1 Einleitung
Die Welt wandelt sich: Sie wird „kleiner“, rückt näher zusammen, der Begriff der Globalisierung macht von sich reden, das Unkontrollierbare dieser Situation will verarbeitet sein, und der Aufklärungsbedarf ist größer denn je. Durch die Vernetzung von internationaler Ökonomie, Ökologie und Politik findet – gefördert durch immer neue technische Möglichkeiten – ein immer reger werdender Austausch von Daten statt. Information ist eine Ware, die mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Gerade unter diesem Blickwinkel scheint es wichtig zu sein, einer bestimmten Art von Transport und Modifikation, oft sogar Mutation dieses heutzutage so wertvollen Gutes seine Aufmerksamkeit zu schenken, da – wie vor allem in Kapitel 4 beschrieben ist – hierdurch deutlich wird, welche bedeutenden Entscheidungen davon abhängen können: Die Rede ist vom Gerücht, dem ältesten Massenmedium der Welt.
Noch vor jeglicher Schriftkenntnis haben sich Menschen in ihrem ständigen Kommunikationsdrang mündlich Nachrichten überliefert, die dann eben zutrafen oder nicht; nachgewiesen sind Gerüchte bereits bei den Römern, und Ovid beschreibt sie mit den Worten: „nirgends Schweigen, kein Geschrei, nur leiser Stimmen Gemurmel, wie von den Wogen des Meeres, wenn einer sie hört aus der Ferne“1. Schon damals zeigten sich allerdings die gravierenden Mängel des Massenmediums Gerücht: Die Nachrichten verbreiteten sich langsam, die Übermittlung war störanfällig, der Übermittler suchte seinen Rezipientenkreis selbst aus und bestimmte somit über Wichtig- oder Unwichtigkeit, es war nur vage verständlich, enthielt wenige, oft falsche Informationen und war schwer konservierbar. Trotzdem hat sich das Gerücht in unserer Soziokultur halten können. Warum? Einzig und allein wegen des geringen Kostenaufwands? Ist dieser im Zeitalter Menschenleben teurer Dreiwortmeldungen überhaupt wirklich noch so klein? Mit Sicherheit können wir nur sagen, daß die Lust, oft auch die Notwendigkeit, Nachrichten weiterzutragen, ungebrochen und – was die Sache schwierig macht – kaum kontrollierbar ist. So können keine Experimente durchgeführt werden, die den Verlauf, das Tempo und die Inhalte von Gerüchten untersuchen, weil gerade der gewählte Rezipientenkreis zur Untersuchung gehören müßte, weil Gerüchte in geschlossenen Räumen anders verbreitet werden als in natura, weil Erinnerungen schwach und „glaubhafte“ Versicherungen ungedeckt sind.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Begriff und Definition
2.1 Ethymologische Bedeutung
2.2 Ein geläufiger Begriff - Alltagsmeinungen
2.3 Definitionsprobleme
3 Klatsch und Gerücht - zwei verwandte Phänomene
3.1 Das Besondere am Klatsch
3.2 Das Besondere am Gerücht
3.3 Inhalte und Bedeutung: Gerüchte als Fortentwicklung des Klatsches
4 Merkmale der Entstehung und Verbreitung
4.1 Verbreitungsgeschwindigkeit und Fortentwicklung
4.2 Psychologische Mechanismen
4.3 Rollen im Verbreitungs- und Entwicklungsprozeß
4.4 Gerüchte als „Epidemien“
5 Nutzen und Einsatz von Gerüchten
5.1 Mythos und Medien
5.2 Politik und Beruf
6 Forschungsansätze
Literatur- und Quellenverzeichnis
1 Einleitung
Die Welt wandelt sich: Sie wird „kleiner“, rückt näher zusammen, der Begriff der Globalisie- rung macht von sich reden, das Unkontrollierbare dieser Situation will verarbeitet sein, und der Aufklärungsbedarf ist größer denn je. Durch die Vernetzung von internationaler Ökono- mie, Ökologie und Politik findet - gefördert durch immer neue technische Möglichkeiten - ein immer reger werdender Austausch von Daten statt. Information ist eine Ware, die mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Gerade unter diesem Blickwinkel scheint es wichtig zu sein, einer bestimmten Art von Transport und Modifikation, oft sogar Mutation dieses heutzutage so wertvollen Gutes seine Aufmerksamkeit zu schenken, da - wie vor allem in Kapitel 4 be- schrieben ist - hierdurch deutlich wird, welche bedeutenden Entscheidungen davon abhängen können: Die Rede ist vom Gerücht, dem ältesten Massenmedium der Welt.
