Autorin: Ute Roos
Welche Auswirkungen haben Familie und Freizeit auf die Geschlechtersozialisation von Jugendlichen
1. Definition
Der Begriff Jugend beinhaltet in der Alltagssprache sowie in der Fachsprache der Soziologie, Psychologie und Pädagogik, vielfältige Deutungen, Interpretationen und Vorstellungen. Zwei grobe Merkmale lassen sich mit dem Begriff Jugend in Zusammenhang bringen:
a) Unter Jugend versteht man einen bestimmten Lebensabschnitt, eine bestimmte Phase im individuellen Lebenslauf, die Phase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, das individuelle Jugendalter.
b) Von Jugend ist aber auch die Rede im Sinne einer bestimmten sozialen Gruppe in der Gesellschaft, im Sinne der "Jugend von heute". Hier steht der Sachverhalt im Vordergrund, dass Jugend eine gesellschaftlich-geschichtliche Größe ist, die in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen Veränderungen unterworfen ist. (Soziale Arbeit 1988, 288) Die Soziologie definiert Jugend in der heutigen Gegenwartsgesellschaft unter anderem wie folgt:
- J. ist eine Altersgruppe der etwa 13- 25jährigen, die aus soziologischer Sichtweise bedeutend ist, da sie typische als "jugendlich" bezeichnete Verhaltensweisen und Einstellungen besitzt.
- J. ist eine biologisch mit-bestimmte, aber sozial und kulturell "überformte" Lebensphase, in der das Individuum die Voraussetzung für ein selbständiges Handeln in allen gesellschaftlichen Bereichen erwirbt.
- J. ist eine Subkultur, eine gesellschaftliche Teilkultur.
- J. ist ein "idealer Wertebegriff" der in vielen Kulturen auf ein hoch geschätztes "Gut" verweist: auf Jugendlichkeit. (Schäfers 1998, 21)
Hierbei ist zu bedenken, dass es "die Jugend" als ein eindeutiges Phänomen in der Soziologie immer bestritten wird, da Jugend so heterogen ist wie die Gesellschaft, der sie angehört. Jedoch gibt es das "Objekt" Jugend für die Soziologie schon deshalb, weil sich eine bestimmte Altersgruppe benennen läßt, die im Selbst- und Fremdverständnis Jugend ist.
(Schäfers 1998, 22).
Jugend ist zunächst ein historisches Produkt des Bürgertums gewesen, dass wohlhabend genug war, um eine längere Vorbereitungszeit auf das Berufsleben zu unterstützen. Mit der Industrialisierung und gesellschaftlichen Modernisierung traten nun auch die jungen Angehörigen der Arbeiterschichten sowie der bäuerlichen Familien in die Lebensphase Jugend ein. Dies galt jedoch in allen sozialen Schichten nur für die männlichen Jugendlichen. Die Ausweitung der allgemeinen Schulpflicht garantiert heute allen betroffenen Jugendlichen ein "Minimum an Jugend", egal welcher sozialen Schicht, Geschlecht oder Ethnie sie angehören. Nicht die Tatsache dass sie eine Schule besuchen unterscheidet sie schicht- und geschlechtsspezifisch, sondern die Art und Verweildauer der besuchten Schule sowie die Langzeitperspektiven für Beruf und Lebenschancen, die mit dem Schulbesuch verbunden sind (Hurrelmann 1997, 30). Jugend ist in dem Sinne kein Naturprodukt und auch kein Ergebnis biologischer Prozesse, sondern vielmehr ein Kulturprodukt, dass vom Menschen selbst durch seine arbeitend und handelnd veränderten Existenzbedingungen herhervorgebracht wird. Sogenannte "primitiven Kulturen" kennen keine Jugend im soziologischen Sinne. Die Übergangsprobleme vom Kind zum Erwachsenen werden durch "Initiationsriten" bewältigt (Soziale Arbeit 1988, 323).
