Was die Performances von Markus Öhrn, Thomas Bo Nilsson & Julian Wolf Eicke sowie SIGNA zeigen, dass in einem ästhetisch erzeugten Voyeurismus mehr steckt, als eine Provokation. Hier werden voyeuristische Blickposition inszenatorisch hervorgebracht, hinter diesen eine partizipierende Komplizenschaft liegt, die den Zuschauer in seiner Rolle als stupiden Beobachter hinterfragt. Die voyeuristischen Akte, die in den Performances evoziert werden, werden hier als ästhetische Erfahrungen definiert, die den Zuschauenden über einen Schwellenstatus in einen Modus des Reflektierens bringen und dadurch die Perspektiven auf das Gesehene neu verhandeln.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 DAU oder die Provokation eines voyeuristischen Spektakels
2 Medialer Voyeurismus
2.1 Wir, Voyeure einer visuellen Kultur?
2.2 Verfremdung, Spieltrieb, Einfühlung: Über das transformatorische Potenzial von Voyeurismus
3 Voyeurismus: Dimensionen eines Phänomens
3.1 Der Zuschauer als Voyeur
3.2 Blick-Akt-Theorien: Von Maurice Merleau-Ponty zu Jacques Lacan
3.2.1 Maurice Merleau-Ponty und der Blick als sinnliche Instanz
3.2.2 Jean-Paul Sartre und die Objektivierung des Blicks
3.2.3 Jacques Lacan und der Blick als Trieb
3.3 Skopophilie oder die Lust am Schauen
3.3.1 Die Kritik des feministischen Blicks
3.3.2 female gaze vs. male gaze
3.4 Der entkörperte Voyeur: Von Masken und Überwachungskameras
3.4.1 Gefangen in Foucaults Panopticon
3.4.2 Wenn die Welt die Welt erblickt
3.5. Die performative Befreiung des Voyeurs
4 Versteckte Beobachter, sichtbare Aktivisten
4.1 Markus Öhrn: 3 Episodes of Life oder der Voyeur als Mitwisser
4.1.2 Maskierte Blicke als Verfremdungseffekt
4.1.2 Aktivierende Appelle
4.1.3 Den Theatersaal verlassen
4.2. Thomas Bo Nilsson & Julian Wolf Eicke: Betreutes Leben oder der Voyeur im World Wide Web
4.2.1 www.ichwilldeinebrüstesehen oder der Verlust der Realität
4.2.2 Die Online-Gemeinde als Überwacher
4.2.3 Auf dem Spielfeld der Perspektiven
4.3 SIGNA: Das halbe Leid oder der Voyeur als Komplize
4.3.1 Sehen und gesehen werden: Blickinteraktionen als Begehr
4.3.2 Die Provokation der Einfühlung oder wie ich zur Schlägerin wurde
4.3.3 Wer partizipiert, ist sichtbar oder über den Mehrwert einer aktiven Teilnahme
5 Voyeuristische Akte als Perspektivenwechsel
5.1. Plädoyer für eine partizipierende Komplizenschaft
6 Literaturverzeichnis
7 Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
„Get as close as you want“1, haucht eine Frauenstimme über den schwarzen Bildschirm. Eine Aufforderung, die nicht nur für das Filmprojekt DAU von Ilya Khryhanvosky gilt, sondern auch für die Performances von Markus Öhrn, Thomas Bo Nilsson und SIGNA. Was dieser Appell impliziert? Nähe und Intimität und das Potenzial den Verlust der Realität, das Eintauchen in die Fiktion zu wagen. Dabei impliziert das Angebot eine Verbindung zu einem Publikum, das hierdurch in seiner passiven Rolle gestört wird. Es beginnt ein Prozess, indem das stupide Rezipieren bewusst wahrgenommen wird, dieses hinterfragt, und letztlich ganz aufgegeben wird. Doch die Entscheidung, wie nahe jeder Zuschauer2 in diese Parallelwelten eintauchen möchte, liegt am Ende bei jedem persönlich.
1.1 DAU oder die Provokation eines voyeuristischen Spektakels
Ein „selbstzerstörerisches Totalspektakel“3 titelte die Süddeutsche, „ein anderes Universum“4 postulierte die ZEIT. Das ursprünglich als Filmprojekt geplante Großwerk DAU, des bis dato noch unbekannten Filmregisseurs Ilya Khryhanovsky, stellt in dessen Radikalität die Frage nach der Grenzziehung zwischen Realität und Fiktion neu: Gemeinsam mit 400 Menschen wagte der Regisseur nicht nur ein größenwahnsinniges Filmprojekt, sondern erschuf über mehrere Jahre eine Parallelwelt, in der Menschen lebten, arbeiteten, liebten, als wäre das Filmset zu ihrer neuen Lebensrealität geworden. Immer in Begleitung der Kamera, die der deutsche Kameramann Jürgen Jürgens verantwortete.
Khryhanovskys Idee bestand in einem Reenactment der Sowjetunion im Zeitraum zwischen Mitte der 30er Jahre bis in das Jahr 1968. In dieser Zeit soll es ein geheimes Institut gegeben haben, in dem Wissenschaftler, Politiker, Psychologen mit Künstlern, Arbeitern und Kriminellen gemeinsam lebten, um experimentelle Forschung am Menschen durchzuführen, um eine neue Gesellschaft zu etablieren, kurz: einen totalitären Staat aufzubauen, der nach willkürlich festgelegten Regeln funktionierte. Der Physiker und Nobelpreisträger Lew Landau, kurz Dau, gehörte zu der Leitungsgruppe des Instituts und forschte dort mit einer Gruppe aus Wissenschaftlern u. a. an der Entwicklung der Wasserstoffbombe.
In einem überdimensionierten Filmset spielten von 2008 bis 2011 die Laiendarsteller gemeinsam mit prominenten Künstlern, wie dem Dirigenten Teodor Currentzis und der Performancekünstlerin Marina Abramović sowie mit renommierten Wissenschaftlern, ehemaligen Offizieren und Kriminellen. Der Regisseur forderte die absolute Authentizität heraus, indem er die Laiendarstellenden sich selbst spielen ließ, eben das, was sie in ihrem echten Leben auch sind, nur eben unter den Vorzeichen der 30er Jahre: Natasha, die Bedienung in der Kantine, wird auch in ihrem echten Leben Natasha genannt und bedient in einem Restaurant. Und so sind die KGB Offiziere, die sie in DAU bedient, eben auch ehemalige KGB Offiziere. Hierin fußt die Schwierigkeit einer Grenzziehung zwischen Fiktion und Realität und die Provokation des Filmprojekts: Denn was vermeintlich vor der Kamera nur gespielt wird, sind reale Handlungen, deren Motivationen aus Privatpersonen hervorgebracht werden, denen lediglich Improvisatorisches beigemischt wurde.
