Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Christine de Pizan im Kontext ihrer Zeit
2.1 Zur Vita
2.2 Bildung und Geschlechterdifferenz im Spätmittelalter
2.3 Weiblicher Lebenszusammenhang im Spätmittelalter
3. Die Wurzeln spätmittelalterlicher misogyner Anthropologien
3.1 Das Denken in Gegensätzen
3.2 Exegetische Traditionen
3.3 Die Säftelehre
4. Weibliche Anthropologie in Christine de Pizans « Livre de la Cité des Dames »
4.1 Die drei allegorische Frauenfiguren und ihre Funktion innerhalb der ,,Stadt der Frauen"
4.2 Der Bau der ,,Stadt der Frauen"
4.3 Utopiegehalt und der Entwurf einer neuen weiblichen Anthropologie
5. Fazit
1. Einleitung
In der vorliegenden Arbeit möchte ich mich mit dem wichtigsten Werk Christine de Pizans (1365-1430), ihr ,,Livre de la Cité des Dames", hinsichtlich seines Entwurfes einer weiblichen Anthropologie und seines utopischen Gehalts auseinandersetzen. Die Frage, die sich dabei nicht zuletzt stellt, ist die nach der Aktualität eines Werkes, das heute fast 600 Jahre alt ist.
Das Interesse an dieser bemerkenswerten Frau und ihrem umfangreichen Werk ist erst in den letzten Jahren wieder erwacht, nachdem sie lange Jahre - z.T. mit dem Ruf als Vielschreiberin abgestempelt - unbeachtet geblieben war. Bis ins 18. Jh. hinein war Christine de Pizan eine beliebte und vielgelesene Autorin, die hohen Auflagezahlen ihrer Werke lassen diesen Schluss zu. Danach geriet sie in Vergessenheit, bis die Frauenforschung der 70er Jahre Christine de Pizan langsam wiederentdeckte. Übersetzungen ihrer wichtigsten Werke ins Deutsche sind erst in den letzten 15 Jahren erschienen.
In ihrem ,,Livre de la Cité des Dames" von 1405 beschäftigt sich Christine de Pizan mit der Frage nach dem Wert und den Fähigkeiten der Frau sowie ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft im allgemeinen und der gegenüber dem Mann im besonderen. Das Buch, welches unmittelbar im Anschluss an den Literaturstreit um den zweiten Teil des ,,Roman de la Rose" von Jean de Meung erschien, gilt heute als Auslöser und Basis der Querelle des Femmes.1
Zum Verständnis des Werkes ist es an einigen Stellen wichtig, sich den historischen Kontext des ausgehenden Mittelalters vor Augen zu führen. Deshalb stelle ich dem Kernstück der Arbeit eine kurze Zusammenfassung der Vita Pizans sowie des (weiblichen) Lebenszusammenhanges im Spätmittelalter voran, die jedoch nicht Anspruch auf Vollständigkeit erheben will, sondern sich vielmehr als eine Art Schlaglicht versteht, das es dem Leser erleichtern will, sich jene Zeit vor Augen zu führen.
Um die Leistung Christine de Pizans würdigen zu können, müssen die Wurzeln neuzeitlicher misogyner Anthropologien aufgedeckt werden. Mit diesen Wurzeln beschäftigt sich das dritte Kapitel der Arbeit, woran sich der Hauptteil dieser Arbeit anschließt, welcher die eingangs formulierte Fragestellung eingehend untersuchen wird.
2. Christine de Pizan im Kontext ihrer Zeit
2.1 Zur Vita
Christine de Pizan wurde 1365 in Venedig als Tochter des Arztes und Astrologen Tommaso di Benvenuto da Pizzano geboren. Über Christines Mutter ist nur wenig bekannt, sie war die Tochter eines Freundes und Arbeitskollegen ihres Mannes.2
Der als Wissenschaftler hoch geschätzte Tommaso di Benvenuto wird 1365 an den Hof des französischen Königs Karl V. gerufen, seine Familie folgt ihm drei Jahre später nach.
Christines Vater und seine Frau scheinen über die Erziehung der Tochter grundsätzlich unterschiedlicher Auffassung gewesen zu sein. So schildert Christine in ihrem Werk ,,Livre de la Cité des Dames":
,, Dein eigener Vater, ein bedeutender Naturwissenschaftler und Philosoph, glaubte keineswegs, das Erlernen einer Wissenschaft gereiche einer Frau zum Schaden; wie du weißt, machte es ihm große Freude, als er deine Neigung für das Studium der Literatur erkannte. Aber die weibliche Meinung deiner Mutter, die dich, wie es für Frauen gemeinhin üblich ist, mit Handarbeiten beschäftigen wollte, stand dem entgegen." (Stadt der Frauen, S. 185)
Ebenso wie die Förderung durch den Vater wird das Leben im kulturellen und intellektuellen Umfeld des Königshofes und des französischen Hochadels in nicht zu unterschätzender Weise Christines geistige Entwicklung geprägt haben.
1380 heiratet Christine den um zehn Jahre älteren Etienne du Castel, der am Hof als Notar und königlicher Sekretär angestellt ist. Aus dieser Ehe gehen drei Kinder hervor. Christine selbst beschreibt ihre Ehe als ausgesprochen glücklich.3
Im gleichen Jahr noch stirbt Karl V., der den Tommasos sehr wohlgesonnen zu sein schien, woraufhin sich die Lage der beiden Familien kontinuierlich verschlechtert. 1387 stirbt Christines Vater, drei Jahre später ihr Ehemann. Von nun an hat Christine für ihre drei Kinder, ihre Mutter sowie eine mittellose Nichte zu sorgen. Vermutlich arbeitet Christine zunächst als Schreiberin, um die Familie über Wasser zu halten, bis sich ab 1395 ihre ersten Erfolge als Schriftstellerin einstellen. Bis 1418 entsteht ein sehr umfangreiches Werk, danach und bis zu ihrem Tode 1430, über dessen Umstände nichts bekannt ist, verschwindet Christine weitgehend von der öffentlichen und literarischen Bildfläche.4
2.2 Bildung und Geschlechterdifferenz im Spätmittelalter
Christine de Pizan lebte zur Zeit des Renaissance-Humanismus, in einer Zeit, in der Weltbilder und Anthropologien des Mittelalters gravierende Änderungen erfuhren.
Die bisherige teleologische und transzendentale Ontologie wich einer wesentlich gegenwartsbezogeneren Seinsbestimmung, welche die Fülle der menschlichen Möglichkeiten und damit das Werden in den Vordergrund stellte. Individualität wurde wichtig, der Mensch erfuhr und konstituierte sich in der Relation zu anderen Menschen.
In dem damit verbundenen neuen Geschichtsbewusstsein gewann der Einzelne als exemplum in seiner Individualität unmittelbar an Bedeutung. Bildung und Gelehrsamkeit galten als Grundlage für sittliches und tugendhaftes Handeln. Die mit diesen Eigenschaften verbundene öffentliche Anerkennung stellte Erziehung und Bildung ins Licht der Allgemeinheit - Erziehung und höhere Geistesbildung traten aus der Abgeschiedenheit der Klöster heraus und wurden zum gesellschaftlichen Ereignis. Eigenschaften wie Selbstbeherrschung, Wohlwollen und Menschlichkeit galten als Grundlagen für Bildungsfähigkeit und waren daher ebenso hoch angesehen wie diese selbst. Aus der Vereinigung von Gelehrsamkeit, Sittlichkeit und Religiosität sollte der ,,gute Mensch" hervorgehen.5
Zwar sind zur Zeit Christine de Pizans diese Ideen noch sehr jung und erst in ihrer Entwicklung begriffen, trotzdem ist der neue Zeitgeist und die Möglichkeiten, die er mit sich führt, in Hinblick auf Christine de Pizan nicht zu vernachlässigen.6 Die gesamte Querelle des Femmes ist auf der Folie der veränderten Rahmenbedingungen in der Renaissance zu betrachten, die eine solche Auseinandersetzung überhaupt erst ermöglichten. Die neu entstehenden Universitäten proklamierten zwar zum großen Teil noch Ansichten aus dem sich verabschiedenden Mittelalter, aufgrund der neuen Bildungsideale entstand jedoch eine breitere gebildete Bürgerschicht, welche die Grundlage für die sich entfesselnde Diskussion bildete.
