle drei angesprochenen Dimensionen der Verantwortung im Abschnitt der Fürsorgeverantwortung in verschränkter Weise vor: Bayertz beschreibt mit Fürsorgeverantwortung einen Aspekt von Verantwortung, den er zur Abgrenzung vom Schuldbegriff beziehungsweise vom klassischen Modell der Verantwortung benutzt.48 Für die weitere Argumentation wird Bayertz' Analyse von zentraler Bedeutung sein, da es bei der Verantwortung in der Konsumentenethik vor allem um eine gerechtfertigte Zuschreibung von Handlungsfolgen im Sinne des Verantwortungsbegriffs geht. Bayertz’ Analyse soll nun knapp dargestellt werden:
Mit Schuld ist in der Regel die rein kausale Zuschreibung negativer Folgen zu einem Verursacher gemeint.49 50 51 Im Zuge der Industrialisierung wird dieses klassische Modell der Verantwortung Bayertz zufolge jedoch problematisch:
„Der handlungstheoretisch entscheidende Punkt besteht offenbar darin, daß sich im Falle des technischen Handelns vermittelnde Instanzen - Werkzeuge, Maschinen [...] - zwischen das Handlungssubjekt und die Handlungsfolge schieben und daß diese Zwischenglieder eine mehr oder weniger große, Selbstständigkeit gewinnen können.“
Bayertz nennt hier die Kesselexplosionen auf Dampfschiffen Anfang des 18. Jahrhunderts in den USA, bei denen über 2000 Menschen starben. Wer kann für den Schaden zur Verantwortung gezogen werden? Der Kesselbauer? Der Investor? Der Betreiber? Die Frage nach der Urheberschaft gestaltet sich in einer so komplexen Handlung (Herstellung und Betrieb eines Dampfkessels) als äußerst schwierig. Welcher der Akteure ist nun der Verursacher der Explosion? Ist es menschliches Handeln oder ein unvorhersehbares Naturereignis gewesen?
Nun tritt eine Abwendung von der subjektiven Bedingung 1 (Intentionalität) ein, was sich in dem Institut der Gefährdungshaftung zeigt.52 Ob eine Handlung intendiert war, spielt nun keine Rolle mehr bei der rechtmäßigen Verantwortungszuschreibung, sondern nur, ob eine Handlungsfolge eingetreten ist53, das heißt es zählt nur, ob die objektiven Bedingungen erfüllt sind. Da der Haftende die Gefahrenquelle betreibt, hat er für dessen einwandfreien Betrieb und für den Ersatz der durch den Betrieb entstandenen Schäden aufzukommen.54 Diese Verantwortlichkeit wird durch Gesetze geregelt, berührt also die rechtliche Dimension der Verantwortung. Für die Konzeptionierung des Verantwortungsbegriffs in dieser Arbeit sei bis jetzt lediglich festgehalten: „In der normativen Dimension der Verantwortung werden damit die Vorzeichen vertauscht: man ist nicht mehr verantwortlich für negative Folgen, sondern für positive Zustände“55. Diese Fürsorge-Verantwortung56 ist das additive Element im Verhältnis zur Schuld, welches die Verantwortung von der Schuld unterscheidet. An dieser Stelle möchte ich noch einmal deutlich darauf hinweisen, dass der Verantwortungsbegriff bislang rein auf die Zurechnung von Handlungsfolgen beschränkt wurde und im streng formalen Sinne das Prinzip der Verantwortung eine Zurechnung von Handlungsfolgen unter Berücksichtigung eines Maßstabs (im Falle der Fürsorge-Verantwortung das geltende Recht) ist. Wir sprechen von Verantwortung, wenn wir eine wie am Anfang des Kapitels beschriebene mehrstellige Relation formal auf die Welt übertragen können. Interessant ist, wie sich das klassische Modell der Verantwortung und die eben beschriebene FürsorgeVerantwortung auf die Herleitung der Elemente in dieser Relation auswirken. Am Beispiel der Kesselexplosionen soll eine Gegenüberstellung dies verdeutlichen:
Nach dem klassischen Modell der Verantwortung57 reicht eine dreistellige Relation zur Analyse aus:
Urheber (Kesselbauer und/oder -betreiber) ist für das Ereignis (Explosion) gegenüber den Adressaten (Geschädigte) verantwortlich.