In der dreijährigen Produktionszeit entstanden dabei über 700 Stunden Filmmaterial aus dem Khryhanovskys mit seinem Team bis zu 13 Filme, mehrere Serienepisoden und Dokumentationen schnitt. Die Frage nach der Präsentation dieser Filmmasse beantwortete die Idee das Filmprojekt als immersive Installation zu erweitern. Gemeinsam mit dem Intendanten der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, plante Khryhanovsky 2018 in Berlin (daran anschließend in Paris und London) das Institut in einem „etwa 300 mal 300 Meter große[n] Gebiet zwischen der Staatsoper und der Bauakademie, direkt an der Straße Unter den Linden […]“5 zu bauen. Hierin sollten die Zuschauenden für einen Monat lang die Gelegenheit haben, das Institut sowie die dort lebende Gesellschaft zu besuchen. Zeitgleich könne man in privaten Filmkabinen, die einzelnen gedrehten Episoden schauen. Khryhanovsky und Oberender planten mit dieser Installation ein allumfassendes Erlebnis für die Zuschauenden, eine Zeitreise in die 30er Jahre der Sowjetunion. Jedoch scheiterte das Projekt in Berlin aus Sicherheitsgründen: die Berliner Behörden untersagten Khryhanovsky eine „Stadt in der Stadt“6 zu bauen, eine Mauer zu erichten, in einer Stadt, deren Vergangenheit von einer sichtbaren Grenze geprägt ist, war nicht tragfähig. Ebenso „hagelte es […] Proteste von Politikern, die am pädagogischen Mehrwert von DAU zweifelten.“7
Das Scheitern in Berlin bedeutete postwendend die Weltpremiere in Paris. Im Januar 2019 fand DAU dann zu seiner Bestimmung als immersive Installation. Der Zuschauer mit Tagesvisum musste vor Eintritt in die Parallelwelt einen persönlichen Fragebogen ausfüllen, durch den ein individueller Fahrplan durch die Installation herausgearbeitet wurde. Therapeutische Gespräche mit Psychologen, Priestern und Schamanen konnten hinzu gebucht werden, was nach einem existenziellen und lebensverändernden Erlebnis klingt. Doch die Rezensenten waren nach dem Besuch von DAU mehr enttäuscht, als beseelt: Dem Ereignis fehle es an Tiefe bei den persönlichen Gesprächen, an Spannung im Spiel der Performenden. Es wird deutlich, dass alleine das Format, der Umfang des Projekts für viele den spektakulären Charakter ausmacht, jedoch das Erlebnis als solches vor allem Banalität und Tristesse hervorbringt. Darin sieht die Journalistin Iris Radisch dagegen die „überraschendste Erfahrung im DAU-Kosmos: Je länger nichts passiert und die Zeit einfach vergeht, umso tiefer dringt man ein in das Labyrinth dieses lackgrüneren Seelenaquariums, in dem […] nach dem Existenziellen und Authentischen gefischt wurde.“8
Die eingangs zitierte Aufforderung ‚Get as close as you want‘, ist ein Gradmesser des individuellen Erlebens, denn je näher man den Performenden kommt, je tiefer man in die Parallelwelt eintaucht, desto differenzierter und stärker scheint die Erfahrung des Zuschauers zu werden. Gleichzeitig eröffnet sich in der Teilnahme an jenem grenzüberschreitenden Projekt inwieweit der Zuschauende zu einem Voyeur des Gezeigten wird: Aus welcher Perspektive schaut er auf die Szenen, die nicht von Figuren, sondern von Menschen dargestellt werden, die einer wahnsinnig gewordenen Fiktion eines Regisseurs Folge leisten? Ist die Beglaubigung, die die Zuschauenden durch ihre Anwesenheit der Fiktion schenken mit einer Tat, einer Komplizenschaft mit dem Regisseur anzusehen? Oder muss DAU vielmehr als eine Spielfläche angesehen werden, durch die die Lust am Schauen, ein Begehren, das der Blickende dem Angeblickten entgegen bringt, provoziert wird? Diese Fragen stellen sich auch bei der Rezeption der Performances von Markus Öhrn, Thomas Bo Nilsson & Julian Wolf Eicke sowie bei SIGNA und sollen im Verlauf dieser Arbeit analysiert und geklärt werden. Dass sich darunter DAU dabei als das provokanteste Projekt zeigt, liegt nicht nur daran, dass die Laiendarsteller Privatpersonen sind, die ohne eine Ausbildung ergo eine Möglichkeit der Grenzziehung zwischen sich selbst und einer darzustellenden Figur, nach den Vorgaben eines Einzelnen, dem Regisseur Khryhanovsky handeln. Gleichzeitig ist die Zeitlichkeit des Projekts, das über drei Jahre lang andauernde Verschwinden in der Fiktion ein Zeichen des künstlerischen Wahnsinns. Somit soll DAU als Einstieg in die Thematik dienen, um die hierdurch erzeugten voyeuristischen Akte, die ferner als ästhetische Erfahrung analysiert werden, zu benennen. .
Im Anschluss an die Installation in Paris, feierte der aus dem Projekt ausgesonderte Film DAU. Natasha im Rahmen der Berlinale 2020 im Februar Premiere. Im Film wird der Alltag der Kellnerin Natasha gezeigt: Wie sie sich in einen französischen Diplomaten verliebt und darauf hin von einem KGB Offizier gefoltert wird, da sie Geschlechtsverkehr mit dem nicht-sowjetischen Mann hatte und laut den gesellschaftlichen Regeln des Instituts eine Liaison mit einem fremden Mann untersagt ist. Die Folterszene zeigt, wie der Offizier Natasha als Strafe für ihr Vergehen befiehlt, sich selbst eine Flasche vaginal einzuführen.