Das Erziehungsideal jener Zeit beschränkt sich auf die männlichen Mitglieder der Gesellschaft, Frauen sind nicht angesprochen. Dennoch setzt sich langsam die Vorstellung durch, dass auch den Mädchen ein Mindestmaß an Bildung und Erziehung zukommen sollte - ausgehend von der Überlegung, dass Bildung die Tugend fördert. Das weibliche Bildungsprogramm war jedoch nur Ausschnitt aus dem männlichen humanistischen Gesamtstudium und stets an den Tugendbegriff sowie den Anspruch nach einer besonderen Religiosität der Frau geknüpft - die Frau sollte durch Bildung zu Frömmigkeit, Sittlichkeit und Tugendhaftigkeit angehalten werden. Meist endete das Studium der Frau - sofern es denn überhaupt gegeben war - mit dem Eintritt in die Ehe, also in der Regel zwischen dem 15. und 17. Lebensjahr.7
2.3 Weiblicher Lebenszusammenhang im Spätmittelalter
Für die mittelalterliche Frau gab es - abgesehen vom mehr oder weniger abgeschiedenen Klosterleben - zu Ehe und Familie kaum eine Alternative. Die Gesellschaft ordnete ihr einen Platz an der Seite eines Mannes zu, dem sie sich als ihr Gebieter prinzipiell zu fügen hatte. Dieses Lebensmodell, so erschreckend und fremd es heute erscheinen mag, hatte jedoch auch seine positiven Seiten.8
Zunächst fand sich jede Ehefrau als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft der verheirateten Frauen wieder. Diese Gemeinschaft fungierte als soziales Netz, man half sich gegenseitig, z.b. bei Geburten, und konnte sich seiner gesellschaftlichen Stellung sicher sein. Die Kehrseite ist sicherlich die soziale Kontrolle, die auf diese Weise zustande kam.
Die problematische gesellschaftliche Stellung einer Frau mit unehelichen Kindern sowie ihre fehlende materielle Sicherheit mag ein weiterer Grund sein, warum auch die Frauen die Institution Ehe selbst so, wie sie sich darstellte, nicht weiter angriffen, sondern sich diesem System fügten. Die hierarchische Ordnung zwischen Mann und Frau musste nicht notwendig männliche Tyrannei nach sich ziehen. Viel zu oft kam dies sicherlich auch vor, andererseits war die klare Verteilung der Zuständigkeiten - die Frau erhielt wenigstens die Schlüsselgewalt im Haushalt - in gewisser Weise dem Hausfrieden nicht abträglich, zumindest solange der Mann seine Vormachtstellung nicht allzu sehr ausnutzte.
Die Festlegung der Frau auf die Mutterrolle - die einzige Berechtigung für eine Ehe war schließlich die Nachkommenschaft - zog im Falle der Kinderlosigkeit eines Paares regelmäßig die Trennung bzw. den Verstoß der Frau nach sich. Der heutzutage nicht seltene Lebensentwurf eines sich bewusst gegen Kinder entscheidenden Paares entzog nach Vorstellungen des Mittelalters einer Ehe ihre Berechtigung, sie war ungültig.9
Abhängig von den Ständen sah der Alltag einer Frau im Mittelalter durchaus sehr verschieden aus. Während die adeligen (Hof-) Damen, von niederer Arbeit entlastet, auch über Freizeit verfügten, mussten Landfrauen und Handwerkersfrauen bei der alltäglichen Arbeit kräftig mithelfen. Die reine Hausarbeit im heutigen Sinne gab es noch nicht, zwischen den Eheleuten herrschte eine Arbeitsteilung, die vielleicht aus heutiger Sicht sogar bemerkenswert erscheinen mag. Die Betonung der Ehefrau in ihrer Rolle als Mutter ist zwar gegeben, jedoch nicht mit heutigen Maßstäben zu messen - dies ergäbe ein Zerrbild der damaligen Verhältnisse.10
3. Die Wurzeln spätmittelalterlicher misogyner Anthropologien
Die frühneuzeitliche Setzung der Ungleichheit von Mann und Frau stützte sich im wesentlichen auf drei Grundpfeiler: den damals gültigen Auffassungen in der Philosophie, der Theologie sowie der Medizin. Auffällig ist in allen Bereichen die Koppelung der jeweiligen Vorstellungen an ein Denken in Gegensatzpaaren, dessen Elemente wiederum mit bestimmten Wertungen verknüpft sind. Im folgenden möchte ich kurz aufzeigen, wie sich diese Denkform entwickelte und welche Folgerungen sie mit sich führte.
3.1 Das Denken in Gegensätzen
Das frühe griechische Denken beruht weitgehend auf einem Prinzip polarer Entgegensetzungen, die dazu dienen, einen übergeordneten Begriff mit Hilfe dieser korrelativen Gegensätze aufzuspannen.11 Dieses Vorgehen findet sich schon bei frühen antiken Autoren wie Homer oder Hesiod. Dabei lassen sich folgende Dichotomien finden12:
Tag und Nacht · das Ganze des Zeitablaufs Wasser und Land · die Erde
Sterbliche und Unsterbliche · die Gesamtheit aller Lebenden
Mann und Frau · alle Menschen
Diese Polaritäten kennzeichnen jeweils die Extreme, die in all ihren zwischengeordneten Abstufungen den übergeordneten Begriff umfassen, welcher sich selbst von seinen Teilen wiederum abhebt.13 Das übergeordnete Ganze entspricht der Spannung, dem Verhältnis zwischen seinen Extremen, die Gesamtheit ergibt sich aus der gegenseitigen Bezogenheit der Elemente. Dies hat zur Folge, dass sich das Eine nicht ohne dem Anderen denken lässt. Jedes Extrem ist immer nur eine Hälfte des Ganzen und kann daher auch in keinem Fall ohne sein Komplement stellvertretend für das Ganze stehen. Unter Hinzunahme des Mittleren lassen sich solche Begriffe auch trichonomisch ausdrücken14. Die einzelnen Elemente lassen sich bei Trichonomien noch wesentlich schwerer mit Wertungen belegen als dies bei Dichonomien der Fall ist, da dem mittleren Aspekt immer auch eine vermittelnde Funktion zukommt.
Diese Trichonomien sind vermutlich die ältere Form solcher Denkstrukturen, die Dreiheit spielt - vermutlich aus Naturbeobachtungen entstanden - in den frühesten Kulturformen eine wesentliche Rolle.15 Die Dreiheit Geburt, Leben, Tod wurde mit dem Kreislauf des Entstehens, Werdens und Vergehens gleichgesetzt:
Oben Mitte Unten
Himmel/ Luft Erde Unterwelt/ Wasser16
zunehmender Mond Vollmond abnehmender Mond
Frühjahr Sommer Winter
Jungfrau Mutter weise Alte
Werden nun die einzelnen Elemente aus ihrem Zusammenhang gerissen und nicht mehr als Aspekte eines übergeordneten Ganzen betrachtet, werden aus den Gegensätzen Ungleichheiten, die sich in Wertfolgen einordnen lassen. Diese positiv oder negativ besetzten Begriffe treten untereinander in Beziehung und bilden neue Gruppierungen:
Licht = Himmel = oben = hoch = weiß = rechts · positiv
Dunkel = Erde = unten = tief = schwarz = links · negativ
Unter Hinzunahme der alten mythologischen Vorstellung vom männlichen Himmel, der mit seinem Regen die mütterliche Erde befruchtet, werden auch Mann und Frau in diese Gruppierungen eingeordnet, wobei das Weibliche mit den negativ assoziierten irdischen Eigenschaften und das Männliche mit den positiv assoziierten himmlischen Eigenschaften in Verbindung gebracht wird.17 Aristoteles setzt diese Wertungen nun in ein Abhängigkeitsprinzip. Die positiv besetzten Begrifflichkeiten werden im aristotelischen Verständnis zum positiven Prinzip, welches als maßgebendes Zentrum gilt, von dem aus alle weiteren Überlegungen angestellt werden. Dessen Gegenteil, die Privation, ist vom Prinzip abgeleitet und damit nicht mehr länger notwendige Ergänzung für ein übergeordnetes Ganzes, sondern nur noch die Negation des positiven Prinzips. Die Privation ist nur aus dem Prinzip heraus erklärbar und damit diesem untergeordnet. Hinzu kommt, dass nun nicht mehr länger beide Seiten notwendig sind, um ein übergeordnetes Ganzes zu repräsentieren, da sich das positive Prinzip selbst zum repräsentativen Ganzen erhebt.18 Diese Auffassung hat hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses deutliche Auswirkungen. Wird der Mann als Prinzip des Menschlichen an sich gesetzt, so ist die Frau die Privation, das Untergeordnete, Minderwertige, da sie nur in Abhängigkeit vom männlichen Prinzip existent ist.
In seiner Zeugungslehre definiert Aristoteles das männliche Prinzip als aktives, gestaltendes und die weibliche Privation als passiv und rezeptiv. Das ,,Prinzip der Bewegung" ist allein für die Zeugung verantwortlich, und da nach Aristoteles jedes immer das ihm Gleiche hervorzubringen versucht, lautet seine Folgerung, dass die Entstehung des weiblichen Geschlechts nur als Ergebnis nicht ausreichender Zeugungskraft anzusehen ist - die Frau als ,,natürliche Verkümmerung", als ,,Fehler der Natur".
Aus diesen Punkten ergibt sich eine ,,natürliche Ordnung" der menschlichen Gesellschaft, die Frau ist dem Mann ethisch und geistig unterlegen, woraus sich der Herrschaftsanspruch des Mannes legitimiert.
