Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das literarische Motiv des Doppelgängers als primär psychologisches Phänomen
2.1. Die drei Entwicklungsstufen des DoppelgängerMotivs in der Literaturgeschichte
2.2. Die psychologischen Implikationen des DoppelgängerMotivs
2.3. Die Entwicklungsgeschichte der Doppelgänger in der Literatur aus anthropologischpsychoanalytischer Sicht
3. Psychoanalytisch interpretierbare Momente in "The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde"
3.1. STEVENSONs Diffusität bei der Beschreibung der "Doppelgängerei": eine psychische Erblast des Viktorianismus
3.2. Abspaltungsvorgänge von Jekyll zu Hyde oder: die ewige Wiederkehr des Verdrängten das Böse ist sexuell und immer und überall im Viktorianismus
4. Zugriff auf die Mechanismen des "Jekyll zu Hyde Doppelgängers" mittels des Instrumentariums der Psychoanalyse
4.1. Ursache des DoppelgängerPhänomens: zu hohe Anforderungen an die Triebsublimierung im Viktorianismus
4.2. Die Konsequenz: Verdrängung, Abspaltung und Projektion der Triebenergie Jekyll s Seeking Mr. Hyde
4.2.1.Ergebnis der Verdrängung: die verhängnisvolle Entdeckung der "DowntoHydeDrug"
4.2.2.Marken der Verdrängung I: die hinteren Räume in Jekyll s Haus
4.2.3.Marken der Verdrängung II: Jekyll als "Young Apeman Hyde"
5. Zusammenfassung
Wir sehen "[...] jene Menschen, die sich krampfhaft, mit einer erschreckenden, weitüber ihre Kraft reichenden Willensakrobatik 'auf der Höhe' halten wollen , die ihre Schwächen weder sich noch den anderen gegenüber zugestehen könen, einer langsamen oder plötzlichen Sterilität anheimfallen. Ihr geistig-sittliches Niveau ist keineswegs etwas natürlich Gewachsenes, sondern vielmehr ein künstlich erzwungenes und gewaltsam aufrechterhaltenes Gerüst und läuft darum ständig Gefahr, schon unter der geringsten Belastung einzubrechen. Wir sehen , wie diese Menschen Mühe haben oderüberhaupt unfähig sind zu ihrer inneren Wahrheit zu stehen, eine richtige Beziehung einzugehen oder eine lebendig durchpulste Arbeit zu leisten und wie sie sich immer stärker in den Fangarmen der Neurose verstricken , je mehr Verdrängtes sich ihrer Schattenschicht auflagert . 1 Jolande JACOBI 1971
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit behandelt den Aspekt des Doppelgänger-Motivs in Robert Louis STEVENSONs novel The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde aus der Sicht einer psychoanalytisch interpretierenden Literaturwissenschaft. Bei der Sichtung der für dieses Thema vorliegenden Sekundärliteratur fiel auf, dass sich ein Großteil der Auseinandersetzungen mit dem Text auf die eine oder andere Weise psychologischer Kriterien bedient, jedoch keine Arbeit zu finden ist, die sich primär mit den die Psychologie reformierenden Texten des Wiener Arztes und späteren Begründers der sogenannten Psychoanalyse - Siegmund FREUD - aus der Zeit ab Ende der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts bis in die dreissiger Jahre unseres Jahrhunderts auseinandersetzt (das einundzwanzigste Jahrhundert beginnt bekanntlich erst im Jahre 2001). Ausgehend von den Originaltexten FREUDs und sie als intertextuelle Referenzen für eine primär literaturpsychologische Interpretation des vormodernen Texts von STEVENSON nutzend, könnte man sich jedoch tiefere Einsichten versprechen in die rätselhafte Logik dieses Textes, den STEVENSON nicht umsonst als The Strange Case betitelt, der sich im wabernden Nebel des alten London wie durch eine Dunstglocke vollzieht und sich nur mühsam dechiffrieren lässt.
Für die Suche nach intertextuellen Referenzen bieten sich besonders drei Aufsätze FREUDs an. Sie heissen "Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität" (1908), "Das Unbehagen in der Kultur" (1930), und "Das Unheimliche" (1919). In der zuletzt aufgezählten Arbeit beschäftigt sich FREUD selbst mit den Hintergründen des Doppelgänger-Motivs, von seinem ersten Aufscheinen in der Mythologie bis zur virtuosen Verwendung E. T. A. HOFFMANNs dieses Phänomens in der romantischen Erzählung "Der Sandmann", die FREUD minuziös interpretiert. Die beiden anderen aufgezählten Arbeiten setzen sich mit den Auswirkungen der kulturell produzierten Sexualmoral der Moderne auf die psychische Gesundheit der gesellschaftlichen Individuen auseinander. FREUD diagnostiziert eine kulturell künstlich geschaffene, unnatürliche Sexualmoral, die in einem hohen Maße Triebverzicht bzw. -aufschub von den Individuen einfordert, der zu einem Fortschreiten des zivilisatorischen Prozesses in der modernen Gesellschaft genutzt werden soll. FREUD erhebt dabei Einwände gegen das Ausmaß der Triebunterdrückung, der dem Individuum aufgebürdet wird. Seines Erachtens ist diese kulturelle Forderung nur von einer Minderheit der Individuen ohne Einschränkungen zu leisten. Ein Großteil der Gesellschaftsmitglieder könne in Zukunft eine solcherart weiterwachsende Bürde nur unter masssiven psychischen Leiden und entsprechenden Krankheitssymptomen erdulden, so FREUD. Wir werden sehen, wie folgenschwer die Rolle der kulturellen Sexualmoral auch in der Beziehung zwischen den beiden literarischen Doppelgängerfiguren Jekyll und Hyde ihre Auswirkungen in psychisch krankhaften Zuständen entfaltet. Doch zuerst zurück zu den beiden Aufsätzen. Im Grunde behandelt "Das Unbehagen in der Kultur" (1930) dasselbe Thema, über das FREUD schon 1908 reflektiert, nur dass er diesmal das Thema mit dem zeitlichen Abstand entsprechend vertieft und einige Korrekturen bei seinen Prämissen macht, was die Triebstruktur des Menschen im allgemeinen anbelangt.2
Nachdem die hier vorliegende Arbeit einen kurzen Überblick über die Entwicklungsgeschichte des Doppelgänger-Motivs liefert, einige definitorische Präzisionen vornimmt, die primär psychologischen Implikationen des Motivs aufdeckt und erste Informationen über die psychologisch interpretierbaren Aspekte des Primärtextes von STEVENSON abgibt, findet der Einstieg in den Hauptteil der Seminararbeit statt: es geht um die direkte Anwendung psychoanalytischer Theoreme aus der Feder FREUDs auf den unheimlichen Doppelgängertext STEVENSONs, in dem es von Abspaltungen, Projektionen, traumartigen Persönlichkeitsverdichtungen und Wiedergängern des Verdrängten von unfreiwillig freudianischer Provenienz geradezu wimmelt.
Der Doppelgänger, ein Thema - so alt wie die Literatur? Nochälter vermutlich, vermutlich warf er, der Doppelgänger, Schatten, sogar bevor diese (auf)gezeichnet wurden, und: erscheint er, dem Denken, der Sprache entstiegen, nicht immer noch (eher) undarstellbar, so facettenreich? Und verstehen Facetten sich, immer noch als - geschliffene? - Teile eines Ganzen? 3 Ingrid FICHTNER 1999
2.Das literarische Motiv des Doppelgängers als primär psychologisches Phänomen
2.1. Die drei Entwicklungsstufen des Doppelgänger-Motivs in der Literaturgeschichte
Das Motiv des Doppelgängers besitzt sowohl Vorläufer in den Werken antiker Autoren als auch in der Mythologie. Die Doppelgängerei spielt in der Mythologie - als mündlich tradierter, erzählerischer Form eine wichtige Ahnin der Literatur - keine geringe Rolle. Zu erwähnen sind z. Bsp. Gilgamesch und Gaboni aus der sumerischen bzw. babylonischen Überlieferung (die bereits im 12. Jhdt. v. Chr. in schriftlicher Form vorliegt), die hellenischen Dioskuren (Kastor und Pollux) oder Romulus und Remus aus dem Gründungsmythos der ewige n Stadt. Als literarische Frühzeugnisse des Doppelgänger-Auftritts sind die Helena -Tragödie von EURIPIDES, der Menächmen von PLAUTUS und die Verwechslungskomödie Amphitryon vom gleichen römischen Autor zu nennen. Anhand dieser Vorläufer lässt sich nach MORALDO eine erste von insgesamt drei Entwicklungsstufen des Doppelgänger- Motivs rekonstruieren.
Die erste Stufe manifestiert sich in der Erscheinung optisch identischer Zwillinge, die als Ensemble-Bestandteil einer Verwechslungskomödie dienen und zumeist den dramaturgischen Kern der erzählten Verwicklungen bilden. Es handelt sich bei diesen Paargebilden meist (noch) um "selbstkonsistente Persönlichkeiten" im Sinne ihres Auftretens als literarische Gestalten.4 Die Komödie entwickelt aufgrund ihres Verwechslungspotentials jedoch zum Teil tragische Züge, weil die Figuren bis an den Rand des Wahnsinns getrieben werden durch die emotionalen Verwicklungen, die die Verwechslungsverstrickungen implizieren. Zumeist gelangt die Fabel zu einem die Verstrickungen auflösenden "Happy End", durch die Konfrontation der Zwillingspaare (es können durchaus auch mehrere sein, vgl. den Amphitryon) beim finalen gemeinsamen Auftritt im Rahmen eines Aufzugs, der die Spannung zur Erleichterung aller in einer dramaturgischen Klimax - für die Zuschauer wie für die dargestellte Handlung - auflöst.
Die zweite Entwicklungsstufe bringt dramatische Veränderung in das Motiv: Aus einer einzigen Figuration entspringen zwei Wesen, das heisst eine Person spaltet sich im Laufe des narrativen Geschehens in zwei Figuren auf, die sich wie eineiige Zwillinge der Stufe Eins zum Verwechseln ähnlich sehen. Zugrunde liegt dem Phänomen meist eine Form der magischen Einflussnahme, die zur Konstituierung des Doppelgänger-Paares führt. So entsteht ein nicht mit rationalen Mitteln erklärbares, unheimliches Moment in der Narration. Die zwei Gestalten sind meist sehr stark aufeinander bezogen, "[...] da sie als Einheit aufzufassen sind."5 Auf diese Weise stehen die Figuren in einem kompensatorischen bzw. komplementären Verhältnis zueinander. Signifikant für diese Stufe des Doppelgängermotivs sind jene Figurenkombinationen zu nennen, die E. T. A. Hoffmann ersonnen hat (vgl. Kap.
1.1.xxx, Absatz 1).
In den Figuren der Stufe Drei liegt schließlich keine zwangsläufige optische Ebenbildlichkeit mehr vor. Trotzdem spricht die Forschungsliteratur hier von einem Doppelgängermotiv. In dieser vorläufig letzten Entwicklingsstufe verkörpern die beiden Gestalten ein- und diesselbe Person, tauchen also niemals zu zweit in einer Szenerie auf. Das Alter Ego kann nur dort sein, wo das Original abwesend ist und umgekehrt. Möglich ist zum Beispiel die Aufspaltung in eine Tag- und in eine Nachtexistenz. Die Doppelgänger-Gestalten stehen in diesem Fall definitiv in einem komplementären Verhältnis zueinander. Klassisches und prominentes Beispiel fuer diesen dritten Typus des Phänomens sind Dr. Jekyll and Mr. Hyde.