1.2 Die Geschlechtsreife als ein Merkmal von Jugend
Der Beginn der Jugendphase kann durch das Eintreten der Geschlechtsreife mit dem 12. - 14. Lebensjahr angegeben werden (wobei hier das Geschlecht des Jugendlichen eine große Rolle spielt). Hurrelmann sagt hierzu, dass bei der Mehrzahl der Betroffenen viele Kriterien des Gestaltwandels auf der psychologischen wie soziologischen Ebene zu verorten sind, so dass von einem Übergang der Lebensphase Kind zur Lebensphase Jugend gesprochen werden kann. (Hurrelmann 1997, 50). Es bleibt, dass für beide Geschlechter die Geschlechtsreife der entscheidende und auslösende Moment für das Jugendalter ist. Da die sexuelle Geschlechtsreife heute früher beginnt und auch länger dauert, verfrüht und verlängert sich auch der Spannungszustand des Jugendlichen mit sich selbst und seiner Umwelt. Das Hineinwachsen in Kultur und Gesellschaft ist länger und komplizierter geworden und wird durch die Akzeleration noch zusätzlich erschwert. (Schäfer 1997, 91). Die sexuelle Entwicklung des Jugendlichen betrifft aber nicht nur den emotionalen Bereich, sondern auch die Herausbildung einer spezifischen Geschlechterrolle. Dies beginnt schon mit der Geburt eines Kindes, wird aber mit dem Beginn der Pubertät verstärkt, da jetzt die Unterschiede des Körpers und des Geschlechts voll bewusst werden und der Jugendliche auch über seine Geschlechtsrolle eine eigene Identität erwirbt. Die Rollen von Mann und Frau, Mädchen und Jungen, Tochter und Sohn, usw. sind in allen Kulturen und Gesellschaften mehr oder weniger als sozio-biologische Grundrollen (Geschlechtsrollen) ausgeprägt. (Schäfer 1997, 95).
Es ist schwer zu sagen, inwieweit bereits ein Wandel in der Geschlechtsrollendifferenzierung eingetreten ist. Dieser Wandel bestimmt Teile der gegenwärtigen Kultur, der Themen und Ziele der Frauenbewegung, deröffentlichen und privaten Diskussion über Familie, Arbeitswelt usw. All dies hat Rückwirkungen auf die Geschlechtsrolle und Identifikationsprozesse der Jugendlichen. (Schäfers 1997, 96).
2. Der Einfluss der Freizeit auf die Geschlechtersozialisation für Jugendliche anhand der
Primärstudie von Elke Nolteernsting 1998, "Freizeit. Jugend. Geschlecht." (Falls nicht anders erwähnt, beziehen sich die Seitenangaben auf die Primärstudie von Nolteernsting)
Freizeit stellt für Jugendliche einen Experimentierraum dar, in dem sie Gelegenheit haben, sich von schulischen, familiären oder anderen Verpflichtungen abzuwenden. Sie haben die Möglichkeit ihre eigene Selbständigkeit in vielen Bereichen auszuprobieren. Gleichzeitig können sie Belastungen abreagieren, sich an das andere Geschlecht "herantasten", Unbekanntes erforschen, Neues erfinden und Distanz zu ihren Eltern schaffen. Freizeit unterstützt den Ablösungsprozess und hilft Lebensentwürfe auszugestalten (Seite 9). In ihrer Studie geht Nolteernsting davon aus, dass Freizeit im Leben von Jugendlichen eine zentrale Rolle spielt, jedoch nicht eingeschränkt auf Aktivitäten und Interessen der Jugendlichen ist, sondern auch unter den Bedingungen von gesellschaftlichem Wandel durch Individualisierungsprozesse unterliegt. Ein Augenmerk der Untersuchung gilt der Geschlechterspezifikation. Ihr theoretischer Ansatz geht von dem kulturellen Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit und der Annahme, dass die Ausprägung der Geschlechterverhältnisse abhängig von den gesellschaftlichen Strukturen ist, aus. Für sie beeinflussen die klassischen Dimensionen wie Familie, Schule, Beruf und Peers die Freizeitorientierung der Jugendlichen, unter dem Gesichtspunkt der Geschlechtsrollen, da sie Eingriffe in deren Tagen- und Lebenslauf vornehmen (Seite 9ff).