Noch vor jeglicher Schriftkenntnis haben sich Menschen in ihrem ständigen Kommunikati- onsdrang mündlich Nachrichten überliefert, die dann eben zutrafen oder nicht; nachgewiesen sind Gerüchte bereits bei den Römern, und Ovid beschreibt sie mit den Worten: „nirgends Schweigen, kein Geschrei, nur leiser Stimmen Gemurmel, wie von den Wogen des Meeres, wenn einer sie hört aus der Ferne“1. Schon damals zeigten sich allerdings die gravierenden Mängel des Massenmediums Gerücht: Die Nachrichten verbreiteten sich langsam, die Über- mittlung war störanfällig, der Übermittler suchte seinen Rezipientenkreis selbst aus und be- stimmte somit über Wichtig- oder Unwichtigkeit, es war nur vage verständlich, enthielt weni- ge, oft falsche Informationen und war schwer konservierbar. Trotzdem hat sich das Gerücht in unserer Soziokultur halten können. Warum? Einzig und allein wegen des geringen Kosten- aufwands? Ist dieser im Zeitalter Menschenleben teurer Dreiwortmeldungen überhaupt wirk- lich noch so klein? Mit Sicherheit können wir nur sagen, daß die Lust, oft auch die Notwen- digkeit, Nachrichten weiterzutragen, ungebrochen und - was die Sache schwierig macht - kaum kontrollierbar ist. So können keine Experimente durchgeführt werden, die den Verlauf, das Tempo und die Inhalte von Gerüchten untersuchen, weil gerade der gewählte Rezipien- tenkreis zur Untersuchung gehören müßte, weil Gerüchte in geschlossenen Räumen anders verbreitet werden als in natura, weil Erinnerungen schwach und „glaubhafte“ Versicherungen ungedeckt sind. Die Literatur zum Thema ist denn auch nicht sehr üppig, wenngleich die Pub- likationen Kapferers und Neubauers besonders gute Grundlagen für diese Arbeit geliefert ha- ben. Ausgangspunkt der Hausarbeit war ein im Dezember 1998 gehaltenes Referat.
2 Begriff und Definition
2.1 Ethymologische Bedeutung
Das Gerücht wird in einschlägigen Wörterbüchern im engsten Sinne als Rumoren (= französisch) verstanden, will heißen, ein Gewirr aus Zurufen unter einer Menge, ein Raunen, das unterschwellig und kaum definierbar zum Geräusch wird. Andere Bedeutungen sind „Geschrei“, „Ruf“ und „Leumund“. Was hieran auffällt, ist offensichtlich - sie setzen allesamt die Existenz einer Menschenmenge voraus, in der eine Information vervielfacht wird, die wenigstens von Interesse ist. Dies wird uns noch in Kapitel 4 beschäftigen. Eine fortgetragene Nachricht, die in früherer Zeit bei öffentlichen Gerichtsverhandlungen, Prangern oder Exekutionen etwa im wahrsten Sinne des Wortes „in der Luft liegt“. Der ethymologisch nahe Begriff des „Gerüfts“ umfaßt jedoch mehr als das: Hier kommen die Bedeutungen „Chaos“, „Katastrophe“ und „Verbrechen“ hinzu. Sehr wohl hat das Gerücht also schon den Unterton einer unwahren, verwirrenden und aufrührerischen Mitteilung inne.
2.2 Ein geläufiger Begriff - Alltagsmeinungen
„Das ist doch ein Gerücht!“ Kaum einmal wird dieser Satz im Alltag verwendet, um einen anderen Verdacht zu äußern als den gewisser Zweifel. Dies entbindet das Gerücht jedoch in keiner Weise von dem Faktum, Objekt ungeahnter Neugier zu sein. Sicherlich - es dient als Informationsquelle, aber das Darüber-informiert-Werden scheint von größerem Reiz zu sein als der Inhalt selbst. Schließlich bezeichnet „Gerücht“ ja nicht nur die Information an sich, sondern auch den Vorgang des Weitererzählens. Davon zu erfahren heißt, einer bestimmten Gruppe zugeordnet zu sein, und ist möglicherweise eine große Ehre. Wer wenig über ein für ihn interessantes Thema weiß, entwickelt große Phantasie - ein idealer Ort für sich als un- wahr oder verfälscht herausstellende Gerüchte. Daß es auch den Tatsachen entsprechende Gerüchte gibt, kommt in der alltäglichen Begriffsbestimmung kaum vor.