Was in dieser Szene kulminiert, ist die Schwierigkeit des gesamten Projekts: Dass es hierbei nicht nur um ein Spiel geht, sondern eine Realität verhandelt wird9, die, auf der Suche nach dem Spektakulären, den Schutz der Darsteller vergisst, bestärkt der Filmkritiker Simon Strauß, der in Nataschas Gesicht den Schock sieht, als sie den Befehl des Offiziers ausführen soll10. Seine Reaktionen auf den Film folgen der These, dass in diesem Film von einem ‚zynischen Voyeurismus’ ausgegangen wird, der „angeblich unserer Zeit eingeschrieben ist, […] dass unsere Blicke, unser Schauen so abgestumpft […] [sind], durch die digitalen Bilderfluten, […] dass uns kein Bild mehr wirklich schockieren, nicht mehr wirklich bewegen kann.“11
Simon Strauß insistiert dabei, dass hierdurch mit dem Medium Film missbräuchlich12 umgegangen wird und betitelt das Filmen in DAU. Natasha als „inhuman.“13 Indem der Kritiker einen Vergleich zwischen der Kameraführung in DAU. Natasha und der Reality-TV-Show Big Brother ansetzt, vergisst er jedoch den Kameramann Jürgen Jürgens, der im Fall von DAU. Natasha eben jener ist, der auf das Geschehen blickt somit dessen Sicht auf die Dinge, das Ergebnis der Filmsequenz bedeutet.14 Wogegen die Kamera in Big Brother mit einer Überwachungskamera gleichzusetzen ist, die aus einer festen Perspektive heraus zeigt, was passiert. Muss der Kameramann Jürgens hierdurch als ein Täter bezeichnet werden? Oder ist er der Voyeur, der versteckt hinter der Linse, dem Akt der Folter zusieht und nicht einschreitet?
Was deutlich wird ist, dass die Kamera nicht nur als dokumentarisches Hilfsmittel, sondern vielmehr als Zeuge fungiert, gleichzeitig nicht nur der Kameramann zum Voyeur des Geschehens mutiert, sondern ebenfalls, wie Simon Strauß bekräftigt sich auch der Filmrezipient aus der voyeuristischen Blickrichtung nicht befreien kann und als Voyeur auf die Szene mit Natasha schaut. Das Publikum wird zum Beobachter eines sexuellen Missbrauchs, einer körperlichen Folter, ohne Handlungsspielraum. Der Filmkritiker sieht dabei in diesem „Brandmal der Berlinale“15, dass der Film „mit ganz großem Zynismus [uns vorführt] „wer wir angeblich geworden sind, [und ferner] wie wir auf totalitäre Strukturen schauen, doch am Ende beweist […] [das, so der Kritiker nur] eines: Einen totalitären Regisseur.“16
Es ist offensichtlich, dass die gewaltbereiten und sexualisierten Szenen, in den DAU Filmen eingesetzt werden, um zu provozieren. Jedoch stellt sich die Frage aus welchem Antrieb dies geschieht.17 Wird hierbei eine inszenatorische Idee verfolgt, um dem Zuschauenden ein Spiel mit voyeuristischen Blickpositionen zu bieten oder ist es lediglich der Versuch das Projekt in seiner skandalträchtigen Beschaffenheit zu einem noch größeren voyeuristischen Spektakel werden zu lassen, indem wie Guy Debord in Die Gesellschaft des Spektakels bereits postulierte „eine Kultur des Zusehens bei privaten und intimen Dingen […], die durch die technischen Möglichkeiten und einen Normwandel zu einem globalen Massenphänomen geworden ist […] verstärkt mit Formen der Inszenierung einhergeht.“18 Das Ergebnis ist, dass sich die „wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt.“19 Wodurch zu klären ist, inwieweit der Zuschauer bereits durch die mediale Welt ständig in einer voyeuristischen Blickposition verhaftet ist. Doch was bedeutet dieser Voyeurismus im Alltag einer mediatisierten Kultur? Es gilt eine Unterscheidung zwischen dem pathologischen Voyeurismus als Krankheit, einem Voyeurismus als Verbrechen sowie jenem, der als Lust am Schauen, einem Konsumieren der bildüberfluteten Kultur, zu ziehen.
2 Medialer Voyeurismus
2.1 Wir, Voyeure einer visuellen Kultur?
„Unter Voyeurismus versteht man eine sexuelle Erregung, jemanden unbemerkt zuzusehen, wie er sich auszieht, nackt ist oder sexuell aktiv ist. […] Erregend ist der Vorgang des Zusehens, und nicht die sexuelle Handlung mit der beobachteten Person. Voyeure suchen keinen sexuellen Kontakt mit den Menschen, die sie beobachten. […]“20
Voyeurismus zeigt sich in unterschiedlichen Ausformungen: Als Verbrechen, wie Anfang Juni in Münster, wo mehrere Terabyte Material von Triebtätern konfisziert wurden, die über Jahre hinweg junge Opfer missbraucht und dabei gefilmt haben und anschließend die Ergebnisse für das Darknet aufbereiteten und somit Inhalte für eine Community an Voyeuren bereitstellten.21 Als Krankheit, die dann als Perversion bezeichnet wird, wenn „sie das normale Sexualziel anstatt es vorzubereiten, verdrängt.“22 und „mit einem starken Leidensdruck, Dauerhaftigkeit, Kontrollverlust oder massiver sozialer Beeinträchtigung einhergeht.“23 Solche Fälle beschreibt der Autor Sean O’Shea in Voyeurismus. Psychologie, Ursprung und Motive einer Perversion:
„Der Beschuldigte [ein 29-jähriger Mann] wurde beim Onanieren beobachtet, während er durch ein Loch in der Wand ins Nebenzimmer spähte. […] Man fand einen elektrischen Bohrer mit Ansatzstück in einer verschlossenen Schmuckkassette im Kofferraum eines drei Block vom Hotel entfernt abgestellten Autos. […] Er sagte, daß er das Loch gebohrt habe, um eine attraktive Revuetänzerin zu beobachten, die sich in dem daneben liegenden Raum aufhielt.“24