3.2 Exegetische Traditionen
In der Auslegung der Schöpfungsgeschichte konnte das misogyne Menschenbild durch die Art der Fragestellung, die unterschiedliche Gewichtung verschiedener Textpassagen und die unhistorische Betrachtungsweise weiter verfestigt werden. Besonders wesentliche Punkte in diesem Zusammenhang waren die Reihenfolge der Erschaffung, das verwendete Material, der Zweck der Erschaffung und die Worte, die Gott an Mann und Frau richtet. Bis zur Renaissance wurden Adam und Eva als de facto erste Menschen angesehen, deren Wesensbestimmungen allgemeingültigen Charakter trugen.
Augustinus geht vom Prinzip eines Gottes als der Eine, Wahre und Absolute aus. Alles weitere sind Privationen Gottes, welche sich hierarchisch ordnen lassen. Da Gott als rein geistiges Prinzip an der Spitze dieser Hierarchie steht, ist der Mann als Erstgeschaffener diesem am nächsten und daher mit mehr Verstand gesegnet als die Frau. Als aus dem Material Adams geschaffenes Wesen ist die Frau nur eine weitere Ableitung aus dem Bild Gottes, als ,,Bild eines Bildes" steht sie daher in größerer Gottesferne als der Mann. Daraus folgert Augustinus, dass die Frau nur zusammen mit dem Mann ,,Ebenbild Gottes" sein kann, während der Mann dies schon für sich alleine ist. Von den dargestellten Schlussfolgerungen her wird der Sündenfall symbolisch unter der Prämisse gedeutet, dass der Mann die Ratio repräsentiert, die Frau dagegen das Sinnlich - Fleischliche19. Begierde und Sexualität jedoch sind Sünde, da sie in ihrer Körperhaftigkeit dem rein geistigen Prinzip Gottes widersprechen. Die Frau in ihrer Gottesferne ist - anders als die ausschließlich nach Höherem strebende männliche Ratio - gefährdet, allzu sehr ins Niedere hineinzuschreiten. Daher muss sie ,,im Zaum gehalten" werden. Ihre einzige Möglichkeit, dieser Falle zu entkommen, ist die totale Abwendung vom Geschlechtlich-Weiblichen. Nur im Zustand der Jungfräulichkeit vermag sie sich auf das Geistige zu richten und die Differenz zum Mann zu verringern. Thomas von Aquin verschmilzt in seinem Frauenbild aristotelische und augustinische Vorstellungen.20 Ebenso wie Aristoteles betrachtet er die Frau als verfehlten Mann ohne eigene Zeugungskraft. Die Seele ist zwar gottgegeben und damit vom männlichen Samen unabhängig, sie kann sich jedoch im weiblichen Körper nicht optimal entfalten, was eine Unterlegenheit der Frau im Denken und Handeln zur Folge hat. Auch die physische Schwäche der Frau ist nach Thomas von Aquin Zeichen verminderter Vernunftfähigkeit. Die naturgegebene Schwäche macht die Frau anfälliger für die Sünde, die sich entsprechend der Erbsündentheorie von Eva auf alle Frauen übertragen hat. Ebenbildlichkeit Gottes kommt der Frau erst im Zustand der Erlösung, also bei der Auferstehung zu.21
Auch die Paulusbriefe mit der hierarchischen Ordnung Gott - Christus - Mann
-Frau lassen die Herleitung eines männlichen Herrschaftsanspruchs zu.22 Die vielen Textpassagen, in denen Paulus die Ebenbürtigkeit von Mann und Frau betont, sind dagegen in dieser Tradition nicht berücksichtigt worden.23
3.3 Die Säftelehre
Die dritte Säule zur Stützung einer von Natur aus patriarchalischen Ordnung bildete die von Galen aufgestellte Säftelehre. Unter Berufung auf Hippokrates unterscheidet Galen in seiner Schrift Ü ber die Natur des Menschen Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle als Grundsäfte des menschlichen Körpers. Der jeweils dominierende Körpersaft ist ausschlaggebend für das Temperament des Menschen (Blut/ Sanguiniker, Schleim/ Phlegmatiker, gelbe Galle/ Choleriker, schwarze Galle/ Melancholiker). Die Temperamente sind bestimmend für die mit ihnen verbundenen Charaktereigenschaften. Der weibliche Körper ist nach Galen kälter und feuchter als der männliche. Als Temperament ordnet er der Frau das phlegmatische zu, welches durch Langsamkeit in Denken und Handeln, schwacher Wille, geringe Gefühlserregbarkeit bei gleichzeitigem Hang zur Völlerei sowie einer schwermütigen Grundstimmung gekennzeichnet ist.
Alles in allem schließt auch Galen auf eine physische und psychischkonstitutionelle Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts24.
4. Weibliche Anthropologie in Christine de Pizans « Livre de la Cité des Dames »
Die folgende Darstellung beschränkt sich auf das bedeutendste der drei Hauptwerke, welches Christine de Pizan direkt im Anschluss an den Literaturstreit um den ,,Roman de la Rose" schrieb: ihr ,,Livre de la Cité des Dames"25 (1405).
4.1 Die drei allegorischen Frauenfiguren und ihre Funktion innerhalb der
« Stadt der Frauen »
Das Werk ist unterteilt in drei Bücher und aufgebaut als ein Dialog, den die Hauptperson Christine26 mit drei weiteren Personen - den allegorischen Verkörperungen der drei Tugenden Vernunft (raison), Rechtschaffenheit (droiture) und Gerechtigkeit (justice) - führt.
Zu Beginn des Werkes wird geschildert, wie Christine angesichts der Einstimmigkeit misogyner Literatur in einen Zustand lähmender Traurigkeit verfällt, die einhergeht mit destruktivem Selbstzweifel und Lethargie. Sie beginnt, die misogynen Positionen anzunehmen und sich mit den fremdbestimmten, weiblichen Eigenschaften zu identifizieren. Schließlich überwältigt sie, mit Gott hadernd, der Wunsch, ein Mann zu sein.27 In diesem Zustand erscheinen die drei allegorischen Frauengestalten28, um Christine aus ihrer Depression zu holen. Sie verweisen sie auf ihre verlorengegangene Urteilskraft und die Gewissheit der eigenen Seinserfahrung.29 Frau Vernunft macht Christine auf ihre Autoritätsgläubigkeit aufmerksam und fordert sie auf, misogyne Schriften kritisch zu hinterfragen und auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Die Verwunderung und Scheu, die Christine angesichts der Frauen ergreifen, sind Haltungen, die seit den Griechen als Vorraussetzungen des Philosophierens gelten, sie verweisen hier auf Christines neu erwachendes Selbstbewusstsein.30
Die drei Frauen fordern Christine auf, mit ihrer Hilfe eine Stadt der Frauen zu errichten31,
,,um künftig allen hochherzigen und rechtschaffenen Frauen einen Ort der Zuflucht, eine umfriedete Festung gegen die Schar der boshaften Belagerer zu bieten... Bewohnen sollen es ausschließlich berühmte und vornehme Frauen, ferner solche, die es verdienen, gepriesen zu werden." (Stadt der Frauen, S. 42)
Eine Analyse der bestehenden Verhältnisse führt zu der Erkenntnis, wie diese überhaupt zustande kommen konnten: ,,Allzu lange schon stehen die edlen Frauen ganz allein... Von Rechts wegen hätten sie eigentlich die Edelleute verteidigen müssen, aber sie haben es aus Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit geduldet, dass man mit den Frauen übel umsprang... Welcher noch so eindeutig zu entscheidende Streitfall würde, bei Abwesenheit der Gegenpartei, nicht von demjenigen gewonnen, der den Prozess ohne Gegenspieler führt? Die Frauen, gutmütig und ohne Falschheit, haben das göttliche Gebot der Langmut befolgt und gelassen die schweren Beschimpfungen erduldet, die ihnen in Rede und Schrift, völlig zu Unrecht, zugefügt wurden." (Stadt der Frauen, S. 42)
Bereits hier wird das Wesen der Frau durch ausschließlich positive Eigenschaften bestimmt, deren Handlungsweise mit Gottes Geboten in Einklang steht. Christine erhebt sich zur Anwältin der Frauen, da diese nicht mehr länger auf den Schutz der Edelleute zählen können. So wird es Zeit, dass die Frauen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen - der Fremdbestimmung soll die Selbstbestimmung weichen.32
Das Material, aus dem die Stadt erbaut werden soll, ist von besonderer Qualität. Der Ort der Frauenstadt ist das Feld der Literatur, errichtet wird sie auf den Fundamenten der Vernunft und die Bausteine sind Beispiele besonders tugendhafter und vorbildlicher Frauen: ,,Daraufhin antwortete Frau Vernunft und sprach: ,Jetzt fangt an, Tochter. Lass uns, ohne noch mehr Zeit zu verlieren, hinaus aufs Feld der Literatur gehen: dort soll die Frauenstadt auf einem fetten und fruchtbaren Boden errichtet werden, dort, wo alle Früchte wachsen, sanfte Flüsse fließen und die Erde überreich ist an guten Dingen jeglicher Art. Nimm die Spitzhacke deines Verstandes, grabe tief und hebe überall dort einen tiefen Graben aus, wo mein Lot es dir anzeigt: ich werde dir mit meinen eigenen Schultern helfen, die Erde fortzuschaffen.' " (Stadt der Frauen, S. 48)
Auf den folgenden Seiten stellen die drei Frauen sich selbst und die Art ihrer Hilfeleistung bei dem Aufbau der Frauenstadt vor.