Um zusammenfassend die Besonderheiten der drei Spielarten zu umreissen, läßt sich festhalten, dass es in allen drei Stufen Momente der Identitätsgefährdung einer Figur zu diagnostizieren gibt. Dabei gerät die physische und psychische Integrität der betroffenen literarischen Gestalt massiv in Bedrängnis und läuft Gefahr, sich aufzulösen. In diesem Zusammenhang spielt das Alter Ego die Rolle der Opposition eines zweiten Selbst, eines alternativen Charakters, der gegen die originäre Existenz und deren Lebensumstände opponiert. In der Figur des Doppelgängers werden so alle Werte des Ausgangscharakters verkehrt, seine Lebenshaltung auf den Kopf gestellt, umgestülpt, wie in dem berühmten Modus der verkehrten Welt, der in den Karnevalsfesten aller Kulturen der Welt eine prominente Rolle spielt. So stellt der Doppelgänger die Inkarnation des Anderen, des falschen Selbst dar, einer alternativen Identität, die das Leben des Originals nachhaltig in Frage stellt: "He [the double, Hinzufüg. v. mir] is a conglomerate of the bad, the dark, the uneven aspects of the self, which have become manifest and which now appear to threaten the prototype existentically by virtue of their mere presence ." 6 Der literarische Neologismus JEAN- PAULs ist bis heute ein Bestandteil des allgemein verwendeten Wortschatzes geblieben, sein semantischer Aspekt hat sich jedoch erweitert.7 Jene "Leute, die sich selbst sehen", sei es in Form eines optisch täuschend ähnlichen Zwillings, sei es als Spiegelbild, als halluzinierte Einbildung oder Wahrnehmungsverzerrung (aus der Sicht des Rationalisten), als vorübergehende Projektion spezieller subjektiver Befindlichkeit in die Form eines als "seelengleich" empfundenen Wahlverwandten, verwandelt sich zu einer Spielart der psychologisch diagnostizierbaren Ich-Spaltung, einer manifesten Krise der Individuation mit all ihren persönlichkeitsgefährdenden Auswirkungen.
2.2. Die psychologischen Implikationen des Doppelgänger-Motivs
In der neuzeitlichen europäischen Literaturgeschichte taucht 1796 erstmals der sprachgeschichtlich veraltete Ausdruck "Doppeltgänger" bei Jean Paul Richter auf, besser bekannt unter seinem Künstlernamen JEAN-PAUL - im Roman Siebenkäs.8 Dieser "Doppeltgänger" kann sowohl semantisch als auch lexikalisch als der Vorläufer des heute verwendeten Terminus "Doppelgänger" angesehen werden.9 Das Motiv als explizit benannte Erscheinung entspringt der deutschen Literatur, von der es seinen Weg durch die neuzeitliche europäische Literaturgeschichte geht.10 Nicht umsonst hat sich der Terminus auch sprachgeschichtlich im Englischen als "doppelgänger", mit den Varianten "double-ganger" und "doubleganger" als einer der wenigen angelsächsischen Germanismen in der Weltsprache durchgesetzt.11 Tatsächlich machen vor allem die Dichter der Romantik in Deutschland mannigfachen Gebrauch von diesem literarischen Motiv. Besonders hinzuweisen ist auf E. T. A. HOFFMANN als virtuosen Nutzer des literarischen Motivs. Hervorzuheben ist seine Verwendung der "Doppelgängerei" im Roman Die Elexiere des Teufels (1814) und in der Erzählung Abenteuer in der Sylvesternacht (1813).12
"So heissen Leute, die sich selbst sehen", schreibt JEAN-PAUL im Siebenkäs (1796)13 zum erstmaligen Auftauchen des Doppelgängertums und liefert damit als Literat und Nicht-Wissenschaftler eine frühe implizite Definition, die bis heute durchaus diskussionswürdig bleibt, denn sie verweist bereits beim Auftauchen des Motivs in der deutschen Romantik auf die psychologischen Implikationen des Doppelgängertums seit jener literaturgeschichtlichen Epoche14: Jemand, der tatsächlich sich selbst in Form eines mit sich selbst identischen Gegenübers sieht, kann als eine Person charakterisiert werden, die keine vernunftgeleitete, der Realtität angepasste Selbstwahrnehmung in dieser Perzeption produziert. Selbige Person halluziniert, aus was für Gründen auch immer, oder sie leidet unter den Symptomen einer temporär oder permanent wahnhaften Selbstwahrnehmung - und wie das die Psychiatrie als Fachwissenschaft für derlei Phänomene präziser definiert: die Person leidet unter einer psychotischen Realitätsverzerrung.15
Es ist selbstverständlich, dass es unangemessen wäre, psychiatrische Termini und Erklärungsmodelle unbesehen auf ein literarisches Phänomen zu übertragen, ohne diesen deduktiven Vorgang zu reflektieren. Ausserdem ist ein literarisches Produkt als das Ergebnis einer kulturellen Leistung anzusehen, Frucht künstlerischer Arbeit und insofern in einer anderen Sphäre befindlich als die klinische Kategorisierung eines "krankhaften" Zustands mittels psychiatrischer Diagnostik. Dennoch ist solch ein interdisziplinärer Zugriff auf ein literarisches Phänomen meines Erachtens zulässig, schon aufgrund der Motivation des Strebens nach Erkenntnis. Insofern ist auch die Nutzung psychiatrischer und psychoanalytischer Forschungsergebnisse bei dem Versuch, ein literarisches Phänomen zu begreifen, ein legitimer Vorgang und kann nicht von vornherein als "unliteraturwissenschaftliche" Herangehensweise angesehen werden. Nachdem ich hergeleitet habe, wie groß der psychologische Anteil am literarischen Doppelgänger-Motiv ist, werde ich die psychoanalytischen Implikationen des Motivs in den folgenden Kapiteln mit den Methoden der Psychologie nach Siegmund FREUD untersuchen.
"Der Doppelgänger ist zum Schreckbild geworden, wie die Götter nach dem Sturz ihrer Religion zu Dämonen werden."16 Siegmund FREUD 1919, Heinrich HEINE zitierend.
2.3. Die Entwicklungsgeschichte der Doppelgänger in der Literatur aus anthropologisch-psychoanalytischer Sicht
Siegmund FREUD begibt sich mit seinem Aufsatz Das Unheimliche aus dem Jahre 1919 u. a. auf die Suche nach den anthropologischen Wurzeln des Doppelgänger-Motivs.17 Seines Erachtens lassen sich die Vorläufer der romantischen und spätviktorianischen Doppelgängerei bis in das mythische Denken der Vorzeit zurückverfolgen (vgl. Kap. xxx).18 Den religiösen Aspekt dieses Phänomens bezeichnet er als animistisches Denken. Gemeint ist damit der bei manchen Naturvölkern bis heute praktizierte Glaube an die Beseeltheit der Natur und der in ihr waltenden Kräfte. Reste dieser Glaubensformen haben sich in manche Spielarten des europäischen Aberglaubens hinübergerettet, so FREUD.19 Das archaische Auftreten des Doppelgängertums sei ursprüngliche eine magische Selbstvergewisserung, eine Versicherung gegen die Furcht vor der Vernichtung des Ichs durch die Kräfte der allwaltenden, allbelebten Natur und, abstrakter formuliert, vor dem Tod gewesen. Gleichzeitig manifestiere sich darin eine der Quellen des Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele. Der Doppelgänger verkörpere geradezu die als unsterblich imaginierte Seele des vorzeitlichen menschlichen Individuums. Phylo- und ontogenetisch gesehen markieren diese Glaubensinhalte die Phase eines primären Narzissmus (xxxmentzos) der Menschheit.20 Nachdem diese als überwunden angesehen wird, verliert der Doppelgänger als Phänomen sein positives Image. Aus dem vormals positiv empfundenen Phänomen entwickelt sich ein unheimlicher Wiedergänger, "[...] aus einer Versicherung des Fortlebens wird er zum unheimlichen Vorboten des Todes."21 Aus dem früher altvertrauten, h e i m i s c h erlebten Doppelgänger entwickelt sich ein u n h e i m l i c h e r Wiedergänger. "Die Vorsilbe 'un' [am Adjektiv 'h e i m l i c h ', Anm. v. mir] [...] ist aber die Marke der Verdrängung."22 So weist FREUD in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1919 mit den Mitteln der diachronisch operierenden, sprachwissenschaftlichen Etymologie plausibel nach, dass es im dialektalen Verbreitungsraum des Oberdeutschen eine direkte Verbindung zwischen dem "ehemals H e i m i s c h e [ n ] , Altvertraute[n]" und dem "Unh e i m l i c h en" gibt.23 Danach gilt dasjenige als unheimlich, was vordergründig als überwunden betrachtet, was geheimgehalten wird, im Verborgenen wirkt, was dort verbleiben sollte, aber doch ans Tageslicht getreten ist.24 Mit den Worten des Psychoanalytikers:
Der Charakter des Unheimlichen kann [...] daher rühren, daßder Doppelgänger eine denüberwundenen seelischen Urzeiten angehörige Bildung
Der Wortlaut des Briefs ist abgedruckt bei Ernest JONES: Das Leben und Werk von Siegmund FREUD, Band II: Jahre der Reife. 1901-1919. Dritte, unveränderte Auflage (Titel der amerikanischen Originalausgabe: "The Life and Work of Siegmund Freud", übersetzt von Gertrud Meili-Dworetzki unter Mitarbeit von Katherine Jones). Bern, Stuttgart u. Wien: Verlag Hans Huber 1982, S. 527.
ist, die damals allerdings einen freundlicheren Sinn hatte. [...]. [ ] dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeßder Verdrängung entfremdet worden ist. 25
Damit markiert laut FREUD der Doppelgänger in seiner Erscheinung - phylogenetisch gesehen - die unheimlich wirkende Wiederkehr menschheitsgeschichtlich überwunden geglaubter Entwicklungsstufen und ontogenetisch die verdrängten psychischen Anteile eines Individuum.
So steht das Phänomen des Doppelgänger in der Phase, in der er das Unheimliche der Wiederkehr des überwunden geglaubten Verdrängten verkörpert, psychoanalytisch gedeutet für dasjenige an individuellen Ich-Strebungen, an Träumen, Phantasien und unkonkretisierten Plänen des Ichs, welche von den Gestaltungen des "Schicksals", also den konkret zu bewältigenden Aufgaben des Alltags verhindert werden, weil sie sich nicht als realitätstauglich genug erweisen können. Sie verkörpern also "[...] alle Ich-Strebungen, die sich infolge äußerer Ungunst nicht durchsetzen konnten."26 Darüberhinaus (und für das zu behandelnde Thema noch wichtiger) bündelt das Phänomen alle willentlich einbehaltenen Trieb- und Gestaltungsimpulse, die der Illusion der freien Willens-Entscheidung des Ichs unterworfen werden. In jedem Falle aber kündet das Auftreten eines Doppelgängers psychoanalytisch betrachtet eine existentielle Bedrohung der psychischen Integrität einer literarischen Figur an.
Könnte es daher sein, daßder Doppelgänger immer dann als unheimlich und beunruhigend empfunden wird und das tiefgreifende seelische Folgen hat, wenn er einen verdrängten Teil des Ichs sichtbar macht - also etwas repräsentiert, was tatsächlich einmal 'heimisch' und 'altvertraut' war? 27 Aglaja HILDENBROCK 1986
3. Psychoanalytisch interpretierbare Momente in The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde
3.1. STEVENSONs Diffusität bei der Beschreibung der "Doppelgängerei": eine psychische Erblast des Viktorianismus
Mit das erste, was der psychologisch interessierte Leser des Werks "The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde"28 registieren kann, ist der erstaunliche Umstand, wie sehr es den erzählenden Instanzen schwer fällt29, Konkretes zu äußern, wenn es um die gesellschaftsnonkonformen Persönlichkeitsanteile geht, die Dr. Jekyll seit seiner Jugend zu unterdrücken versucht und dann unter dem Einfluss der selbstentwickelten "down-to-Hyde"30 -Droge sehr viel vehementer auslebt, als dass es für einen distinguierten Herrn in seiner Funktion bekömmlich wäre.
So heisst es beispielsweise aus dem Mund von Mr. Utterson: "He [ Dr. Jekyll, Anm. v. mir] was wild, when he was young; a long while ago, to be sure" (p. 24). Hier fällt auf, dass Mr. Utterson Jekyll als wilden jungen Mann charakterisiert, in einer Lebensphase, die als längst abgeschlossen gelten kann, wie es Utterson sich beeilt, hinzuzufügen - aus welchen Gründen man ihn als wilden Mann titulieren möchte, bleibt hier wie in zahllosen anderen Textstellen völlig im Dunkeln.