Eine ihrer These ist, dass "... Freizeit unter dem Gesichtspunkt der Geschlechtersozialisation im Sinne einer aktiven Aneignung des Geschlechts eine zum Teil deutliche Differenz zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen ... vermuten lässt." (Vorwort). In der heutigen Gesellschaft bedeutet die Sozialisation der Frau immer noch deren Benachteiligung in vielen Bereichen. Es ist zu prüfen, ob dies auch für den Freizeitbereich von Mädchen gilt (Seite 58).
Die Voraussetzung für die Teilnahme an Freizeitaktivitäten für Jugendliche ist von 2 Faktoren abhängig:
a) von einem mehr oder minder hohen finanziellen Aufwand, da Freizeit heute in einem hohen Maße konsumorientiert ist. Konsum und Freizeit können nur noch schwer voneinander getrennt werden. Es wurde festgestellt, dass die weiblichen Jugendlichen hier besonders benachteiligt sind (Seite 66). Sie fühlen sich finanziell eingeschränkter als die männlichen Jugendlichen (vgl. 9. Jugendbericht 1994 aus Nolteernsting 1998, 66).
b) Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Zeit, die Jugendlichen zur Verfügung steht, um Freizeitaktivitäten teilnehmen zu können. Auf die freie Zeiteinteilung der Jugendlichen haben Familie, Ausbildung, Schule oder Beruf einen erheblichen Einfluss. Eine Einschränkung in ihrer freien Zeit erleben die Jugendlichen aber selten durch Schule und Beruf, sondern durch die Herkunftsfamilie. In der Gruppe der 14 - 21jährigen geben männliche Jugendliche gegenüber weiblichen Jugendlichen deutlich weniger an, Einschränkungen durch Tätigkeiten im Haushalt zu erfahren. Bei den weiblichen Jugendlichen über 21. Jahren nimmt die Einschränkung noch erheblich zu. (9. Jugendbericht 1994, aus: Nolteernsting 1998, 67).
Auf Grund dieser Ergebnisse kann gesagt werden, dass die weiblichen Jugendlichen eine Benachteiligung in den finanziellen sowie zeitlichen Ressourcen gegenüber den männlichen Jugendlichen erfahren.
2.2 Eine weitere These von Nolteernsting ist die, dass die Sozialisationsbedingungen für Jugendliche beider Geschlechter in der Familie nicht gleich sind. Die Bezugsperson innerhalb und außerhalb der Familie ist in den meisten Fällen weiblich (die Mutter, Erzieherinnen, usw.). Daraus ergibt sich für die Mädchen auf der einen Seite eine bessere Orientierung zur eigenen Identitätsfindung, auf der anderen Seite aber eine Einschränkung in ihrer persönlichen Entwicklung. Sie sollen und müssen sich mit der Mutter identifizieren und können sich somit kaum von ihr abgrenzen, was auf Kosten ihrer eigenen Autonomiebedürfnisse geht (Bilden 1991, 295 aus: Nolteernsting 1998, 48). Dem Jungen steht keine solche Orientierungshilfe bezüglich seines Geschlechts zur Verfügung, da sich der Vater häufiger außer Haus befindet als die Mutter. Durch fehlende männliche Ansprechpartner und Bezugspersonen was ihre beginnende Geschlechtsreife betrifft, orientieren sie sich emotional oft negativ, da sie sich zudem gegen das Weiblichsein abgrenzen müssen (Seite 48).
In der Untersuchung gaben 88,0% der männlichen Jugendlichen und 88,2% der weiblichen Jugendlichen an, sich sehr gut mit der Mutter zu verstehen. 75,0% der männlichen und 74,2% der weiblichen Jugendlichen gaben an, sich gut mit dem Vater zu verstehen. Unterschiede in den Ergebnissen wurden deutlich, bezüglich der sozialen Herkunft der Jugendlichen. So gaben bei niedriger sozialer Herkunft 72,2% der befragten Jugendlichen beider Geschlecht an, sich gut mit der Mutter zu verstehen und nur 41,0% gaben den Vater an. Mit steigender sozialer Herkunft stiegen auch die Prozentzahlen für Mutter und Vater (Seite 72).
