Diese Arbeit analysiert, wie Therapieplätze gestaltet sein müssen, damit sie die psychosoziale Gesundheit von Kindern mit Austismus-Spektrum-Störung fördern können.
Die Autismus-Spektrum-Störung gehört heutzutage zu den bedeutendsten Entwicklungsstörungen mit Beginn im Kindesalter. Autistische Kinder sind einerseits in ihrer Kommunikation, ihren sozialen Fähigkeiten sowie Verhaltensweisen eingeschränkt und andererseits auch häufig in ihrer psychischen Gesundheit beeinträchtigt.
Demnach besteht ein hoher Bedarf an Therapien, die auf diese Problematik eingehen. Untersucht wird der mangelnde Bezug bestehender Therapieansätze auf die psychische Verfassung von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung. Das Ziel ist es, Aspekte von Therapieansätzen zu identifizieren, welche die psychosoziale Gesundheit autistischer Kinder fördern.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretischer und empirischer Hintergrund zu Autismus
2.1 Geschichtlicher Einblick
2.2 Klassifikation und Definition
3 Autismus-Spektrum-Störung
3.1 Diagnostik
3.1.1 Diagnosekriterien nach ICD-10 und DSM-5
3.1.2 Diagnostik von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung
3.2 Epidemiologie
3.3 Komorbidität
4 Ätiologie und Symptomatologie
4.1 Ursachen und Entstehung von Autismus
4.2 Autistische Kernsymptome und daraus resultierende soziale Probleme
4.2.1 Soziale Interaktion und Sozialverhalten
4.2.2 Sprache und Kommunikation
4.2.3 Verhaltensweisen
4.3 Schlussbetrachtung der Autismus-Spektrum-Störung
5 Psychosoziale Gesundheit
5.1 Psychische Gesundheit
5.2 Psychische Gesundheit bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung
5.2.1 Risiko- und Schutzfaktoren
5.2.2 Psychische Erkrankungen und Autismus
5.3 Schlussbetrachtung Psychosoziale Gesundheit
6 Therapieansätze
6.1 Vorwort
6.2 Psychotherapie
6.3 Verhaltenstherapeutische und lernorientierte Therapieansätze
6.3.1 TEACCH
6.3.2 ABA
6.4 Therapieansätze zur Förderung der Kommunikation und Sozialkompetenz
6.4.1 PECS
6.4.2 Social Stories
6.4.3 TOMTASS
6.5 Therapieansätze in der Gesamtschau
6.6 Diskussion und vorläufiges Resümee
7 Ausblick auf das Praxisfeld Soziale Arbeit
8 Verallgemeinerung der Erkenntnisse und Ausblick
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Anhang
Abstract
Die Autismus-Spektrum-Störung gehört heutzutage zu den bedeutendsten Entwicklungsstörungen mit Beginn im Kindesalter. In dieser Arbeit wird aufgezeigt, dass autistische Kinder einerseits in ihrer Kommunikation, ihren sozialen Fähigkeiten sowie Verhaltensweisen eingeschränkt sind und andererseits ihre psychische Gesundheit häufig beeinträchtigt ist. Demnach besteht ein hoher Bedarf an Therapien, die auf diese Problematik eingehen. Die vorliegende Arbeit untersucht den mangelnden Bezug bestehender Therapieansätze auf die psychische Verfassung von Kindern mit Autismus-SpektrumStörung. Das Ziel ist es, Aspekte von Therapieansätzen zu identifizieren, welche die psychosoziale Gesundheit autistischer Kinder fördern. Dazu wird der folgenden Fragestellung nachgegangen: „Wie müssen Therapieansätze gestaltet sein, damit sie die psychosoziale Gesundheit von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung fördern?“. Um die Fragestellung zu beantworten, wurden eine systematische Literaturrecherche themenrelevanter Literatur sowie eine anschließende Analyse sechs ausgewählter Therapieansätze durchgeführt. Den herausgearbeiteten förderlichen sowie hinderlichen Faktoren für die kindliche psychische Gesundheit wurden entsprechende Therapieaspekte der verschiedenen Ansätze zugeordnet. Die Ergebnisse zeigen, dass keine Heilung von Autismus möglich ist, sondern eine Behandlung mit dem Ziel einer hohen Lebensqualität angestrebt wird. Therapien zur Förderung der Kommunikation und Sozialkompetenz weisen diesbezüglich und hinsichtlich der Förderung der psychischen Gesundheit ein hohes Potenzial auf. Außerdem können verschiedene förderliche Aspekte zur Stärkung der psychischen Gesundheit aus den Untersuchungen abgeleitet werden. Darunter fallen der Fokus auf die Individualität, Stärken und Fähigkeiten des Kindes, die Förderung der Autonomie und Selbstbestimmung sowie die Unterstützung beim Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen. Ein Einbezug dieser Faktoren in Therapien könnte eine wirksame Perspektive darstellen.
Schlüsselwörter: Autismus, Autismus-Spektrum-Störung, Kinder, Psychosoziale Gesundheit, Förderung der psychischen Gesundheit, Therapieansätze, Therapieaspekte
Vorwort
Das Interesse am Thema dieser Masterarbeit entstand aus meiner Tätigkeit als ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der Lebenshilfe Braunschweig, die ich seit April 2019 ausübe. Der Umgang mit den autistischen Kindern und Jugendlichen verschaffte mir wertvolle Erfahrungen und brachte mich dazu, mich intensiv mit dem Thema Autismus auseinanderzusetzen. Mein Ziel bei der Arbeit war es stets, einen positiven Beitrag zum Leben der Autisten beizutragen.
An dieser Stelle möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mich während der Anfertigung dieser Masterarbeit unterstützt und motiviert haben.
Zuerst bedanke ich mich recht herzlich bei Herrn Prof. Dr. Holger Wunderlich und Herrn Prof. Dr. Alfred Klaus, die meine Masterarbeit betreut und begutachtet haben. Ein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Alfred Klaus, der mir durch seine wertvollen Tipps und Anregungen beim Verfassen meiner Arbeit sehr weitergeholfen hat.
Weiter möchte ich mich bei meinen langjährigen Freundinnen Franziska Gulde und Siham Schotemeier bedanken. Ohne ihr sorgfältiges Korrekturlesen wäre meine Masterarbeit in dieser Weise nicht zu Stande gekommen.
Ebenso wichtig für mich war die Unterstützung meines Freundes Philipp Schurr, der mich nicht nur geduldig im Alltag unterstützte, sondern mir immer seelische Unterstützung in Form von Zuversicht und Kraft gab. Lieber Philipp, für das, was du die letzten Jahre für mich getan hast, bin ich dir innig dankbar.
Zuletzt möchte ich mich noch von Herzen bei meinen Eltern Heike und Raphael Herbrich bedanken, die mir mein Masterstudium durch ihre bedingungslose Unterstützung ermöglicht und mir stets den Rücken gestärkt haben.
Trotz der schwierigen Umstände durch die Corona-Krise konnte ich meine Masterarbeit mit viel Geduld und Durchhaltevermögen sowie der vielseitigen Unterstützung von außen erfolgreich abschließen. Braunschweig, August 2020
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
„7 von 10 Autist*innen haben psychische Probleme. Die meisten bekommen nicht die Unterstützung, die sie brauchen [...]“ (www. Müller 2020), so Müller.
Dieses Problem wird insbesondere bei Kindern deutlich, da in ihrem Lebensabschnitt wichtige Meilensteine für gesundheitsrelevantes Verhalten gelegt werden (vgl. Erhart/ Ottovâ/ Sieberer 2017: 59). Das Thema Autismus1 hat in den letzten Jahren in der Gesellschaft an Bedeutung und Aufmerksamkeit gewonnen. Jüngste Entwicklungen zeigen, dass viele Kinder mit Autismus psychisch krank sind und entsprechende Hilfen, die ihnen ein gutes Leben ermöglichen, benötigen. Heutzutage ist ein signifikanter Bedarf an Therapieansätzen, die ausreichend auf die Förderung der psychischen Gesundheit von Betroffenen eingehen, erkennbar.
Die Ausübung einer ehrenamtlichen Tätigkeit mit autistischen Kindern und Jugendlichen weckte das persönliche Interesse der Verfasserin, sich näher mit dem Thema Autismus auseinanderzusetzen. Da der Aspekt der Gesundheitsförderung eine zentrale Rolle im Masterstudium der Verfasserin eingenommen hat, bot sich eine Analyse des folgenden Themas an.
Diese Master-Thesis geht der Frage „Wie müssen Therapieansätze gestaltet sein, damit sie die psychosoziale Gesundheit von Kindern1 2 mit Autismus-Spektrum-Störung fördern?“ nach.
Die Forschungsfrage basiert auf der Forschungslücke, dass die aktuelle Literatur sich mit der Auswirkung von Therapieansätzen auf autistische Menschen beschäftigt, allerdings bislang wenig über den Bezug zur psychischen Gesundheit von Kindern bekannt ist. Weitere Überlegungen, die an die Fragestellung dieser Abschlussarbeit anschließen, sind „Was macht die psychische Gesundheit eines autistischen Kindes aus?“, „Wie kann die psychische Gesundheit gestärkt und unterstützt werden?“ und „Wie können Therapieansätze Einfluss auf die psychische Gesundheit von Kindern mit Autismus nehmen?“.
Die vorliegende Arbeit ist wie folgt aufgebaut. Der erste Teil beginnt mit dem theoretischen sowie empirischen Hintergrund zu Autismus. Dabei bezieht sich die Verfasserin auf Ansätze des geschichtlichen Wandels von Heller, über Bleuler und Freud, bis hin zu Kanner und Asperger. Zum Einstieg in die Thematik wird auf die Entwicklungsstörung Autismus anhand ihrer unterschiedlichen Subformen Frühkindlicher Autismus, Asperger- Syndrom und Atypischer Autismus eingegangen und die Herleitung des Begriffes Autis- mus-Spektrum-Störung geschildert. Im dritten Kapitel wird näher auf ASS eingegangen, indem die Diagnostik, vor allem in Bezug auf das Kindesalter, die Diagnosekriterien, die Epidemiologie sowie die Komorbidität von ASS thematisiert werden. Das nächste Kapitel umfasst die ätiologischen Aspekte von Autismus und geht detailliert auf die Symptomatologie der Entwicklungsstörung, unterteilt in die drei Symptombereiche Soziale Interaktion, Kommunikation und Verhaltensweisen, ein. Darauffolgend schließt eine Schlussbetrachtung über Autismus-Spektrum-Störung das Kapitel ab.