Zunächst spricht Frau Vernunft (Dame Raison) zu Christine: ,,Und weil es mir obliegt, allen ihre eigenen Pflichten und Verwirrungen in aller Deutlichkeit zu zeigen... siehst du mich statt eines Szepters diesen funkelnden Spiegel in meiner Rechten halten... niemand... spiegelt sich darin, ohne zu einer klaren Erkenntnis seiner selbst zu gelangen." (Stadt der Frauen, S. 41)
,,Nach unser dreier Ratschluss bin ich damit beauftragt, den Anfang zu machen und dich mit haltbarem, unverfälschten Mörtel zu versehen, damit ein solider Grund gelegt wird, dann um sie herum starke Mauern zu ziehen, hoch, breit, bestückt mit starken Türmen und wehrhaften Kastellen mit Gräben, richtigen Bollwerken, mit eben allem, was zu einer stark und dauerhaft befestigten Stadt gehört." (Stadt der Frauen, S. 44)
Jede Figur hält einen Gegenstand in ihrer Rechten, der als eine Art Szepter ihre Macht unterstreicht und zugleich sinnbildlich das Wesen der entsprechenden Figur näher kennzeichnet. Frau Vernunft ist ausgestattet mit einem Spiegel als Sinnbild der Selbsterkenntnis, die demnach nur mit dem Mittel der vernunftvollen (Selbst-) Reflektion erfolgen kann. Bei dem Bau der Stadt legt die Vernunft die Fundamente und errichtet alle Verteidigungsanlagen. Grundlage aller Versuche, misogynen Anfechtungen entgegenzutreten, muss somit gleichfalls die Vernunft und ein vernunftmäßiges Denken sein. Die zweite Dame ist Frau Rechtschaffenheit (Dame Droiture33 ).
,,Meine Bleibe ist eher im Himmel als auf Erden. Aber als Strahl und Abglanz Gottes, als Botin seiner Güte, verkehre ich mit den gerechtigkeitsliebenden Menschen und halte sie dazu an, das Gute zu tun. Ich bin der Schild und die Hilfe der
Gefolgsleute Gottes; ich schiebe der Macht und dem Einfluss der Bösen einen Riegel vor." (Stadt der Frauen, S. 44f.) ,,Dieses funkelnde Lot... ist die gerechte Regel, die Recht vom Unrecht trennt und den Unterschied zwischen Gut und Böse anzeigt: wer ihr folgt, geht nie fehl... Dieses Lot zeigt allen Dingen ihre Grenze an... Wisse außerdem, dass es dir behilflich sein wird, die Berechnungen für den Bau der Stadt... anzustellen. Du wirst es sehr wohl gebrauchen können, um das Innere der genannten Stadt zu konstruieren... Meine Aufgabe ist es, dir beizustehen." (Stadt der Frauen, S. 45)
Zwei Punkte werden hier augenfällig, die dem heutigen Rezipienten nicht so selbstverständlich erscheinen mögen wie einem Zeitgenossen Pizans. Zum einen fällt die betonte Trennung von Gut und Böse auf, die eng mit dem spätmittelalterlichen Tugendbegriff einhergeht, zum anderen springt die Berufung auf das Christentum sowie der Glaube an den einen Gott als Maßstab aller Dinge ins Auge. Die Rechtschaffenheit findet ihren Ursprung unmittelbar in Gott und dient als Richtschnur für ein gottgefälliges Leben. Sie trennt Gut und Böse - nur durch sie ist eine Unterscheidung dessen, was richtig und in Gottes Sinne ist, von dem, was falsch, Sünde und vom Teufel ist, überhaupt möglich.
Dementsprechend ist ihr Szepter ein Lot, welches die Unterscheidung von Gut und Böse vornimmt. Dieses Lot soll dazu dienen, die Berechnungen für den Bau der Frauenstadt anzustellen und deren Inneres zu konstruieren. Während also die Vernunft die Basis liefert, gegen misogyne Argumentationen vorzugehen, muss Rechtschaffenheit - auch im Sinne der Gottgefälligkeit - das Maß bieten, an dem die eigenen Positionen gemessen werden, um unanfechtbar zu sein. Erst wenn die eigenen Argumente der Prüfung durch die Rechtschaffenheit standgehalten haben, sind sie geeignet, die eigene Sache - die Verteidigung der Frauen - zu vertreten.
Die letzte Figur stellt sich als Frau Gerechtigkeit (Dame Justice) vor. Diese
Figur nimmt ,,eine Sonderstellung unter allen Tugenden ein, weil sich alle auf mich beziehen." (Stadt der Frauen, S.46) Hier wird auch deutlich, wie eng die drei allegorischen Figuren miteinander verknüpft sind:
,,Wir, die drei vornehmen Frauen, die du hier siehst, sind wie ein einziges Wesen, denn die eine kommt nicht ohne die andere aus; was die erste verfügt, ordnet die zweite an und setzt es in Gang, und dann führe ich es weiter und bringe es zum Abschluss." (Stadt der Frauen, S. 46)
Bereits vorher wiesen sich die drei als Töchter Gottes aus, und in Zusammenhang mit der soeben zitierten Textstelle ist die Ähnlichkeit zur Dreieinigkeit Gottes auffallend. Die drei Frauen bilden ein einziges Wesen, bei der keine ohne die anderen gedacht werden kann.
,,Ich bin Gerechtigkeit, die einzigartige Tochter Gottes, deren Wesen in Ihm seinen unmittelbaren Ursprung besitzt. Mein Aufenthaltsort ist der Himmel, die Erde und die Hölle... Ich bin in jeder Hinsicht unnachgiebig...Meine einzige Aufgabe besteht darin, zu urteilen, zu schlichten und Frieden... zu stiften Ich bin in Gott, Gott ist in mir, und wir sind wie Eins. Wer mir folgt, kann nicht fehlen, denn mein Weg ist sicher. Ich lehre jeden vernunftbegabten Mann und jede vernunftbegabte Frau... zunächst sich selbst zu bessern, zu erkennen und sich wieder in die Gewalt zu bekommen." (Stadt der Frauen, S. 46) ,,Diese Waagschale aus feinem Gold... hat Gott, mein Vater mir gegeben; sie dient dazu, einem jeden das ihm Zukommende zu bemessen. Sie trägt das Zeichen der Lilie der Dreieinigkeit." (Stadt der Frauen, S. 46)
Hier erfährt die Trennung von Gut und Böse eine weitere Steigerung. Während die Rechtschaffenheit eine in Gott begründete Richtschnur für menschliches Handeln darstellt, definiert sich die Gerechtigkeit als unmittelbar aus Gott entstammend. Sie steht damit in größerer Menschenferne als die Rechtschaffenheit, die in einen Dialog mit dem Menschen tritt, indem sie ihm als Richtschnur dienen will. Die Gerechtigkeit hingegen urteilt und richtet über den Menschen in einer für den Menschen vielleicht nicht immer einsichtigen Art und Weise. So lässt sich die Gerechtigkeit z.b. nicht durch Mitleid überzeugen34, wohingegen Mitleid für den Menschen in seiner Handlungsweise wesentlicher Faktor sein sollte. Urteilssprüche im Sinne der absoluten Gerechtigkeit darf sich der fehlende und zu Selbstgerechtigkeit neigende Mensch nicht anmaßen, da diese nie - d.h. auch im wohlgesonnensten Fall nicht - gerecht sein können.
,,Niemand kann sich über mein [der Gerechtigkeit, Anm. d.
Verf.] Maß beklagen. Aber die Menschen auf der Erde benutzen andere Maße, von denen sie zu Unrecht behaupten, diese hingen mit meinem zusammen und stammten von ihm ab. So manches Maß messen sie in meinem Namen, aber nie ist ihr Maß gerecht, sondern stets für die einen zu groß und zu klein für die anderen." (Stadt der Frauen, S. 46)
Frau Gerechtigkeit repräsentiert also die göttliche Gerechtigkeit mit der richtenden Waagschale als Szepter, die das Zeichen der göttlichen Trinität trägt. Die Gerechtigkeit schließt den Bau der Frauenstadt ab.