Um die Vielzahl der entsprechend diffus formulierten Textstellen zu dokumentieren, seien hier stellvertretend zwei weitere Zitate genannt, das erste diesmal von Dr. Jekyll selbst stammend: "The pleasures which I made haste to seek in my disguise were, as I have said, undignified: I would scarce use a harder term" (p. 90). Jekyll bezieht sich hier auf unehrenhafte, würdelose "Vergnügungen", welchen er hinter der ihn verbergenden Maske des Edward Hyde nachgeht, schränkt im Nachsatz jedoch ein, dass er schwerlich einen drastischeren Ausdruck für diese Art von "pleasures" verwenden könne, deren Reizen er erlegen ist. Aus der Figur von Jekyll spricht dabei eine in hohem Maße peinliche Berührtheit, schon bei der Verwendung des Wortes "pleasures" und im Umstand, dieses auf das eigene Erleben zu beziehen. Aufgrund dieser Peinlichkeit bleibt Jekyll eine deutliche Eingrenzung, was für Vergnügungen er damit konkret meine, notgedrungen schuldig. Von einer möglichen Präzisierung lenkt er geschickt ab, indem er die (von einem heutigen Leser) kaum nachvollziehbare, von ihm so wahrgenommene Drastik seiner Ausdrucksweise nochmals einzuschränken versucht. Im Ergebnis erwähnt Jekyll mit keinem Wort, was in jener Nacht tatsächlich vorgefallen ist, als er in der Gestalt des Mr. Hyde in London unterwegs ist. Diese Ausdrucksweise lässt großzügig Freiraum für die Vorstellungen und Spekulationen des Lesers, was an konkreten Geschehnissen sich hinter diesen sehr zaghaften Andeutungen verbergen könnte. Da es sich bei Jekyll um einen erwachsenen, geschlechtsreifen Menschen handelt und für gewöhnlich sexuelle Betätigung für den Erwachsenen einen der größten Genüsse darstellt31, liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei den angedeuteten Ausschweifungen um solche sexueller Natur handele. Andere Ausschweifungen würden wahrscheinlich moralisch nicht so stark sanktioniert werden, dass eine erzählende Figur so sehr im Trüben fischen müsste, wie dies es sich Jekyll im Zusammenhang mit den moralischen Überschreitungen gestattet, die er sich im einzelnen vorzuwerfen scheint. Jekyll stellt als literarische Figur einen gutbetuchten, gesellschaftlich weithin angesehenen Junggesellen dar, der nicht durch Treue oder Heiratsbande an eine bestimmte Person geknüpft ist, der also seine Geschlechtspartner zu seinem Vergnügen frei wählen könnte.
Ein weiteres Zitat aus Jekyll s Munde im Zusammenhang mit den 'Vorgängen', die er in der Gestalt von Hyde begeht (oder besser: stillschweigend erduldet), lautet folgendermaßen: "Into the details of the infamy at which I thus connived (for even now I can scarce grant that I committed it) I have no design of entering" (p. 91). Mit diesem Passus ringt er sich mühselig dazu durch, sich einzugestehen, dass er die 'schändlichen Dinge' im Grunde selbst begeht, die er hinter der Maske von Hyde s Physiognomie so verzweifelt zu verstecken sucht. Aber so sehr er sich Mühe gibt, einzugestehen, dass er der 'gottesferne Sünder' jener verübten Taten ist, zu denen er sich reumütig bekennt, so wenig erfahren die Leser, w a s er sich in seiner Zerknirschtheit und peinlichen Berührung vorzuwerfen hat. Das Ausmaß der Unfähigkeit sich auszudrücken und quasi eine gewissensreinigende Beichte vor dem Leserpublikum abzulegen, fordert den Missmut und das Unverständnis eines heutigen Rezipienten heraus, der von den Sitten und Gebräuchen des viktorianischen Großbritanniens durch mehr als ein Jahrhundert getrennt ist und sich fragt, was exakt den Erzähler Jekyll und den dahinter hervorscheinenden Autor STEVENSON daran hemmt, sich klar und verständlich auszudrücken. Wie der brilliante Literat Vladimir NABOKOV in seinen Lectures m. E. zurecht moniert (in seinen ab den späten vierziger Jahren unseres Jahrhunderts gehaltenen, universitären Veranstaltungen zum Thema "Selected English [...] novels"32, trägt diese virulente, nicht von ironischer Selbstdistanz zeugende Verkniffenheit STEVENSONs bei der Behandlung dieses Problems keinesfalls zur Qualität der Texts bei, vielmehr führt sein im Trüben Fischen - und das ist die Grundthese dieses Kapitels - zur nachhaltigen Irritation des Rezipienten und dokumentiert den epochalen Ballast an Sexualverdrängung, von dem dieses Stück Literatur durch die Jahrhunderte bis zur Gegenwart Kunde gibt (vgl. Kap. xxx).33
HUBBARD bemüht sich beispielsweise in seiner Monographie von 1995 darum, aufzudecken, wie vehement STEVENSON ab 1886 darauf pocht, die sexuellen Untertöne in der Jekyll-and-Hyde-novel herunterzuspielen.34 In einem Brief an einen Zeitgenossen betont STEVENSON in Hinblick auf die literarische Gestaltung des Mr. Hyde, dieser sei als Persönlichkeit nicht sinnlicher veranlagt als irgendeine andere Figur in der Erzählung. Auf diese Weise versucht er sich verbissen zur Wehr zu setzen gegen eine Anzahl an zeitgenössischen Rezensenten, die vor über hundert Jahren bereits diesselbe Kritik an diesem Werk übten wie ich sie in den ersten Absätzen des Kapitels vortrage. HUBBARD beklagt wie NABOKOV die Indifferenz und geschraubte Vagheit v. a. in den ersten zwei Dritteln des Texts, die sich, wie HUBBARD betont, gegen Ende des Werks legt35, dann entwickelt sich die Schreibweise hin zu einer größeren Ehrlichkeit im Umgang mit dem Thema der von der Jekyll -Gestalt so heftig abgewehrten "Lasterhaftigkeit", die er wohl unbewusst mit dem Sexuellen gleichsetzt (vgl. Kap. xxx).
Auch HILDENBROCK macht in ihrer Publikation von 1986 die Beobachtung, dass Jekyll seine als irregulär empfundenen Sehnsüchte und Wünsche nicht angemessen artikuliert.36 Jekyll gesteht sich unwürdige Freuden und den laufenden Fluss fehlgeleiteter, sensueller Bilder ein (p. 85/86), die er empfindet, wenn er in Hyde verwandelt ist. Er fühlt sich um Jahre verjüngt, als verspüre er neue Lebenskraft in sich aufwallen (p. 86). HILDENBROCK vermutet, dass sich hinter diesen Andeutungen "sexuelle Ausschweifungen" verbergen, die als solche nicht beschrieben werden können aufgrund einer beispiellosen sexuellen Verkniffenheit der Figur: "[...] with an almost morbid sense of shame [...]" (p. 81) quittiert Jekyll die empfundenen "pleasures" 'in der Haut' von Hyde (p. 81)37, die er nur als "irregularities" (p. 81) abqualifizieren kann. Tatsächlich ist jener "sense of shame" Jekyll s nicht nur beinahe pathologisch, e r i s t e s ganz offensichtlich - in letzter Konsequenz hat diese übertriebene Schamhaftigkeit für das Schicksal Jekyll s lethale Folgen (vgl. Kap. xxx). Zuletzt sei WEBBER als Befürworter der These von der sexualfeindlichen Diffusität im Ausdruck STEVENSONs angeführt. Er postuliert, dass es in der Erzählung einen sexuellen Subtext gebe. Die Story von Jekyll and Hyde sei geradezu gespickt von zweideutigen Kode-Worten über sexuelle Sünden und bzw. oder von sexuellen Missetaten.38
Wie aber lässt sich die Schamhaftigkeit Jekyll s plausibel erklären, jenes rigide schamvolle Schuldbewusstsein, das offenbar zu einem erheblichen Maße am tragischen Ende der Erzählung mitschuldig ist (vgl. Kap. xxx)? Wo kann die textimmanente Argumentation zu den aufgeworfenen sexuellen Defekten39 der
Hauptfigur hinüberführen zu einer literaturpsychologischen Interpretation des berühmten Texts aus STEVENSONs Feder? Eventuell besteht die Tragödie der Persönlichkeit Dr. Jekylls darin, dass er aufgrund seiner erreichten hohen gesellschaftlichen Stellung, die er unter keinen Umständen aufgrund eigenen Verschuldens aufs Spiel setzen möchte, eine sehr starke Seite seines Selbst (von Jekyll euphemistisch folgendermaßen formuliert: "a certain impatient gaiety of disposition" (p. 81)) über einen langen Zeitraum stranguliert, was ihn als Mensch auf die Dauer unzufrieden, ja unglücklich macht, je länger er diese Seite verschüttet durch das permanente Ignorieren bzw. Aufschieben dieser Bedürfnisse (vgl. Kap. xxx).40
Nach der langen Vorrede in den ersten acht Absätzen dieses Kapitels ist klar, welche Persönlichkeitsseite damit nur gemeint sein kann: es sind die vitalen Antriebskräfte Jekylls, die im übrigen dem "in-der-Welt-Sein"41 als existierendes Wesen immanent sind, es ist seine animalische Seite, sein Ich-, und sein Arterhaltungstrieb - der Part von Jekyll, der nicht umhin kann, 'Unterleibsmensch' zu sein, neben seinen hochfliegenden Eigenschaften als sogenannter Geistesmensch, als den er sich überwiegend präsentiert und der er deshalb verzweifelt zu sein vorgibt. Weil er diese starke Trieb-Seite als gesellschaftlich anerkannte Geistesgröße (vg. p. 81) in sich nicht ertragen kann, weil sie seinem übertrieben hochmütigen Identitätsanspruch nicht genügen kann42, erschafft er sich mittels den phantastischen Errungenschaften einer transzendentalen Chemie, die er aufgrund seiner Triebabfuhr- Interessen zu beherrschen lernt, eine Möglichkeit, den verschmähten Part seiner heterogenen Persönlichkeitsanteile im chemischen Sinne buchstäblich auszufällen, um den Hyde in sich vorübergehend loszuwerden.43 Wen er in Wirklichkeit partiell loswird, ist der prüde "Jökulle" (vgl. Anm. No. xxx), jener Eiszapfen, der ihn der insgeheim herbeigesehnten Triebabfuhr über so viele Jahrzehnte eines wesentlichen Teils seiner Lebensqualität regelrecht beraubt. Der Jekyll, der aus beiden Anteilen sich speist, nutzt fortan die Gestalt des Mr. Hyde als Ventil, um endlich ein bisschen vom Es-Druck, von der Triebenergie unter dem Gewinn von lustvoller Zufriedenheit, von Trieb-Entspannung abzulassen.44 HILDENBROCK bezeichnet die Hyde -Figur zurecht als eine tierhafte Existenz (vgl. Kap. xxx). Jekyll gelingt es durch die zuerst kontrollierte temporäre Verwandlung in Hyde, sich aussserhalb der strikten, alle Lust sich versagenden Konventionen einer extrem calvinistisch geprägten Gesellschaft zu stellen, einer Gesellschaft, die weitestgehend Triebaufschub, wenn nicht gar totale Zeitpunkt des Schreibens präsentiert haben könnte, möchte ich mich nicht hinreißen lassen, verweise aber auf das biografisch gefärbte Buch von Karl MILLER: Doubles. Studies in Literary History. Oxford, GB: Oxford University Press 1985, der in dieser Doppelgänger-Monografie in mehreren Passagen auf STEVENSON's bewegtes Leben eingeht. Vgl. a. Dieter HAMBLOCK: Nachwort. In: STEVENSON: The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde, 1984, S. 112-118, hier S. 113.