In der Shell-Studie von 1992 gaben die Jugendlichen an, wie wichtig Personen und Personengruppen für sie sind. Die Mutter und der Freund/Freundin wurden an 1. Stelle bei allen Jugendlichen genannt. Der Vater kommt für 87% der 13 - 17jährigen männlichen Jugendlichen an 3. Stelle, rutscht jedoch mit zunehmendem Alter weiter nach unten (18- 20jähr. 79%, 21-24jähr. 76%). Bei den Mädchen sieht das Ergebnisähnlich aus, wobei hier der Vater als wichtigste Person bei den 21-24jähr. an letzter Stelle (74%) genannt wird. Bei den 21-24jähr. ist er gleich mit Freunden und Freund (77%) (Shell 1992 in Nolteernsting 1998, 73).
Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass die Mutter als Ansprechpartner für Probleme der Jugendlichen innerhalb der Familie wichtiger ist als der Vater. Gerade im Bereich Sexualität/Liebe gaben nur 1,8% der männlichen Jugendlichen an, sich mit diesem Problem an ihren Vater zu wenden und 4,9% von ihnen an ihre Mutter. Dies bestätigt die These, dass männlichen Jugendlichen innerhalb der Familie wenig Orientierungshilfe für ihre Geschlechtersozialisation geboten wird. Sie müssen sich Orientierungshilfen außerhalb der Familie suchen. Dies geschieht oftmals in Peer-Groups (Seite 76).
Bei den Mädchen sieht dies anders aus. Hier gaben 15,8% der weiblichen Jugendlichen an, mit ihrer Mutter über das Problem Sexualität/Liebe sprechen zu können, dagegen gaben nur 0,7% an den Vater als Ansprechpartner an (Seite 76).
Auch dieses Ergebnis bestätigt die These, dass die Mädchen bei sexuellen Problemen innerhalb der Familie einen gleichgeschlechtlichen Ansprechpartner vorfinden. Durch das "Kaum-Vorhanden-Sein" eines gegengeschlechtlichen Ansprechpartner kann hier davon ausgegangen werden, dass die Abgrenzung zur Mutter und die Äußerung eigener Autonomiebedürfnisse für weibliche Jugendliche nur schwer zu realisieren ist. Die Primärstudie von Elke Nolteernsting ist eine Querschnittsstudie. Die Ergebnisse beruhen auf Daten einer vergleichenden Repräsentativbefragung von ca. 4000 Jugendlichen aus der gesamten BRD und Polen, deren Feldphase Ende 1990/Anfang 1991 abgeschlossen wurde. Methodisch und inhaltlich basiert diese Untersuchung auf der Jugendsurvey Methode. Eine Surveystudien dient zur Beschreibung und Diagnose eines interessierenden sozialen Sachverhalts zu einem Zeitpunkt. Sie ist die allgemeinste und umfassendste Untersuchungsanordnung hinsichtlich des Designs für die Erhebung und für die Analyse empirischer Informationen (Kormrey 1998, 102).
Ich halte die Wahl der Datenerhebung sowie ihre methodische Vorgehensweise für angemessen. Um Populationen beschreiben zu können, ist eine Vollerhebung ungeeignet. Zunächst ist es kaum möglich, alle in der BRD und Polen wohnenden Jugendlichen, zu erfassen und zu befragen. Des weiteren erfordern Vollerhebungen einen hohen Kosten- und Zeitaufwand. Auch sind sie unbrauchbar bei der Erfassung von Merkmalen, die einem raschen zeitlichen Wandel unterliegen.
Die ausschnittsweise Erfassung von Populationen durch Stichproben, wie bei der vorliegenden Studie, ist deshalb vorzuziehen, da diese bei sorgfältiger Planung in ihren Resultaten denen denen einer Vollerhebung kaum nachstehen. Zudem ist eine Stichprobenerhebung schneller durchzuführen. Damit eine Befragung repräsentativ ist, muss die ausgewählte Population sich hinsichtlich möglichst vieler Merkmale und Merkmalkombinationen gleichen (Bortz/Döring 1995, 370).
Der theoretische Hintergrund der Studie bezieht sich zum einen auf den soziologischen Theorieansatz der "selektiven Modernisierung" von Zinnecker 1991. In Bezug auf die Geschlechtersozialisation der Jugendlichen wird vom "kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit" (vgl. Hagemann-White 1984) ausgegangen.