,,Meine Aufgabe wird es sein, die hohen Dächer der Türme, der vornehmsten Wohnstätten und Gebäude zu errichten, die aus feinem, leuchtenden Gold bestehen sollen. Des weiteren werde ich deine Stadt mit würdigen Bewohnerinnen bevölkern und mit der vornehmen Königin, die ich dir zuführe und der die höchste Ehre und der höchste Rang unter den vornehmsten Frauen gebührt. Auf diese Weise will ich, mit deiner Hilfe, die Erbauung deiner Stadt zu einem Abschluss bringen... und ganz zum Schluss werde ich dir die Schlüssel aushändigen." (Stadt der Frauen, S. 46)
Die göttliche Gerechtigkeit kündigt hier bereits an, dass sie die errichtete Stadt für gut befinden wird. Der Stadt vorstehen wird die Gottesmutter, die Jungfrau Maria, ein weiterer Verweis auf das Wohlgefallen Gottes gegenüber dieser Stadt.
Im übertragenen Sinne heißt das, dass die Argumente, die in der Vernunft des Menschen ihre Basis haben und mit Hilfe der Rechtschaffenheit auf ihre Tauglichkeit hin überprüft wurden, immer auch im Sinne Gottes sind und vor der göttlichen Gerechtigkeit bestehen können.
4.2 Der Bau der « Stadt der Frauen »
Das Ausheben der Fundamente im ersten Buch der ,,Stadt der Frauen" symbolisiert das Ausräumen verachtender Vorurteile gegenüber dem Frausein mit Hilfe der Vernunft, also vernunftvollen Überlegungen und Schlussfolgerungen.
Zunächst werden die möglichen Motive untersucht, die Männer dazu bewegen könnten, Frauen so zu verleumden. Damit zeigt Pizan, dass diese Anschuldigungen nicht der Wahrheit entsprechen müssen, sondern ganz anders motiviert sein können.
Anschließend widerlegt die Vernunft alle misogynen Anschuldigungen. Gegen die misogyne Ausdeutung der Schöpfungsgeschichte werden Ort der Erschaffung, Material, Name und Reihenfolge der Erschaffung angeführt und aus diesen Punkten letztlich eine Überlegenheit des weiblichen Wesens abgeleitet, was jedoch nur dazu dienen soll, die Gleichwertigkeit der Frau umso wahrscheinlicher zu machen - ein in der Rhetorik jener Zeit häufig genutztes Mittel, seiner Position eine verstärkte Glaubwürdigkeit zukommen zu lassen. Die Schuldfrage im biblischen Sündenfall wird aufgehoben durch die Gnade Mariens:
,,Und wenn jemand vorbringen will, er sei wegen einer Frau, wegen Frau Eva, aus dem Paradies vertrieben worden, so sage ich, dass er dank der Jungfrau Maria eine weit höhere Stufe erreicht hat als den Zustand, den er durch Eva verlor, und zwar indem sich die Menschheit mit der Gottheit verbunden hat; dies wäre ohne Evas Missetat nie eingetroffen. Vielmehr sollte man Mann und Frau wegen dieses Fehltritts loben, aus dem eine solche Ehre erwachsen ist. Denn so tief auch die menschliche Natur aufgrund ihres kreatürlichen Elements fiel, um so höher erhob sie der Schöpfer." (Stadt der Frauen, S. 56)
Demnach war der Sündenfall sogar ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der (christlichen) Menschheit und ihrer Beziehung zu Gott, da der Sündenfall die Menschwerdung Gottes in Christi notwendig nach sich zog, wodurch die Gott-Mensch-Beziehung enger und intensiver wurde.
Ebenbildlichkeit Gottes zeigt selbstverständlich auch die Frau. Mit dieser Feststellung grenzt sich Pizan klar von der männlichen Theologie ab: ,,Sie wurde nach dem Bilde Gottes erschaffen... wenn die Rede davon ist, dass Gott den Mann nach seinem Bilde geschaffen hat, so sind manche töricht genug zu glauben, dies bezöge sich auf den wirklichen Körper... vielmehr ist darunter die Seele zu verstehen, die das oberste geistige Prinzip ist und, darin der Göttlichkeit gleich, alle Zeiten überdauern wird. Diese schuf Gott und versah den weiblichen Körper mit einer ebenso guten, edlen und in jeder Hinsicht gleichwertigen Seele wie den männlichen." (Stadt der Frauen, S. 55)
Daraus folgt, dass Körper und biologisches Geschlecht nicht ausschlaggebend sind hinsichtlich der Wertigkeit von Mann und Frau. In der Seele, im obersten geistigen Prinzip, sind Mann und Frau gleichwertig. Somit kann die Frau nicht von Geburt aus dem Manne unterlegen oder gar minderwertig sein:
,,Derjenige, der einen höheren Grad der moralischen Vollkommenheit besitzt, ist der Höhergestellte; nicht im Körper und im Geschlecht ist die Überlegenheit oder Niedrigkeit von Menschen begründet, sondern in der Vollkommenheit der Sitten und der Tugenden." (Stadt der Frauen, S. 56)
Die seelische Gleichwertigkeit beider Geschlechter wird um geistige Qualitäten erweitert. Nach Pizan sind Frauen den Männern auch hinsichtlich ihrer Intelligenz gleichwertig, wenn nicht sogar in gewissen Bereichen überlegen:
,,Je stärker die Frauen den Männern an Körperkraft unterlegen, je schwächer und je weniger geschickt sie zu gewissen Dingen sind, desto größere Klugheit und desto mehr Scharfsinn entfalten sie überall dort, wo sie sich wirklich ins Zeug legen." (Stadt der Frauen, S. 94)
Die geringere physische Stärke der Frauen wird ausgeglichen durch geistige Fähigkeiten. Dementsprechend kritisiert Pizan im Anschluss an diese Überlegungen das Bildungssystem ihrer Zeit, zu dem Frauen so gut wie keinen Zugang hatten. Wenn Frauen an Intelligenz den Männern in nichts nachstehen, so ist es nicht einsichtig, weshalb Frauen von den Bildungseinrichtungen ausgeschlossen werden.
,,Wenn es üblich wäre, die kleinen Mädchen eine Schule besuchen und sie im Anschluss daran, genau wie die Söhne, die Wissenschaften erlernen zu lassen, dann würden sie genauso gut lernen und die letzten Feinheiten aller Künste und Wissenschaften ebenso mühelos begreifen wie jene." (Stadt der Frauen, S. 94)
Auch hier unterzieht Pizan die bestehenden Verhältnisse einer Ursachenanalyse. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die mangelnde Bildung, die den Frauen zukommt, Ursache für die offensichtliche Diskrepanz zu dem Wissensstand der Männer ist und nicht, wie von männlicher Seite behauptet, weibliche Bildungsunfähigkeit. Mit dem Argument, Frauen seien nicht in der Lage, geistige Leistungen zu erbringen, wurden Frauen vom Bildungssystem ausgeschlossen - ohne zu erkennen, dass hier Ursache und Wirkung vertauscht worden sind.
Auf den folgenden Seiten wird den Frauen allgemeine Lebensklugheit - der gesunde Menschenverstand -, die sich in den täglichen Bemühungen der Frauen um das Wohlergehen ihres Hausstandes zeigt, zugesprochen, sowie an verschiedenen Beispielen aus der Geschichte, der Mythologie und der christlichen Religion gezeigt, dass Frauen mit innovativen Erneuerungen und Erfindungen zur Entwicklung der menschlichen Zivilisation Großes geleistet haben.35
Damit sind die Fundamente einer weiblichen Identität gelegt und die Mauern zur Abgrenzung gegen Fremdbestimmung errichtet.
Im zweiten Buch der ,,Stadt der Frauen" gestaltet Frau Rechtschaffenheit nun den Innenraum der Frauenstadt. Hier wird die Problematik des sittlichen, moralischen Handelns beleuchtet, zu dem nach Pizan Frauen ebenso befähigt sind wie die Männer. Argumente, die der Frau ihre Sittlichkeit absprechen wollen, werden von ihr widerlegt, indem Pizan moralisches Handeln mit vernunftvollem Handeln gleichsetzt - und dass Frauen vernunftvolle Wesen sind, hat sie ja bereits im ersten Buch gezeigt. Auch diese Beweisführung wird mit vielfältigen Beispielen untermauert36: Töchter, die im Vergleich zu den Söhnen eine größere Elternliebe an den Tag legten, Frauen, die sich durch Liebe und Treue ihren Ehemännern gegenüber auszeichneten, Beispiele weiblicher Verschwiegenheit, Weisheit und Keuschheit37. Auch der Trugschluss, dass weibliche Schönheit unvereinbar mit Tugendhaftigkeit sei, wird von Pizan anhand vor allem biblischer Beispiele widerlegt. Schließlich fragt sich Christine, weshalb sich die Frauen denn nie gegen die Verleumdungen der Männer gewehrt haben:
,,Wie konnten es all diese großartigen Frauen, die es gegeben hat und die so weise und so gebildet, die des Schreibens mächtig und sogar in der Lage waren, schöne Bücher zu verfassen, wie konnten diese Frauen es so lange widerspruchslos hinnehmen, dass alle möglichen Männer so viele Scheußlichkeiten über sie verbreiteten - schließlich wussten sie nur allzu gut, dass man ihnen damit ein gewaltiges Unrecht zufügte?" (Stadt der Frauen, S: 215)
Frau Rechtschaffenheit antwortet darauf: ,,Dem zuvor Gesagten kannst du entnehmen, dass jede der edlen Frauen, von deren hervorragenden Eigenschaften ich dir erzählt habe, isoliert, für sich allein war und auf ganz verschiedenen Gebieten ihren Verstand einsetzte, dass sie sich jedoch niemals gemeinsam einer einzigen Sache widmeten... bislang wurden höchstens von klugen und gerecht urteilenden Männern die Werke der Frauen in angemessener Weise gelobt, ohne dass die Frauen selbst ein Buch über diese Dinge verfasst hätten."