O’Shea analysiert dabei die angeklagten Voyeure hin auf ihre Familiengeschichte und den darin zu erkennenden Verhältnisse, den beruflichen Werdegang sowie deren Kindheit, Persönlichkeit, die „psychosexuelle Vorgeschichte“25 sowie das Traumleben. Die Handlungen der Voyeure sind hier Straftaten. Woraufhin der Täter , nach der Verurteilung mit Hilfe von psychotherapeutischen Behandlungen resozialisiert und von seiner voyeuristischen Perversion geheilt wird. O’Shea definiert Voyeurismus dabei nicht nur als Triebtat, sondern fordert „eine Weitung des Voyeurismusbegriffs“26, denn „[d]ie massive Verbreitung von Kulturpraktiken visueller Aneignung und bildlicher Erkenntnisproduktion sowie die damit einhergehende Tendenz zu erotisch kosnotierten und tabubrechenden Inszenierungsstrategien in Film, Fernsehen, Werbung und […] in Theateraufführungen stimulieren allesamt voyeuristische Konstellationen, die sich als asymmetrische Beziehung zwischen einem anonymen und geschützten Betrachter und dem bildhaft preisgegebenen Beschauten gestalten. […] Die Ohnmacht des Voyeurs besteht in unserer Zeit vor allem in der Angst vor dem Entzug seines Lustobjekts und nicht mehr in der Gefahr des Erblicktwerdens.“27
So ist auch der Peeping Tom, der um 1700 zum Synonym des Voyeurs geworden ist, eine Figur, die sich risikobereit der Lust am Schauen hingibt. Denn Tom soll, der Legende nach, die schöne Lady Godiva angesehen haben, als diese nackt „auf einem Pferd durch Coventry ritt, um gegen Steuern zu protestieren“, woraufhin er getötet wurde.28
In dem Band Medialisierung und Sexualisierung analysieren die Medienethikerin Ingrid Stapf und die Wissenschaftlerin Almut Rademacher „das Prinzip Voyeurismus als Kernelement der digitalisierten Gesellschaft“29. Dabei grenzen sie den Begriff des pathologischen Voyeurismus, wie er eingangs definiert wird, zu einem Begriff, der sich auf die Lust am Schauen fokussiert, ab. Sie teilen den Begriff in drei Ausformungen ein: der Neugier, eine Form der „Orientierungsreaktion“ hin zur „Schaulust als Produkt eines „Sicherheitstriebes“30, ein Herausfinden, was der „persönlichen Sicherheit“ dienen kann, hin zu einem Voyeurismus „als spezielle Form der Neugier in Bezug auf das Beobachten von sexuellen Aktivitäten […].“31
In einer „stark medial geprägt[en]“ Kultur ist dabei die Lust am Schauen relevant, da, wie O’Shea bereits in den 70er Jahren konstatierte, über mehrere Kanäle eine Dauerbeschallung, eine Flut aus Bildern und Videos entsteht, die gesehen und geklickt werden. So sind es neben den Reality-TV Formaten wie u. a. Big Brother, Filmen, wie z. B. Die Truman Show die sozialen Netzwerken, wie Instagram, TikTok und Facebook oder auch private Internetblogs (z. B. die JenniCAM von Jennifer Ringley) sowie Plattformen für Pornographie, in denen ein medialer Voyeurismus zu erkennen ist. Im World Wide Web wird dabei in kürzester Zeit die Schaulust des Zuschauers gestillt, am privaten PC oder direkt auf dem Smartphone. Dabei ermöglicht die mediale Welt nicht nur eine voyeuristische Blickposition einzunehmen, sondern provoziert und begünstigt vielmehr die Lust am Schauen. Dass hierdurch die Privatsphäre gestört wird und der Schutz von Intimität durch das Internet aufgehoben wird, manifestiert sich in der Definition ‚medialen Voyeurismus’ des Kommunikationswissenschaftlers Clay Galvert:
„Mediated voyeurism refers to the consumption of revealing images of and information about others’ apparently real and unguarded lives, often yet not always for purposes of entertainment but frequently at the expense of privacy and discourse, though the means of the mass media and internet.“32
Galvert gibt in Voyeur Nation. Media, privacy, and peering in modern culture vier Kategorien an, in die sich der Voyeurismus im Diskurs der heutigen Mediengesellschaft einteilt: Den ‚video vérité voyeurism’33, darunter fallen Reality-TV Shows wie die amerikanische Serie Real TV, in der Privatpersonen bei ihrem alltäglichen Leben gefilmt werden und somit von einem „unmanipulated realism“34 gesprochen werden kann. Der Zuschauer konsumiert die Realität fremder Personen, wobei die eigene Lebenswirklichkeit hiermit verglichen wird, woraus ein Aushandeln, eine Beglaubigung des eigenen Lebensstandards, durch die der Anderen erzeugt wird, die das Gefühl von Macht ermöglichen und sich der Schauende in ein dualistisches System von Besser und Schlechter auf der positiven Seite wähnen kann. Gleichzeitig kann auch im Anblick der sich hier präsentierenden Menschen ein Moment des Begehrens entstehen, vor allem da die Identifizierung durch die Echtheit der Privatpersonen stärker ist, sich der Zuschauer darin selbst sieht.
Die zweite Kategorie ist der ‚reconstruction voyeurism’35, der in der amerikanischen Serie Cops zu rezipieren ist, die dem Spielerischen ‚so-tun-als-ob‘ folgt und dem Zuschauer inszeniertes, sensationsträchtiges Material zum voyeuristischen Beschauen repräsentieren, oder wie Galvert formuliert: „reality is recreated and stage for us to watch,“36 hierdurch die Schaulust eben über ein Narrativ gestillt wird.
Das, was im Journalismus als investigativ beschrieben wird, beschreibt die dritte Kategorie Galverts, den ‚Tell-All/Show-All Voyeurism‘37, der mit Hilfe von versteckten Kameras und/oder Überwachungskameras Informationen beschafft, die mit Hilfe der Voyeurperspektive des Reporters einfacher zu erreichen sind, als zeige sich dieser öffentlich und sichtbar. Die Zuschauerperspektive folgt dabei der, des Journalisten und somit wird er zum Voyeur par excellence, denn er ist versteckt, heimlich, unsichtbar. Gleichzeitig fallen unter diese Kategorie auch jene privaten Videoblogs, in denen Intimitäten einer virtuellen Community präsentiert werden. Letztlich definiert Galvert den ‚Sexual Voyeurism‘38 im Kontext der gängigen psychologischen Sexualstörungen, weist dabei darauf hin, dass das Ausleben von Voyeurismus als Fetisch durch das Internet neue Möglichkeiten bereit hält.