2.3 Definitionsprobleme
Vielfach ausgehend von dieser alltäglichen Definition haben einige Autoren das gleiche Vor- urteil gegenüber dem Gerücht geäußert, was wiederum kritisiert wurde: „Merkwürdig er- scheint, daß ihre Beispiele insgesamt Fälle von ‚falschen‘ Gerüchten sind: Was die Öffent- lichkeit geglaubt hatte, war unbegründet. Trotzdem fehlt es nicht an Fällen von begründeten Gerüchten…“2, schreibt Jean-Noël Kapferer in seinen „Gerüchten“. Damit hat er nicht unrecht, wie die Definitionen zeigen:
Allport und Postman bezeichen es als „mit den Tagesereignissen verbundene Behauptung, die geglaubt werden soll und die gewöhnlich von Mensch zu Mensch mündlich kolportiert wird, ohne daß konkrete Daten vorhanden sind, die deren Richtigkeit bestätigen könnten“3. Ähnlich äußert sich Knapp in derselben Zeitschrift Public Opinion Quarterly: „Das Gerücht ist eine Aussage, die geglaubt werden soll, in Zusammenhang mit dem Tagesgeschehen steht und ohne offizielle Bestätigung verbreitet wird“. Letzthin folgen noch Peterson und Gist, für die es „ein Bericht oder eine Erklärung [ist], die nicht bestätigt, von Mensch zu Mensch verbreitet und ein Objekt ist, das ein Ereignis oder eine Frage von öffentlichem Interesse behandelt“. Stroebe wirft die Attribute „unkontrolliert“, „unverbürgt“ und „oft verzerrt, entstellt und ver- fälscht“4 in den Raum.
Das Problem an diesen Definitionen sind jedoch die Fragestellungen, nicht allein die „tendenziösen“5 Beispiele: Werden Gerüchte wirklich nur mündlich kolportiert? Was ist ein „öffentliches Interesse“? Gibt es sozusagen keine „privaten“ Gerüchte?
Jedenfalls kann festgehalten werden, daß ein Gerücht zuallererst eine Information darstellt (das heißt neue Einzelheiten über ein Ereignis oder über einen Menschen liefert), die mit dem allgemeinen mittelbar vergangenen Geschehen verbunden ist und zu einem Mindestprozent- satz geglaubt wird. Fehlt die letzte Bedingung, kann es sich nicht verbreiten. Schließlich will das Gerücht überzeugen und nicht nur unterhalten, was ohne Umschweife natürlich auch als Funktion des Gerüchts bezeichnet werden kann. Kapferer bezeichnet es gar als „Schwarz- markt der Information“6, als ein Auftauchen und Verschwinden, weil es dort entstehe, wo trotz öffentlichen Interesses keine offiziellen Stellungnahmen zu bekommen seien.
Ich halte das für zu einseitig, weil es allein auf höhere Ebenen bezogen ist. Informationen müssen nicht offiziell bestätigt werden, um als allgemein wahr zu gelten. Meinungsführer7 bestätigen die Fakten oft allein durch ihre Glaubwürdigkeit, können dadurch die Stellung eines Offizes innehaben und sind doch „inoffiziell“ im ursprünglichen Sinne.
3 Klatsch und Gerücht - zwei verwandte Phänomene
3.1 Das Besondere am Klatsch
Als „Klatsch“ werden Neuigkeiten bezeichnet, die über persönliche Angelegenheiten von anderen Menschen informieren. Diese Person allerdings tritt im Dunstkreis der über sie Sprechenden auf. Das heißt, der beklatschte Mensch - zum Zeitpunkt des Austauschs über ihn abwesend - ist Element der über ihn sprechende Gruppe, fast kann man von einer Clique sprechen. Das impliziert gleichfalls, daß jeder, der einer Sozietät angehört, am Klatsch teilnehmen, gleichsam Opfer sein kann. Klatsch entsteht überall, wo Bekannte sich begegnen und sich Gelegenheit zum „Klönen“ bietet.
Medienklatsch über bekannte Persönlichkeiten überschreitet meines Erachtens bereits die Schwelle zum Gerücht, weil Prominente außerhalb einer bestimmten Sozietät stehen und ihre Schicksale von eher breiterem öffentlichen Interesse sind8. Bergmann weist zwar auf ver- schiedene Bekanntheitsgrade hin, die daraus abgeleitete Theorie verschiedenartig gebundener Klatschformen (nach Orten und Berühmtheit geschieden) erscheint mir aber nicht recht schlüssig, weil zum ersten der Austausch von den klatschenden Medien oktroyiert wird, der Vorgang des Klatschens einseitig und die Gruppen nicht eindeutig abgrenzbar und gleichbe- rechtigt sind. Wichtig für den Klatsch ist vor allem, daß der thematisierten Person Sanktionen drohen können, die sich wiederum in erster Linie nur innerhalb ihres sozialen Netzwerkes auswirken würden.