Der zweite Teil der Arbeit legt den Fokus auf die Untersuchung der psychosozialen Gesundheit und der Therapieansätze. Im fünften Kapitel geht die Verfasserin zunächst auf die psychische Gesundheit im Allgemeinen sowie bei autistischen Kindern ein und bezieht dabei empirische Untersuchungen wie Gesundheitsstudien des Robert Koch-Institutes mit ein. Risiko- und Schutzfaktoren für die psychische Verfassung werden hierbei abgeleitet. Nachdem die Problematik der psychischen Erkrankungen bei Autisten erläutert wurde, schließt sich eine Schlussbetrachtung des Kapitels an. Diese leitet entsprechende förderliche sowie hinderliche Faktoren für die psychische Gesundheit des Kindes aus den vorherigen Untersuchungen ab. Anschließend wird in einem Vorwort des sechsten Kapitels zunächst auf die Vielfalt von Therapieansätzen für Autisten eingegangen, darauffolgend werden sechs ausgewählte Ansätze detailliert beleuchtet. Die Verfasserin führt eine Untersuchung der Ansätze hinsichtlich ihrer Therapieaspekte durch und stellt die Ergebnisse in einer Gesamtschau dar. Eine anknüpfende Diskussion sowie ein vorläufiges Resümee behandeln die Zuordnung der Therapieaspekte zu förderlichen und hinderlichen Faktoren zur Förderung der psychischen Gesundheit. Schließlich wird ein Rückbezug zur Fragestellung dieser Masterarbeit hergestellt. Nach einem kurzen Ausblick, der auf die Rolle der Sozialen Arbeit eingeht, folgen zum Schluss die Verallgemeinerung der Erkenntnisse dieser Arbeit sowie ein Ausblick.
Ziel der Arbeit soll eine Darstellung von Aspekten sein, anhand welcher eine Therapie sowohl wirksam als auch fördernd und bestärkend für die psychische Gesundheit autistischer Kinder ist. Des Weiteren soll aufgezeigt werden, welche existierenden Therapieansätze diese Faktoren bereits erfolgreich umsetzen und an welchen Stellen Verbesserungsbedarf besteht.
Diese Arbeit stellt eine Literaturarbeit dar, die auf einer ausgiebigen Literaturrecherche basiert. Die Literaturauswahl umfasst neben Literatur von Autorinnen wie Freitag und Preißmann ebenso Publikationen des Deutschen Ärzteblattes, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, des Robert Koch-Institutes sowie der Weltgesundheitsorganisation. Außerdem bezieht sich diese Arbeit stark auf die vorhandene Literaturausbeute hinsichtlich der therapeutischen Unterstützung von Autisten. Darüber hinaus fließen aktuelle Impulse aus beispielsweise der Zeitschrift Autismus verstehen e.V. mit in die Arbeit ein. Die Literatur wurde hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Relevanz sowie des Themenbezugs ausgewählt.
2 Theoretischer und empirischer Hintergrund zu Autismus
Der Begriff Autismus lässt sich vom griechischen Wort „Autos" (www. Faust 2020) ableiten, was so viel bedeutet wie „für sich" (ebd.).
Autismus ist in unserer Gesellschaft als eine tiefgreifende Entwicklungsstörung mit Beginn in der frühen Kindheit bekannt (vgl. Josefs-Gesellschaft gGmbH 2015: 3). Da sich diese Arbeit auf Autismus bei Kindern3 fokussiert, ist zu betonen, dass kinder- und jugendpsychiatrische Störungen wie Autismus immer in einen Entwicklungskontext eingebettet sind und stets einzelne oder mehrere Entwicklungsfunktionen beeinträchtigen (vgl. Steinhausen 2016: 18). Neben bestimmten charakteristischen Kernsymptomen in den drei Bereichen Soziale Interaktion, Kommunikation sowie Verhaltensweisen, zeigen Autisten4 oft auch psychische Probleme. Die Autismus-Störung beeinträchtigt die Betroffenen in vielfältiger Weise, vor allem in Hinblick auf deren Beziehungen zur Umwelt und ihrer Teilnahme am gesellschaftlichen Leben (vgl. Josefs-Gesellschaft gGmbH 2015: 3). Autismus verläuft konstant, bleibt ein Leben lang und ist nicht vollständig heilbar, sondern lediglich behandelbar (vgl. Zero to Three 20195: 35).
Heutzutage werden verschiedene Arten von Autismus unter dem Begriff der AutismusSpektrum-Störung (ASS) gefasst und hauptsächlich als tiefgreifende Beeinträchtigung der Entwicklung durch komplexe Störungen des zentralen Nervensystems sowie hirnorganische Veränderungen betrachtet (vgl. Josefs-Gesellschaft gGmbH 2015: 3).
Die folgenden zwei Kapitel zeigen die Entwicklung des Autismus anhand des geschichtlichen Wandels sowie der Klassifikation und Definition dieser Entwicklungsstörung.
2.1 Geschichtlicher Einblick
Schon im Jahr 1908 beschrieb der Leiter der Erziehungsanstalt für „geistig abnorme und nervöse Kinder" (DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 20166: 10) in Wien, Theodor Heller, Kinder, die in ihren ersten Lebensjahren nach einer unauffälligen Entwicklung bestimmte Besonderheiten aufwiesen. Diese beschriebenen Kinder zeigten einen Verlust bereits erworbener Fähigkeiten und ihrer Sprache sowie eine Intelligenzminderung. Die nach Theodor Heller benannte „Heller‘sche Demenz" (DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 20167: 10) ähnelte in ihren Symptomen dem heutigen Autismus (vgl. ebd.). Grundlegend geht der Begriff Autismus auf den Schweizer Psychiater Eugen Bleuler zurück. Bleuler beschrieb 1911 eine starke Zurückgezogenheit und Selbstbezogenheit als Symptome der Schizophrenie (vgl. Girsberger 2016: 23). Er führte den Autismus als „gedankliche Binnenwelt und Vermeidung zwischenmenschlicher Kontakte" (www. Faust 2020: 2) als Grundsymptom der Schizophrenie ein (vgl. ebd.). Neben der Definition Bleulers setzte der Psychologe Sigmund Freud den Begriff „autistisch" (DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 10) mit dem Begriff „narzisstisch" (ebd.) gleich. Die Definitionen Bleulers und Freuds werden heutzutage so nicht mehr verwendet (vgl. ebd.). In den 1920er Jahren legte die russische Kinder- und Jugendpsychiaterin Grunja Evimovna Ssucharewa eine Beschreibung autistischer Kinder und Jugendlicher vor. Ssucharewa fasste ihre Beobachtungen von Personen, die durch ihre Eigentümlichkeiten sowie ihr eigenwilliges und exzentrisches Verhalten auffallen, unter den Begriff „schizoide Psychopathie" (Theunissen/ Autismus Deutschland e.V. 2019: 16) zusammen (vgl. ebd.: 15f.). Auch wenn ihre Erkenntnisse innerhalb des geschichtlichen Wandels von Autismus wenig wahrgenommen wurden, legten sie vier grundlegende Merkmale der Erkrankung dar: Motorische, emotionale und intellektuelle Besonderheiten sowie eine autistische Grundhaltung (vgl. ebd.: 16ff.).
Den Begriff Autismus übernahmen 1943 der US-amerikanische Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner und im darauffolgenden Jahr der österreichische Kinderarzt und Heilpädagoge Hans Asperger, um das autistische Störungsbild bei Kindern auszudrücken (vgl. www. Faust 2020: 2). Dabei beschrieben beide Vertreter das Verhalten autistischer Kinder nicht als ein aktives Zurückziehen in ihre Phantasiewelt, sondern als Unfähigkeit, soziale Kontakte zu entwickeln (vgl. ebd.). Leo Kanner untersuchte Kinder, die eine starke Isolation zeigten, welche jedoch nicht durch eine geistige Behinderung zu erklären war (vgl. Freitag 2008: 17). Die betroffenen Kinder seien in ihren emotionalen Beziehun- gen gestört (vgl. Girsberger 2016: 160). Kanner griff den Begriff von Eugen Bleuler wieder auf und benannte seine Entdeckung als Frühkindlichen Autismus, auch Kanner-Syn- drom genannt (vgl. Freitag 2008: 17).
Hans Asperger hingegen beschrieb seine entdeckte Form von Autismus wie folgt:
„Der Blick konnte ,fern‘ sein, Körperhaltung und Gestik hatten keinen Bezug zur jeweiligen Situation, dazu ungeschickt, künstlich oder seltsam wirkend. Tonfall und Wortwahl waren trotz gut entwickelter sprachlicher Fähigkeit monoton und frühreif-erwachsen bis geziert.“ (zit. n. Asperger 1944. In: www. Faust 2020: 3)
Nach Asperger seien von Autismus betroffene Kinder sehr stark auf sich selbst bezogen (vgl. Girsberger 2016: 160). In seiner Publikation Das psychisch abnorme Kind ging Asperger weiter auf die Besonderheiten von Autismus und den Zusammenhang mit psychisch auffälligen Kindern ein. Jahre später veröffentlichte auch Leo Kanner seine wissenschaftliche Arbeit zum Thema Kinder mit autistischer Symptomatik (vgl. ebd.: 23). Sowohl Kanners als auch Aspergers Erkenntnisse sind in die weltweit verbreiteten Diagnose- und Klassifikationssysteme DSM8 und ICD9 eingegangen, auf die in den nachfolgenden Kapiteln dieser Arbeit Bezug genommen wird (vgl. Girsberger 2016: 42). Dennoch werden Kanners Darstellungen an manchen Stellen in der Literatur als verkürzte, verfälschte und rein defizitäre Sichtweise bezeichnet (vgl. Theunissen/ Autismus Deutschland e.V. 2019: 41). Ebenso werden die Erkenntnisse Hans Aspergers vereinzelt als „eindimensionale Typisierungen“ (Theunissen/ Autismus Deutschland e.V. 2019: 31), die zu kurz greifen, kritisiert (vgl. ebd.: 31).