Es ist die Folge (Explosion) der Handlung (Bau und Betrieb), die den Adressaten geschädigt hat. Diese Analyse wird jedoch als unzulänglich und lückenhaft empfunden, obwohl offensichtlich die Handlung der Urheber dafür verantwortlich ist, dass es zu einer Explosion kommen konnte. Dies liegt an der enormen Komplexität der Abfolge zwischen Handlung und Ereignis, die weiter oben schon beschrieben wurde. Unser Steinwurf-Beispiel funktioniert allerdings sehr gut in diesem klassischen Modell:
Urheber (X) ist gegenüber Adressat (Y) für das Ereignis (Schaden aufgrund von Steinwurf durch X) verantwortlich.
Diese Zurechnung weist keine Lücken auf (obwohl mit Schaden vielleicht schon eine normative Dimension vorausgesetzt wird). Für eine Analyse der Fürsorge-Verantwortung ist folglich eine vierstellige Relation notwendig, da sich einzelne Elemente grundlegend ändern: Urheber (Kesselbauer und/oder -betreiber) ist für das Verhindern des Ereignisses (Explosion) gegenüber der Rechtsgemeinschaft (Adressat) unter Bezugnahme auf einen Maßstab (M = Gesetze) verantwortlich.
Ohne die Annahme einer normativen Dimension (Maßstab M) fehlt somit die Grundlage dafür, jemandem für ein Nicht-Geschehen (eines negativen Ereignisses) die Verantwortung zuzuweisen. Wie sollte eine bedingungslose Verantwortungszuschreibung für ein solches Nicht-Geschehen erfolgen, wenn nicht geregelt ist, was als Nicht-Geschehen beziehungsweise Geschehen gilt? Der Maßstab (M) bildet quasi die Nulllinie für jegliche Definition dessen, was als Ereignis verstanden wird. So regeln die TÜV-Gesetze in Deutschland zum Beispiel, welche Mängel ein Automobil nicht aufweisen darf. Positiv ausgedrückt wird dieser Punkt noch deutlicher: Es ist ein „[...] Typus von Verantwortung, der prospektiv orientiert ist und die Sorge für etwas definiert [...]“58.
Der Maßstab (M) regelt also, was der Inhalt dieser Sorge ist, beziehungsweise um was sich ein Handlungssubjekt zu sorgen hat. Im Falle der Kesselbauer müssten sich die Bauer vielleicht um eine einwandfreie Nutzung kümmern, doch es gibt aktuellere Beispiele. Zum Beispiel wird bei Automobilen in Deutschland eine regelmäßige TÜV-Prüfung vom Gesetzgeber verlangt, die eine gefährdungsfreie Nutzung des Fahrzeugs (für den Fahrer selbst und andere) gewährleisten soll. So soll durch die Überprüfung sichergestellt sein, dass die Bremsen richtig funktionieren und kein Schaden durch einen Auffahrunfall entsteht. Dies ist die Sorge (im Sinne der Fürsorgeverantwortung) des Fahrzeughalters. Verursacht der Fahrer und Halter einen Schaden mit seinem Fahrzeug, dessen TÜV abgelaufen ist, an einem anderen Fahrzeug, hat er gleich zwei Dinge zu verantworten. Als Urheber seiner Handlung (im konkreten Fall: zu spätes Bremsen) muss er für den von ihm verursachten Schaden dem Geschädigten eine Ersatzzahlung leisten. Zweitens hat er die Sorge für eine regelmäßige TÜV-Prüfung versäumt. Er muss sich dafür gegenüber dem Gesetzgeber verantworten und kann mit einer Geldstrafe rechnen, da die Polizei am Unfallort die abgelaufene Plakette bemerkt hat. Hier ist ein Unterschied zu beachten: Im Grunde liegen zwei Fälle vor: Hat der Fahrer den Schaden verursacht, weil seine Bremsen nicht richtig funktionierten, was er aufgrund der ausgefallenen TÜV-Überprüfung fahrlässig in Kauf genommen hat? Oder haben die Bremsen einwandfrei funktioniert und er hat einfach zu spät reagiert?