3.2 Das Besondere am Gerücht
Im Gegensatz zum Klatsch beschränkt sich das Gerücht in keiner Weise auf bestimmte Sozietäten. Es kann überall vorkommen, besondere Verbreitung findet es natürlich in einem Kreis, den der Informationsgehalt in erster Linie interessieren dürfte9. Es kann sich auf eine Person beziehen; dies ist jedoch in keiner Weise zwingend. Gerüchte können durch Personalien zum Klatsch konkretisiert werden; dies ist jedoch auch im umgekehrten Fall möglich. Es geht hier nur um den Unterschied zum Klatsch: Wichtig ist, daß Rezipientenkreis und Inhalte beim Gerücht weiter gefaßt sind. Darum soll es im nächsten Abschnitt gehen.
3.3 Inhalte und Bedeutung: Gerüchte als Fortentwicklung des Klatsches
Unbesehen des gleichen Transportvorgangs sind die Klatschinhalte - anders als beim Gerücht - schon von vornherein festgelegt: Es geht im allgemeinen um persönliche Angelegenheiten eines Menschen; um Intimleben, Handlungen, Denkart, physische und psychische Beschaf- fenheit einer Person im besonderen. Diese Person wird von ihrem Umfeld beobachtet, diese Information wird - ähnlich dem Gerücht - weitergetragen, in welcher Wahrheitsqualität auch immer. Seiner Entstehung geschuldet ist die Wirkung des Klatsches: Wohl kann die be- klatschte Person innerhalb ihrer Sozietät befehdet und geschaßt, gar ausgeschlossen werden. Nie aber - und dies schließt den sogenannten „Medienklatsch“ schon von der Natur der Sache her aus - sind die Folgen etwa durch Nachbarszänkereien so verheerend, wie sie bei Gerüch- ten auftreten können.
Thema des Gerüchts nämlich kann alles sein: Informationen über und innerhalb von Wirt- schaft, Politik, Medien und anderen Bereichen, die nicht unbedingt an bestimmte Personen gebunden sein müssen. Wenn man bedenkt, daß Klatsch zwei Drittel der durchschnittlichen Tagesgesprächsdauer belegt, nimmt es nicht wunder, daß Gerüchte seltener innerhalb einer kleinen Gruppe aufkommen, dafür aber um so stärker und länger wirken können. Gerüchte über die bevorstehende Krankheit eines einflußreichen Präsidenten sind in der Lage, ganze Wirtschaftszweige an der Börse in den Ruin oder ins Gegenteil zu treiben10 ; keinesfalls ist das Wissen um sie jedoch auf enge Mitstreiter, beispielsweise Kollegen oder Praktikantinnen, beschränkt, weil es sich um Personen des öffentlichen Lebens handelt, deren Wohl und Wehe auf Schritt und Tritt verfolgt wird. Die Krankheit selbst spielt dabei - anders als es beim Klatsch der Fall wäre - teilweise nur eine untergeordnete Rolle. Schließlich stellen sich eher die Fragen der nun folgenden Konsequenzen für die Politik. Gerüchtinhalte gehen über die des Klatsches hinaus und sind somit quasi sein höheres Stadium: Für das Nachdenken über eben jene Konsequenzen ist es völlig unerheblich, was die Ursache der veränderten Situation darstellt. Eine Person tritt nur zufällig auf; genauso gut können Gerüchte von Regierungs- wechseln, Preisstürzen oder ähnlichen Abstrakta in Gang gesetzt werden.
Angesichts der mehr dispersen Verbreitung fällt es leicht festzustellen, daß Gerüchte Informationen enthalten, die gemeinhin bedeutender erscheinen als der Milchkannenklatsch hinter halb geöffneter Gardine. Das Grundbedürfnis - der Kommunikation nämlich - verdient jedoch in beiden Fällen eine gleiche Wertung.