In den 70er Jahren erlangten autistische Störungen durch die Forschungsarbeiten der englischen Psychiaterin Lorna Wing einen Aufschwung in ihrer Bekanntheit (vgl. Freitag 2008: 18). Wing bezog sich beispielsweise im Jahr 1981 erstmals auf die Publikation von Asperger. Sie schlug in Hinblick auf die guten verbalen sowie intellektuellen Fähigkeiten der Betroffenen den Begriff Asperger-Autismus als Bezeichnung für die Entwicklungsstörung vor. Der Begriff hat sich bis heute durchgesetzt (vgl. Girsberger 2016: 24).
Das Thema Autismus hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten, unter anderem durch viele neue Erkenntnisse in dem Fachgebiet, an großer Bedeutung gewonnen (vgl. Girsberger 2016: 23). Durch eine oft inadäquate Darstellung von Autismus in den Medien und der Gefahr von falsch-positiven Diagnosen ist jedoch auch die Sensibilität für die Diagnose von Autismus in der Gesellschaft enorm gestiegen. In der heutigen Zeit reagiert die Gesellschaft offenbar sensibler auf Menschen mit altersuntypischem, abnormem sowie nicht kooperativem Verhalten. Die Betroffenen fallen - oft zu ihrem Nachteil - auf. Der Begriff Autismus sowie die öffentliche Wahrnehmung dieser Entwicklungsstörung haben sich dadurch in den letzten Jahren einem starken Wandel unterzogen (vgl. www. Schönke 2018).
2.2 Klassifikation und Definition
Bei dem Versuch den Begriff Autismus zu definieren, lassen sich einige verschiedene Ansätze, Formulierungen und Begrifflichkeiten, die vielfach in Forschung und Praxis diskutiert werden, erkennen (vgl. Höfer 2019: 2). In Verbindung mit Autismus wird oft der Begriff Störung verwendet, da er impliziert, dass die Betroffenen im Austausch mit der Gesellschaft unmittelbar unter Stress leiden und dies längerfristig zu unangemessenem Verhalten oder Zuständen führt (vgl. Girsberger 2016: 29).
Der Begriff Autismus wurde für lange Zeit sehr eng gefasst und die damit verbundene Störung als sehr selten betrachtet. Dies hat sich mittlerweile grundlegend geändert (vgl. Girsberger 2016: 160). Es vollzog sich die Entwicklung, dass Autismus zur heutigen Zeit als breites Spektrum verschiedener Störungen angesehen wird (vgl. ebd.: 24).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Entwicklungsstörungen ICD-10 (Schneider 2008: 449 (Anhang))
Wie in Abbildung 1 dargestellt, lassen sich nach dem internationalen Klassifikationssystems ICD-10 drei verschiedene Subformen des Autismus unterscheiden: Der Frühkindliche Autismus, das Asperger-Syndrom und der Atypische Autismus. Alle drei Formen werden unter den Code „F84 - Tiefgreifende Entwicklungsstörungen“ gefasst (vgl. Trös- ter/Lange 2019: 2). Es wird immer dann von einer Entwicklungsstörung gesprochen, wenn eine von der frühen Kindheit an bestehende Störung der Entwicklung einen bestimmten Lebensbereich betrifft (vgl. Girsberger 2016: 44).
Der Frühkindliche Autismus nach Leo Kanner wird im ICD-10 unter der Kennziffer F84.0 aufgeführt (siehe Anhang 1). Er stellt eine vor dem dritten Lebensjahr beginnende sowie beeinträchtigte Entwicklung dar, die mit Störungen der Interaktion und Kommunikation sowie spezifischen Interessen und eingeschränktem, repetitivem und ritualisiertem Verhalten einhergeht. Betroffene weisen neben einer gestörten Interaktion auch eine gestörte Beziehungsaufnahme vor (vgl. Wewetzer 2008: 369). Häufig entwickeln sie keine Sprache, sodass ein wechselseitiges Miteinander erschwert wird. Nur etwa zwei Prozent der Personen mit Frühkindlichem Autismus sind im Erwachsenenalter in ihrem Sozialverhalten unauffällig (vgl. ebd.: 370ff.). Kinder, die die Kriterien des Frühkindlichen Autismus zwar erfüllen, aber einen Intelligenzquotienten über 70 sowie Fähigkeiten in einzelnen Bereichen aufweisen, werden dem sogenannten Hochfunktionalen Autismus zugeordnet (vgl. Tröster/ Lange 2019: 3).
Das Asperger-Syndrom, auch autistische Psychopathie nach Asperger genannt, wird im ICD-10 unter der Kennziffer F84.5 aufgelistet (siehe Anhang 1). Das Störungsbild des Asperger-Syndroms umfasst qualitative Beeinträchtigungen der gegenseitigen sozialen Interaktion, stereotype Interessen und motorische Ungeschicklichkeit. Asperger Autisten sind jedoch nicht generell entwicklungsverzögert. Sie verfügen über eine unauffällige intellektuelle Leistungsfähigkeit und meist über eine normale Sprachentwicklung (vgl. Wewetzer 2008: 370ff.). Außerdem gehen sie auf intensive Art und Weise einem oder mehreren ungewöhnlichen Interessen nach (vgl. Tröster/ Lange 2019: 4f.). Das Krankheitsbild von Menschen mit dem Asperger-Syndrom ist schwächer ausgeprägt als das des Frühkindlichen Autismus (vgl. Wewetzer 2008: 370).
Wenn die autismusspezifische Symptomatik erst nach dem dritten Lebensjahr auftritt oder die diagnostischen Kriterien des Frühkindlichen Autismus nicht vollständig erfüllt sind, kann die Person dem Störungsbild des Atypischen Autismus zugeordnet werden (vgl. Tröster/Lange 2019: 5). Der Atypische Autismus geht demnach mit einem atypischen Symptombeginn oder Erscheinungsbild einher und ist bislang nur wenig erforscht (vgl. ebd.: 6). Diese diagnostische Kategorie wird im ICD-10 unter der Bezeichnung F84.1 aufgeführt (siehe Anhang 1). In dem Fall, dass keine eindeutige Zuordnung der Symptome möglich ist, jedoch Hinweise auf eine autistische Beeinträchtigung vorliegen, wird die betroffene Person den Kategorien „Sonstige tiefgreifende Entwicklungsstörung“ (F84.810 ) oder „Tiefgreifende Entwicklungsstörung, nicht näher bezeichnet“ (F84.911 ) zugeordnet (vgl. Tröster/ Lange 2019: 3).
Das internationale Klassifikationssystem präsentiert, dass die Formen von Autismus trotz verschiedener Schwerpunkte im Wesentlichen übereinstimmen. Es lässt sich das autistische Kernsyndrom ableiten, das durch drei verschiedene Symptomkomplexe definiert wird. Der erste Komplex umfasst Defizite der sozialen Kognition, der zweite Komplex Defizite der Kommunikation. Der dritte Symptomkomplex umschließt bestimmte Sonderinteressen, Routinen und Spezialbegabungen (vgl. www. Faust 2020). Die autistischen Kernsymptome und die daraus resultierenden sozialen Probleme werden in Kapitel 4.2 vertieft behandelt.
Im Zusammenhang mit dem Begriff Autismus-Spektrum-Störung stehen zunehmend subklinische Formen sowie Autismus als Persönlichkeitsmerkmal in der Diskussion (vgl. Höfer 2019: 2). Zwar lassen sich autistische Störungen deutlich von anderen Störungen abgrenzen, jedoch ist es nicht möglich, sie hinsichtlich ihres Schweregrades zu unterscheiden. Die verschiedenen Formen von Autismus lassen sich demnach nicht in Kategorien einteilen, sondern sind im Sinne eines Kontinuums mit fließenden Übergängen zu verstehen. Die Autismus-Spektrum-Störung löst somit alle bisherigen Bezeichnungen, wie beispielsweise den Frühkindlichen Autismus, das Asperger-Syndrom und die autistischen Züge, ab (vgl. Josefs-Gesellschaft gGmbH 2015: 4). Im nachfolgenden Kapitel wird in Hinblick auf die Diagnostik, Epidemiologie und Komorbidität von ASS noch näher auf den Begriff sowie die Störung aus heutiger Sicht eingegangen. Dies soll einem detaillierten sowie angemessenen Überblick der Entwicklungsstörung bei Kindern dienen.
3 Autismus-Spektrum-Störung
Wie schon im vorangegangenen Kapitel geschildert, wird Autismus heutzutage als Au- tismus-Spektrum-Störung bezeichnet und verstanden. Der Begriff entstand in der klinischen Praxis (vgl. Girsberger 2016: 50). Ein Spektrum stellt
„einen Kreis von konkreten Störungen mit ähnlicher genetischer Umgebung, also einer Art erblichen Basis, wenngleich unterschiedlicher quantitativer und qualitativer Ausprägung, je nach Einfluss von Erbanlage und Umwelt“ (www. Faust 2020: 4) dar. Es wird von einer Buntheit beziehungswiese Vielfalt der Elemente ausgegangen, die in einem Spektrum liegen (vgl. www. Faust 2020: 4). Bezogen auf den Autismus als Spektrum-Störung impliziert der Begriff, dass ein großer Umfang an Symptomen, Fähigkeiten und Niveaus von Beeinträchtigungen existiert. Die Spannweite bei betroffenen Personen reicht von einer leichten bis schweren Symptomatik (vgl. www. Autismus Deutschland e.V. o.J.). ASS bedeutet zum einen, dass es Formen von Autismus gibt, die sich stark voneinander unterscheiden, besonders im Bereich der Sprache. Zum anderen kann darunter verstanden werden, dass die verschiedenen Formen unterschiedlich stark ausgeprägt sind (vgl. Girsberger 2016: 51).
Zentral bei der ASS ist, dass die Störung im Kleinkindalter beginnt und eine qualitative Differenzierung in Bezug auf das Verhalten mit sich bringt (vgl. Kehrer/ Overesch/ Ziegler 1998: 41). Sowohl die neuronale als auch die psychische Entwicklung erleben Veränderungen (vgl. www. Autismus Deutschland e.V. o.J.). Quantitative Unterschiede, wie beispielsweise intellektuelle Rückstände, sind nicht zwangsläufig Beeinträchtigungen der Störung (vgl. Kehrer/ Overesch/ Ziegler 1998: 41).