Libido-Entsagung außerhalb der bürgerlich sanktionierten Zwangsehe einfordert45 - und da Jekyll offensichtlich nicht verheiratet ist, und es im Text irrelevant bleibt, ob er nun hetero- oder homosexuell veranlagt ist - gibt es mit Ausnahme des gesellschaftlich-moralischen Imperativs keinen motivierten Grund, sich die Lust zu versagen. Das Problem besteht darin, dass sich "Jökulle" auch nach der Möglichkeit, mittels der Hyde -Figur seine Libido kurzzeitig auszuleben, keines Besseren belehren lässt und sich weiterhin unfähig zeigt, seinen Triebhaushalt in die Alltagsökonomie des Dr. Jekyll zu integrieren. Wahrscheinlich ist Hyde als möglicher Wegbereiter dazu auch nicht befähigt, da aufgrund des überlangen Zurückhaltens der Triebenergien, diese verkümmert sind und sich nur in Form von sadistischen und destruktiven Impulsen ausagieren lassen (vgl. p. 7, p. 30/31, p. 91; vgl. a. Kap. xxx). Jekyll verharrt darin, sich dem calvinistischen Leistungsethos bedingungslos zu unterwerfen, entwickelt gleichzeitig aber eine regelrechte Sucht nach dem drogeninduzierten Ausfällen Hyde s46, wonach er dann für Stunden oder Tage jede Verantwortung von sich streift und tatsächlich wie ein psychopathisches Monstrum bedingungslos seiner Triebseite erliegt.47 Er kann sich von dieser rigiden Existenzaufspaltung nicht lösen und unterwirft sich weiterhin dem moralischen Imperativ seiner gesellschaftlich hochangesehenen Existenz. So wird die radikale Verdrängung seiner "certain impatient gaiety of disposition" (p. 81) nach außen beibehalten - bis zum bitteren Ende. Jekyll bleibt Opfer seines calvinistischen, psychisch zwanghaften 'Gutmenschentums'. Die Art und Weise, wie Jekyll über seine zwei Teilpersönlichkeiten reflektiert, wie er über die Eigenschaften des Hyde spricht, in einer derart vagen und zugeknöpften Art deutet darauf hin, wie minderwertig und "socially misfitting" diese menschlich konstitutionellen Seiten von ihm angesehen werden. Diese essentiellen Anteile seines Daseins sind offensichtlich im Alltagsbewusstsein für ihn sogar verabscheuungswürdig, ekelhaft. Daraus resultiert die grauenhafte Virulenz des Hyde, die heimlich ausgeübte, vertuschte, verklemmte Sucht Jekyll s nach dieser rohen Existenzform, die ihn periodisch von sich selbst befreien soll. Diese Sucht zeugt nur von der extremen Aufgespaltenheit, von den starken desintegrativen Tendenzen in der Persönlichkeit Jekyll s, der nicht stark genug ist, sich mit seiner wertvollen, aber verdrängten Trieb- und Nachtseite, seinem "Schatten" am Ende zu versöhnen. Diese mangelnde Integrationskraft, diese innere Zerrissenheit führt ihn schließlich in der Gestalt des verhassten Hyde in den Untergang.
3.2. Abspaltungsvorgänge von Jekyll zu Hyde oder: die ewige Wiederkehr des Verdrängten - das Böse ist sexuell und immer und überall - im Viktorianismus
Eine zweite wichtige Beobachtung, die der aufmerksame Leser bei der Rezeption von The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde machen kann, ist die konsequente, permanente Zuordnung des Bösen auf die Person des Mr. Hyde. Hyde wird quasi von Jekyll und dem Kranz von gutsituierten Männern (Utterson, Lanyon, Enfield), die auf die eine oder andere Weise in den Fall verwickelt sind, kongruent gesehen mit einem absoluten Bösen (vgl. z. Bsp. p. 7/8, p. 22). Für diese Beobachtung lässt sich eine Schlüsselstelle im Text der Erzählung benennen. Es handelt sich dabei um die Schilderung von Jekyll s erster gelungener Anwendung der "Down-to-Hyde-Droge" (vgl. Anm. xxx) und um jene Sensationen, die Jekyll dabei empfindet:
There was something strange in my sensations , something indescribably new, and, from its very novelty, incredibly sweet . I felt younger , lighter, happier in body ; within I was conscious of a heady recklessness , a current of disordered sensual images running like a mill race in my fancy, a solution of the bonds of obligation , an unknown but not an innocent freedom of the soul . I knew myself, at the first breath of this new life , to be more wicked, tenfold more wicked , sold a slave to my original evil ; and the thought , in that moment, braced and delighted me like wine (p. 85/86).
Jekyll spricht es selbst aus, er fühlt sich durchflossen von sensationellen, verjüngenden Energieströmen, aber er fühlt auch, dass er zehnmal so böse ist wie in seinem Alltagsbewusstsein, dass er in diesem Zustand einem ureigenen bösen Wesenskern sklavisch ausgeliefert scheint. Er ist unkontrollierbar böse geworden durch die Einnahme der Droge, die ihn in einen "damned juggernaut" (vgl. p. 7) verwandelt. Was aber an dieser Textstelle noch wichtiger ist: es kommt zum Vorschein, wie sehr das Böse, welches Jekyll auf Hyde projiziert, unmittelbar verknüpft ist mit dem Triebhaften, Rauschhaften, Dionysischen. Er schildert etwas unglaublich Süßes, unbeschreiblich Neues, eine berauschende Sorglosigkeit, die ihn durchrieselt, fühlt körperliches Glück, das ihn verjüngt. Diese Stellungnahmen sind eindeutig der Sphäre der Triebbefriedigung, dem Sinnlich-Sexuellen zuzuordnen.48 Auch stellt er eine Verbindung her zwischen der tiefempfundenen, intensiven Bösartigkeit, die ihn erfrischt wie guter Wein. Auch der Wein, den Jekyll als Vergleichsmöglichkeit anführt, ist eindeutig der Genusssphäre, in letzter Konsequenz mit dem Rauschhaften assoziiert. Dagegen steht Jekyll s Alltagsleben, in dem ein calvinistisches Credo aus Triebentsagung, hoher Arbeitsleistung, Ehrenhaftigkeit und Selbstüberwindung im Vordergrund steht.
Im kulturellen und sozialen Umfeld des späten Viktorianismus in Großbritannien, in dem das Werk von STEVENSON entsteht, ist eine solche Verquickung von moralischer Sphäre und einer Lebens-Sphäre, wie sie hier zwischen dem Bösen an sich und dem Bereich des Rauschhaften, Sinnlich-Sexuellen geschieht, keine Besonderheit. In der Zeit um 1887 ist es vielmehr weitverbreitet, dass prüde und bzw. oder erotisch besonders freizügige Zeitgenossen diese beiden Sphären "moralisch" gesehen, regelmäßig durcheinanderbringen.49
Darüberhinaus besitzt dieser Verbindungsschlag vom Bösen zum Triebhaften- Sexuellen in der Geschichte des Abendlandes eine lange Tradition.50 Schon zu Zeiten der europäischen Hexenverfolgungen im Mittelalter wird den Verdächtigten, Angeklagten und Verurteilten vorgeworfen, dass sie exzessive sexuelle Praktiken mit finsteren Mächten ausüben würden, um auf diese Weise mit Luzifer, der Verkörperung des absoluten Bösen im (katholischen) Christentum, einen Pakt einzugehen, der mit dem sogenannten Analkuss besiegelt wird. FREUD beispielsweise schildert den Fall einer gut dokumentierten Teufelsneurose in der frühen Neuzeit und stellt fest, dass in den Gemütern der damaligen Christen das Triebhaft-Sexuelle mit dem Bösen quasi kongruent gesetzt wird.51 Anders sind die menschenlebenverachtenden Exzesse der Obrigkeit u. a. zur Zeit der spanischen Inquisition wohl nicht zu erklären. Mit den Worten von FREUD: "Wir dürfen nicht erstaunt sein, wenn die Neurosen dieser frühen Zeiten im dämonologischen Gewand auftreten."52 FREUD ist zeitlebens davon überzeugt, dass funktional gestörtes Sexualverhalten oder gar die weitgehende Verdrängung der Sexualität eines Individuums den gewichtigsten Grund bildet für die Entstehung neurotischer oder psychotischer Symptome.53 So ist aus diesem Fall herleitbar, dass in einem unaufgeklärten Milieu irrationaler Erosfeindlichkeit das Bedürfnis nach dem Ausagieren sexueller Impulse buchstäblich mit Verderbtheit, Unzucht und Bösartigkeit gleichgesetzt wird.
In dieser Hinsicht hat der Text von STEVENSON etwas Archaisches. Auch Hyde wird im gleichen Atemzug als böse apostrophiert, wenn er seinen unaussprechlichen, obskuren Begierden nachgeht, von denen Jekyll so überfordert ist, von seinem fragwürdigen "sittlichen Schamgefühl" beherrscht, dass er in seinem Full Statement of the Case über schemenhafte Andeutungen bei den Beschreibungen der begangenen Taten nicht hinauskommt. So watet der Leser - was die Leidenschaften Hyde s angeht
- genauso im Trüben wie die Herren Enfield, Utterson und Hyde beim "Spaziergang" durch den frühmorgendlichen Londoner Nebel.
[...] endlich, und das scheint das Wichtigste, ist es unmöglich zuübersehen, in welchem Ausmaßdie Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist , wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat. [...]. Es ist nicht leicht zu verstehen, wie man es möglich macht, einem Trieb die Befriedigung zu entziehen. Es ist gar nicht so ungefährlich ; wenn man es nichtökonomisch kompensiert, kann man sich auf ernste Störungen gefaßt machen. 54 Siegmund FREUD 1930
4. Zugriff auf die Mechanismen des "Jekyll -zu- Hyde -Doppelgängers" mittels des Instrumentariums der Psychoanalyse
4.1. Ursache des Doppelgänger-Phänomens: zu hohe Anforderungen an die Triebsublimierung im Viktorianismus
FREUD geht 1908 in einem ersten Aufsatz zu diesem Thema ursprünglich von einem vermehrt auftetenden Problem der "Nervosität" in der modernen Gesellschaft aus.55 Er findet zu der These, dass es die herrschende kulturelle Sexualmoral sei, die eine Ursache der in breiten Schichten der Gesellschaft grassierenden neurotischen Erkrankungen bildet, die imstande sind, die gesellschaftliche Produktivkraft nachhaltig zu schwächen. Dann präzisiert er seine These: es sei die sexuelle Versagung, die von der kulturell überformten Sexualmoral eingefordert wird, welche die meisten Individuen nicht verkrafteten und folglich krank werden würden, weil längst nicht alle Individuen über die erforderliche Fähigkeit zur Sublimierung verfügen würden.56
In seinem Essay aus dem Jahre 1930 - über das Unbehagen in der Kultur - vertieft FREUD seine Thesen. Die moderne menschliche Zivilisation sei in einem ungeahnten Maß auf weitgehendem Triebverzicht aufgebaut. Daraus resultiere eine gewisse "Aggressionsneigung" der Individuen untereinander, welche wiederum die kulturelle Überformung des Menschen zu neuem Aufwand nötigt.57 Weil sich die Schere zwischen Disziplinierung durch Kultur und der "Triebeskalation" immer
weiter öffnen würde, sei die Kulturgemeinschaft in der modernen menschlichen Gesellschaft fortdauernd vom Zerfall bedroht. Dies sei ein weiterer Grund für die kulturelle Gemeinschaft, das Sexualleben weiter einzuschränken, um durch Disziplinierung die sexuellen Triebenergien für weitere kulturelle Leistungen fruchtbar zu machen (was als Phrase als eine Definition des Terminus Sublimierung gelten kann, vgl. Kap. xxx). Letztendlich nutzt die kulturelle Sexualmoral die Institution der Ehe als Zwangsmittel, um auf diese Weise alle Sexualäußerungen außerhalb einer gesellschaftlich legitimierten ehelich-monogamen Beziehung zu sanktionieren bzw. zu unterdrücken.58 Dies führt aufgrund der Uneinhaltbarkeit dieses Gebotes durch den z. T. triebbestimmten Menschen zwangsläufig zu einer doppelten gesellschaftlichen Moral - die sich in beispielloser Weise negativ auf die Ehrlichkeit und Humanität der Individuen auswirkt.
FREUD warnt nachhaltig vor weiter zunehmenden Einschränkungen des Sexuallebens durch die Disziplinierungsforderungen der Kultur.59 Diese würden zu schweren Schäden führen, die durch die im Gegenzug errungenen zivilisatorischen Leistungen nicht mehr kompensiert werden könnten. Die Grenze für das Maß an Triebverzicht sei bereits erreicht, weil die Sublimierungsfähigkeit der meisten Individuen voll ausgeschöpft werde. Eine totale Abstinenz würde für die Mehrzahl der Individuen ernsthaften seelischen Schaden für die Gesundheit nach sich ziehen.