4 Merkmale der Entstehung und Verbreitung
4.1 Verbreitungsgeschwindigkeit und Fortentwicklung
Zunächst muß hier gesagt werden, daß Verbreitungsgeschwindigkeit und Fortentwicklung immer von Inhalt, beteiligten Personen und deren zeitlichen und räumlichen Entfernungen abhängen. Nach Postman verbreitet sich das Gerücht um so schneller, je betroffener der Emp- fänger des Inhalts ist. Die Verbreitungsgeschwindigkeit beschleunigt sich, bis ein Großteil der potentiellen Empfänger das Gerücht vernommen hat. Dabei verbreiten sich offenbar unklare und doppelsinnige Inhalte weiter als relativ klare. Krisen erhöhen das Informationsbedürfnis, und in Krisen entstehen Gerüchte auch ganz besonders leicht. Gerüchte verbreiten sich auch eher horizontal als vertikal: Den Vorkommnissen wird bei den Entscheidungshandelnden und Betroffenen zumeist erst einmal keine große Beachtung geschenkt. Die Verbreitung erfolgt eher innerhalb einer bestimmten sozialen Schiene, statt daß sie ebenenübergreifend funktio- niert. Diese Gruppenkohäsion ist auch mit Sozietätenabgrenzung begründbar. Nach Müller diffundieren Ideen - in unserem speziellen Fall: verbreiten sich also Gerüchte - „in einem bestimmten Zeitraum durch Individuen, Gruppen oder andere aufnehmende Einheiten, die an bestimmte Kommunikationskanäle, eine Sozialstruktur und ein bestimmtes Wertesystem oder eine Kultur gebunden sind…“11. Festinger meint, daß „Freundschaft zwischen zwei Men- schen das Vorhandensein eines aktiven Beziehungsaustausches bedingt“12 ; so ist die kohären- te Gruppe gewissermaßen eine wichtige Variable als Zement der soziometrischen Struktur. In Festingers Untersuchung zum Gerüchtverlauf wurde festgestellt, daß zu etwa 60 Prozent das Gerücht zu guten Freunden in der Gemeinschaft, zu 40 Prozent zu guten Bekannten und nur in 30 Prozent der Verbreitungen zu denen weitergetragen wurde, die keine Freunde in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft hatten. Hieran wird deutlich, daß Zugehörigkeitsgefühl und Ver- trauen dem Gerücht zuträglich sind13, was aber nur etwas über unterschiedliche Intensitäten und Tempi aussagt.
Besonders wichtig erscheint dabei die eigene Betroffenheit zu sein. Allport und Postman haben festgestellt, daß ein Gerüchtepublikum immer dort besteht, wo eine Interessengemeinschaft vorhanden ist; das heißt, hier braucht es keine Soziometrie, sondern eine Involvometrie. Kleingruppen betreffende Gerüchte verbreiten sich besonders schnell.
4.2 Psychologische Mechanismen
Ganz allgemein kommt dem Gerücht die Funktion zu, „etwas Wichtiges, aber Unbegreifliches verständlich zu machen“14. Stroebe zufolge finden bei der Verbreitung von Gerüchten folgende individualpsychologische Prozesse statt15, denen nochmals hinzugefügt werden muß, daß sie - was mir problematisch erscheint - von vornherein von der Falsifizierung durch Gerüchtebildung und der Schädlichkeit von Gerüchten ausgehen:
Bei der Kondensation werden genau lokalisierbare Schwierigkeiten vereinfacht, verkürzt und unberechtigt auf Einzelfälle übertragen. Nachrichten werden in ihrem Kern gespiegelt und in unterschiedliche Richtungen reflektiert. Dazu kommt, daß durch Erfindung und zufällige Vorkommnisse, die auf das Gerücht zuzutreffen scheinen, die Nachricht ergänzt wird. Im- merhin hat das Gerücht ja zum Ziel, den Verbreiter interessant zu machen, zu unterhalten, und Zusätze sind dabei gern willkommen. Erwartet den Zuhörer eine Beteiligungsmöglichkeit? Betrifft ihn die Nachricht? Dieser Zustand ist der Hort der sogenannten sich selbst erfüllenden Prophezeiungen: Was vorausgesagt wird, trifft unter Umständen auch irgendwann ein. Man erinnert sich an andere Fälle, weiß sofort, was demnach auch in diesem passieren wird, und zufällig kompatible Vorurteile lassen sich sowohl bestätigen, tragen aber ihrerseits auch wie- der zur Entstehung von Gerüchten bei. Aus individuellen Assoziationen erwachsen also Zuta- ten wie Ergebnisse der forcierten Gerüchte. Das macht das hier verallgemeinerte „Hörensa- gen“ im übrigen wiederum mit dem Klatsch gemein.