Galvert nimmt an, dass Voyeurismus im gesellschaftlichen Diskurs von sozio-kulturellen, ideologisch, wie politischen Faktoren abhängig ist. Er erarbeitet in seiner Monographie hierfür mehrere „social forces“39, die durch den medialen Voyeurismus hervorgebracht werden. So geben uns Fernsehformate die Möglichkeit „to escape from our own problems“40 oder „to sustain a sense of community.“41 Ebenfalls würde sich der Zuschauende beim Rezipieren einer Reality-TV-Show im Schauen wieder entdecken, wodurch der Sehakt zu einer medialen Erfahrung wird, die „außerhalb der Reichweite des eigenen Handelns, in Reichweite der eigenen lebensweltlichen Situation“42 zu verorten ist. Das Moment der Identifikation spielt dabei nicht nur bei der Rezeption des Gesehenen eine Rolle, sondern auch in der Verbindung zwischen Betrachter und zu Betrachtendem: „As we watch […] people in their moment of […] crisis, we speculate on how we would react to the traumatic conditions faced by the individuals caught on camera.“43 Das Moment der Identifikation wird in der Auseinandersetzung mit der Blick-Akt-Theorie von Jacques Lacan erneut aufkommen, hier jedoch als eine Form des Narzissmus im Prozess der Spiegelfunktion des eigenen Ichs, dem Erkennen der eigenen Person im Spiegel.
In der Verbindung zwischen Blickendem und Angeblickten entsteht selbstredend ein Machtverhältnis, bei denen repräsentationspolitische Faktoren mitgedacht werden müssen. Die Frage lautete: Wer erblickt wen, von welchem Standpunkt und aus welchem Interesse heraus an? Diese wird ebenfalls im fortlaufenden Theorieteil beantwortet.
Dass sich eine Machtkonstellation auch beim Surfen im World Wide Web bemerkbar macht, wird deutlich, wenn der Nutzer davon ausgeht, er werde bei seinen Internetaufenthalten nicht gesehen, könne sich hinter seinem eigenen Computer verstecken. Hier fehlt ihm das Wissen über Datenströme, die einen genauen Überblick über das Nutzerverhalten geben, worin ein virales Gesehen werden steckt, das die Begehrensbedingung des Voyeurismus ausmacht. Wenn jedoch das Gesehen werden in seinem Prozess nicht mehr existiert, entsteht aus dem medialen Voyeurismus eine Form des Exhibitionismus, der sich in Postings in den sozialen Netzwerken bereits jetzt schon zu erkennen gibt. Dabei ist der mediale Voyeurismus in Abgrenzung zum Krankheitsbild, wie Stapf und Rademacher argumentieren, als ein „spielerischer“44 zu werten. Hier und da wird der Nutzer in zu beobachtende Situationen gebracht, in kürzester Zeit werden heute, in einer massenmedialen Welt, Perspektiven ermöglicht, die einen in eine visuelle Zwickmühle zwischen ‚hinsehen‘ und ‚wegschauen‘ bringen. Dass der Zuschauende dabei durch diese mediatisierte Welt jedoch nur selten aus dieser Voyeurposition ausbrechen kann, ist deutlich geworden. Doch inwieweit kann die voyeuristische Blickposition ästhetisch erzeugt, ergo, wie Stapf und Rademacher konstatieren, als Spielraum für Perspektiven nutzbar gemacht werden? Wann wird der Blick in einer breiter gedachten Definition, eben so wie Galvert den medialen Voyeurismus fixiert, zu einem voyeuristischen Blick und wie wird der Akt des Blicks als Voyeur wahrgenommen? Welche Erfahrung wird hierdurch über den Vorgang des Blicks hinaus gemacht?
Die Frage stellt sich, wie die voyeuristische Perspektive, die der Theaterbesucher inne hat, nutzbar gemacht werden kann, um hierdurch eine mögliche Aktivierung, eine Partizipation des Zuschauers, zu provozieren. Dabei ist ebenso zu analysieren, ob es eine Wechselwirkung zwischen Inhalt und Form des performativ hervorgebracht gibt und ob eine Ästhetik des Voyeurismus postuliert werden kann. Zunächst aber soll Voyeurismus als eine ästhetische Erfahrung definiert werden, um die Möglichkeiten dieser Sehgewohnheit zu erweitern.
2.2 Verfremdung, Spieltrieb, Einfühlung: Über das transformatorische Potenzial von Voyeurismus
Im weiteren Verlauf der Analyse wird der Terminus der ‚ästhetischen Erfahrung‘ als Schwellenerfahrung definiert. Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte beschreibt ästhetische Erfahrungen als eine „besondere Art der Wahrnehmung“45, die mit dem Willen die eigenen Einstellung zu ändern einhergeht. Der Begriff der Schwellenerfahrung ist dabei ursprünglich ein Terminus aus der Ritualforschung um 1900, in dem liminale Phasen, eine „Veränderung in Bezug auf physiologische, affektive, energetisch und motorische Körperzustände zu einem Statuswechsel verhelfen.“46 Diese Phasen sieht Fischer-Lichte u. a. in der Interaktion zwischen Zuschauer und Akteuren sowie in der Loslösung des Zuschauers als passiver Beobachter hin zu einem teilnehmenden Akteur. Gleichzeitig zeigt sich auch, so die Theaterwissenschaftlerin, in der Einfühlung des Zuschauers in die verschiedenen Rollen eine Schwellenerfahrung, da das „probeweise Übernehmen und Ausagieren neuer Rollen und Identifikationen“47 einen Zustand des „betwixt and between“48 verursacht. Der Zuschauer wird durch das Rezipieren dabei in einen Prozess des Aushandelns gebracht. Hierin steckt ein, bzw. das „transformatorische Potenzial“49 einer Schwellenerfahrung, ergo der ästhetischen Erfahrung. Dabei ist die
„Bezogenheit der Erfahrung auf sich selbst als Wahrnehmung [zu sehen und ermöglicht ein] intensives Erleben der eigenen Person und den Bezug zur äußerlich erfahrenen Wirklichkeit.“50
Der Prozess der Wahrnehmung ist somit immer ein Akt, indem sich das Subjekt seines eigenen Selbsts bewusst wird und sich zu dem ästhetischen Objekt in Beziehung setzt. Das transformatorische Potenzial, welches im „Moment der Verfremdung“51 liegen kann, schafft einen Aufbruch aus traditionellen Wahrnehmungs- und Denkmustern, wodurch die Einstellungsänderung eintreten kann. Im Kontext der Analyse wird danach gefragt, wie Voyeurismus zu einer Schwellenerfahrung mit, jenem definierten „transformatorischen Potenzial“52 werden kann. Hierfür dienen drei Beispiele, die unterschiedliche Perspektiven erzeugen. Der Voyeur wird dabei aus seiner passiven Rolle gelockt, um nicht nur die eigenen Wahrnehmung zu hinterfragen, sondern auch die Blickrichtungen im Medium Theater. Durch unterschiedlichen Inszenierungsstrategien werden dabei auch verschiedene Reaktionsmuster beim zuschauenden Voyeur hervorgerufen.