An diesem Punkt des Exkurses in die recht pessimistische Weltsicht der Psychoanalyse lohnt es sich, wieder zum Text von STEVENSON zurückzukehren. Inwiefern lassen sich die Überlegungen FREUDs auf die Doppelgänger-Problematik bei Jekyll/Hyde übertragen? Zuständig für das Ausüben der Trieb-Zurückdrängung, im besten Falle für die Sublimierung der menschlichen Triebregungen, ist das sogenannte Über-Ich. Laut FREUD repräsentiert das Über-Ich den Niederschlag der langen menschlichen Kindheitsperiode, in der das Kind von den elterlichen Umsorgungen existentiell abhängig ist. Im Über-Ich schlägt sich zeitlebens dieser elterliche Einfluss als psychische Instanz des Individuums nieder. Es ist die dritte Macht im Rahmen des von FREUD postulierten Drei-Instanzen-Modells (bestehend aus Es, Ich und Über-Ich).60 Das Über-Ich repräsentiert also den über die Eltern fortgepflanzten Einfluss von Familien-, Regional-, Volks- und Staatstraditionen "[...] sowie die von ihnen vertretenen Anforderungen des jeweiligen sozialen Milieus."61 Im wesentlichen bildet es ein Vehikel der Moral aus, das das Individuum ganz allgemein ausbildet, um die Anforderungen zu erfüllen, die die menschliche Gesellschaft an das Individuum stellt.62
Mithilfe der theoretischen Unterstützung von seiten FREUDs ist es nun möglich, zu erklären, weshalb Jekyll Hyde als seinen Doppelgänger erschafft. Jekyll verfügt über ein besonders ausgeprägtes Über-Ich (ohne dass er in der Lage wäre, darüber zu reflektieren), das die Regeln der gesellschaftlichen Elite, in der er sich in seinem
Alltag bewegt, besonders penibel repräsentiert und überwacht. Dieses Über-Ich verbietet es ihm strengstens, die triebhaften Impulse seiner menschlichen Natur in Handlungen umzusetzen. Es verbietet ihm auf rigide Art und Weise, unter Androhung hoher phantasierter Strafen, seine Triebnatur, sein Es als integrierten Teil seiner Persönlichkeit zu akzeptieren - Jekyll s "[...] ganzes wissenschaftliches Streben ist daher darauf gerichtet, diesen 'dunklen' Aspekt von sich abzutrennen und die Verantwortung dafür einem anderen aufzutragen".63
4.2. Die Konsequenz: Verdrängung, Abspaltung und Projektion der Triebenergie Jekyll s - Seeking Mr. Hyde
4.2.1. Ergebnis der Verdrängung: die verhängnisvolle Entdeckung der " Down-to- Hyde-Drug"
Das Verdikt des Über-Ichs gegen die "unmoralischen" Impulse des Es und das zwischen den beiden Instanzen zu vermitteln suchende Ich erscheint bei Jekyll als so mächtig, dass es ihm in seinem Alltag nicht gelingt, dieses Verdikt auf irgendeine Weise einzuschränken oder zu umgehen. Die vom Über-Ich unerwünschten Impulse werden ins Unbewusste verdrängt. Weil die Triebwünsche des Es vom Ich bei Jekyll nie "durchgearbeitet" werden, findet nur bedingt eine Kompensation, in keinem Fall eine Sublimierung statt, das Gegenteil ist der Fall64. Die Trieb-Impulse kehren in virulenter Form zurück, fordern nur hartnäckiger ihr Recht auf Freisetzung ein, solange, bis sich Jekyll dazu durchringt, diesen Zustand zu beenden und auf irgendeine Weise mit dem quälenden Triebstau fertig zu werden: "I had learned to dwell with pleasure, as a beloved daydream, on the thought of separation of the two elements" (p. 83). Um die starken Impulse des Es ausleben zu können, greift Jekyll zum radikalsten und psychologisch primitivsten Mittel: I "[...] managed to compound a drug by which these powers should be dethroned from their supremacy, and a second form and countenance substituted, none the less natural to me because they were the expression, and bore the stamp, of lower elements in my soul" (p. 84). Zu diesem Zweck spaltet Jekyll die vom Es regierten Anteile seiner Persönlichkeit ab, indem er sich mittels der Einnahme des weissen Pulvers in eine Kreatur verwandelt, die äusserlich nichts mit ihm gemein hat (vgl. Kap. 3.2.). Er exkorporiert die Es- Anteile gewissermaßen, fällt sie aus mittels des chemischen Wirkstoffs der Droge, die er zu diesem Zweck entwickelt (vgl. Kap. xxx). In der Entwicklungspsychologie ist ein verwandtes Phänomen bei den unreifen, frühkindlichen Externalisierungsvorgängen bekannt.65 Im hier vorliegenden Fall handelt es sich um eine literarische Phantasie, die der handelnden Person das phantastische Mittel in die Hand gibt, mittels wissenschaftlicher "Entdeckung" einer synthetischen High-Tech- Droge eine solche Exkorporation an psychischen Selbstanteilen vorzunehmen. Als Hyde kann Jekyll nun all jenen Lüsten, Freuden und Lastern nachgehen, die ihm über
Jahrzehnte versagt gewesen sind, in denen er Sklave seiner Angst vor der peniblen Einhaltung der Regeln und Konventionen seines implementierten gesellschaftlichen Moral-Kodexes gewesen ist, die in Form seines Über-Ichs in seinem Gemüte über deren strikte Befolgung wacht.
Mit dem primitiven Externalisierungsvorgang der chemischen Ausfällung der Triebpersönlichkeit Hyde versucht Jekyll die schmerzhaften Schamgefühle loszuwerden, die ihm über Jahre von seinem Über-Ich bei jeder Triebregung verabreicht wurden. Mit der Ausfällung Hyde s glaubt Jekyll auch die Verantwortung los zu sein über die Auswirkungen seiner Triebregungen. Dieser naive Glaube daran, die Verantwortung abwälzen zu können, wird ihm zum Verhängnis. Alle Untaten Hyde s fallen letztendlich auf ihn zurück, er ist auf Gedeih und Verderb an seinen Doppelgänger gekettet und geht folglich auch mit ihm zugrunde. Die Triebpersönlichkeit Hyde strebt nach Autonomie, entzieht sich dem kontrollierenden Einfluss von Jekyll. Hyde entwickelt sich im Lauf der Handlung so stark, er beginnt Jekyll zu dominieren, wenn dieser für einige Zeit die Kontrolle zurücknimmt, er wird derart mächtig, dass er Jekyll s Persona zu vernichten droht. Dieser Konflikt zwischen den widerstreitenden, alternierenden Persönlichkeiten66 speist letztendlich den spannungsvollen Konflikt des literarischen Texts.
4.2.2. Marken der Verdrängung I: die hinteren Räume in Jekylls Haus
Ein wichtiges Indiz für den permanenten Verdrängungsvorgang, mit dem Jekyll Hyde auch nach dessen Erschaffung überzieht, ist symbolisiert in der auffälligen Vernachlässigung des Teils des Hauses von Jekyll, in dem er sich aufhält, wenn er auf der Droge "Down-to-Hyde" (DTH) ist. Zu Beginn der Geschichte bleibt die topographische Verbindung zwischen dem repräsentativen Gebäudeteil, in dem Jekyll residert und dem hinteren Teil des Hauses, dessen Zugang nach einer kleinen Seitenstraße verläuft und nur von Hyde genutzt wird, absichtlich im Dunkeln. Der Text liefert folgende Beschreibung des hinteren Hauszugangs:
Two doors from one corner, [...] the line was broken by the entry of a court; and just at that point, a certain sinister block of building thrust forward its gable on the street . It was two storeys high; showed no window, nothing but a door on the lower storey and a blind forehead of discoloured wall on the upper: and bore in every feature the marks of prolonged and sordid negligence . The door , which was equipped with neither bell or knocker, was blistered and distained . Tramps slouched into the the recess and struck matches on the panels; [...]the schoolboy has tried his knife on the mouldings; and for close on a generation no one had appeared to drive away these random visitors or to repair their ravages . (p. 5/6)
Im Gegensatz zu den anderen Häuserfronten auf der Straße scheint dieser Zugang unbenutzt, unbewohnt, wirkt als Fremdkörper in der ansonsten sehr lebhaften Seitenstraße (vgl. p. 5), zeugt, wenn überhaupt, von der Unbehaustheit seiner Bewohner. Die Gebäudefront zeigt alle Spuren von langanhaltender Vernachlässigung, wie es der Text explizit formuliert und dann im Detail kunstvoll ausschmückt.
Die Pforte zu Dr. Jekylls Etablissement liegt dagegen auf der breiten Seite eines repräsentativen Platzes: [...] there was a square of ancient, handsome houses, now for the most part decayed from their high estate [...]. One house , however, second from this, which wore a great air of wealth and comfort , [...] Mr. Utterson stopped and knocked . A well-dressed, elderly servant opened the door. "Is Dr. Jekyll at home, Poole?" asked the lawyer. (p. 22/23) Auch innerhalb der Räumlichkeiten, die Jekyll zur Verfügung beansprucht, herrscht eine Atmosphäre von distinguierter Gepflegtheit und der zurückhaltenden, unaufgeregten Zurschaustellung von kultivierter Lebensart und Luxus (vgl. p. 23).
Hingegen zeigt der hintere Teil desselben Hauses alle deutlichen Spuren von Verwahrlosung, Schmutz und Unbehaustheit. Das erfährt Mr. Utterson, als er das erste Mal diesen vor Besuchern verheimlichten Teil des Anwesens von Jekyll als Gast betritt67: [...] he eyed the dingy windowless structure with curiosity, and gazed round with a distasteful sense of strangeness as he crossed the theatre, [...] the floor strewn with crates and littered with packing straw, and the light falling dimly through the foggy cupola (p. 36/37). Die auffällige Differenz im Zustand der Bewirtschaftung der beiden Gebäudeteile lässt im ersten Moment nicht vermuten, dass beide Wohnbereiche Bestandteile ein- und desselben Anwesens sind. Für einen Uneingeweihten ist jedenfalls die Verbindung zwischen beiden Hausbereichen völlig unklar, denn in diesem Bezirk der Stadt herrscht topographisch betrachtet, labyrinthisches Gewirr: "And yet it's not sure: for the bulidings are so packed together about that court, that it's hard to say where one ends and another begins" (p. 11).
Der Gegensatz zwischen dem stattlichen Vorderteil und dem vor Besuchern verheimlichten und hygienisch auffällig vernachlässigten hinteren Part der Wohnräume Jekyll s, in denen sich in der Handlung nur Hyde und am Ende der vollkommen zerrüttete Jekyll aufhält, lässt sich als sehr klares Symbol für die Beziehung zwischen dem hochangesehenen Jekyll und dem kreatürlichen Hyde deuten.68 Laut der Psychologie FREUDscher und JUNGianischer Provenienz kann im allgemeinen das Haus als weitverbreitetes Traum-Symbol, in diesem Fall als Manifestation des Unbewussten69 gelesen werden in der Stellverteterrolle für die Darstellung der menschlichen Seele.70 In diesem Fall verkörpere es die psychische Befindlichkeit Jekyll s, der seine Existenz aufspaltet in einen nach aussen repäsentierenden, anerkannten und in hohen gesellschaftlichen Kreisen geschätzten Arzt und Wissenschaftler, auf der anderen Seite treibt vor allem in der Nacht das gleiche menschliche Wesen in der Gestalt des zwergwüchsigen Mörders Hyde seine Umgebung in Angst und Schrecken. Dabei steht der Vorderteil gegenüber dem Hinterteil des Hauses analog zur oberen gegenüber der unteren Moral-Sphäre, dem Hohen, Erhabenen gegenüber dem Niederen, Unterdrückten, dem Geistigen, Himmlischen gegenüber dem Irdischen, Körperlichen, Animalischen, Chthonischen, Mephistophelischen. So sehr die Vorderseite des Hauses, also die offizielle Seite der anerkannten Jekyll -Persönlichkeit, gepflegt und wohlausgebildet ist, so verlottert, verkommen und verwahrlost präsentiert sich der hintere Teil des Anwesens, das die verdrängten Bereiche seines Seelenlebens verkörpert, seine Nachtseiten, in denen
Animalität, Grausamkeit und Lasterhaftigkeit weit jenseits der Vorstellungsmöglichkeiten regieren, gesteuert von dem Bewohner dieser Bereiche, dem "damned juggernaut" (p. 7), der somewhat "troglodytic" personality Hyde (p. 22), der dem Orkus des ungelebten Seelischen in Jekyll entstiegen ist, das dieser über Jahrzehnte im Verborgenen (in den Höhlungen des Unbewussten) gehalten hat, solange bis jener Zustand der Vernachlässigung und Unordnung im psychischen Haushalt Jekyll s nicht mehr zu unterdrücken ist und Hyde einen Weg findet, Gestalt anzunehmen als "Unterleibsmensch", als vom Trieb Geleiteter seinen Weg in die Freiheit zu finden: "My devil had been long caged, he came out roaring. (p. 97). Aufschlussreich ist, wie sehr Hyde im Text als niedere Kreatur, als Dämon, als kaum menschlich zu bezeichnende, tierhafte Existenz diffamiert wird.