4.3 Rollen im Verbreitungs- und Entwicklungsprozeß
Kapferer meint für den Entstehungsprozeß von Gerüchten gleichsam auch verschiedene Rol- len während des Transports gefunden zu haben, die natürlich aber nicht den Anspruch erhe- ben dürfen, vollständig zu sein beziehungsweise in jedem Fall zu existieren, weil es hier auf Größe und Bedeutung des Gerüchtinhaltes ankommt, auch darauf, wie lange es sich „hält“16: Der Anstifter erzählt darüber, was ihm zugestoßen ist. Er stellt dem Publikum mehr als sich selbst Fragen zum Tathergang, stachelt (möglicherweise unbewußt) individuelle psychologi- sche Reaktionen (siehe oben) an. Eifrige Zuhörer interpretieren das Geschehnis, indem sie versuchen, diese Fragen sinnvoll zu beantworten. Eine besondere Stellung nehmen in dem Veröffentlichungsritus die sogenannten Meinungsführer (opinion leader oder gate-keeper) ein: Gerüchte leben davon, „gewollt und gekonnt geglaubt zu werden“17. Also muß sich eine bestimmte Ansicht über das Geschehen durchsetzen18. Im Freundeskreis entscheidet sein Ur- teil darüber, wie aufgeschlossen die um ihn gescharte „Clique“ dem Gerücht gegenüber ist19. In großem Stile kann das zum Beispiel auch ein etabliertes und wohl anerkanntes Medium sein, dessen sämtlich herausgegebene Informationen kraft seiner „Seriosität“ als gemeinhin „wahr“ akzeptiert werden. Der Meinungsführer hat insofern eine höchst verantwortungsvolle Aufgabe, der er oft nicht gewachsen ist, wie am jüngsten Beispiel der Kriegsberichterstattung im Kosovo-Konflikt unschwer zu erkennen ist. Apostel und Opportunisten möchte ich gern als diejenigen zusammenfassen, die dem Meinungsführer das Wort reden, sich ganz mit des- sen Informationen identifizieren, um anerkannt zu werden. Der eine moralisiert vielleicht ein wenig mehr als der andere, aber im Grunde sind beide Handlanger in bezug auf die Überzeu- gungsarbeit innerhalb einer bestimmten Sozietät. Wo es diese bei der Gerüchtverbreitung nur ansatzweise gibt, können Apostel trotzdem ohne Überdenken bedingungsloses Folgen verlan- gen. Genießer kosten es aus, ihr Publikum in Erstaunen zu versetzen, ohne das Verbreitete selbst zu glauben. Diesen Zynikern stehen die passiven Vermittler gegenüber, die aufgrund ihrer Zweifel nachfragen und ihre Nichtüberzeugtheit erklären und somit eher als „toter“ Ka- nal fungieren. Widerständler schließlich greifen das Gerücht an und wollen seine Unwahrheit beweisen. Demzufolge machen sie sich auch innerhalb sozialer Gruppen dann unbeliebt, wenn die herrschende Meinung dem Gerücht Glauben schenkt20. Das Hörensagen unterwirft sich im allgemeinen der Macht der Masse, und es herrscht nur ein Argument: das der Autori- tät21. Durch das Gerücht teilt die Gruppe ihren Mitgliedern mit, was diese zu denken haben, wenn sie weiter dazugehören wollen. Will heißen: Beteiligung am Gerücht ist Beteiligung in der Gruppe. Im Bereich der - oben angedeuteten - Involvometrie erscheint diese von Kapfe- rer beschriebene Rollendynamik allerdings bedeutungslos. Hier ist man nicht auf Zusammen- leben, höchstens auf Zusammenhalt angewiesen. Zufällig durch ein Gerücht zusammenge- kommene Betroffenen-Ensembles gehen nach Beendigung des Transports und Austauschs von Information meistens wieder getrennter Wege.
4.4 Gerüchte als „Epidemien“
Weiter oben habe ich beschrieben, daß die Verbreitungsgeschwindigkeit vor allem von zeitli- cher und räumlicher Entfernung sowie von sozio- oder involvometrischen Beschaffenheiten abhängig ist. In einem über 70 Jahre alten soziologischen Modell betituliert der russische Wissenschaftler L. A. Bysow die Verbreitung des Gerüchts gar mit „Epidemie“22. Zunächst kann er die Verbreitungsgeschwindigkeit in drei Fixwerte einteilen, die ebenso sehr stark von Gerüchtskepsis gezeichnet sind: Das herankriechende Gerücht verbreitet sich sehr langsam und gefährlich. Er nennt es „finster, Unheil verkündend, geheim“23. Sehr ungestüm verbreitete Gerüchte seien besonders stark gefärbt und könnten zu öffentlichen Erschütterun- gen führen. Schließlich verschwinden Tauchgerüchte und tauchen wieder auf. Diese Einteilung ist zwar etwas grob, beschreibt aber recht gut wenigstens die Spannweite von Verbreitungsentwicklung, wenn auch von Einflüssen, die dem Gerücht auf seinem „Weg“ begegnen, keine Rede ist und die Konsequenzen ebenso wenig näher benannt werden. Bysow hat 1928 mit Gerüchten und ihrer Verbreitungsgeschwindigkeit experimentiert und gar eine „epidemologische Analyse“24 durchgeführt, um dem gängigen Begriff „wie ein Lauffeuer“ nachzuforschen.