Durch den Aufschwung an Bedeutung und Aufmerksamkeit von ASS in der klinischen Praxis und Wissenschaft sowie in der Gesellschaft wächst zunehmend der Bedarf an diagnostischen und therapeutischen Angeboten für Betroffene. Durch ihr heterogenes Erscheinungsbild ist die ASS außerdem schwierig von anderen Entwicklungsstörungen abzugrenzen. Aus unter anderem diesen Gründen stellt ASS für die Diagnostik und Behandlung eine besondere Herausforderung dar (vgl. Höfer 2019: 2).
Auf die Diagnostik sowie die Epidemiologie und Komorbidität von ASS wird diesbezüglich in den folgenden Unterkapiteln eingegangen.
3.1 Diagnostik
Die Diagnose von Autismus ist aufwendig und komplex. Die klinische Variabilität von ASS sowie die Vielzahl an Komorbiditäten und Intelligenzprofilen fordern in vielerlei Hinsicht eine standardisierte Diagnostik (vgl. Freitag 2008: 60).
Vor der eigentlichen Diagnostik sollte im Falle eines Verdachtes auf ASS zeitnah ein Screening12 durchgeführt werden (vgl. DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 70). Dieses wird lediglich bei Personen praktiziert, die bestimmte Risikofaktoren und zusätzlich mindestens ein Symptom, das auf ASS hinweist, zeigen. Bestimmte genetische Faktoren, Virusinfektionen in der Schwangerschaft der Mutter und ein niedriges Geburtsgewicht zählen zu diesen Risikofaktoren (vgl. ebd.: 99). Jegliche Faktoren, die das Risiko erhöhen, an Autismus zu erkranken, werden in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit näher beschrieben. Das Screening gibt eine erste diagnostische Einschätzung ab und hilft somit bei der Entscheidung, ob eine autismusspezifische, ausführliche sowie sehr aufwendige Diagnostik eingeleitet werden sollte (vgl. Höfer 2019: 9).
Bei einer Erhärtung des Verdachtes auf ASS sollte die betroffene Person an eine darauf spezialisierte Stelle überwiesen werden, die eine vollständige Diagnostik und Differentialdiagnostik gewährleisten kann (vgl. DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 70). Die anschließende, standardisierte Diagnostik erfolgt über standardisierte Testverfahren wie beispielsweise ADOS13 oder ADI-R14 (vgl. Josefs-Gesellschaft gGmbH 2015: 5). ADOS ist ein halbstandardisiertes Spielinterview, das die Diagnose anhand von Verhaltensbeobachtungen durchführt. Anhang 2 verdeutlicht beispielhaft den Inhalt der Anamnese nach ADOS (siehe Anhang 2). Mittels ADI-R wird die Anamnese der Betroffenen in Anwesenheit ihrer Bezugspersonen durchgeführt (vgl. www. Schönke 2018). Dazu finden standardisierte, halbstrukturierte sowie untersuchergeleitete Interviews statt (vgl. Preißmann 2017: 19).
Neben den zwei wesentlichen Diagnoseinstrumenten ADOS und ADI-R ist eine umfassende Diagnostik inklusive einer klinischen Gesamtschau von großer Bedeutung. Abgesehen von Verhaltensbeobachtungen und Anamnesen tragen die Entwicklungs- und Intelligenzdiagnostik sowie körperlich-neurologische Untersuchungen wie Hör- und Seh- tests einen wichtigen Teil zur Diagnostik bei (vgl. Wewetzer 2008: 370). Zur Gegenüberstellung sowie zum Ausschluss anderer Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen ist zusätzlich eine differentialdiagnostische Abklärung notwendig (vgl. www. Schönke 2018). Demnach gilt es zu prüfen, ob bereits diagnostizierte Kernsymptome nicht Symptome anderer Erkrankungen, Behinderungen oder Entwicklungsstörungen sind. Insbesondere für Personen mit geminderter Intelligenz ist dies von hoher Relevanz (vgl. Josefs-Gesellschaft gGmbH 2015: 5). In Kapitel 3.3 wird näher auf Komorbiditäten und Differentialdiagnosen von ASS eingegangen.
Heutzutage steht das sogenannte Hybrid-Modell für die Diagnostik von ASS in der Diskussion. Das Modell ist eine Mischung aus kategorialer und dimensionaler klinischer Diagnostik. Es sagt aus, dass autistische Störungen sich zwar auf einem Kontinuum bewegen, aber eine Abgrenzung zu anderen nicht-autistischen Störungen möglich ist (vgl. Höfer 2019: 3). Diese Mischung aus beiden Modellen hat sich mittlerweile in der Praxis der Autismusdiagnostik bewährt (vgl. Noterdaeme/ Enders 2010: 29).
Die Diagnostik von ASS in Deutschland basiert auf den sogenannten S3-Leitlinien15, die als „evidenzbasierte Grundlage für wissenschaftlich begründete Diagnostik- und Therapieempfehlungen“ (DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 7) dienen. Durch sie wird eine Verbesserung der Versorgung von Personen mit ASS sowie ihren Angehörigen angestrebt (vgl. ebd.: 8). Es wird deutlich, dass eine korrekte Diagnosestellung einerseits sehr umfangreich und zeitaufwendig ist sowie viel Expertise erfordert. Andererseits ist sie wesentlich und wichtig für eine autismusspezifische Förderung (vgl. Höfer 2019: 15).
3.1.1 Diagnosekriterien nach ICD-10 und DSM-5
Wie im vorherigen Kapitel bereits erwähnt, beruht die Feststellung von Autismusdiagnosen auf bestimmten Diagnosekriterien. Diese Kriterien aller psychischen Störungen und Erkrankungen werden sowohl im DSM als auch im ICD beschrieben und klassifiziert (vgl. www. Hogrefe Verlag 2016).
Tabelle 1 stellt einen Vergleich der Darstellungen der tiefgreifenden Entwicklungsstörung nach den zwei internationalen Diagnosesystemen ICD und DSM dar.
Bis auf wenige Ausnahmen beschreiben beide Systeme die gleichen Störungsgruppen mit ähnlichen Kriterien. Ebenso folgen beide Systeme dem kategorialen Ansatz (vgl. www. Hogrefe Verlag 2016).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Tiefgreifende Entwicklungsstörungen im ICD-10 und DSM-5 (Eigene Darstellung in Anlehnung an Höfer 2019: 4)
Neben diesen beiden Diagnosesystemen besteht zusätzlich das ICF16 als neue, beschreibende Form eines Diagnoseinstrumentes unter der Schirmherrschaft der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (vgl. Girsberger 2016: 55). Das ICF wird aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit nicht weiter thematisiert.
Im Mai 2019 wurde das neue Diagnosesystem17 ICD-1118, welches im Januar 2022 in Kraft treten soll, verabschiedet. Bis dahin gilt weiterhin das aktuelle Diagnosesystem ICD-10 (vgl. Höfer 2019: 3). Das ICD-10, die Klassifikation und Beschreibung von Autismus innerhalb dieses Diagnosesystems wurden bereits in Kapitel 2.2 detailliert beleuchtet.
Das DSM-5 der amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie erschien im Jahr 2013 in seiner fünften Auflage. In diesem System wurde darauf reagiert, dass die Grenzen zwischen den Störungen durchlässiger sind als im kategorialen Ansatz angenommen. Es bezieht demnach häufig auch dimensionale Ansätze mit ein (vgl. www. Hogrefe Verlag 2016). Die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, einschließlich der Autismus, wurden in ihrer Darstellung überarbeitet. Infolgedessen wurde offiziell der Begriff AutismusSpektrum-Störung eingeführt (vgl. Girsberger 2016: 50). Bedingt durch die Schwierigkeit, die verschiedenen Gruppen valide voneinander abzugrenzen, wird in diesem System, im Gegensatz zum ICD-10, nicht mehr zwischen den Subtypen von Autismus differenziert (vgl. Tröster/ Lange 2019: 2). ASS wird im DSM-5 unter den Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung aufgeführt. Die Hauptmerkmale der Störung sind in die drei Bereiche Kriterium A, Kriterium B und Kriterium C zusammengefasst (vgl. ebd.: 6). Das Kriterium A stellt verschiedene andauernde Beeinträchtigungen der wechselseitigen Kommunikation sowie der sozialen Interaktion dar, die in ihrem Schweregrad variieren. Eine abweichende soziale Kontaktaufnahme, ein fehlendes Interesse an Gleichaltrigen sowie eine abnorme Körpersprache sind Beispiele dafür (vgl. ebd.: 6f.). Im Vergleich zum ICD-10 werden diese Beeinträchtigungen nicht mehr als unabhängig voneinander gesehen, sondern als gemeinsames Kriterium zusammengefasst. Kriterium B listet verschiedene Punkte des eingeschränkten und speziellen Repertoires an Interessen und Aktivitäten auf, beispielsweise stereotype und motorische Bewegungsabläufe sowie unflexibles Festhalten an Routinen. Die Verhaltensweisen dieses Kriteriums kommen auf ganz unterschiedliche Weise zum Ausdruck. Das letzte Kriterium C des DSM-5 sagt aus, dass sich die Störung bereits in der frühen Kindheit bemerkbar macht und damit das alltägliche Funktionsniveau des Betroffenen beeinträchtigt (vgl. ebd.: 6). Mit weiteren Zusatzkodierungen ist es möglich, zusätzliche Beeinträchtigungen wie beispielsweise Komorbiditäten anzugeben (vgl. ebd.: 7).
Sowohl das ICD-10 als auch das DSM-5 bilden die drei wesentlichen Symptombereiche von Autismus ab: Die Sprache, die Motorik und die schulischen Fertigkeiten (vgl. Girsberger 2016: 44). „Beide Klassifikationen stellen eindeutige Störungskriterien für eine objektive Diagnostik bereit" (www. Hogrefe Verlag 2016). Aufgrund einiger Differenzen der beiden Diagnosesysteme bezüglich Diagnosegruppen und Kriterien soll das ICD-11 zukünftig der Struktur des DSM-5 angepasst werden (vgl. ebd.).