Im ersten Fall der defekten Bremsen durch fehlende TÜV-Prüfung hat die Relation die folgenden Formen:
a) Fahrer/Halter (Urheber) hat sich für das Verhindern des Ereignisses (NichtDurchführen der TÜV-Prüfung) gegenüber dem Adressaten (Unfallgeschädigter) aufgrund des Maßstabs (vom Gesetzgeber erlassene Gesetze) zu verantworten.
b) Fahrer/Halter (Urheber) hat sich für das Verhindern des Ereignisses (mit abgelaufener TÜV-Plakette fahren) gegenüber dem Adressaten (Rechtsgemeinschaft) aufgrund des Maßstabs (vom Gesetzgeber erlassene Gesetze) zu verantworten.
Beides trifft zu: Sowohl dem Unfallgeschädigten als auch der Rechtsgemeinschaft gegenüber muss der Urheber sich verantworten. Die Rechtsprechung erlaubt den Weg über das Strafgesetzbuch, aber auch eine Zivilklage des Geschädigten ist zu erwarten. Im Zivilprozess kann dann der Geschädigte das abgelaufene TÜV-Zertifikat als Unfallgrund nennen. Doch der Geschädigte kann keinen Anspruch darauf erheben, vom Unfallverursacher eine Entschädigung dafür zu bekommen, dass dieser die fällige TÜV-Prüfung versäumt hat. Das einzige Ereignis, für das sich der Unfallverursacher gegenüber dem Geschädigten verantworten muss, bleibt der Schaden. Diese Fürsorge-Verantwortung trägt jeder Autofahrer nur gegenüber dem Staat.
Der zweite Fall (funktionierende Bremsen) scheint etwas eindeutiger zu sein:
Fahrer/Halter (Urheber) hat sich für das Ereignis (Auffahrunfall) gegenüber dem Adressaten (Unfallgeschädigter) aufgrund des Maßstabs (vom Gesetzgeber erlassene Gesetze) zu verantworten.
Die Ursache des Schadens liegt allein in der Unaufmerksamkeit und zu späten Reaktion des Unfallverursachers, die Bremsen funktionierten - trotz fehlender TÜV-Prüfung - einwandfrei. Der Fahrer hat den Schaden zwar nicht intendiert, sich aber offenbar dazu entschieden, seine Aufmerksamkeit nicht vollständig auf den Straßenverkehr zu lenken. Nun hat der Geschädigte aber keinen Anspruch darauf, Ersatzleistungen zu erhalten, weil der Unfallverursacher unaufmerksam war - er erhält sie nur für seinen Schaden, den der Verursacher aufgrund der maßgebenden Gesetzeslage ersetzen muss. Aus moralischer Perspektive könnte dem Unfallverursacher vorgeworfen werden, seiner Fürsorge-Verantwortung für ein aufmerksames Verhalten im Straßenverkehr nicht nachgekommen zu sein. Dieses Verhalten schuldet er vielleicht moralisch gesehen jedem Teilnehmer im Straßenverkehr, doch die rechtliche Dimension bleibt davon unberührt.
Aus diesen Sachverhalten wird ersichtlich, dass eine Zuweisung von Verantwortung ohne die Einbeziehung der normativen Dimensionen, in der sich Verantwortung manifestiert nicht möglich ist. Eine Annahme der vierstelligen Relation als Definition von Verantwortung59 ist aus diesem Grund unabdingbar. Maßstab (M) bildet dabei die Definition des normativen Standards. Zugleich liefert der Maßstab die inhaltliche Bestimmung dessen, welche Fakten zur Zuschreibung von Verantwortung herangezogen werden. Im TÜV-Beispiel ist dies die gesetzlich vorgeschriebene Zustandsüberprüfung des Fahrzeugs, welche der Halter versäumt hat.