Aus empirischer Sicht ist zu kritisieren, dass keine Angaben gemacht wurden über das Auswahlverfahren der Jugendlichen, wo und welche Jugendlichen befragt wurden, wie sich die Jugendlichen auf die einzelnen sozialen Schichten sowie auf die Altersstrukturen verteilen, d. h. es fehlen Angaben der Merkmale und Merkmalkombinationen der ausgewählten Population. Auch fehlt jegliche Information über die Art der Messinstrumente, Fragebögen, Interviews usw. Des weiteren wurden über die Methoden der Auswertung sowie ihrer Interpretationen keine näheren Angaben gemacht.
Trotz des Fehlens dieser Informationen halte ich die Studie für repräsentativ. Generalisierbar ist sie wegen der oben genannten Kritik nicht, doch das war auch nicht das Ziel von Nolteernsting. Vielmehr wollte sie "... die vorhandenen Interpretationsversuche zum Teil aufgreifen und neue - bisher außer Acht gelassene - Sichtweisen hinzufügen." (Nolteernsting 1998, 12). Auch verweist Nolteernsting selbst darauf, dass die Ergebnisse der Untersuchung nur die Offenlegung grober Tendenzen zu lässt Hauptvertreterin dieser Theorie ist Carol Hagemann-White Die alltagstheoretische Grundannahme geht davon aus, dass die Zweigeschlechtlichkeit eine Natursache ist, d. h. die Geschlechtszugehörigkeit ist körperlich und biologisch begründet. Es gibt nur Mann oder Frau und jeder Mensch lässt sich eindeutig einem dieser beiden Geschlechter zuordnen (Hagemann-White 1984, 81). Für Kinder bedeutet dies,
- dass sie schon sehr früh erkennen müssen, ob sie Junge oder Mädchen sind;
- dass alle Menschen entweder männlich oder weiblich sind; dass bestimmte Merkmale in der Erscheinung oder im Verhalten sowie bestimmte Eigennamen und Funktionen die Geschlechtszugehörigkeit anzeigen;
- dass der Unterschied der Genitalien, vor allen Dingen aber der Penis für die Geschlechtszugehörigkeit ausschlaggebend ist;
- dass das Geschlecht unveränderbar ist, sie selbst also niemals ein anderes Geschlecht haben können, als jetzt (vgl. ebd., 82f).
Hagemann-White geht jedoch davon aus, dass es keine vorgeschriebene Zweigeschlechtlichkeit gibt, sondern nur verschiedene kulturelle Konstruktionen.
Weiblichkeit bzw. Männlichkeit sind kulturelle Setzungen (Hagemann-White 1988, 230, aus: Treibel 1997, 143). Offensichtlich ist die Entwicklung einer Ich-Identität in den westlichen Gesellschaften ohne eine relativ eindeutige Zuordnung als "weiblich oder männlich" nicht vorstellbar. Die kulturelle Setzung werden nur dadurch möglich, weil sie in beiden Sozialisationsprozessen verankert ist (Treibel 1997, 143). Somit ist ein wichtiger Bestandteil des kulturellen Systems der Zweigeschlechtlichkeit die Geschlechtszuschreibung und das Einordnen des Geschlechts als "soziale Kategorie" "In dem Prozess der Aneignung des Systems und nicht der Merkmale der Personen werden wir die Entstehung von Geschlechtsunterschieden und ihre Auffassung sehen müssen." (Hagemann-White 1988, 234 aus: Nolteernsting 1997, 47).
Mit der Theorie von Hagemann-White ist das Ergebnis der Studie, wieso weibliche Jugendliche in Bezug auf finanzielle wie zeitliche Ressourcen ihrer Freizeitgestaltung gegenüber männlichen Jugendlichen benachteiligt sind, zu erklären. In unserer westlichen Kultur ist es immer noch üblich, dass Frauen den überwiegenden Anteil der Hausarbeit verrichten, oft sogar den ganzen, auch wenn sie berufstätig sind. Das Ergebnis der Studie zeigt, dass sich diese kulturelle Setzung der "weiblichen" Hausarbeit auf die weiblichen Jugendlichen überträgt. Bewusst oder unbewusst erwarten die Mütter, dass ihre Töchter im Jugendalter sich verstärkt an der Hausarbeit betätigen, während dies von den männlichen Jugendlichen in diesem Maße nicht verlangt wird.