Nach seiner Theorie wird das Ereignis, das als Ausgangspunkt für ein Gerücht dient, mit ei- ner besonderen Art von Interessiertheit von einer oder mehreren Personen wahrgenommen. Diese Wahrnehmung wird individuell oder kollektiv verarbeitet und vom Standpunkt seiner Bedeutung im öffentlichen Leben bewertet. Erst danach wird die Kunde anderen Personen weitergegeben. Einzelne Glieder der Gerüchte verbinden sich im Vorgange der Aufnahme und Weitergabe und bilden eine Kette. Erst das Kettennetz ist dann das gesamte Gerücht, das sich nach dem Muster Erreger - Infizierter/Zeuge - infizierte Population ausbreitet. Ungeach- tet bleibt, und das wird auch in Kapitel 6 große Teile der Kritik beeinflussen, daß Personen ohne eigenen Willen vorkommen, sie also quasi nur als Reaktoren angesehen werden, mecha- nisch verarbeiten und weitertragen, nach gleichen Mustern, ohne verschiedene Rollen einzu- nehmen. Widersprüchlichkeiten gibt es nicht, und von Anfang an geht es vor allem darum, Gerüchte deswegen zu erforschen, um sie als Gefahr zu eliminieren.
5 Nutzen und Einsatz von Gerüchten
5.1 Mythos und Medien
Im Zeitalter der mächtigen Massenmedien und dem Standpunkt, daß nur informiertes Volk ein gutes Volk sei, sind Gerüchte bedeutsamer denn je. Die Gier nach Absatz und Konsum des jeweiligen Mediums läßt seine Macher - in unterschiedlicher Ausprägung zwar - um je- den Preis Neuestes, Exklusives, Sensationelles in ständigem Wettbewerb mit der Konkurrenz krampfhaft suchen. Dann und wann auch um den Preis der Gerüchtstreuung und Übertrei- bung, wenn nicht gar Fehlinformation. Gerücht ist Geschäft, wenn man es gut zu vermarkten versteht. Auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, um ein Beispiel herauszugreifen, die als einer der Meinungsführer gilt, ist genauso wenig vor „Eyecatchern“, die Aufmerksamkeit auch einmal entgegen der Wahrhaftigkeit und Objektivität erregen wollen und sollen, gefeit wie Boulevardblätter oder angefeindete Privatsender. Mitte März 1999 titelte die FAZ mit einer sensationell breitgetretenen „Schande“25: In den Siebzigern habe „die DDR“ in einer „Nacht- und Nebelaktion“ den Goethesarg in Weimar geöffnet und - „abseits von jeder Öf- fentlichkeit“ und die Totenruhe störend - das Skelett gereinigt. Diese Geschichte, die der FAZ Titel und zwei Feuilletonseiten wert war, stellte sich später als ganz normaler Vorgang und eher für die „Kulturfunktionäre“ als gegen sie sprechende Aktion heraus. Die Stiftung bemüh- te sich eifrig, diese gar als PR-Maßnahme in der ansonsten recht sporadisch tröpfelnden Be- richterstattung über das Kulturstadtjahr auszunutzen. So war der gehässig glossierten FAZ und der Stiftung geholfen, aber das ist - angesichts des Kosovokrieges besonders deutlich - in den seltensten Fällen so.