Christian Neuhäuser untersucht in seinem Text „Drei Dimensionen der Verantwortung von Konsumenten und Unternehmen“ diese normativen Dimensionen. Sie sind nicht zu verwechseln mit den oben genannten Elementen (Sorge, Schuld, Haftung). Im Rahmen dieser Arbeit wird angenommen, dass das Prinzip der Verantwortung jedes dieser drei Elemente einschließt und durch sie definiert wird. Denn wem Verantwortung zugesprochen wird, der trägt eine Sorge für ein Ereignis, ihn trifft eine Schuld für ein Ereignis und/oder er wird für ein Ereignis haftbar gemacht. Die von Neuhäuser angeführten Dimensionen beziehen sich hingegen auf den normativen Maßstab, mit dem eine Verantwortung bewertet werden kann. Zusätzlich wirken sich die verschiedenen Perspektiven der Dimensionen auf die Elemente in der vierstelligen Relation aus. Da sie für die Argumentation benötigt werden, handelt der nächste Abschnitt von eben diesen drei Dimensionen: der moralischen, politischen und rechtlichen Verantwortung.60
[...]
1 Humbert und Braßel 2016, 9.
2 Vgl. Pogge 2011, 212ff.
3 Vgl. Bleisch 2010, 142ff.
4 Vgl. Bak 2014, 13: Ethische Axiome sind Annahmen, die nicht weiter begründet werden müssen, wie etwa: „Alle Menschen haben das gleiche Recht“.
5 Tasioulas in: McCrudden 2013, 292.
6 Hennings 2009, 76.
7 Vgl. https://plato.stanford.edu/entries/rights-human/#PolCon (letzter Aufruf: 20.06.2017).
8 Vgl. https://plato.stanford.edu/entries/rights-human/#humagency (letzter Aufruf: 20.06.2017).
9 Tasioulas in: McCrudden 2013, 295.
10 Tasioulas in: McCrudden 2013, 295.
11 Tasioulas in: McCrudden 2013, 295.
12 Im englischen Original „give rise to“, vgl. Tasioulas in McCrudden 2013, 295.
13 Tasioulas in: McCrudden 2013, 295.
14 Tasioulas in: McCrudden 2013, 296.
15 Für eine eingehende Betrachtung siehe Tasioulas in: McCrudden 2013, 297ff.
16 Tasioulas in: McCrudden 2013, 296.
17 Tasioulas in: McCrudden 2013, 296.
18 Tasioulas in: McCrudden 2013, 296.
19 Tasioulas in: McCrudden 2013, 297.
20 Vgl. Tasioulas in: McCrudden 2013, 297.
21 Tasioulas in: McCrudden 2013.
22 Tasioulas in: McCrudden 2013, 297.
23 Vgl. Tasioulas in: McCrudden 2013, 297.
24 Tasioulas in: McCrudden 2013, 297.
25 Tasioulas in: McCrudden 2013, 298.
26 Tasioulas in: McCrudden 2013, 305.
27 Hennings 2009, 64.
28 Bayertz 1995, 12.
29 Neuhäuser 2012, 280.
30 Goppel, Mieth und Neuhäuser 2016, 298.
31 Aßländer 2012, 258-259.
32 Bayertz 1995, 5.
33 Bayertz 1995, 6.
34 Bayertz 1995, 8.
35 Bayertz nennt dies das klassische Modell der Verantwortung (vgl. ebd. 1995, 5-6).
36 Bayertz 1995, 8.
37 Bayertz 1995, 13.
38 Vgl. Neuhäuser 2012, 281.
39 Bayertz 1995, 7.
40 Patherie 2000, 4.
41 Vgl. Bayertz 1995, 9.
42 Bayertz 1995, 9.
43 Bayertz 1995, 10.
44 Bayertz 1995, 10.
45 Bayertz 1995, 10.
46 Goppel, Mieth und Neuhäuser 2016, 297-298.
47 Goppel, Mieth und Neuhäuser 2016, 297-298.
48 Auch klassisches Modell der Verantwortung genannt, vgl. Bayertz 1995, 5-6.
49 Klassisches Modell der Verantwortung, vgl. Bayertz 1995, 5.
50 Bayertz 1995, 28.
51 Bayertz 1995, 26.
52 Bayertz 1995, 29.
53 Bayertz 1995, 29.
54 Vgl. Bayertz 1995, 28-29.
55 Bayertz 1995, 32.
56 Bayertz 1995, 32.
57 Bayertz 1995, 6.
58 Bayertz 1995, 32.
59 Neuhäuser 2012, 280.
60 Neuhäuser 2012, 278ff.
- Citation du texte
- Gerrit Großmaas (Auteur), 2017, Das Problem der Verantwortung in der Konsumentenethik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/981660
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