4.2.3. Marken der Verdrängung II: Jekyll als "Young Apeman Hyde"
Wie sehr also Hyde die Rolle einer als niedrige Kreatur angesehene Figur spielt, zeigt eine kurze Aufzählung aller Passagen, in denen er als nicht-menschlich beschrieben wird. An verschiedenen Stellen taucht er mit den Eigenschaften des Lemurischen tituliert auf: "[...] with ape-like fury, he was trampling his victim under foot [...]" (p. 30), "[...]when that masked thing like a monkey jumped from among the chemicals and whipped into the cabinet, it went down my spine like ice" (p. 60). Hier wird in einer Beobachtung das €ffische seiner Bewegungen noch verstärkt durch die Vorstellung seiner Person als ein maskiertes "thing", also etwas, das gar kein Mensch ist, eines unkategorisierbaren Es71: "that thing in the mask was never Dr. Jekyll" (zweimal auf p. 58). Hyde wird gerne auch mit "it" bezeichnet, als hätte er kein Geschlecht, als sei er tatsächlich ein "Es" (p. 58, p. 60, p. 62). Des öfteren taucht die Zuordnung Hyde s in den Bereich der undifferenzierten Zoologie auf: "A dismal screech, as of mere animal terror, rang from the cabinet" (p. 63). In einem Moment als Jekyll einzuschlummern droht, beschreibt er den in ihm eingeschlossenen, verborgenen Hyde als "the animal within me, licking the chops of memory" (p. 101).
Dann wiederum scheint er sich wie ein Insekt oder ein rückgratloses Tier fortzubewegen: "The creature who crept into my house that night ..." (p. 80). Schließlich artikuliert sich Hyde als primitives Säugetier: "why did he cry out like a rat and run from me?" (p. 57). Die latente Verknüpfung zwischen Hyde und einem animalischen Wesen, das nichts Menschliches an sich hat, scheint jedenfalls hinlänglich deutlich im Text STEVENSONs artikuliert zu sein, wenn man sich einen Aussschnitt aus der Vielzahl der Textstellen, die in diese Richtung deuten, vor Augen führt.
HUBBARD prägt in diesem Zusammenhang zur Person des Hyde den Ausdruck vom "sedulous ape".72 Laut den Forschungsergebnissen der Paläoanthropologen haben der Mensch und sein nächster Verwandter, der Affe, gemeinsame Vorfahren.73 Der Affe kann durchaus als eine Art niedriger Verwandter der hochentwickelten Tierart Mensch gelten. HUBBARD weist darauf hin, wie emsig (engl. "sedulous") Hyde im vorliegenden Text im Begriff ist, zu demonstrieren, dass die äffischen Seiten in der Natur des Menschen nicht abgestritten werden können.74 Dabei geht HUBBARD auf das starke Verdrängungsmoment in der britischen Gesellschaft Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein.75 Das missing link in der Forschung, dass als achäologischer Knochenfund die tiefverwurzelte biologische Verwandtschaft von Mensch und Affe dokumentieren könnte, dessen Existenz theoretisch zu postulieren ist, wird von den meisten Menschen dieser Epoche in den Bereich der Hirngespinste verworfen. Bei der Aufrechterhaltung dieses Ignorierens theoretisch unbestreitbarer Tatbestände läuft die Evolution Gefahr, in den Rückwartsgang zu schalten, so HUBBARD. Ein Ignorieren der Realität der menschlichen Evolution aus "äffischen" Vorfahren läuft Gefahr, denselben Prozess in einen der "Mensch-zum-Affen- Rückentwicklung" umzuwandeln. Es ist unmöglich, das Animalische am Menschen über einen längeren Zeitraum zu verdrängen, oder gar von Anfang an zu ignorieren, ohne dafür im Gegenzug destruktive Folgeschäden ernster Art in Kauf zu nehmen (vgl. das Motto-Zitat zu Anfang dieses Kap.) - das könnte eine der "Lehren" sein, die aus der Lektüre des Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde gezogen werden können.76
Für einen kurzen Moment beleuchtet (dokumentiert) die Szene im Text, in der Hyde über das kleine Mädchen hinweggetrampelt ist wie ein "damned juggernaut" (p. 7) und über den dann sich vollziehenden Menschenauflauf, in der Hyde Gefahr läuft, von einer aufgebrachten Schar von Frauen, die sich wie griechische Rachegöttinen (Harpyen) auf ihn stürzen wollen, gelyncht oder gar spontan körperlich in Stücke gerissen zu werden, die ungeheure "höllische" Trieb-Energie, die unter der fadenscheinigen Oberfläche an Sittsamkeit und emotionaler Beherrschtheit im Verborgenen, Verdrängten des Viktorianismus fließt und deshalb auszubrechen droht, weil sie aus dem öffentlichen Leben in tabuisierte Bereiche verbannt ist, um den schönen Schein der überirdischen Moral des Calvinismus zu verewigen. Um noch ein treffendes Beispiel zu zeigen für diese spekulative These:
"But the doctor's case was what struck me. He was the usual cut-and-dry apothecary, of no particular age and colour, with a strong Edinburgh accent, and about as emotional as a bagpipe. Well, sir, he was like the rest of us; every time he looked at my prisoner, I saw that Sawbones turned sick and white with the desire to kill him. I knew what was in his mind, just as he knwew what was in mine;" (p. 8/9) Ein besonders beherrschter, trockener, emotional sehr unterbelichteter Apotheker aus der Heimatstadt STEVENSONs verhält sich beinahe wie ein Tollwütiger angesichts Hyde s Anblick. Er wird ganz weiss im Gesicht vor spontaner Lust, Hyde brutal zu töten. In diesem kurzen Augenblick, phantasiert in einem Text mit phantastischen Zügen, bricht die repressive Oberfläche der viktorianischen Doppelmoral auf und darunter kommt das verdrängte Animalische hervor, was Hyde verkörpert und worin sich die sonst so beherrscht Friedfertigen im Umfeld des bizarren Ereignisses in ihrem eigenen Verlangen nach der Freisetzung jener aufgestauten "Höllen"-Energie spiegeln können.77
STEVENSON exerziert mit Jekyll/Hyde genau das exemplarisch vor, was in vielen Geistern dieser Epoche virulent ist. Jekyll hält den gesellschaftlich sanktionierten Triebaufschub, Triebstau nicht mehr aus. Deshalb spaltet er seine als "Höllen"-Qual empfundene Triebenergie auf die erniedrigte, unterleibsfixierte Kreatur Hyde ab, weil er von seinem Selbstverständnis dazu verdammt ist, nach höheren, geistigen Sphären zu streben und nicht in der glücklichen Lage sich befindet, diese Kräfte in seinen psychisch-moralischen Energiehaushalt einzupassen, um sie zu kanalisieren, was eine Form der Sublimierung oder der kontrollierten Triebabfuhr zur Folge hätte. Die unkontrollierte Abspaltung, Verdrängung der Triebenergie Jekyll s auf Hyde führt zu einer destruktiven Dekompensation in der Persönlichkeit des angesehenen Wissenschaftlers. Das Ergebnis ist bekannt. Es bleibt ihm am Ende nichts anderes übrig als angesichts der nunmehr unbestreitbaren Dominanz seiner Hyde-Anteile in seinem Persönlichkeitsgefüge zu sagen: "I bring the life of that unhappy Henry Jekyll to an end" (p. 109).
5. Zusammenfassung
Die Arbeit referiert, dass das Auftreten des Doppelgängers ein sehr altes literarisches Motiv darstellt. In Form einer ersten Entwicklungsstufe taucht es sowohl im Mythos als auch in den Dramen der Antike auf. Es sind noch zwei weitere Entwicklungsstufen festzustellen, bis das Motiv in der bis 1886 vorliegenden Form erscheint und in STEVENSONs novel The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde die handlungstragende Rolle spielt. Signifikant an den Erscheinungen der literarischen Doppelgänger der zweiten und dritten Stufe sind die psychologischen Implikationen, die sie für die Ausgangsfigur - im vorliegenden Fall Dr. Jekyll - mit sich führen. Sie signalisieren in der Literatur fast immer den Ausbruch einer manifesten Krise, in der die psychische Integrität der jeweilig "befallenen" Figur auf eine sehr harte Probe gestellt wird, in vielen Fällen zeitigen die Auswirkungen dieser Krise entweder eine tiefe Wandlung der handelnden Person oder sie führen zu deren Ableben.
Weiterhin stellt die Arbeit die Deutung des Doppelgänger-Motivs vor, wie sie von dem Psychoanalytiker Siegmund FREUD (1856-1939) erstmals in einer Publikation aus dem Jahre 1919 formuliert wurde. Danach handelt es sich bei der Doppelgänger-Figur seit dem Ende der frühen Neuzeit um ein Phänomen, das als literarische Manifestation die unheimlich empfundene Wiederkehr verdrängter, vormals vertraut empfundener, psychischer Inhalte einer literarischen Gestalt verkörpert, die infolge des Auftauchens des Doppelgängers wieder in das Bewusstsein dieser Gestalt gelangt sind.
In einem nächsten Schritt werden die Aspekte von STEVENSONs novel untersucht, die zu einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung mittels der psychoanalytischen Deutungsmöglichkeiten herausfordern. Im einzelnen handelt es sich um die auffällige Diffusität des Textes bei der Beschreibung der Triebwünsche Jekyll s und deren Verwirklichung in den Handlungen Hyde s - jener zwei Gestalten, die zwei alternierende Charakterseiten von ein- und derselben literarischen Figur präsentieren. Zum zweiten kann die Beobachtung gemacht werden, dass im Text die triebgeleiteten Handlungen Hydes a priori von allen beteiligten Figuren als zutiefst verabscheuungswürdige, bösartige, verbrecherische Taten angesehen werden. Dabei fällt auf, dass Jekyll selbst die Verwandlungen in Hyde in Form sehr lustbetonter, rauschhafter, ja sexualisierter Empfindungen erlebt, die er unbesehen im Bereich einer unerhörten und nie gefühlten eigenen Bösartigkeit einordnet. Dies legt den Schluss nahe, dass die Sexualität und alle mit ihr assoziierten Bereiche im Text aus irrationalen Gründen an die moralische Kategorie des Bösen gekoppelt wird. Die Schlussfolgerung einer radikalen Verdrängung der eigenen Sexualität Jekyll s in das Unbewusste (ein zentraler Begriff der freudianischen Theorie), aus dem es in der Gestalt der Wiederkehr des Verdrängten in Form des Doppelgängers Hyde als abgespaltene Teilpersönlichkeit des Arztes auftaucht, wird in der Arbeit vorgestellt und argumentativ belegt. Diese Analyse wird verknüpft mit den Theoremen FREUDs, der in Publikationen von 1908 und 1930 konstatiert, dass in der modernen Gesellschaft durch die geltende kulturelle Sexualmoral ein Übermaß an Triebsublimierung bzw. -aufschub von den Individuen verlangt wird, die jene zu einem großen Teil nicht leisten können und deshalb Gefahr laufen, ernsthafte psychische Erkrankungen zu erleiden. Nach der hier vorliegenden Interpretation spielt sich dieser Vorgang im parabelhaften Handlungsverlauf von STEVENSONs novel ab. Jekyll entdeckt einen chemischen Wirkstoff, der es ihm bei oraler Einnahme ermöglicht, seine verdrängten Triebanteile, deren Ausagierung für ihn mit seiner gesellschaftlich hochangesehenen Stellung als Arzt und Ehrenmann unvereinbar sind, die dennoch immer wieder hervorbrechen und ihn stark quälen, auf einen Doppelgänger abzuspalten, in den er sich verwandelt, sobald er das chemische Mittel in Form eines weissen Pulvers zu sich nimmt. Fortan ist er für unbestimmte Zeit von sich und seinen quälenden Schuldgefühlen erlöst, während er in der Gestalt des Mr. Hyde durch die Stadt streift und seiner destruktiven Triebnatur frönt. Jekyll s triebbestimmte Doppelgängerpersönlichkeit ist deformiert und extrem aggressiv- destruktiv, weil seine Libido über Jahrzehnte unter strengstem Verschluss gehalten wurde und jetzt, da sie frei zum Ausbruch gelangt, sich mit aller unangepassten Vehemenz und ohne jegliche Kontrolle durch eine vermittelnde Instanz frei verströmt. Jekyll entwickelt eine Sucht nach dem freien Ausleben seiner destruktiv gewordenen Libido in Gestalt des Mr. Hyde, eine Sucht, an der er schliesslich zugrunde geht, weil der Vorrat an Pulver, den er bei der Entdeckung des Wirkstoffes zubereitet hat, zur Neige ist und es sich als unmöglich erweist, dieselbe Mischung aus chemischen Salzen zu reproduzieren. So ist Jekyll dazu verdammt, als infolge seiner kriminellen Handlungen von der Obrigkeit gesuchter Hyde im Selbstmord zu enden.