3.1.2 Diagnostik von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung
Bei einem Verdacht auf ASS ist die erste Anlaufstelle der Eltern mit ihren betroffenen Kindern in den meisten Fällen der Kinderarzt. Dieser gibt zunächst eine orientierende Einschätzung ab. Im zweiten Schritt sollte dann die Vorstellung bei einem spezialisierten Zentrum oder einem beziehungsweise einer Kinder- und Jugendpsychiaterin erfolgen. Dort wird eine umfassende Diagnostik durchgeführt (vgl. Preißmann 2017: 19).
Bei der Diagnose von ASS müssen einige Besonderheiten beachtet werden. Sie gestaltet sich als komplex, da sie dimensional erfolgen muss, das bedeutet, nach der Ausprägung der autistischen Symptomatik fragen muss (vgl. Preißmann 2017: 54). Wenn ASS bei Kindern festgestellt werden soll, ist das genaue Erfragen der kindlichen Entwicklung seit der Geburt ein wesentlicher und wichtiger Bestandteil (vgl. ebd.: 53). Ebenfalls ist es in Bezug auf die Diagnosestellung wichtig, nicht nur Auffälligkeiten, sondern ebenso die Auswirkungen der Besonderheiten auf das Alltagsleben der Betroffenen zu berücksichtigen (vgl. ebd.: 19).
Obwohl die S3-Leitlinien als konkrete Empfehlungen zur Diagnose existieren, stellt Autismus mit seinem Beschwerdebild und psychosozialen Konsequenzen im Alltag eine besondere Herausforderung in Bezug auf die Diagnostik dar. So belastet nicht nur die Symptomatik von ASS die Betroffenen, sondern ebenfalls Reaktionen ihres Umfeldes wie beispielsweise Missverständnisse oder Konflikte, die auf sie einwirken (vgl. www. Faust 2020: 6). Diese Folgen benötigen eine bestimmte Art psychotherapeutischer und sozial-psychiatrischer Hilfen (vgl. ebd.: 11). Auf die speziellen Hilfen wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit konkret Bezug genommen.
Die Diagnose einer autistischen Störung sollte im besten Fall so früh wie möglich angesetzt werden (vgl. Kehrer/ Overesch/ Ziegler 1998: 44). Durch die frühzeitige Diagnostik in Verbindung mit einer gezielten Förderung ist es, der Literatur zufolge, möglich, die Entwicklung jedes betroffenen Kindes positiv zu beeinflussen (vgl. www. Autismus Deutschland e.V. o.J.). Für Kinder im Säuglingsalter liegen keine empirisch abgesicherten Merkmale zur Vorhersage von Autismus vor (vgl. DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 81). Die Stabilität der Diagnose ist bei Kindern zwischen drei und fünf Jahren deutlich höher als bei Kindern unter drei Jahren (vgl. Höfer 2019: 13). Nach Noter- daeme und Enders kann die Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, insbesondere die des Frühkindlichen Autismus, mit einer hohen Sicherheit praktiziert werden (vgl. Amorosa 2010a: 29).
Anfangs wird die Autismusdiagnose von den Betroffenen als eine große Erleichterung erlebt, da es ihnen einen Begriff für ihre Auffälligkeiten und Besonderheiten bietet. Laut Preißmann verbessert sich die psychosoziale Situation der Betroffenen nach Erhalt der Diagnose (vgl. Preißmann 2017: 73). Dennoch beginnt mit ihr auch ein gewisser Trauerprozess, so betont sie:
„Die Hoffnung, irgendwann einmal ein 'ganz normales Leben' zu führen, in dem soziale Kontakte leicht gelingen und spezifische Belastungen sich einfach auflösen, muss zunächst einmal losgelassen werden.“ (Preißmann 2017: 74)
Grundsätzlich steht zur Debatte, dass Autismus aus verschiedenen Gründen zu selten diagnostiziert wird. Viele ÄrztInnen besitzen teilweise zu wenig Kenntnis über die geschilderten Zusammenhänge der verhaltensgestörten Kinder. Gegen die Diagnosestellung wirkt ebenfalls eine gewisse Scheu, die betroffenen Kinder mit der Autismusdiagnose als unheilbar zu kennzeichnen (vgl. Kehrer/ Overesch/ Ziegler 1998: 43).
Das folgende Kapitel schildert nun die Epidemiologie von ASS.
3.2 Epidemiologie
Die Epidemiologie veranschaulicht, wie häufig eine Erkrankung, in diesem Falle ASS, in der Bevölkerung vorkommt (vgl. DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 19).
Früher wurde davon ausgegangen, dass Autismus eine seltene Störung ist. Heute besteht das Wissen, dass ein Prozent der gesamten Bevölkerung in Deutschland sowie circa jeder vierte Mensch mit einer Intelligenzminderung ASS hat (vgl. Josefs-Gesellschaft gGmbH 2015: 4). Im Jahr 2006 wurde eine breit angelegte Prävalenzstudie an über 50.000 Kindern durchgeführt. Die Studie kam zu dem Ergebnis einer Häufigkeit von 1:100, nach dem eins von 100 Kindern autistisch ist (Baird et al. 2006. In: Girsberger 2016: 24). Insgesamt weisen die meisten aktuellen epidemiologischen Studien auf Prävalenzen für ASS zwischen den Werten 0,9 und 1,1 Prozent hin (Fombonne et al. 2011. In: DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 22). Die Prävalenzraten unterscheiden sich zwischen den verschiedenen Autismusformen. So tritt der Frühkindliche Autismus mit einer Häufigkeit von circa 11-18:10.00019 deutlich häufiger auf als das Asperger- Syndrom mit einer Häufigkeit von circa 3:10.000 (vgl. www. Schönke 2018).
Neurobiologische Entwicklungsstörungen, so auch autistische Störungen, treten häufiger beim männlichen Geschlecht auf (vgl. Zero to Three 2019: 35). Die Prävalenz bezogen auf das Geschlecht liegt bei Betroffenen mit Frühkindlichem Autismus bei 4:1 (m/w)20, bei Betroffenen mit Asperger-Syndrom bei 8:1 (m/w) (vgl. www. Schönke 2018). Generell liegt die Prävalenz des Geschlechterunterschiedes bei ASS bei 4,3:1 (m/w) (vgl. Tröster/ Lange 2019: 8). Sowohl hormonelle Einflüsse als auch Verzerrungen bei der Diagnose könnten die Ursache für diese Differenzen sein (vgl. Höfer 2019: 6).
Die Fallzahlen von ASS sind in den letzten Jahren angestiegen. Dafür sprechen einige veröffentlichte Untersuchungen seit dem Jahr 2000, die positive Korrelationen zwischen den Prävalenzen und den Jahren der Publikationen21 darlegen (vgl. T röster/ Lange 2019: 8). Es wird Kritik an diesen Studien geübt, da sie zwar eine Durchschnittszahl repräsentieren, jedoch sehr heterogen sind sowie erhebliche methodische Unterschiede aufweisen. Aus diesen Gründen sind die Studien nur schwer miteinander vergleichbar (vgl. DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 25). Insgesamt ist die Rate der ASS in den vergangenen 15 Jahren um fast 60 Prozent gestiegen (vgl. Prölß/ Schnell/ Koch 2019: 142). Die Ursachen der gestiegenen Prävalenz von ASS sind noch ungeklärt (vgl. Josefs-Gesellschaft gGmbH 2015: 4). Da die Diagnosehäufigkeit von ASS ebenfalls zugenommen hat, lässt sich ein Zusammenhang zwischen den berichteten Prävalenzen und den methodologischen Aspekten vermuten. Bessere diagnostische Möglichkeiten sowie Versorgungsstrukturen und der Einfluss ätiologischer Faktoren wie beispielsweise Umweltfaktoren oder genetische Faktoren scheinen Einfluss auf die Prävalenzraten zu nehmen (vgl. Höfer 2019: 5).
Nicht nur die Fallzahlen, sondern auch das Bewusstsein für Autismus hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Alle Verlaufsformen von Autismus werden heutzutage miteinbezogen, behandelt und unterstützt. Generell ist das Wissen über entsprechende Hilfen für betroffene Personen gewachsen (vgl. Preißmann 2017: 18). Mit Blick auf die Prävalenz von Autismus und anderen verwandten Krankheitsbildern liegt, laut Freitag, in Deutschland dennoch eine eindeutige therapeutische Unterversorgung vor (vgl. Freitag 2008: 23).
Das folgende Kapitel skizziert die Komorbiditäten von ASS sowie deren Einfluss auf den Prozess der Diagnose.
3.3 Komorbidität
Mittlerweile bilden autistische Kinder mit komorbiden22 Störungen keine Ausnahme mehr (vgl. Tröster/ Lange 2019: 45). In zwei Drittel aller Fälle tritt eine Autismus-Spektrum- Störung nicht isoliert auf, sondern zusammen mit zusätzlichen Symptommustern beziehungsweise Störungen (vgl. Tröster/ Lange 2019: 8; www. Faust 2020: 8). Etwa 48,9 Prozent aller Kinder mit ASS sind davon betroffen (vgl. Tröster/ Lange 2019: 45).
Bei mehr als 50 Prozent der Betroffenen liegt zusätzlich eine geistige Behinderung, demzufolge Störungen der sprachlichen, motorischen oder kognitiven Entwicklung, vor (vgl. Tröster/ Lange 2019: 8). Ebenfalls zeigen Personen mit ASS häufig neurologische, genetische oder stoffwechselbezogene Erkrankungen (vgl. ebd.: 9). Schlafstörungen treten insbesondere bei Kleinkindern auf (vgl. DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 41). Rund 80 Prozent aller autistischen Kinder und somit mehr als doppelt so viele im Vergleich zu nicht-autistischen Kindern leiden darunter. Der Mangel an Schlaf verstärkt zugleich die autistischen Verhaltensweisen, sodass eine Art Kreislauf entsteht, der sensorische Empfindlichkeiten bis hin zu Symptomen wie Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen nach sich zieht (vgl. Croonenbroeck 2020a: 5).