Damit ist die Aufgabe definiert, welche der Stadt der Frauen zukommen soll. Die Frauenstadt versammelt alle tugendhaften und vorbildlichen Frauen, um geeint und damit umso stärker gegen misogyne Anschuldigungen vorgehen zu können. Diese Einheit, welche den Frauen bisher fehlte, wird in der
Frauenstadt in der Verknüpfung einzelner Zeugnisse zu einer ganzheitlichen weiblichen Tradition geschaffen. Damit wird ein neues weibliches Selbstbewusstsein proklamiert, das sich von männlichen Traditionen absetzt und sich auf eine eigenständige Tradition beruft.
Im dritten und letzten Buch der ,,Stadt der Frauen" vollendet Christine mit Hilfe der Gerechtigkeit den Bau der Frauenstadt. Die mit ehrenvollen und tugendhaften Frauen bevölkerte Stadt empfängt ihre Königin, die Jungfrau Maria.
,,Wir begrüßen Dich, oh Himmelskönigin, mit dem Gruß des Engels... Das gesamte fromme Geschlecht der Frauen bittet Dich untertänigst, es möge Dir nicht widerstreben, aus Gnade und Barmherzigkeit in seiner Mitte zu verweilen, als seine Verteidigerin, Beschützerin, als sein Schild gegen die Angriffe der Feinde und der Welt... Nun steige herab zu uns, Du himmlische Königin, Tempel Gottes, Hort der Dreifaltigkeit, Entzücken der Engel, Du rettungsverheißender Leitstern der Verirrten und Hoffnung der wahrhaft Gläubigen! Oh Herrin, welcher Mann könnte es angesichts Deiner Majestät wagen, das weibliche Geschlecht in Gedanken oder Worten zu schmähen?" (Stadt der Frauen, S. 250)
Hier geschieht zweierlei. Zum einen wird mit dieser Lobeshymne auf Maria, die sich im folgenden noch fortsetzt, die tiefe Religiosität der Frau unterstrichen, als Gegengewicht gegen die negativ belegte Setzung der Frau als rein körperverhaftetes Wesen und den daraus gezogenen misogynen Schlüssen, die der Frau jede geistige Eigenständigkeit absprechen38. Zum anderen entziehen sich die Frauen der (geistigen) Vormundschaft der Männer, indem sie sich ihr eigenes Oberhaupt - die Gottesmutter Maria - erwählen39. Dem Einzug der Heiligen Jungfrau Maria schließen sich wiederum Beispiele von Frauen an, die ein besonders tiefer Glaube und eine unerschütterliche Treue zu Gott auszeichnete40. Am Ende des ,,Buchs von der Stadt der Frauen" wendet sich Christine in einer Rede an alle ehrsamen Frauen gleich welchen Standes. Sie fordert sie auf, die Stadt gut zu pflegen und zu verteidigen:
,,Sie [die Stadt, Anm. d. Verf.] soll Euch allen die ihr die Tugend liebt, nicht nur als Zufluchtsort dienen, sondern auch - vorrausgesetzt, Ihr verteidigt sie gut - als Hort und Zufluchtsort gegen Eure Feinde und Angreifer. Denn Ihr seht, dass sie ganz und gar aus dem Material Tugend besteht, einer strahlenden Tugend, in der Ihr Euch alle spiegeln könnt... treibt bitte mit diesem neuen Vermächtnis keinen Missbrauch in der Weise der Hoffärtigen, denen die Vermehrung ihres Wohlstands und ihrer Güter zu Kopf steigt. Nehmt Euch vielmehr ein Beispiel an Eurer Königin, der hohen Jungfrau." (Stadt der Frauen, S. 286)
,,Kurz und gut, Ihr Frauen aller Stände... seid stets äußerst wachsam und auf der Hut gegen die Feinde Eurer Ehre und Eurer Unbescholtenheit! Ihr seht ja, liebe Frauen, wie die Männer Euch allerorts aller erdenklicher Laster zeihen. Straft sie also alle Lügen, indem Ihr Eure Tugend und die Vorbildlichkeit Eures Verhaltens unter Beweis stellt. Lasst es Euch also angelegen sein... durch Eure Tugendhaftigkeit anziehend zu wirken, flieht das Laster in all seinen Erscheinungsformen, betreibt den Ausbau unserer Stadt, vermehrt die Anzahl ihrer Bewohnerinnen und übt Euch in Heiterkeit und Rechtschaffenheit!" (Stadt der Frauen, S. 288f.)
Schließlich gibt Christine den Frauen im Umgang mit den Lastern ihrer
Männer einige Ratschläge41, um als letztes noch eine Warnung an alle Frauen auszusprechen:
,,Und deshalb weicht zurück vor den hinterhältigen Schmeichlern, die Euch mit allerlei Verlockungen und auf mannigfache Weise Euer höchstes Gut, das heißt: Eure Ehre und Euren makellosen Ruf, zu nehmen trachten. Oh Ihr Frauen, flieht, flieht die sündige Liebe, zu der sie Euch zu überreden suchen!... Denn einer Sache könnt Ihr ganz sicher sein: auch wenn das, was sie an Versuchungen birgt, Euch zunächst irreführen mag - die Rechnung bezahlt letztendlich immer Ihr!"
(Stadt der Frauen, S. 289)
Ganz besonders diese Textstelle wurde in der Vergangenheit immer wieder scharf kritisiert und so ausgelegt, als wolle Pizan den Frauen eine freie und selbstbestimmte Sexualität absprechen. Diese Beurteilung scheint mir eine Fehleinschätzung zu sein. Zunächst darf man den sozialhistorischen Kontext nicht außer Acht lassen. In einer Zeit, in der alleinerziehende Frauen nicht auf (staatliche) Unterstützung rechnen konnten, waren uneheliche Kinder immer ein finanzielles Risiko. Des weiteren litt natürlich der Ruf einer Frau mit jedem Kind, dem der Vater fehlte. Somit haben die Warnungen Pizans in erster Linie rein pragmatische Beweggründe, die Rechnung zahlten nämlich in der Tat allein die Frauen. An keiner Stelle lässt sich die Vermutung bestätigt finden, Pizan wolle den Frauen eine eigene Sexualität absprechen - auch wenn die Keuschheit mit ausschließlich positiven Aspekten belegt wird, geht damit nicht automatisch und implizit eine Verurteilung der Sexualität einher. Die körperliche Liebe erfährt bei Pizan keine Ablehnung, solange sie für die Frau keine schwerwiegenden Nachteile mit sich bringt, also sich letztlich im in jeder Hinsicht sicheren Rahmen einer Ehe abspielt.
4.3 Utopiegehalt und der Entwurf einer neuen weiblichen Anthropologie
Der Aufbau der Frauenstadt entspricht in ihrer Struktur der pizan'schen Theorie des (weiblichen) Menschseins. Auffällig ist die Dreiteilung, die sich im formalen Aufbau des Werks - seine Unterteilung in drei Bücher - ebenso wiederfindet wie in den drei Frauenfiguren und den drei Schritten, in denen die Stadt errichtet wird:
Buch I Buch II Buch III
Vernunft Rechtschaffenheit Gerechtigkeit
Unten Mitte Oben
Fundamente/Mauern Stadtinneres Türme/Giebel Wahres Gutes Erhabenes
Kampf Frieden Freiheit
Verteidigung/ Unabhängigkeit/ Hinwendung
Abgrenzung Selbstbestimmung zum Göttlichen
Erkennen der Ichwerdung/ Überwinden der
Ichlosigkeit Selbstkonstitution Ichverhaftetheit
Vernunft Rechtschaffenheit Gerechtigkeit Gelehrsamkeit Sittlichkeit Religiosität Erkennen Handeln Glauben
Theoretische Praktische Spekulative Philosophie Philosopie Philosophie
Was kann Was soll Was darf
ich wissen? ich tun? ich hoffen?
- Was ist der (weibliche) Mensch?
In diesen Dreiheiten, die sehr stark an die Trichonomien des vorsokratischen Denkens erinnern, wird die aristotelische Logik mit ihrer Unterteilung in Prinzip und Privation aufgehoben. Das Dualitätssystem wird ersetzt durch ein System von einander ergänzenden Relationen, deren einzelne Elemente zum Teil nur schwer voneinander gelöst betrachtet werden können, ohne in Gefahr zu laufen, ihnen nicht mehr gerecht zu werden.