Abschliessend bringt die Deutung einer Reihe von Textstellen zum Vorschein, dass der Doppelgänger Hyde in der Erzählung als eine animalische Kreatur gezeichnet wird, der kaum etwas Menschliches anhaftet. Sie symbolisiert in Reinform die von Jekyll abgespaltene, als dem Bereich des Bösen, der "Hölle" zugeordnete Triebenergie, die sich im Unterleib des Körpers lokalisieren lässt. Wenn man den Text von STEVENSON als ein Erzeugnis der Epoche deutet, in dem er entstanden ist - dem späten Viktorianismus - spiegelt sich in dem maskierten Träger der unterdrückten Triebenergie Hyde, dem Doppelgänger, die virulente sexualitätverdrängende Doppelmoral der ganzen Epoche des Viktorianismus wider, die nicht umhin kann, selbiges wie Jekyll zu praktizieren, nicht ohne immer wieder unkontrollierte Ausbrüche der abgespaltenen Libido erdulden zu müssen - wie es der süchtige Jekyll in der Gestalt des Hyde wider seinem hochmütigen Moralanspruch stellvertretend vorführt.
6. Literaturverzeichnis
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MENTZOS, Stavros: Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven. Frankfurt a. Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988 [= Geist und Psyche. Begründet von Nina Kindler 1964. Bd. 42239].
[...]
1 Zitat Jolande JACOBI: Die Psychologie von C. G. Jung. Eine Einführung in das Gesamtwerk. Mit einem Geleitwort von C. G. Jung. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1992 (46.-47. Tausend) [= Fischer Psychologie, Nr. 1480], S. 114. Hervorhebungen durch Fettdruck stammen von mir. Diese Hausarbeit ist nach den Regeln der neuesten Rechtschreibreform verfasst.
2 Im wesentlichen korrigiert er sein Konzept und postuliert nach den Erlebnissen des ersten Weltkrieges nunmehr in ausgearbeiteter Form das Vorhandensein eines primär aggressiven Triebes in der menschlichen Psyche. 1908 ging er noch davon aus, dass die Aggression im Grunde nur als Partialtrieb des Sexualtriebes fungiert.
3 Zitat Ingrid FICHTNER: Als Vorwort. In: Ingrid Fichtner (Hrsg.): Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern, Stuttgart, Wien: Verlag Paul Haupt 1999 [= Facetten der Literatur. St. Galler Studien, Bd. 7], S. VIIIX, hier S. VII. Die Hervorhebung durch gesperrte Schreibweise habe ich als ursprünglich kursiv markiert aus dem Originaltext entnommen. Künftig verfahre ich jedoch so, dass Hervorhebungen in folgenden Zitaten von mir stammen, ausser wenn ich auf diese Hervorhebungen in einer Anmerkung separat eingehe..
4 Zitat Sandro M. MORALDO: Wandlungen des Doppelgängers. Shakespeare - E. T. A. Hoffmann - Pirandello. Von der Zwillingskomödie (The Comedy of Errors) zur Identitätsgefährdung (Prinzessin Brambilla; Il fu Mattia Pascal) [Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1994]s. Frankfurt a. M., S. 183.
5 Zitat MORALDO: Wandlungen des Doppelgängers, 1994, S. 183.
6 Zitat SCHMID: The Fear of the Other, 1996. p. 28.
7 Vgl. zu diesem ganzen Abschnitt Oswald PANAGL: "Drei Seelen in ein und derselben Frau! Drei Seelen in einer einzigen Seele!" Zum Doppelgänger-Motiv in der Kunstgattung Oper. In: FICHTNER: Doppelgänger, 1999, S. 157-174, hier S. 160.
8 Der Roman hat in Wirklichkeit einen sehr gewundenenen, leicht schrulligen, rabulistischen Humor verheissenden Titel: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel.
9 Siehe dazu Aglaja HILDENBROCK: Das andere Ich. Künstlicher Mensch und Doppelgänger in der deutsch- und englischsprachigen Literatur. Tübingen: Stauffenberg Verlag Brigitte Narr 1986 [= Stauffenberg Colloquium, Band 3],
S. 8 und Astrid SCHMID: The Fear of the Other. Approaches to English Stories of the Double (1764-1910). Frankfurt a. M., Berlin, Bern, New York, Paris & Wien: Verlag Peter Lang 1996 [= European University Studies: Anglo-Saxon Language and Literature. Vol. 314], p. 27.
10 Vgl. beispielsweise die Filmkunstwerke in der Tradition des deutschen Stummfilmexpressionismus, welche als Bestandteile eines primär erzählendes Mediums mit der Literatur eng verwandt sind: z. Bdp. Der Student von Prag (1913) von Stellan RYE, Der Januskopf (1920) von Friedrich Wilhelm MURNAU, Metropolis (1925/1926) von Fritz LANG mit seiner maschinellen Doppelgängerin der Titelheldin.
11 Vgl. HILDENBROCK: Das andere Ich, 1986, S. 18. Als synonym verwendbare Begriffe können englisch und französisch the double bzw. le double und deutsch das Andere geltend gemacht werden.
12 Diesen Neologismus entlehne ich dem Aufsatz von Renate LACHMANN: "Doppelgängerei" (Gogol«, Dostoevskij, Nabokov). In: Manfred Frank & Anselm Haverkamp (Hrsg.), Individualität. München: Wilhelm Fink Verlag 1988 [= Poetik und Hermeneutik. Arbeitsergebnisse einer Forschungsgruppe, Band XIII], S. 421-439. Künftig werde ich diesen Terminus nicht mehr in Anführungszeichen setzen, da ich ihn hiermit eingeführt habe.
13 xxx
14 Siehe. HILDENBROCK: Das andere Ich, 1986, S. 8f., aber v. a. S. 10ff. und SCHMID: The Fear of the Other, 1996. p. 28.
15 Siehe dazu Stavros MENTZOS: Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven. Frankfurt a. Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988 [= Geist und Psyche. Begründet von Nina Kindler 1964. Bd. 42239], S. 62f.
16 Zitat Siegmund FREUD: Das Unheimliche (1919). In: Siegmund Freud, Studienausgabe, Band IV: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1982, S. 241-274, hier S. 259.
17 Vgl. FREUD: Das Unheimliche (1919), S. 263ff.
18 In einem Brief vom 13.10.1911 schreibt FREUD an C. G. JUNG über seine Interpretation des Auftretens von ungleichen Zwillingsbrüderpaaren in einigen Mythologien. Danach bestünden solche Paare immer aus einem vornehmereren und einem "gemeineren" Teil. Der schwächere Zwilling, der früher stirbt, verkörpere dabei ursprünglich die Placenta, also die Nachgeburt, die bei vielen "Naturvölkern" nach der Geburt noch eine ganze Zeitlang mitgenährt und mitgepflegt wird. Nach FREUDs Meinung würde dieses Phänomen das spätere Unheimliche des Doppelgängers nach der kulturellen Überwindung dieser Placenta-Aufbewahrungs-Riten in aus westlicher Sicht "moderneren" Kulturen erklären.
19 Vgl. zu den ganzen im Absatz folgenden Ausführungen JONES: Leben und Werk von FREUD, Bd. II, 1982, S. 464 und FREUD: Das Unheimliche (1919), S. 258.
20 FREUD ging wie viele seiner Zeitgenossen davon aus, dass die Ontogenese des Individuums unverkennbare phylogenetische, also stammesgeschichtliche Implikationen trüge. Die These, dass die Ontogenese also in Teilen die Phylogenese rekapituliere, galt für einen Großteil der Gebildeten Europas bis ins zwanzigste Jahrhundert als ein unstrittiges Dogma. Siehe dazu Carlo GINZBURG: Freud, der Wolfsmann und die Werwölfe. In: Frank & Haverkamp (Hrsg.), Individualität, 1988, S. 217-227, hier S. 222. Vgl. a. FREUD: Das Unheimliche (1919), S. 259.
21 Zitat FREUD: Das Unheimliche (1919), S. 258.
22 Zitat FREUD: Das Unheimliche (1919), S. 267.
23 Vgl. FREUD: Das Unheimliche (1919), S. 267. Die von FREUD geltend gemachte etymologische Direktverbindung erscheint plausibel, da sich die beiden Adjektivstämme "heimisch" und "heimlich" nur durch zwei signifikante Phoneme voneinander unterscheiden. Das missing link dazu ist im schwäbischen Dialekt bis heute gebräuchlich: der Terminus "heimelig" oder "heimelich", im Sinne von "altvertraut, an heimische Gefühle gemahnend" ist ein gebräuchliches Adverb bzw. Adjektiv geblieben. Die direkte Verbindung davon zu "heimlich" bzw. "un-‘heimlich" kann nur schwerlich verleugnet werden, obwohl eine phonetische Differenz aus einem bzw. zwei Phonemen erhalten bleibt.
24 Vgl. a. HILDENBROCK: Das andere Ich, 1986, S. 121 und S. 273.
25 Zitate FREUD: Das Unheimliche (1919), S. 259 und S. 264.
26 Zitat FREUD: Das Unheimliche (1919), S. 259.
27 Zitat HILDENBROCK: Das andere Ich, 1986, S. 121.
28 Bei der nun häufigeren Zitation des Texts greife ich auf folgende Ausgabe zurück - Robert Louis STEVENSON: The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde. Hrsg. von Dieter Hamblock. Stuttgart: Verlag Philipp Reclam jr. 1984 [= Fremdsprachentexte, Universal-Bibliothek Nr. 9167].
Der Einfachheit halber und bei der Vielzahl der Zitationen werde ich künftig im Fließtext das Zitat per Seitenangabe in der obig aufgeführten Ausgabe belegen.
29 Über die ersten Vofälle wird der Leser von einem anonymen auktorialen Erzähler in Kenntnis gesetzt. Hernach sind es in dieser Reihenfolge die Figuren Mr. Utterson, Mr. Enfield, Dr. Lanyon und Dr. Jekyll, die als Ich-Erzähler auftreten und die Handlung bestreiten.
30 Zitat Vladimir NABOKOV: Lectures on Literature. Edited by Fredson Bowers. Introduction by John Updike. New York and London: Harcourt Brace Jovanovich/Bruccoli Clark 1980, p. 179.
31 Vgl. etwa Siegmund FREUD: Das Unbehagen in der Kultur. In: Siegmund Freud, Abrißder Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Mit einer Rede von Thomas Mann als Nachwort. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 63-130, hier S. 94.
32 Siehe NABOKOV: Lectures, 1980, p. vii.
33 Vgl. NABOKOV: Lectures, 1980, p. 193/194.
34 Siehe Tom HUBBARD: Seeking Mr. Hyde. Studies in Robert Louis Stevenson, Symbolism, Myth and the Pre-Modern. Frankfurt a. M., Berlin, Bern, New York, Paris & Wien: Verlag Peter Lang 1995 [= Publications of the Scottish Studies Centre of the Johannes Gutenberg Universität Mainz in Germersheim. Vol. 18. Edited by Horst W. Drescher], p. 21.