Darüber hinaus wird das Krankheitsbild vieler Betroffenen mit ASS von psychischen Störungen wie Phobien, Zwangsstörungen oder affektiven Störungen begleitet (vgl. Tröster/ Lange 2019: 8). Für autistische Kinder besteht generell ein erhöhtes Risiko, an psychischen Störungen zu erkranken. Die psychischen Störungen verstärken zumeist noch die autistischen Symptome. Aus mitunter diesem Grund ist eine Behandlung der komorbiden Störungen unabdingbar (vgl. www. Autismus Deutschland e.V. o.J.). Zwangsstörungen, das Tourette-Syndrom, hyperkinetische Störungen sowie Depressionen gehen am häufigsten mit ASS einher.
In der Kindheit treten vor allem die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), im Jugendalter hauptsächlich Depressionen auf (vgl. www. Faust 2020: 24). Die psychosoziale Gesundheit sowie die psychischen Störungen bei autistischen Kindern werden in Kapitel 5 detailliert betrachtet.
Die am häufigsten komorbiden Störungen bei Kindern mit ASS sind hyperkinetische Störungen, wie beispielsweise ADHS. Nach Tröster und Lange sind mehr als 18 Prozent der Kinder davon betroffen. Weitere, häufig auftretende Störungen sind umschriebene Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen sowie des Sprechens oder der Sprache. Andere Verhaltensstörungen und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend stehen ebenso häufig in Verbindung mit ASS (vgl. Tröster/ Lange 2019: 45).
Aus einer Untersuchung nach Tröster und Lange ergaben sich folgende Prävalenzen für komorbide Störungen bei Kindern mit ASS (siehe Tabelle 2).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Komorbide Störungen bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung (Tröster/ Lange 2019: 46)
Die Forschungsergebnisse der Quellleitlinie NICE23 -Kinder bestätigen die hohen Prävalenzzahlen von hyperkinetischen Störungen wie ADHS sowie von umschriebenen Entwicklungsstörungen wie einer Intelligenzminderung (vgl. DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 27).
Die Komorbiditäten von ASS sind bei beiden Geschlechtern gleich häufig zu finden (vgl. DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 9). Die Störungen mit der höchsten Prävalenzrate haben, der S3-Leitlinie zufolge, einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität der Betroffenen sowie den Entwicklungsverlauf der Erkrankung (vgl. ebd.: 182).
Es gilt zu beachten, dass komorbide Störungen gleichzeitig als Risikofaktoren sowie Differentialdiagnosen von Autisten angesehen werden können (vgl. DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 182). Eine differentialdiagnostische Abklärung ist somit notwendig, um einen Ausschluss anderer Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen zu gewährleisten (vgl. www. Schönke 2018). Symptome, die auf ASS hinweisen, können bekanntlich gleichermaßen Ausdruck von beispielsweise Bindungsstörungen, elektivem Mutismus24 oder Zwangsstörungen sein (vgl. www. Faust 2020: 23). Neben diesen Stö- rungen sind frühkindliche Schizophrenien sowie Seh- und Hörstörungen ebenfalls deutlich abzugrenzen. Ebenso ähnelt das Rett-Syndrom25 dem Erscheinungsbild von Autismus, genauer genommen dem des Frühkindlichen Autismus (vgl. Wewetzer 2008: 370).
Die vielfältige Komorbidität von ASS bringt einen Bedarf an zusätzlichen Fördermaßnahmen sowie Modifikationen des therapeutischen Vorgehens bei Kindern und Jugendlichen mit sich. Komorbide Störungen können die Förderung der Betroffenen einschränken oder behindern, indem sie beispielsweise den therapeutischen Zugang erschweren oder die Wirksamkeit der Methoden herabsetzen (vgl. Tröster/ Lange 2019: 45).
„Zudem müssen zur Diagnostik und Behandlung komorbider Störungen oftmals Fachärztinnen und Fachärzte oder Psychotherapeutinnen und -therapeuten für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene herangezogen werden.“ (Tröster/ Lange 2019: 46)
Durch eine Eingrenzung auf lediglich die Hauptdiagnose ASS wird sich in der Behandlung primär auf die Kernsymptome fokussiert, dabei rücken andere relevante Aspekte aus dem Fokus. Dies kann wiederum negative Auswirkungen auf die Kernproblematik haben (vgl. Noterdaeme 2010: 55f.).
Das folgende Kapitel schildert die Ätiologie sowie Symptomatologie der ASS und zeigt anschließend eine Schlussbetrachtung der Entwicklungsstörung auf, die Kapitel 2, 3 und 4 miteinbezieht.
4 Ätiologie und Symptomatologie
Lange Zeit gab es unterschiedliche Diskussionen über die Ursachen von Autismus. In den letzten 15 Jahren hat die Forschung zu ASS stark zugenommen, insbesondere in den Bereichen der Genetik und der Entwicklungs- und Neuropsychologie. Zwar kann noch immer kein bestimmtes Modell die Gesamtheit der Ursachen von Autismus erklären, jedoch tragen viele verschiedene Modelle zu einem Verständnis bei (vgl. Freitag 2008: 24). Heutzutage werden vordergründig genetisch veranlagte, neurobiologische Strukturen und Mechanismen des zentralen Nervensystems als Ursachen der Besonderheiten in der kognitiven Informationsverarbeitung von Autisten vermutet (vgl. Wewet- zer 2008: 369). Auf die Ursachen und Entstehung von ASS wird im folgenden Unterkapitel näher eingegangen.
Zusätzlich zu der Ätiologie befasst sich dieses Kapitel mit der Symptomatologie von Autismus. Kinder mit ASS fallen meist schon im Säuglingsalter durch spezielle Abweichungen vom Normalverhalten auf. Beispielsweise streckt der Säugling mit ASS den Bezugspersonen seine Arme nicht unwillkürlich entgegen, wenn er hochgehoben werden möchte (vgl. Girsberger 2016: 83). Ebenfalls richtet das Kind seine Aufmerksamkeit nicht automatisch auf Dinge, auf die der Erwachsene seine Aufmerksamkeit lenkt. Dies wird als „Joint Attention" (Girsberger 2016: 84) bezeichnet (vgl. ebd.).
Die Kernsymptome von ASS können in die drei Bereiche Soziale Interaktion, Kommunikation sowie wiederholendes und stereotypes Verhalten unterteilt werden. Die sozialen und kommunikativen Fähigkeiten autistischer Kinder folgen keinem typischen Entwicklungsmuster. Die Symptome variieren von Kind zu Kind. Das bestimmte Verhalten wird erst in einem Vergleich mit anderen gleichaltrigen Kindern deutlich und in den meisten Fällen zuerst von den Eltern festgestellt (vgl. www. Autismus Deutschland e.V. o.J.: 4). Spätestens in der Kindertagesstätte steigen die Anforderungen an die Sozialkompetenz der Betroffenen. Oft treten Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Kindern sowie bei der Integration in eine Gruppe auf (vgl. Girsberger 2016: 84). Der Eintritt in die Schule birgt daraufhin Probleme bezüglich der sozialen Integration und hinsichtlich des Unterrichtes, der Lerninhalte sowie der Lehrpersonen. Außerdem haben Kinder mit ASS meistens Schwierigkeiten, stabile Freundschaften zu entwickeln (vgl. ebd.: 87). Die autistischen Kernsymptome sowie die daraus resultierenden sozialen Probleme werden in Kapitel 4.2 differenzierter veranschaulicht.
4.1 Ursachen und Entstehung von Autismus
Wie eingangs erwähnt, rücken die Hypothesen bezüglich der Ursachen sowie Pathogenese von Autismus immer weiter in Richtung „Autistische Störungen als Hirnfunktionsstörungen“ (www. Faust 2020: 3). Dennoch besteht immer noch ein großer Forschungsbedarf hinsichtlich der Ursachen von Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung, zu denen unter anderem ASS zählt (vgl. ebd.: 7).
Primär sind sowohl genetische als auch umweltbedingte Ursachen für die Entstehung von ASS ausschlaggebend (vgl. www. Faust 2020: 3). Für die Bedeutung genetischer Faktoren, wie zum Beispiel Mutationen oder chromosomale Störungen, sprechen unter anderem vielzählige Zwillings- und Familienstudien. Die Heritabilität26 von ASS liegt demnach bei über 90 Prozent. Die zytogenetischen Befunde besagen, dass bei der Befruchtung einige genetische Informationen verloren gehen, sodass ganze Chromosomen beziehungsweise Teile von diesen fehlen oder Chromosomen doppelt vorliegen. Bei rund zehn bis 20 Prozent27 der Betroffenen ist dieser genetische Faktor die Ursache (vgl. Freitag 2008: 24f.). Untersuchungen haben außerdem gezeigt, dass bei einigen monogenen Erkrankungen wie der tuberösen Sklerose, dem Fragile-X-Syndrom und dem Smith-Lemli-Opitz-Syndrom das Risiko an ASS zu erkranken erhöht ist.28 Bei circa 20 Prozent der genetisch verursachten Fälle bildet dieser Zusammenhang die Ursache. Bei den übrigen 80 Prozent29 der betroffenen Personen ist die exakte genetische Ursache bis heute ungeklärt (vgl. ebd.: 25f.). Das Universitätsklinikum Ulm betitelt den Autismus als idiopathischen Autismus und als polygenetische Störung. Dies bedeutet, dass die Wissenschaft letztendlich noch keine genaue Erklärung gefunden hat, jedoch ein großer Einfluss mehrerer interagierender Gene bei der Krankheitsentstehung festgestellt wurde (vgl. www. Schönke 2018; Prölß/ Schnell/ Koch 2019: 141).
Bezüglich biologischer Umweltfaktoren lassen sich in einzelnen Fällen bestimmte Risikofaktoren feststellen. Als bestätigte Risikofaktoren gelten zum einen Rötelinfektionen der Mutter sowie die Einnahme von Thalidomid und Valproinsäure während der Schwangerschaft. Ein starker Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zählt zu den umstrittenen Faktoren (vgl. Freitag 2008: 27f.). Weitere Faktoren könnten das Risiko zu erkranken erhöhen. Darunter fallen beispielsweise ein niedriger sozio-ökonomischer Status der Eltern, der oft mit einer geringeren Bildung einhergeht, ein Migrationshintergrund sowie ein höheres Alter der Eltern (vgl. DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 61f.).