Die innere Strukturierung der Frauenstadt, der Entwurf des Gemeinwesens, wird von Pizan nicht weiter ausgeführt. Die Frauenstadt trägt ausschließlich allegorischen Charakter:
,,Oh, wie glücklich werden die Bewohnerinnen unserer Stadt sein! Sie müssen nicht ständig fürchten, von fremden Eindringlingen verjagt zu werden, weil es eine Eigentümlichkeit dieser Stadt ist, dass ihre Bevölkerung nicht verjagt werden kann. Dies ist der Beginn eines neuen Reiches der Frauen. Seine Würde ist allerdings ungleich höher als die des Frauenreichs früherer Zeiten, denn seine Frauen werden nicht gezwungen sein, ihr Territorium zu verlassen, um Nachfolgerinnen zu empfangen und zu gebären und so ihren Besitz über die Zeiten hinweg... zu erhalten: die Frauen, die wir jetzt dort ansiedeln, werden alle Zeiten überdauern." (Stadt der Frauen, S. 148)
Die Antworten auf die Frage nach der Wertigkeit sowie der Subjektwerdung der Frau, die Christine de Pizan in ihrem ,,Livre de la Cité des Dames" der Leserin gibt, sind zum Teil sehr klar formuliert: Befreie Dich aus deiner Unmündigkeit, verlasse dich in deinem Urteil nur auf deinen eigenen Erfahrungsschatz und werde in der Einheit von Erkenntnisstreben, sittlichem Handeln und tiefem Glauben ein selbstbestimmtes Subjekt. Konstituiere dich in der Relation zu anderen tugendhaften Frauen.
Mit der Auflistung der unzähligen berühmten Frauenportraits - alles Frauen, die in ihrer Vorbildlichkeit zu den nicht verjagbaren Bewohnerinnen gehören, also deren Beispielhaftigkeit niemals schwächer werden wird - stellt Christine de Pizan alle Frauen, die jemals gelebt haben und leben werden, in eine eigene Frauentradition und -kultur. Jedes einzelne weibliche Wesen kann sich innerhalb dieser Traditionen wiederfinden und einordnen. In dieser Bedeutung ist das Werk Pizans meiner Meinung nach bis heute nicht zu unterschätzen. Im ,,Livre de la Cité des Dames" gibt Pizan den Frauen die Fähigkeit zur Selbstbestimmung in drei Schritten zurück. Der erste Schritt ist mit dem Aufzeigen weiblicher Traditionen geschehen. Dem folgt die sinnbildliche Ernennung der Heiligen Jungfrau Maria zur Herrscherin über die Frauenstadt, womit den Männern die bisherige Vormundschaft genommen wird - die Frauen geben sich eine eigene Herrin. Letztlich ist das so oft zitierte ,,Je, Christine" - welches zum ersten Mal fällt, als Frau Vernunft Christine im ersten Buch von der grundsätzlichen Ebenbürtigkeit von Mann und Frau und darüber hinaus auch von der weiblichen Bildungsfähigkeit überzeugt hat - ein wichtiger Schritt zu weiblicher Selbstkonstitution. Christine gibt hiermit exemplarisch den Frauen das ,,Ich" zurück, aus dem fremdbestimmten Objekt wird das eigenbestimmte Subjekt.
Der Versuch, ein Frausein zu entwerfen, welches ihren Ausgangspunkt vom Wesen der Frau her nimmt, spiegelt sich auch in der pizan'schen Theorie weiblicher Denkleistungen. Bereits in der Darstellung des Erscheinens der drei allegorischen Frauenfiguren ist dies angelegt. Das Erscheinen der Frauen wird begleitet von einem hellen Lichtstrahl - dem Licht der Erkenntnis -, welcher Christine auf den Schoß fällt. An dieser Stelle wird die in der dualistischen Denkweise verlorengegangene Einheit von Körper und Geist wiederhergestellt. Die Leibesmitte, das Zentrum des Lebens, wird wieder in den Denkprozess integriert. Denken ist somit für Pizan keine rein geistige Angelegenheit, sondern ein in der Synthese von Geist und Körper, Verstand und Gefühl ablaufender Prozess.
5. Fazit
Bettina Roß ist der Ansicht, dass ,,Christine de Pizan ...nicht nur Frauengeschichte geschrieben [hat], sondern... als die erste utopische Autorin der Neuzeit gewürdigt werden [muß]."42 Dieser Einschätzung möchte ich mich anschließen. Solange der sozialhistorische Kontext des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit nicht außer Acht gelassen wird, ist das ,,Livre le la Cité des Dames" eine wichtige Zäsur in der Frauengeschichte. Zum einen wird hier der Versuch unternommen, das Frausein in eine eigene weibliche Tradition zu stellen, zum anderen entwirft Pizan eine weibliche Anthropologie und darüber hinaus eine Weltsicht jenseits aristotelischer Dualismen und Wertfolgen. In diesen Punkten hat Christine de Pizan auch heute noch nichts an Aktualität eingebüßt.
Literaturverzeichnis
Pizan, Christine de: Das Buch von der Stadt der Frauen. Übers., komment. u. m. e. Einl. vers. v. Margarete Zimmermann. Berlin 1986.
Bennewitz, Ingrid: ,,Darumb lieben Toechter/ seyt nicht gar fürwitzig...". Deutschsprachige moralisch-didaktische Literatur des 13.-15. Jahrhunderts. In: Kleinau, Elke, Opitz, Claudia (Hg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Band 1 - Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Frankfurt a.M., New York 1996, S. 23-41.
Echtermann, Andrea: Christine de Pizan und ihre Hauptwerke zur Frauenthematik (1399- 1405). Eine Einführung. In: Gössmann, Elisabeth (Hg.): Kennt der Geist kein Geschlecht? (Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung, Bd. 6). München 1994, S. 1-75.
Fietze, Katharina: Frauenbildung in der ,,Querelle des femmes". In: Kleinau, Elke, Opitz,
Claudia (Hg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Band 1 - Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Frankfurt a.M., New York 1996, S. 237-251.
Fietze, Katharina: Frauenbildungskonzepte im Renaissance-Humanismus. In: Kleinau, Elke,
Opitz, Claudia (Hg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Band 1 - Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Frankfurt a.M., New York 1996, S. 121-134.
Fietze, Katharina: Spiegel der Vernunft. Theorien zum Menschsein der Frau in der Anthropologie des 15. Jahrhunderts. Paderborn, München, Wien, Zürich 1991.
Gössmann, Elisabeth: Die Gelehrsamkeit der Frauen im Rahmen der europäischen Querelle des Femmes. In: Gössmann, Elisabeth (Hg.): Das wohlgelahrte Frauenzimmer. (Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung, Bd.1). München 1984, S. 8-21.
Höher, Friederike: Hexe, Maria und Hausmutter - Zur Geschichte der Weiblichkeit im
Spätmittelalter. In: Kuhn, Annette, Rüsen, Jörn (Hg.): Fachwissenschaftliche und
fachdidaktische Beiträge zur Geschichte der Weiblichkeit vom frühen Mittelalter bis zur
Gegenwart. Frauen in der Geschichte III. (Geschichtsdidaktik: Studien, Materialien, Bd. 13). Düsseldorf 1983, S. 13-62.
Liebertz-Grün, Ursula: Höfische Autorinnen. Von der karolingischen Kulturreform bis zum
Humanismus. In: Brinker-Gabler, Gisela (Hg.): Deutsche Literatur von Frauen. Band 1 - Vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München 1988, S. 39-64.
Opitz, Claudia: Evatöchter und Bräute Christi. Weiblicher Lebenszusammenhang und Frauenkultur im Mittelalter. Weinheim 1990.
Opitz, Claudia: Streit um die Frauen? Die frühneuzeitliche ,,Querelle des femmes" aus sozialund frauengeschichtlicher Sicht. In: Historische Mitteilungen 8. Hgg. v. Michael Salewski u. Jürgen Elvert i.A. der Ranke-Gesellschaft. Stuttgart 1995, S. 15-27.
Roß, Bettina: Politische Utopien von Frauen. Von Christine de Pizan bis Karin Boye. Dortmund 1998.
[...]
1 Der Begriff der Querelle kennzeichnet die bis ins 19. Jh. andauernde Diskussion über den Wert der Frau. Dabei wurden Themen wie die Anthropologie des weiblichen Geschlechts, seine ethischen, rationalen und praktischen Fähigkeiten und seine Stellung innerhalb der menschlichen Gesellschaft - insbesondere der Stellung gegenüber dem Mann - erörtert.
2 Vgl. Pizan, Christine de: Das Buch von der Stadt der Frauen. Aus d. Mittelfr. übers. u. m. e. Kommentar u. e. Einleitung vers. von Margarete Zimmermann. 2. erw. Aufl. Berlin 1987, S. 10. [Kurztitel: Stadt der Frauen]
3 Vgl. Echtermann, Andrea: Christine de Pizan und ihre Hauptwerke zur Frauenthematik. Eine Einführung. In: Gössmann, Elisabeth (Hg.): Kennt der Geist kein Geschlecht? (Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung, Bd. 6). München 1994, S. 3. [Kurztitel: Echtermann] sowie: Stadt der Frauen, S. 11.