35 Vgl. HUBBARD: Seeking Mr. Hyde, 1995, p. 22.
36 Vgl. zu diesem ganzen Absatz HILDENBROCK: Das andere Ich, 1986, S. 122.
37 Zu der Assoziation, dass sich Jekyll aufgrund seiner keinen längeren Triebaufschub mehr duldenden Libido in Hyde wie in einer anderen HAUT versteckt, um entsprechend seiner Triebnatur zu handeln, vgl. HILDENBROCK: Das andere Ich, 1986, S. 122. Vgl. a. den ganz ähnlichen, in diesem Fall aber konkret umgesetzten Wunsch des psychotischen Serial Killer s Buffalo Bill aus dem Film "The Silence of the Lambs", durch das wortwörtliche Anlegen einer Frauenh a u t in eine andere, befriedigendere Identität zu schlüpfen. Der Film wurde von Jonathan DEMME inszeniert, produziert in den USA 1990 (die literarisch wenig interessante Vorlage stammte von Thomas Harris), der die Psychologie des Serial Killers minuziös und plausibel schildert.
In diesem Zusammenhang wären auch die interessanten etymologischen Erklärungsversuche NABOKOVs zu sehen. Er leitet den Namen "Jekyll" von dänisch "Jökulle" her, was auf englisch "an icicle" heisst. Die deutsche Übersetzung würde etwa "Eiszapfen" bedeuten. Genau so würden WEBBER, HILDENBROCK und HUBBARD Jekyll vielleicht bezeichnen, wenn sie spontan und knapp eine assoziative Charakterisierung, ein Statement zu Jekyll 's Persönlichkeit abgeben müssten, z. Bsp. im Rahmen eines TV-Interviews: er benimmt sich wie ein (erotischer) Eiszapfen gegenüber sich selbst. Interessanter ist noch die Herleitung des Namens "Hyde". Der Name gehe zurück auf Angel-Sächsisch "hyd" bzw. dänisch "hide", welches im Englischen etwa "a haven" bedeutet. Ins Deutsche übersetzt heisst das etwa "ein Zufluchtsort, ein sicherer Hafen, ein Asyl". Wofür man metonymisch etwa sagen könnte, "ich fühle mich verborgen wie in einer zweiten H a u t , die mich schützt". Zur Etymologie der Namen siehe NABOKOV: Lectures, 1980, p. 182. Damit haben wir den Umfang der Ellipse durchschritten und sind bei der Ausgangsassoziation von HILDENBROCK angelangt, die sich nach der Betrachtung aus mehreren Perspektiven als plausibel und logisch bestätigt.
38 Vgl. Andrew J. WEBBER: The Doppelgänger. Double Visions in German Literature. Oxford, GB: Clarendon Press 1996, p. 12.
39 Es läge in der Tat jenseits meiner menschlichen Vorstellungskraft, mich als geneigter Rezepient in eine literarische Situation zu phantasieren, die aus STEVENSON's Feder stammen könnte, in seinem Stil geschrieben wäre, in der eine Figur wie Dr. Jekyll orgiastisch befriedigenden Sex mit einer Frau oder einem Mann haben würde. Der Gedanke an Sex kommt einer Figur wie Jekyll zu keinem Zeitpunkt in den literarisierten Sinn und an eine Umsetzung eines solchen Wunsches ist gleich gar nicht zu denken. Oder doch? In jedem Fall halte ich meine Aussage für berechtigt, dass in der literarischen Figur des Dr. Jekyll eine Gestalt geformt wurde, die eine defekte Sexualität durch die Erzählung schleppt (vgl. Kap. xxx). Zu entsprechenden Spekulationen über Rückschlüsse auf STEVENSON's Persönlichkeit, wie sie sich zum
40 Vgl. mit diesem Absatz MORALDO: Wandlungen des Doppelgängers, 1994, S. 28.
41 Zitat Ronald D. LAING: Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn (Aus dem Englischen von Christa Tansella-Zimmermann). München: Deutscher Taschenbuch Verlag 19871 [= dialog und praxis, Nr. 15029], S. 92.
42 Siehe dazu HAMBLOCK: Nachwort. In: STEVENSON: Strange Case, 1984, S. 117f.
43 Vgl. NABOKOV: Lectures, 1980, p. 182 und HILDENBROCK: Das andere Ich, 1986, S. 123.
44 Vgl. HILDENBROCK: Das andere Ich, 1986, S. 122.
45 Vgl. HAMBLOCK: Nachwort. In: STEVENSON: Strange Case, 1984, 113 u. S. 118.
46 Verdächtig erscheint, dass es sich bei der Ausfällungs-Droge (the "Down-to-Hyde-Drug") um ein weisses Pülverchen handelt, ein Salz, welches durchaus die Assoziation zulässt zu den landläufigen Drogen weisser, pulverisierter Konsistenz: z. Bsp. Kokain oder unsynthetisiertes Opium. Auch deren Genuss verspricht emotionale, erotische Sensationen. So gedeutet, liesse die Betonung des Suchtcharakters, den STEVENSON Jekyll im Umgang mit der Hyde -Ausfällungs-Droge angedeihen lässt (s. p. 97), durchaus Rückschlüsse auf eine Interpretation der Erzählung als parabelhafte Beschreibung einer galoppierend verlaufenden Drogensucht zu. In diesem Fall ist es die Sucht nach uneingeschränkter Triebbefriedigung, den die Droge "Down-to-Hyde" für ihn ermöglicht. Wie im richtigen Leben sind immer höhere Dosen nötig, um Jekyll den "Kick" zu geben, nach dem er sich so sehr sehnt. Man könnte also spekulieren, das dämonische Triebleben Hyde s habe für Jekyll den Stellenwert einer dramatisch verlaufenden Opiumsucht (siehe p. 96ff.). Diese führt wie bei Jekyll zu beobachten, zu einem totalen Verfall der Persönlichkeit und am Ende in den sicheren Tod. Vgl. HILDENBROCK: Das andere Ich, 1986, S. 123.
47 Vgl. HAMBLOCK: Nachwort. In: STEVENSON: Strange Case, 1984, S. 118.
48 Vgl. die Polysemantik des im obigen Zitat auftretenden Adjektivs "heady". Es kann bedeuten (1) "ungestüm, hitzig, starrsinnig", (2) "berauschend" und (3) "sexuell erregt, lüstern". Damit ist die sexuelle Sphäre des Zitats zumindest auf einer Bedeutungsebene explizit vorhanden.
49 Vgl. HUBBARD: Seeking Mr. Hyde, 1995, p. 22.
50 Vgl. hierzu ausführlicher die brilliante Analyse zur langen Tradtition der Sexualfeindlichkeit im Abendland bei Rudolf GELPKE: Vom Rausch in Orient und Okzident. Ungekürzte Neuausgabe (Zuerst erschienen in Stuttgart, Ernst Klett Verlag 1966). Frankfurt a. Main, Berlin u. Wien: Klett-Cotta im Ullstein Taschenbuch Verlag 1982 [= Ullstein Buch Nr. 39033], S. 29-33
51 Vgl. a. Tzevetan TODOROV: Einführung in die fantastische Literatur (Aus dem Französischen von Karin Kersten, Senta Metz und Caroline Neubauer). Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1992, S. 143.
52 Zitat Siegmund FREUD: Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert. In: Siegmund Freud: Gesammelte Werke.
18 Bände, Band XIII. London: Imago Press 1940, S. 317-353, hier S. 317.
53 Vgl. MENTZOS: Neurotische Konfliktverarbeitung, 1988, S. 23/24. Im übrigen ist FREUD bei allem Fortschritt in der psychoanalytischen Therapieforschung in diesem Theorem nie widerlegt worden. Bis heute gilt eine dysfunktionale Sexualität faktisch als grundlegender Motor der €tiologie von neurotischen/psychotischen Erkrankungen. Vgl. a. FREUD: Abriss der Psychoanalyse. In: Siegmund Freud, Abrißder Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Mit einer Rede von Thomas Mann als Nachwort. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 9-129, hier S. 17/18.
54 Zitat FREUD: Unbehagen (1930), 1993, S. 63-130, hier S. 92.
55 Siehe zu diesem ganzen ersten Absatz Siegmund FREUD: Die "kulturelle" Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908). In: Siegmund Freud, Studienausgabe, Band IX: Psychologische Schriften, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1982, S. 9-32, hier S. 13-18.
56 Die fällige Definition des Begriffs Sublimierung: "Umsetzen verdrängter Triebimpulse in sozial gewertete Tätigkeiten, auf die das Triebziel verschoben wird. Der Vorteil dieses Mechanismus besteht darin, daß er in der Form einer gelungenen Anpassung eine Abfuhr und eine Befriedigung ermöglicht, da es nicht einfach zu einer Aufschiebung kommt." Zitat MENTZOS: Neurotische Konfliktverarbeitung, 1988, S. 65.
57 Vgl. FREUD: Unbehagen (1930), 1993, S. 102.
58 Vgl. FREUD: Unbehagen (1930), 1993, S. 97.
59 Vgl. zu diesem ganzen Abschnitt JONES: Leben und Werk von FREUD, Bd. II, 1982, S. 347/348.
60 Da dieses Modell in praktisch jedem Lehrbuch vorgestellt wird, möchte ich auf die Problematik hier nicht näher eingegen, verweise aber stellvertretend auf eine Publikation, in der auch die Grenzen dieses Erklärungsmodells gleich mitverhandelt werden: MENTZOS: Neurotische Konfliktverarbeitung, 1988, S. 40ff.
61 Zitat FREUD: Abriss der Psychoanalyse (1938), 1993, S. 11.
62 S. MENTZOS: Neurotische Konfliktverarbeitung, 1988, S. 41.
63 Zitat HILDENBROCK: Das andere Ich, 1986, S. 122.
64 Siehe NABOKOV: Lectures, 1980, p. 179.
65 Vgl. MENTZOS: Neurotische Konfliktverarbeitung, 1988, S. 46ff.
66 Vgl. die begriffsprägende HILDENBROCK: Das andere Ich, 1986, S. 121.
67 Zum verborgenen Zusammenhang zwischen Heimlichkeit und Verdrängung vgl. Kap. xxx.
68 Vgl. NABOKOV: Lectures, 1980, p. 188.
69 Zur kompensatorischen Funktion des Unbewussten für das Bewusstsein, in dem der Traum als Indikator der €usserungen des Unbewussten für das Bewusstsein eine wichtige Rolle spielt, siehe FREUD: Abriss der Psychoanalyse (1938), 1993, S. 19ff.
70 Vgl. die Deutung eines entsprechenden Haus-Traumes bei Carl Gustav JUNG: Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela JafŽe (Sonderausgabe). Olten, Freiburg i. Br.: Walter-Verlag 19875, S. 140ff.
71 Ein stimmiger Vergleich mit dem "Es" des psychoanalytischen Drei-Instanzen-Modells bietet sich hier geradezu an.
72 Siehe HUBBARD: Seeking Mr. Hyde, 1995, p. 27.
73 Siehe die Evolutionstheorie von Charles DARWIN (1809-1882). Geologische sowie tiergeographische Beobachtungen ließen DARWIN an der Richtigkeit der Lehre von der Unveränderlichkeit der Arten zweifeln. Ab 1842 begann DARWIN systematisch umfangreiches Material über das Problem der Entstehung der Arten zusammenzutragen. Sein Hauptwerk ÈDie Entstehung der Arten durch natürl. ZuchtwahlÇ (1859) stellte einen Wendepunkt in der Geschichte der Biologie dar. DARWINs bahnbrechende Veröffentlichung geht also der Publikation von The Strange Case {...} nur 27 Jahre voraus.
74 Vgl. HUBBARD: Seeking Mr. Hyde, 1995, p. 27.
75 FREUD wagt in seinem Essay "Das Unbehagen in der Kultur" (1930) die Vermutung, dass ganze Kulturepochen strukturell neurotisch geprägt worden seien bzw. geworden sind. Falls diese Überlegungen in einer Studie über derlei gesamtkulturelle psychopathologische Erscheinungen überzeugend belegt werden könnten, dann wäre das Zeitalter des Viktorianismus mit seiner ausgeprägten Neigung zur Bildung einer sexuellen Doppelmoral sicher als eine der ersten Epochen zu nennen, die als ganze gesehen, stark neurotische Züge trägt. Siehe FREUD: Unbehagen (1930), 1993, die Herleitung ab S. 123ff, die Hypothese wird S. 127 formuliert.
76 Vgl. ebenda.
77 Vgl. HUBBARD: Seeking Mr. Hyde, 1995, p. 44.
- Arbeit zitieren
- Pizarri, Lodovicco (Autor:in), 2000, On Couch with "Jekyll and Hyde" - Eine psychoanalytische Interpretation des Doppelgänger-Motivs in Robert Louis Stevenson`s "The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde"., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96962
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