Im ersten Beispiel, 3 Episodes of Life von Markus Öhrn, wird mit Hilfe von Verfremdung und Distanz der Zuschauer zu einem Mitwisser eines sexuellen Missbrauchs in der Theater- und Tanzbranche. Die voyeuristische Perspektive gleicht der Beobachtung eines Falls, die direkte Identifikation mit den Performerinnen wird durch den Gebrauch von entfremdeten Masken gestört, wodurch vielmehr eine Distanzierung zu den Figuren entsteht. Die Masken können dabei nicht nur als verfremdetes Hilfsmittel, sondern auch auf dramaturgischer Ebene interpretiert werden: Das was an den drei Abenden verhandelt wird, ist kein Einzelschicksal, kein individuelles Gesicht erblickt uns, sondern eine verzerrte Fratze, die allgemein für eine Gruppe von Frauen, die missbraucht wurden, steht. Das was der Zuschauer dabei sieht, was er hört und erfährt, wird via Stummfilm auf einer Leinwand vermittelt. Dadurch rückt das Geschehen ein weiteres Stück von ihm weg, distanziert sich und wird gleichzeitig schwer erreichbar gemacht. Die Perspektive eines Voyeurs, der im Dunkeln des Theatersaal verschwindet und passiv nicht in die Handlung einschreiten kann, verstärkt sich dadurch. Dennoch wird in der Analyse zu sehen sein, dass das Mitverfolgen des Falls die Möglichkeit bietet, nach dem Verlassen des Theatersaals aus einem anderen Blickwinkel auf die allumfassende Berichterstattung von #metoo zu schauen.
Das zweite Beispiel, Betreutes Leben von Thomas Bo Nilsson und Julian Wolf Eicke spielt mit dem Spieltrieb der Zuschauenden. Mit Hilfe eines Live-Streams wird den Performern dabei zugesehen, wie sie Teile des gewaltverherrlichenden Buches Assisted Living von Nikanor Teratologen nachspielen. Gleichzeitig ist es den Usern des Live-Streams, die hier ‚Spectators‘53 genannt werden, möglich ein Skript einzureichen, um so das Geschehen nach eigenen Wünschen zu lenken. Diejenigen Zuschauer, die dabei im Live-Stream ausschließlich in der beobachtenden Perspektive auf das Gesehen blicken, verharren in einer passiven Voyeursrolle; dagegen sind diejenigen, die das Geschehen verändern wollen mehr als Voyeure — sie werden zu Komplizen, ferner auch zu Tätern. In Betreutes Leben wird der Zuschauer somit in einen Zustand des Dazwischen versetzt. Er hat die Möglichkeit, zu wählen: zwischen stupider Theaterbeobachtung oder aktiver Teilnahme.
Die Möglichkeit der Teilnahme wird im dritten Beispiel, Das halbe Leid von SIGNA in seiner Absolution ausgeführt. Dabei wird der Zuschauer durch die Möglichkeit sich in die Performer einzufühlen, ebenso in einen Zustand der Schwellenerfahrung gebracht. Das Miterleben und die Teilnahme an einem 12-stündigen Besuch des fiktiven Vereins „Das halbe Leid e. V.“ schafft eine Loslösung des Zuschauers aus seiner Rolle, hin zu einer Privatperson, die im fiktiven Rahmen agiert und nach den eigenen moralischen Vorstellungen handelt. Der Zuschauende wird zum aktiven Teilnehmenden des Geschehens und erhält durch provokative Szenen die Möglichkeit aus seiner heimlichen Beobachterrolle auszubrechen und zum sichtbaren Aktivisten zu werden. Dabei wird die Partizipation provoziert, indem ein durch persönliche Gespräche ein enges Band mit der Zuschauergruppe geknüpft wird. Beim Verlassen des Geländes, blickt der Zuschauer zurück auf das Erlebte und hinterfragt, im besten Fall, seine Wertvorstellungen.
Bevor die Inszenierungsstrategien in den Performances genauer beleuchtet werden, sollen die Dimensionen des Phänomens Voyeurismus als ästhetische Erfahrung genauer untersucht werden. Dabei wird nochmals ein Augenmerk auf die Wahrnehmung des Zuschauers gelegt und seine Rolle als Voyeur im Theatersaal. Da der Blick des Zuschauers der Drehpunkt dieser Schwellenerfahrung ist, wird nicht nur nach den Theorien des Blickes, sondern auch der Lust am Schauen gefragt und deren Begehrenslogik theoretisch untermauert. Es wird nach den Unterschieden des männlichen und weiblichen Blicks gefragt, wie auch nach dem entkörperten Voyeur, der sich in der Omnipräsenz der Überwachungskameras zeigt und einen dezentralen Blick ausmacht. Anschließend wird der Theorieteil mit einem Plädoyer zur performativen Befreiung des Voyeurs beschlossen, um die affirmative Qualität voyeuristischer Perspektiven deutlich zu machen, die in der Analyse der Beispiele mündet. Im Anschluss an die Analyse der bereits oben angerissenen Beispiele wird der voyeuristische Akt als Perspektivenwechsel als Fazit die Arbeit abschließen.
3 Voyeurismus: Dimensionen eines Phänomens
Das Phänomen des Voyeurismus erhielt in der Theaterforschung bis dato nur wenig Beachtung, obwohl der Zuschauer, der sitzend im dunklen Parkett, alle Charakterzüge eines Voyeurs aufweist. Dass hierdurch Probleme aufkeimen können, die sich mit der Repräsentationspolitik oder mit den Machtverhältnissen des Blicks beschäftigen, wird zwar in Theaterrezensionen oftmals angesprochen, die Frage des ‚wer erblickt wen’ wird also laut, jedoch scheint der Voyeurismus im Theater als im Medium inhärentes Problem fixiert zu sein, sodass dies nur vereinzelnd Beachtung findet. Die ästhetischen Möglichkeiten der Theaterbühne, aus der sich die voyeuristische Perspektive eröffnet, werden dabei noch weniger in Augenschein genommen. Auffällig jedoch ist, dass sich vermehrt Filmwissenschaftler mit diesem Phänomen beschäftigen.