Eine weitere kulturelle Setzung in unserer Gesellschaft ist die, dass Männer durchschnittlich mehr Geld verdienen und somit auch mehr Geld zur Verfügung haben als Frauen. Dies würde nach dem Theorieansatz von Hagemann-White erklären, dass männliche Jugendliche mehr Geld zur Verfügung haben als weibliche Jugendliche.
Vertreter dieser Theorie sind Lothar Böhnisch und Reinhard Winter Unter kritischer Männerforschung verstehen Böhnisch/Winter eine Sozialwissenschaft, die von Männern betrieben wird, mit dem Ziel die anthropologischen psychischen,ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen für ein anderes Mannsein, eine andere Würde des Mannes zu analysieren und zu formulieren. Böhnisch/Winter vertreten den Standpunkt, dass die Benachteiligung von Mädchen nicht automatisch die Bevorzugung von Jungen bedeutet. Kritische Männerforschung geht davon aus, dass es nicht "die Männer" gibt, sondern das anderes Mannsein trotz immer noch versäulter patriarchaler Zustände in unserer Gesellschaft möglich ist und sein wird. Männer sind in eine hegemoniale Kultur eingebunden, welche die ihre scheint, aber letztlich nicht ihre ist (Böhnisch/Winter 1997, 9). Frühkindliche Sozialisation findet bei Mädchen wie Jungen in einer frauendominierten Alltagswelt statt (Hagemann-White 1984 aus: Böhnisch/Winter 1997, 61) Männer sind in Alltagssituationen wie Kindergarten, Schule, Nachmittagsbetreuung usw. unterrepräsentiert oder fehlen ganz. Jungen bekommen von den Frauen positive Rückmeldung in Bezug auf ihre "Männlichkeit", d. h. ihr selbständiges, nach außen autonom wirkendes Verhalten wird von der Mutter und sie umgebenden Frauen unterstützt und verstärkt. In dieser frauendominierenden Alltagswelt finden Jungen jedoch kaum eine Möglichkeit der männlichen Geschlechtsidentifikation. Die Väter sind wegen Berufstätigkeit häufig abwesend. In der Alltagswelt sind für Jungen wie für Mädchen keine anderen Männer verfügbar (Böhnisch/Winter 1997, 61). Die Verstärkung des männlichen Verhaltens durch Eltern, Verwandte, Lehrer ist aber kein unbedingter Vorteil für die Jungen. Es beinhaltet die Gefahr der ständigen Überforderung, männliches Idealverhalten zu zeigen (vgl. ebd., 62). Schon in der frühen Kindheit identifizieren sich die Jungen stark mit der Mutter und nehmen dabei weibliche/mütterliche Anteile auf, die sie in der Pubertät, wenn sie auf der Suche nach einer männlichen Identität sind, wieder beschränken, bekämpfen und unterdrücken müssen, denn Mann-Sein bedeutet unter anderem Nicht-Frau-Sein. Hier schnappt die Falle des Autonomiedilemmas für männliche Jugendliche zu: Sie müssen lernen, das zu verachten oder gar zu hassen, was aus ihrem Selbst kommt, da es sie hilflos macht, weil es ihnen von außen kulturell verwehrt wird (vgl. ebd., 64). Da männliche Jugendliche in der Familie keine Orientierungshilfe bezüglich ihrer Geschlechtersozialisation vorfinden, müssen sie sich außerhalb der Familie auf die Suche nach einer Geschlechtsidentität machen (vgl. ebd., 83). Für das Ergebnis der Studie von Nolteernsting in Bezug auf ihre These, dass männlichen Jugendlichen Orientierungshilfen bezüglich ihrer Geschlechtsidentität innerhalb der Familie fehlen, bietet der Theorieansatz von Böhnisch/Winter einen Erklärungsansatz. Deutlich wird hierbei, dass durch kulturelle Setzungen, was männlich/weiblich ist, und durch das Identifizieren mit männlich und weiblich sein, die weiblichen Jugendlichen und auch die männlichen Jugendlichen in ihrer geschlechtlichen Sozialisation stark benachteiligt werden. Beide Theorieansätze sowie die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass eine Veränderung der vorherrschenden Geschlechterverhältnisse nur dann stattfinden kann, die Erwachsenenwelt sie praktiziert. D. h. die jetzigen Erwachsenen müssen ihre Geschlechterrollen neu überdenken und definieren, um sie den Kindern und Jugendlichen vorleben zu können. Jugendliche allein können die Stigmata was männlich und weiblich ist nicht auflösen und neu definieren.