Die Mehrzahl der untersuchten Risikofaktoren konnte wissenschaftlich widerlegt werden (vgl. Freitag 2008: 27f.). Beispielsweise wurde die These falsifiziert, dass MMR-Impfun- gen30 zu Autismus führen, da die Untersuchungen von Wakefield aus dem Jahr 1998 auf keiner wissenschaftlichen Grundlage beruhten (vgl. ebd.: 28). Soziale sowie psychologische Faktoren gelten zwar als einflussnehmend auf den Verlauf der Entwicklungsstörung, jedoch nicht als ursprünglich auslösend beziehungsweise verantwortlich (vgl. www. Faust 2020: 17). Jahrzehntelang dominierten psychosoziale Annahmen bezüglich der Ätiologie. Es wurde davon ausgegangen, dass ein Mangel an mütterlicher Wärme31 oder frühe Erziehungsfehler der Mutter32, auch „Kühlschrankmutter“ (DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 11) genannt, Auslöser für die Entstehung von ASS sind. Erst ab den 80er Jahren wurden die oben erwähnten Zwillingsuntersuchungen durchgeführt, die auf ASS als vererbbare, genetisch bedingte Erkrankung hinwiesen und somit die psychosozialen Annahmen widerlegten (vgl. ebd.).
Trotz vielfältiger Einzelergebnisse kann die Ursachenforschung von ASS noch kein gemeinsames ätiologisches Modell präsentieren (vgl. Höfer 2019: 6). Letztendlich resultiert Autismus aus einem Zusammenspiel mehrerer - insbesondere genetischer - Faktoren. Genaue Kombinationen von Mutationen oder genetischen Prädispositionen in Verbindung mit bestimmten Umweltfaktoren sind jedoch noch nicht bekannt (vgl. Preißmann 2017: 18).
Die neuen Erkenntnisse der Ursachenforschung haben ebenfalls die therapeutischen Ansätze für Autisten beeinflusst (vgl. Freitag 2008: 24). Besonders die psychosozialen Faktoren sind hinsichtlich der Förderung und des Umgangs mit ASS relevant (vgl. DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 57). Diese Aspekte werden in Kapitel 6 wieder aufgegriffen.
4.2 Autistische Kernsymptome und daraus resultierende soziale Probleme
Wenn ein Kind weder lächelt noch seinen Eltern die Arme entgegen streckt sowie gleichgültig oder ablehnend wirkt und sich von den Eltern abwendet, liegen Anzeichen für eine Autismus-Spektrum-Störung vor (vgl. Kehrer/ Overesch/ Ziegler 1998: 41). Typische Anzeichen beziehungsweise Symptome von ASS können, laut der Arbeitsgemeinschaft der medizinischen Fachgesellschaften, im Falle eines Verdachtes bei Kleinkindern ab dem 13. Lebensmonat festgestellt werden (vgl. www. Autismus Deutschland e.V. o.J.: 7).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Anzeichen für Autismus-Spektrum-Störung (www. Autismus Deutschland e.V. o.J.: 8)
Die Abbildung 2 zeigt verschiedene Merkmale, die bei einem Kind ab einem Alter von 24 Monaten auf ASS hinweisen. Unter diese Merkmale fallen beispielsweise fehlender Blickkontakt oder ein Verlust bereits erworbener Fähigkeiten der Sprache oder sozialer Interaktion (siehe Abb. 2).
Die „Besonderheiten [...] autistischen Denkens" (Girsberger 2016: 32) zeichnen sich durch die Neigung zur Eindimensionalität aus. Autisten können sich demnach meist nur auf eines oder wenige Interessengebiete konzentrieren, sind wenig flexibel in ihren Verhaltensweisen und in ihrer Sichtweise stark eingeengt. Die verschiedenen Besonderheiten von Autismus führen zu maßgeblichen Einschränkungen der zentralen Kohärenz, der exekutiven Funktionen sowie der Theory of Mind33 (ToM). Beeinträchtigungen der zentralen Kohärenz sind Probleme, komplexe Botschaften zu verstehen. Bei Beeinträchtigungen der exekutiven Funktionen haben Betroffene Schwierigkeiten, ihren Alltag zu strukturieren sowie Handlungen zielstrebig durchzuführen. Außerdem gehen Probleme im zwischenmenschlichen Kontakt und Austausch sowie mangelnde Empathie aus den Besonderheiten hervor. All dies ist auf Defizite der Theory-of-Mind-Fähigkeiten zurückzuführen (vgl. Girsberger 2016: 32).
Die Intelligenz von Autisten bleibt häufig unbeeinträchtigt. Entgegen bestehender Vorurteile gibt es nur wenige überdurchschnittlich intelligente Autisten (vgl. Prölß/ Schnell/ Koch 2019: 138). Dennoch verfügen Autisten über viele Ressourcen und eine hohe Leistungsfähigkeit. Ihnen ist es möglich, sich ausgiebig bestimmten Tätigkeiten zu widmen (vgl. ebd.: 140).
Zusätzlich zu den drei beschriebenen Kriterien des DSM-5 (siehe Kapitel 3.1.1) kann die Symptomatik von Autismus darüber hinaus in zwei weitere Kriterien eingeordnet werden. Zunächst begrenzen und beeinträchtigen die Symptome von ASS insgesamt das alltägliche Funktionieren der Betroffenen. Außerdem stellt es eine Voraussetzung dar, dass die Symptome nicht besser durch andere Erkrankungen oder eine Intelligenzminderung erklärt werden können (vgl. www. Faust 2020: 3f.).
Die Kernsymptome von ASS werden in den folgenden Unterkapiteln in die drei Bereiche Soziale Interaktion und Sozialverhalten, Sprache und Kommunikation und Verhaltensweisen unterteilt und veranschaulicht.
4.2.1 Soziale Interaktion und Sozialverhalten
Allen Kindern, die eine Störung des Autismus-Spektrums vorweisen, ist eine Beeinträchtigung der sozialen Interaktion sowie des Sozialverhaltens gemeinsam. Kinder mit ASS haben demnach Schwierigkeiten beim Umgang sowie der Ausübung von Mimik, Gestik und Blickkontakt. Des Weiteren fällt es ihnen schwer, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen und zu halten. Dies ist oft durch einen Mangel an spontaner Freude oder Interessen sowie eines fehlenden Bedürfnisses, dies anderen mitzuteilen, begründet (vgl. Preißmann 2017: 18). Die Betroffenen wirken sozial unbeholfen und machen den Eindruck, sich von der Umwelt abkapseln zu wollen (vgl. Girsberger 2016: 45; JosefsGesellschaft gGmbH 2015: 6). Ihnen fehlt es an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit, was sich zum Beispiel in unangemessenen Annäherungsversuchen innerhalb sozialer Situationen äußert (vgl. www. Schönke 2018).
Autistische Kinder kommen ohne ein sogenanntes „soziales Navigationssystem“ (Not- bohm/ Zysk/ Autismus Deutschland e.V. 2020: 185) beziehungsweise einen „sozialen Autopiloten“ (Prölß/ Schnell/ Koch 2019: 140) auf die Welt. Sie verfügen nicht über das neuronale Netzwerk des sozialen Verstehens, das ihnen zeigt, wohin sie in der sozialen Welt gehen sollen. Das Wissen, das diese Kinder zeigen, haben jene demnach ausschließlich aus selbst erlebten Situationen generiert (vgl. Notbohm/ Zysk/ Autismus Deutschland e.V. 2020: 185f.).
Bezüglich des Sozialverhaltens und der zwischenmenschlichen Interaktion ist insbesondere die Theory of Mind, auch Mentalisierungsfähigkeit genannt, ausschlaggebend (vgl. Arens-Wiebel 2019: 77; Josefs-Gesellschaft gGmbH 2015: 6). Die Theory of Mind meint die Fähigkeit, sich Gefühle, Wünsche, Absichten sowie Gedanken anderer Menschen vorstellen zu können. Zusätzlich umschließt es die Erkenntnis, dass sich die gerade genannten Aspekte von der eigenen Sichtweise sowie den eigenen Gefühlen und Gedanken unterscheiden können. Autisten sind in dem Bereich der Theory of Mind stark eingeschränkt. Sie haben beispielsweise große Probleme, sich in andere Mitmenschen einzufühlen und einzudenken. Infolgedessen können Betroffene weder mitfühlend noch adäquat auf bestimmte Situationen, Personen, Aussagen oder Handlungen reagieren (vgl. Arens-Wiebel 2019: 77).
Autistische Personen lassen ebenfalls eine schwache zentrale Kohärenz erkennen. Demzufolge haben sie beachtliche Schwierigkeiten, einzelne Aspekte einer Situation miteinander in Beziehung zu setzen und somit als sinnvolles Ganzes zu begreifen. Auf Grund dessen weisen Betroffene häufig Probleme sowohl beim Erfassen sozialer Situationen und Regeln als auch dabei, das eigene Verhalten an diese Situationen anzupassen, auf. Menschen mit Autismus gelten als authentisch und ehrlich, wobei dies in der Gesellschaft oft als unangemessen, skurril oder gar inakzeptabel angesehen wird (vgl. Josefs-Gesellschaft gGmbH 2015: 8). Viele Verhaltensprobleme und emotionale Schwierigkeiten von autistischen Kindern sind durch Beeinträchtigungen der Gefühlsregulation und Kommunikation sowie Schwierigkeiten im Verstehen bedingt (vgl. Bernard- Opitz 2018: 20). Der Begriff der Theory of Mind überschneidet sich teilweise mit dem Begriff der Empathie. Wie der Sally-and-Anne-Test34 aus den 1980er Jahren bereits bewies, zeigen Personen mit ASS erhebliche Schwierigkeiten darin, anderen Menschen das zuzuschreiben, was sie selbst denken oder fühlen (vgl. Girsberger 2016: 181). Des Weiteren neigen autistische Kinder zu einer sehr detailfixierten Wahrnehmung und einem „Schwarz-Weiß-Denken" (Girsberger 2016: 45). In den meisten Fällen haben sie große Probleme mit Umstellungen sowie Veränderungen und können erschwert auf neue Dinge eingehen (vgl. ebd.).