George Rodosthenous, Professor für Regie an der University of Leeds in Großbritannien, gab 2015 gemeinsam mit zahlreichen Theaterwissenschaftlern aus dem europäischen Raum den Band Theatre as voyeurism 54 heraus. Hier werden vor allem Performances und Theateraufführungen von Jan Fabre, Romeo Castelluci, Xaver LeRoy sowie die Arbeiten von Kollektiven immersiver Theaterinstallationen, wie Punchdrunk im Hinblick auf das Phänomen Voyeurismus analysiert und unter die Lupe genommen. Der Band beschäftigt sich dabei nicht nur mit der Möglichkeit von inszenierten Blickrichtungen, die einer voyeuristischen Blickpraktik folgen sowie deren „Acts of Watching“55, sondern vor allem auch mit der Darstellung nackter Körper auf der Bühne, wobei eine Verknüpfung zwischen Pornographie, Varieté und Theater (hier eben vor allem in Performances sowie Installativem) geschlossen wird. Relevant zeichnen sich im Kontext, der für diese Arbeit ausgewählten Beispiele, vor allem die Analyse der site-specific-Performances von Punchdrunk, die der Performance-Künstler und Wissenschaftler David Shearing in seinem Beitrag zu Intimität und „the Desire to Touch“56 erläutert. Seine Beobachtungen folgen ebenso der These dieser Arbeit, dass der Voyeur im Akt des Rezipierens einer bestimmten ästhetischen Erfahrung ausgesetzt wird, die durch die Intimität des Formats verursacht wird und die voyeuristischen Kernelemente bedienen.
Rodosthenous kategorisiert dabei Theater als Voyeurismus über eine detailreiche Einteilung, die die verschiedenen Ausformungen des Phänomens, auf der Theaterbühne sowie im Zuschauerparkett, zeigen. Er bezieht sich hierbei auf Clay Galverts Kategorien des ‚mediated voyeurism‘ und setzt somit einen ‚theatrical voyeurism‘57 fest, der nach dessen Methode weitere 14 Kategorien aufweist. Diese sind dabei vor allem in deren Definition expliziter und bedenken den Zuschauer und dessen Erfahrungen im Blickakt stärker mit (u. a. spricht Rodosthenous von einem „Intimate voyeurism“ und „Emotional voyeurism“58 ). Für die Analyse der Beispiele dieser Arbeit werden diese im weiteren Verlauf hilfreich sein, um die Konzepte der unterschiedlichen Blickpositionen der einzelnen Performances zu benennen. Bevor Augenmerk auf die unterschiedlichen Blick-Akt-Theorien geworfen wird, soll der Zuschauer als Voyeur und dessen Wahrnehmungsmöglichkeiten auf der Theaterbühne genauer beleuchtet werden, um bereits hier einen Mehrwert des Mediums Theater gegenüber dem Fernseher, dem Internet und dem Film zu ziehen, denn der Theatervoyeur kann mehr sein, als ein passiver Beobachter.
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1 „DAU (2019) Trailer - Ilya Khrzhanovsky «Дау»,“ 01. Oktober 2018, YouTube Video, 01:19, https://www.youtube.com/watch?v=RdwEglW8EX8&t=11s.
2 Aus Gründen der übersichtlicheren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit die männliche Sprachform bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen verwendet. Dies impliziert keine Benachteiligung des weiblichen Geschlechts, sondern soll im Sinne der sprachlichen Vereinfachung als geschlechtsneutral verstanden werden.
3 Joseph Hanimann, „Selbstzerstörerisches Totalspektakel“, Süddeutsche Zeitung/sz.de, 28.01.2019.
4 Iris Radisch, „Das andere Universum“, Zeit Online, 23.01.2019.
5 Tobias Haberkorn, „Freiheit hinter der Mauer“, Zeit Online, 28.08.2018.
6 Sabine Oelze, „Megaspektakel DAU: Premiere in Paris“, Deutsche Welle, 28.01.2019.
7 Ebd.
8 Iris Radisch, „Das andere Universum“.
9 Matthias Dell, „Echter Sex, echter Stuss“, Spiegel, 27.02.2020, letzter Zugriff am 30.06.2020, https://www.spiegel.de/kultur/kino/dau-natasha-auf-der-berlinale-2020-echter-sex-echter-stuss.
10 „DAU. Natasha - Berlinale-Filmkritik“, 27. Februar 2020, YouTube Video, 00:04:22, https://www.youtube.com/watch?v=I0JP5zFOTBQ.
11 Ebd., 00:04:50 - 00:05:13.
12 „DAU. Natasha - Berlinale-Filmkritik, 05:26.
13 Ebd., 00:05:24.
14 Die Filmkritik von Matthias Dell, „Echter Sex, echter Stuss“, Spiegel, 27.02.2020, letzter Zugriff am 30.06.2020, https://www.spiegel.de/kultur/kino/dau-natasha-auf-der-berlinale-2020-echter-sex-echter-stuss, ist weitaus undifferenzierter als diejenige von Simon Strauß, thematisiert jedoch ebenso die Schwierigkeit, die in der Arbeit mit den Laiendarstellern liegt: Das Dokumentarische, was das Fiktive zwar realer erscheinen lässt, schützt nicht vor der Demütigung der Laiendarsteller, die durch die Kamera begünstigt wird. Das Fehlen des Einschreitens, die Sucht nach der Echtheit, erschafft „eine Welt totalitaristischer Demütigung“ in die, so Dell, der Zuschauer eintauchen kann. Jedoch kann er aus dieser Radikalität des Authentischen keinen Mehrwert ziehen.