3. Welche Hilfen kann Sozialarbeit Jugendlichen anbieten, um ihnen ihre Geschlechteridentifizierung zu erleichtern?
Sozialarbeit kann für diese Problematik Hilfe in der offenen Jugendarbeit anbieten. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass nur ein konsequent geschlechtsdifferenzierender Blick auf Jugend - also auf Jungen und Mädchen mit ihren jeweils unterschiedlichen Lebenslagen - die PädagogenInnen befähigt, veränderte Konzepte und Umsetzungsstrategien für die Praxis zu entwickeln. "Jugendarbeit ist erst dann emanzipatorisch und dem heutigen Wissens- und Erkenntnisstand entsprechend, wenn sie die antisexistische Jungenarbeit und die feministische Mädchenarbeit als unabdingbaren und kontinuierlichen Bestandteil konzeptionell berücksichtigt und verfolgt." (Möhlke aus: Sturzenhecker/Deinet (Hg.) 1998, 85). Hier bedarf es für die Professionellen in der Jugendarbeit verstärkt der Reflexion hinsichtlich ihrer Leitbild- und Orientierungsdimension sowie ein wirksame Schulung ihrer Selbstwahrnehmung, -bilder und geschlechtlichen Identitätsinterpretationen (Möller aus: Sturzenhecker/Deinet (Hg.) 1998, 148).
Das Ziel feministischer Mädchenarbeit sollte sein, die volle Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit von Mädchen, ihrer Individualität, Ganzheitlichkeit, Selbstbestimmtheit unter Einschluss der Überwindung und Heilung bereits erfolgter tiefer Verletzungen und der positiven Bewertung und Selbstbewertung von Weiblichkeit jenseits patriarchaler Normen. Dies das Abrücken von der Sozialisation der Anspassung und Zurücknahme (Möhlke, vgl. ebd. 87). Dies bedeutet für Pädagoginnen in der Mädchenarbeit, dass sie Erfahrungen mit dem eigenen Frau-Sein in dieser Gesellschaft haben und eine ständige kritische Reflexion der eigenen Rolle praktiziert, um Mädchen bewußt ein Vorbild bieten zu können (vgl. ebd. 88f). Für die Jungen gibt es heute eine Vielfalt männlicher Lebensentwürfe und somit auch verschiedene Jungentypen Hierfür sind gesellschaftliche Veränderungen, aber auch die Infragestellung männlicher Domänen durch die Emanzipationserfolge der Frauen verantwortlich. (Fromme aus: Sturzenhecker/Deinet (Hg.) 1998, 90). Für die PädagogenInnen bedeutet dies in der Arbeit mit männlichen Jugendlichen, bei der Zielformulierung und den Handlungsstrategien das Gleichgewicht zwischen Verständnis, Unterstützung und Bekräftigung einerseits, und das Aufweisen von Verhaltensalternativen, Verhaltenskorrekturen und der Konfrontation mit fremd- oder selbstschädigendem Verhalten andererseits zu beachten. Die Auseinandersetzung der verschiedenen Positionen fördert die Qualität der eigenen Position und zwar bei der Selbstreflexion der "Jungenarbeiter" als auch in der Arbeit mit männlichen Jugendlichen (vgl. ebd. 93).
- Arbeit zitieren
- Ute Roos (Autor:in), 2000, Welche Auswirkungen haben Familie und Freizeit auf die Geschlechtersozialisation von Jugendlichen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97468
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