Durch ihren beeinträchtigten Umgang mit Emotionen sind betroffene Kinder hinsichtlich des Treffens von Entscheidungen und des Setzens und Verfolgens von Zielen stark eingeschränkt. Dies bekräftigen laut Girsberger neuere Forschungen (vgl. Girsberger 2016: 34). Dennoch ist es Betroffenen möglich mithilfe professioneller Unterstützung und Anleitung, den Umgang und das Verstehen von Emotionen zu erlernen (vgl. ebd.: 33). Dieser Aspekt wird in Kapitel 6 wieder aufgegriffen und weiter ausgeführt.
Bezüglich der Kernsymptome der sozialen Interaktion und des Sozialverhaltens sind Kinder mit ASS vielzähligen Einschränkungen ausgesetzt. Im Vorschulalter zeigt sich die Symptomatik der Betroffenen als am stärksten ausgeprägt. Zu den eigentlichen Kernsymptomen kommen in diesem Alter häufig Erregungszustände sowie Schlaf- und Essstörungen hinzu (vgl. Amorosa 2010b: 47). Eingehend mit dem Schulalter der autistischen Kinder werden neue Anforderungen an jene gestellt (vgl. Amorosa 2010c: 51). Von ihnen wird eine Kontrolle über ihr Verhalten und eine Organisation der Kontakte sowohl zu fremden Erwachsenen als auch zu Gleichaltrigen erwartet. Außerdem haben autistische Kinder aufgrund ihres Verhaltens oft nicht die Möglichkeit, einen Sportverein zu besuchen oder ihren Hobbies nachzugehen, sodass ihre sozialen Kontakte eingeschränkt werden (vgl. Preißmann 2017: 174). Aufgrund ihrer beeinträchtigten sozialen Kompetenzen werden die Betroffenen oft Opfer von Mobbing (vgl. Spitczok von Brisinski 2018: 604). Die sozialen Fähigkeiten von Autisten hängen zudem von der individuellen kognitiven Entwicklung ab (vgl. Amorosa 2010c: 51). Für viele der Betroffenen stellt die Schule, laut Preißmann, eine der schlimmsten Zeiten ihres Lebens dar (vgl. Preißmann 2017: 183). Häufig realisieren betroffene Kinder, dass sie im Vergleich zu Gleichaltrigen in vielen sozialen Feldern nicht mithalten können. Dies kann Erkrankungen wie Depressionen oder Suizidalität nach sich ziehen (vgl. Spitczok von Brisinski 2018: 604). Es gilt als sehr wichtig den Kindern eine Unterstützung für diesen Lebensabschnitt zu bieten, beispielsweise durch angepasste Klassen- und Schulregeln oder einer angemessenen Raum- und Arbeitsplatzgestaltung (vgl. ebd.).
4.2.2 Sprache und Kommunikation
Neben Beeinträchtigungen des Sozialverhaltens und der sozialen Interaktion sind autistische Personen im Bereich von Kommunikation und Sprache eingeschränkt. Da Kommunikation zu den wichtigsten Meilensteinen der kindlichen Entwicklung zählt, hat dies beträchtliche Folgen (vgl. www. Autismus Deutschland e.V. o.J.: 5). So betonte Wittgenstein: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt" (Ludwig Wittgenstein. zit. n. Notbohm/ Zysk/ Autismus Deutschland e.V. 2020: 67).
Meist ist die Sprachentwicklung von Autisten verzögert oder setzt gänzlich aus (vgl. Amorosa 2010c: 52). Dies ist laut dem Universitätsklinikum Ulm bei etwa einem Drittel der Kinder mit ASS der Fall (vgl. www. Schönke 2018). Der Beginn der Sprachentwicklung nach dem Alter von fünf Jahren tritt dabei äußerst selten auf (vgl. Amorosa 2010c: 52). Bei autistischen Kindern ist dies häufig daran zu erkennen, dass sie in ihrem ersten Lebensjahr noch brabbeln, nach gewisser Zeit jedoch vollständig damit aufhören (vgl. www. Autismus Deutschland e.V. o.J.: 5). Asperger-Autisten sowie Personen mit High- Functioning-Autismus bilden hier eine Ausnahme, da ihre Sprachentwicklung in vielen Fällen normal verläuft (vgl. Josefs-Gesellschaft gGmbH 2015: 9).
Weitere Aspekte, die unter diesen Symptomkomplex fallen, sind Auffälligkeiten im sozialen Gebrauch von Sprache, Wortneubildungen sowie Echolalien35 (vgl. Josefs-Gesellschaft gGmbH 2015: 9). Darüber hinaus benutzen sie des Öfteren Wörter, die eigenartig oder unpassend sind beziehungsweise eine eigene Bedeutung haben (vgl. www. Autismus Deutschland e.V. o.J.: 5). Meist fällt ein Mangel an Imitationsspielen bei autistischen Kindern auf (vgl. Preißmann 2017: 18). Selbst den Kindern mit relativ guten Sprachfähi- gkeiten fällt das Führen einer Kommunikation einschließlich des Verstehens und Rea- gierens auf Andeutungen schwer (vgl. www. Autismus Deutschland e.V. o.J.: 5).
Zum einen weist die Kommunikation, in der die autistische Person als Empfänger von Botschaften fungiert, Besonderheiten auf. Autisten haben folglich Schwierigkeiten, verbale Informationen zu verarbeiten und zu verstehen. Ihre Informationsverarbeitung ist verzögert und kann demnach bei einem großen Informationsfluss nicht mit der Sprechgeschwindigkeit des Gegenübers mithalten. Darüber hinaus wird die Information bei Autisten auf zwei Informationskanälen gleichzeitig verarbeitet, dem akustischen und dem visuellen. Dies führt meist zur Verwirrung seitens der Betroffenen (vgl. Josefs-Gesellschaft gGmbH 2015: 9). Autisten folgen oft der Tendenz, Gesagtes zu wörtlich zu nehmen, für sie wirkt Sprache abstrakt und flüchtig (vgl. Girsberger 2016: 45; Josefs-Gesellschaft gGmbH 2015: 9). Bezogen auf die Sensorik reagieren Autisten auf bestimmte Anblicke, Geräusche, Gerüche, Strukturen sowie Geschmäcker über oder unter, was die Kommunikation ebenfalls erschwert (vgl. www. Autismus Deutschland e.V. o.J.: 10ff.).
[...]
1 Wenn in der folgenden Arbeit von Autismus gesprochen wird, ist gleichzeitig die gesamte Spektrum-Störung gemeint.
2 Laut der Begriffsbestimmung des achten Sozialgesetzbuches ist ein Kind eine Person, die noch nicht 14 Jahre alt ist (vgl. §7 Abs. 1 S. 1 SGB VIII).
3 Im Weiteren handelt es sich bei dieser Arbeit um Ausarbeitungen sowie Untersuchungen bezogen auf Kinder und den Lebensabschnitt des Kindesalters.
4 Mit dem Begriff Autisten sind im Verlauf dieser Arbeit gleichzeitig alle Geschlechter gemeint.
5 Der Name der Quelle „ZERO TO THREE 2019" wurde aus Gründen der besseren Lesbarkeit von der Autorin (A.H.) geändert.
6 Abgekürzt für: Deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V./ Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V./ AWMF online 2016.
7 Abgekürzt für: Deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V./ Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V./ AWMF online 2016.
8 Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen.
9 Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation.
10 Verzeichnet im ICD-10.
11 Verzeichnet im ICD-10.
12 Screenings stellen keine Diagnose, sondern lediglich eine Verdachtsdiagnose.
13 “Autism Diagnostic Observation Schedule” (engl.); halbstandardisiertes Spielinterview.
14 “Autism Diagnostic Interviewed-Revised” (engl.); standardisiertes, halbstrukturiertes, untersuchergeleitetes Interview.
15 Evidenzbasierte Leitlinien der DGKJP und der DGPPN sowie der beteiligten Fachgesellschaften, Berufsverbände und Patientenorganisationen für die Diagnose und Therapie von ASS in Deutschland.
16 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit.
17 Der Begriff Diagnosesystem wird in dieser Arbeit als Synonym für „Klassifikationssystem für (medizinische) Diagnosen“ verwendet.
18 Das ICD-11 soll mit der DSM-5 harmonisieren (vgl. DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 15).
19 Die Angaben beziehen sich immer auf 10.000 Personen.
20 Das Geschlechterverhältnis stellt männlichen Personen weibliche Personen gegenüber.
21 Für nähere Informationen siehe Tröster/ Lange 2019: 8ff..
22 Komorbidität ist das gleichzeitige „Vorkommen, unterschiedlicher, voneinander abgrenzbarer Erkrankungen bei einer Person“ (Noterdaeme 2010: 55).
23 Leitlinie des „National Institute for Clinical Excellence“.
24 Selektiver Mutismus nach DSM-IV.
25 Das Rett-Syndrom ist im ICD-10 unter der Kennziffer F84.2 aufgeführt. Für nähere Informationen siehe Wewetzer 2008: 370.
26 Heritabilität ist ein Maß für die Erblichkeit von Eigenschaften.
27 Prozentzahl bezogen auf die genetisch verursachten Fälle.
28 Für nähere Informationen zu den genannten Erkrankungen siehe Freitag 2008: 25f..
29 Prozentzahl bezogen auf die genetisch verursachten Fälle.
30 Mumps-Masern-Röteln-Impfungen.
31 Laut Kanner (vgl. DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 11).
32 Laut Bettelheim (vgl. DGKJP e.V./ DGPPN e.V./ AWMF online 2016: 11).
33 Fähigkeiten, sich die Gefühle, Wünsche, Absichten oder Gedanken Anderer vorzustellen (vgl. Arens-Wiebel 2019: 77).
34 Für nähere Informationen zu dem Test siehe Girsberger 2016: 181ff..
35 Echolalien: Betroffenen ist es nicht möglich, sinnvolle Sätze zu bilden, da sie lediglich einzelne Wörter oder Phrasen wiederholen (vgl. www. Autismus Deutschland e.V. o.J.: 5).
- Arbeit zitieren
- Alina Herbrich (Autor:in), 2020, Autismus-Spektrum-Störung als tiefgreifende Entwicklungsstörung im Kindesalter. Eine Herausforderung für Therapieansätze mit Blick auf die psychosoziale Gesundheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/981241
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