15 Ebd., 00:00:02 - 00:00:06.
16 Ebd., 00:06:24 - 00:06:40.
17 Während und nach der Arbeit an dem Projekt kam es zu Protesten ehemaliger Darstellerinnen und Gegnern von DAU. In einer Reportage der taz (Viktoria Morasch, „Im falschen Film“, tageszeitung, 22.02.2020) spricht eine ehemalige Casterin des Projekts von „sehr persönliche Fragen auch zum Thema Sex“, die ihr der Regisseur Khrzhanovsky gestellt hat. Sie charakterisiert ihn als „Typ, [der] […] so Harvey-Weinstein-mäßig […]“ sei, dabei eine besondere Aura besäße, die einen dazu treibt, alles dafür zu tun, um ihm zu gefallen. Die manipulative Arbeitsweise, die hierbei deutlich wird, erinnern dabei an Strukturen, wie sie in Sekten aufzufinden sind. Machtmissbrauch ist dabei ein eingängiges Mittel, um Hierarchien zu verstärken und Teilnehmer gefügig zu machen. Auch im Spiegel (Interview mit Wolfgang Höbel: „Der Stalinismus lebt in der menschlichen Zellstruktur weiter“, Spiegel, 27.02.2020) wird von körperlichen und psychischen Übergriffen gesprochen, von denen sich der Regisseur jedoch distanziert.
18 Ingrid Stapf und Almut Rademacher, „Das Prinzip Voyeurismus.“ In Medialisierung und Sexualisierung, hg. von J. C. Aigner et al., 61. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2015.
19 Guy Debord, Die Gesellschaft als Spektakel (Berlin: Edition Tiamat, 1996), 19.
20 George R. Brown, „Voyeurismus“, MSD Manual. Ausgabe für Patienten, letzter Zugriff am 10.06.2020, https://www.msdmanuals.com/de/heim/psychische-gesundheitsstörungen/sexualität-und-sexuelle-funktionsstörungen/voyeurismus.
21 Stella Männer, „Was wir über den sexuellen Kindesmissbrauch in Münster wissen“, Zeit Online, letzter Zugriff am 18.06.2020, https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-06/missbrauchsfaelle-muenster-kindesmissbrauch-taeter-opfer-faq.
22 Sigmund Freud, Drei Abhandlung zur Sexualtheorie (Stuttgart: Reclam, 2010), 38.
23 Stapf und Rademacher, „Das Prinzip Voyeurismus“, 60.
24 Sean O’Shea, Voyeurismus. Psychologie, Ursprung und Motive einer Perversion, (München: Wilhelm Herne Verlag, 1970), 20.
25 Ebd., 30.
26 Adam Czirak, Partizipation der Blicke. Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Perfromance, (Bielefeld: transcript Verlag, 2012), 189.
27 Ebd., 189.
28 Stapf und Rademacher, „Das Prinzip Voyeurismus“, 65.
29 Ebd., 57.
30 Ebd., 60.
31 Ebd., 60.
32 Clay Galvert, Voyeur Nation. Media, privacy, and peering in modern culture (Boulder & Colorado: Westview Press, 2000), 2.
33 Ebd., 4.
34 Ebd., 5.
35 Ebd., 6.
36 Ebd., 7.
37 Ebd., 7.
38 Ebd., 10.
39 Clay Galvert, Voyeur Nation, 55.
40 Clay Galvert, Voyeur Nation, 57.
41 Ebd., 58.
42 Angela Keppler, „Ein Blick auf Tod und Sterben in Film und Fernsehen“. Vortrag bei Tod und Sterben in den Medien, Berlin/Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft, September 2018.
43 Galvert, Clay, Voyeur nation, 65.
44 Stapf und Rademacher, „Das Prinzip Voyeurismus,“ 57.
45 Erika Fischer-Lichte, „Ästhetische Erfahrung.“ In Metzler Lexikon Theatertheorie, hg. von ders., Doris Kolesch, Matthias Warstat, 98-105. Stuttgart & Weimar: Verlag J. B. Metzler, 22014 2005.
46 Erika Fischer-Lichte, „Ästhetische Erfahrung,“ 104.
47 Ebd., 101.
48 Der Ethnologe Victor Turner beschreibt die liminalen Phasen, die Schwellenzustände als eine Form des Dazwischen-Seins, welches er in Strukturen von Ritualen ausfindig machte. Der Rezipierende erlebt dabei drei Phasen: In der sogenannten Trennungsphase wird er aus seinem „sozialen Milieu entfremdet, um in der „Schwellen- oder Umwandlungsphase“ in einen Moment des „betwixt and between“ gebracht zu werden. Wie Turner, so postuliert auch Erika Fischer-Lichte den Terminus ‚betwixt and between’ für das Theater. Nach dem Moment des Dazwischens folgt die sich anschließende Angliederungsphase, die nach Beendigung der Performance, als offener Raum, als Moment der Erkenntnis und Wahrnehmungsveränderung gesehen werden kann, vgl. Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, (Frankfurt & New York: Campus Verlag, 2009)
49 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2004), 332-350.
50 Ursula Brandstätter, „Ästhetische Erfahrung.“ In Kulturelle Bildung Online, letzter Zugriff am 29.06.2020, https://www.kubi-online.de/artikel/aesthetische-erfahrung.
51 Ebd.
52 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, 332.
53 Thomas Bo Nilsson, „Betreutes Leben: Screenshots der Chatverläufe“, letzter Zugriff am 19.05.2020, https://www.dropbox.com/. Da die Performance Betreutes Leben selbst nicht besucht wurde, wird die Analyse mit Hilfe von Inszenierungsmaterial vorgenommen, die der Regisseur Thomas Bo Nilsson für diese Arbeit zur Verfügung gestellt hat. Der Dropbox Link beinhaltet neben Fotografien der Inszenierung, eine Konzeptskizze, einen Blogbeitrag eines unbekannten Autors über das Stück, Musik, die während der Performance lief sowie knapp 1000 Screenshots, die die Chatverläufe während der Performance dokumentieren.
54 George Rodosthenous, „Introduction: Staring at the Forbidden. Legitimizing Voyeurism.“ In Theater as voyeurism. The pleasures of Watching, hg. von ders., 1-25. Basingstoke & Hamsphire: Palgrave 2015.
55 Ebd.
56 David Shearing, „intimacy, Immersion and the Desire to Touch. The Voyeur Within.“ In Theatre as Voyeurism. The pleasures of Watching, hg. von George Rodosthenous,71-87. Basingstoke & Hamsphire: Palgrave 2015.
57 Rodosthenous, „Staring at the Forbidden“, 6.
58 Ebd., 7.
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