4 Vgl. Echtermann, S. 1-4 sowie: Stadt der Frauen, S. 11-15.
5 Vgl. Fietze, Katharina: Spiegel der Vernunft. Theorien zum Menschsein der Frau in der Anthropologie des 15. Jahrhunderts. Paderborn, München, Wie, Zürich 1991, S.73-78. [Kurztitel: Spiegel der Vernunft] sowie: Fietze, Katharina: Frauenbildungskonzepte im Renaissance-Humanismus. In: Kleinau, Elke, Opitz, Claudia (Hg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Band I: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Frankfurt a.M., New York 1996, S. 121-124. [Kurztitel: Frauenbildungskonzepte]
6 Vgl. Fietze, Katharina: Frauenbildung in der ,,Querelle des Femmes". In: Kleinau, Elke, Opitz, Claudia (Hg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Band I: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Frankfurt a.M., New York 1996, S. 239. An dieser Stelle macht Katharina Fietze außerdem auf die Bedeutung Christine de Pizans in diesem Kontext aufmerksam: ,,So konsequent wie Christine de Pizan haben jedoch die wenigsten die Implikationen des neuen Menschenbildes der Renaissance auf das Frausein angewandt."
7 Vgl. Spiegel der Vernunft, S. 78f.
8 Vgl. Opitz, Claudia: Evatöchter und Bräute Christi. Weiblicher Lebenszusammenhang und Frauenkultur im Mittelalter. Weinheim 1990, S. 55-59. [Kurztitel: Evatöchter]
9 Evatöchter, S. 58.
10 Vgl. Höher, Friederike: Hexe, Maria und Hausmutter - Zur Geschichte der Weiblichkeit im Spätmittelalter. In: Kuhn, Anette, Rüsen, Jörn (Hg.): Frauen in der Geschichte III. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Beiträge zur Geschichte der Weiblichkeit vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. (Geschichtsdidaktik: Studien, Materialien, Bd. 13). Düsseldorf 1983, S. 15-20. [Kurztitel: Höher]
11 Vgl. Spiegel der Vernunft, S. 29-32.
12 Beispiele hierfür lassen sich in der Ilias sowie der Odyssee finden: vgl. Ilias 2, 789; Ilias 11, 1-2; Ilias 24, 341f.; Odyssee 2, 28f.; Odyssee 10, 458f.; Odyssee 11, 399-402.
13 Fietze weist darauf hin, das sich dieses Stilmittel in gewissen Redewendungen bis heute erhalten hat: tagein, tagaus = immer; früher oder später = in jedem Fall; jung und alt / groß und klein = alle; drunter und drüber = Chaos etc. Vgl. Spiegel der Vernunft, S. 30.
14 Vgl. Ilias 18, 483; Ilias 18, 484-489; Ilias 18, 478-603; Ilias 18, 536f.
15 Vgl. König, Marie: Am Anfang der Kultur. Die Zeichensprache des frühen Menschen. Berlin 41996.
16 Der Kreislauf der Elemente spielt im vorsokratischen Denken eine Rolle, aus einem Element entsteht durch Verdickung bzw. Verdünnung das nächste.
17 Vgl. Spiegel der Vernunft, S. 32.
18 Vgl. Spiegel der Vernunft, S. 34f.
19 Die bereits in 3.1 dargestellte Setzung Weiblichkeit - Irdisches (unten) - negativ gegenüber Männlichkeit - Himmel (oben) - positiv, die der Verbindung alter mythologischer Vorstellungen mit aristotelischer Logik entspringt, ist in dem augustinischen Weltverständnis an dieser Stelle besonders offensichtlich.
20 Vgl. Spiegel der Vernunft, S. 67-70.
21 Vgl Spiegel der Vernunft, S. 68.
22,,Ihr sollt aber wissen, dass Christus das Haupt des Mannes ist, der Mann das Haupt der Frau und Gott das Haupt Christi." (1 Kor 11,3); ,,Der Mann darf sein Haupt nicht verhüllen, weil er Abbild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist der Abglanz des Mannes. Denn der Mann stammt nicht von der Frau, sondern die Frau von dem Mann. Der Mann wurde auch nicht für die Frau geschaffen, sondern die Frau für den Mann." (1 Kor 11, 7-9).
23 Vgl. Spiegel der Vernunft, S.54f.
24 Vgl. Galen: On Semen. Hgg., übers. u. komment. v. Lacy, Philip de. (Corpus Medicorum Graecorum V 3,1). Berlin 1992.
25 Pizan, Christine de: Das Buch von der Stadt der Frauen. Übers., komment. u. eingel. v. Margarete Zimmermann. Berlin, 1986. [Kurztitel: Stadt der Frauen] Das Werk gilt als Basis der Querelle des Femmes im 15. Jh., vgl. Spiegel der Vernunft, S. 95.
26 Der Name der Hauptfigur verweist auf den autobiographischen Charakter, den das Werk trägt.
27 Vgl. Stadt der Frauen, S. 35-38.
28 Die Darstellung des Erscheinens ist in Anlehnung an Boethius' ,,Trost der Philosophie" gestaltet. Der im Kerker sitzende Philosoph wird dort von der weiblichen Allegorie der Philosophie besucht und getröstet; Vgl. Boethius, Trost der Philosophie. Übers. u. hgg. v. Karl Büchner. Stuttgart 1971, S. 41f. [Kurztitel: Boethius] Stadt der Frauen, S. 38: ,,Während ich mich mit so traurigen Gedanken herumquälte,... sah ich plötzlich einen Lichtstrahl auf meinen Schoß fallen, als wenn die Sonne schiene. Und ich, die ich mich an einem dunklen Ort aufhielt,... schreckte auf... Ich hob den Kopf, um die Lichtquelle zu suchen, und erblickte drei gekrönte Frauen von sehr edlem Aussehen... Das von ihren hellen Gesichtern ausgehende Licht erleuchtete mich und alles um mich herum." Echtermann weist darauf hin, dass bei Boethius die Philosophia zu seinem Haupt erscheint, während bei Christine der Lichtstrahl in ihren Schoß - den Ursprung alles Lebens - fällt. Bei Pizan handelt es sich somit um eine Komplementarität von Geist und Körper, beide verschmelzen ,,zu einem ganzheitlichen, kreativen Potential." (Echtermann, S. 37)
29 Stadt der Frauen, S. 38: ,,Da redete die erste der drei Frauen mich... an: ,Teure Tochter, erschrick nicht, denn wir sind... gekommen,... um dich zu trösten und dich aus deiner Unwissenheit zu erlösen, weil uns deine Verwirrung dauert. Sie verdunkelt so sehr deinen Verstand, dass du das, was du mit Sicherheit weißt, abstreitest und das glaubst, was du selbst nicht aus eigener Anschauung oder Erfahrung, sondern lediglich aus den zahlreichen Meinungsäußerungen fremder Menschen weißt.'" Auch bei Boethius lautet die Diagnose der Philosophie: Du hast aufgehört zu wissen, was du selber bist; Vgl. Boethius, S. 44.
30 Vgl. Stadt der Frauen, S. 41, sowie Spiegel der Vernunft, S. 98.
31 Die Metapher der Stadt steht für den Übergang des Menschen vom Zustand der Barbarei zu Sesshaftigkeit und Kultur. Dazu mehr bei Echtermann, S. 45.
32 Vgl. Spiegel der Vernunft, S. 98f.
33 Im Deutschen meint Droiture soviel wie die gerade Lebensrichtung, die Verhaltensregel, die Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit.
34 Vgl. Stadt der Frauen, S. 46
35 Vgl. Stadt der Frauen, S: 102ff. und Stadt der Frauen, S. 118ff.
36 Vgl. Stadt der Frauen, S. 142ff.
37 Fietze weist darauf hin, dass die Tugend der Keuschheit bei Christine de Pizan Ausdruck körperlicher und seelischer Reinheit ist und als die höchste Tugend immer verbunden ist mit Eigenschaften wie Weisheit, Güte und Sittlichkeit. Die Beispiele für die Keuschheit von Frauen sind zugleich Beweise ihrer Beständigkeit, Willensstärke und Charakterfestigkeit. Vgl. Spiegel der Vernunft, S. 105.
38 Vgl. Echtermann, S. 57.
39 Vgl. Spiegel der Vernunft, S.107.
40 Vgl. Stadt der Frauen, S. 251ff.
41 Vgl. Stadt der Frauen, S. 287f.
42 Roß, Bettina: Politische Utopien von Frauen. Von Christine de Pizan bis Karin Boye. Dortmund 1998, S. 127.
- Citation du texte
- Ouasima Chami (Auteur), 2000, Weibliche Substitutionsmechanismen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97706
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