Medien ziehen schnell Informationen aus dem Hemdsärmel, um im nackten Wettbewerb zu bestehen. So ist Information teuer, und Themen, die sich bequem immer wieder aufwärmen lassen, sind nicht dafür angetan, von den sie behandelnden Medien ohne weiteres plötzlich von einem anderen Standpunkt aus gesehen zu werden. Eingeschossen wird die Themenwei- terführung im Journalistenjargon genannt, und noch so falsche Informationen halten sich gleichwohl äußerst hartnäckig. Gerüchte sind Geheimnisbrüche: selten und kostbar. Der Wert ihrer schnellen Weitergabe ergibt sich nur durch finanziellen Gewinn. Natürlich hat dieses aggressiv erscheinende Auftreten auch aufklärerische Funktion, und es ist zudem zu fragen, wie sich Skandallust des Publikums und Bedienung durch seine Dienstleister - schuldhaft oder nicht - ergänzen. In Beziehung zur Autorität haben Medien eine Gegenmacht, deren „vierte Gewalt“ unabdingbar erscheint. Gleichzeitig wird das Publikum bei Laune gehalten durch Geschichten über Stars und Sternchen. Die Frage nach deren Ursprung ist wie die der Henne und des Eis: Star wird man durch Publikum, das sich vor allem für Stars interessiert. Dieser wechselseitige Nutzen findet auch bei transportierenden (und konstruierenden) Medien seine Nutznießer. Den Bewunderern, Verehrern und Anbetern als besonderem Adressaten- kreis gehört ihr Idol, und dieses weiß der sich „warmzuhalten“. Die 1997 verstorbene briti- sche Thronfolgersfrau Diana Spencer („Lady Di“) verbreitete geschickt tröpfchenweise Ge- rüchte, die sich als wahr oder falsch herausstellten und ihr die Atmosphäre interessanter Heimlichkeit bewahrten. Bei aller Beschwerde über die gerufenen und nicht loslassenden Mediengeister nutzte sie diese für ihre eigenen Interessen gegen das Königshaus. Ohne Ge- rüchte wäre das kaum möglich gewesen. Mythos wird hergestellt, und Image ist vom guten Willen der Transporteure abhängig. Man muß sie nur recht zu lenken wissen.
5.2 Politik und Beruf
In Kommentaren und sogenannten „Hintergrundberichten“ wird oft suggeriert, es müsse - eingedenk der Erfahrungen mit der so komplexen politischen Welt - eine Quelle des zitierten Hintergrundes geben. Politik wird verdächtigt, sich für Medien selbst zu inszenieren; umge- kehrt werden Medien der Aufbauschung und Hochstilisierung in nachrichtenarmen Zeiten bezichtigt.
Klar ist, daß mit gezielt eingesetzten Gerüchten Wirtschaftsunternehmen wie Personen zu Fall gebracht oder in ihrer Macht forciert werden können. Justizurteile sind fundierbar, Kriege mit hassenswert ausgeschriebenen Bösmenschen26 begründbar. Dabei mißachtet jede Frage nach dem Wahren oder Falschen irgendeine Dynamik des Gerüchts, weil dann zwischen Informati- on und Gerücht eine scharfe Trennungslinie gezogen werden müßte, die es per se nicht gibt. Wahr und Falsch sind definitiv nicht voneinander zu trennen: Entscheidend ist nicht der Wahrheitsgehalt, sondern die Konstruktion symbolischer Wirklichkeiten, woraus sich Ver- schiebungen, Metaphern, Verdichtungen und Unausdrückbares leicht formieren lassen. Nicht umsonst gibt es zur Verhinderung von Gerüchten ganze Managertrainingsprogramme, die Mobbing und Konkurrenz den Kampf ansagen und auf Hinterfragung von Leichtgläubigkeit und besonders aktive Kommunikation im Unternehmensbereich abstellen.
In unendlichen Variationen treten immer wieder besondere Formen von instrumentalisierten Gerüchten in bestimmten Schattierungen auf27:
- Offizielle Verlautbarungen werden grundsätzlich angezweifelt. „Hinter den Kulissen“ gebe es dauerhaft eine unsichtbare Hand, die die Politik als Marionettentheater zur Durchsetzung der eigenen Interessen führe. Irgendwo solle es also die „wahre Macht“ geben, die sich in Geheimgesellschaften formiere.
- Nicht selten vom politischen Gegner suggeriert und gern von Informationstransporteuren aufgenommen wird der Verdacht, es gebe Geheimabsprachen offizieller Gegner, die öf- fentlich diffamierend wirken würden. Dies korreliert mit der Konstruktion von Hinter- haltmächten und ist quasi die konsequente Verfolgung im Sinne der Machtausübung. Um zu verhindern, daß die verbrecherischen Eigenheiten des NS-Regimes ins Ausland gelang- ten, startete Propagandaminister Goebbels gar eine Kampagne gegen Gerüchte, die dazu aufforderte, sich „auf keinerlei Gerede einzulassen“ und vor allem nichts weiterzuerzäh- len, weil die Wände „Ohren haben“, die des stilisierten Feindes nämlich.
- Minder geeignet weil mittlerweile akzeptierter sind die schon bei den Römern nachgewie- senen typischen intriganten Instrumente: Geld, Gesundheit, Geschlechtsleben. Trotzdem fällt auf, wie stark dies von der Akzeptanz und moralischen Stellung abhängt. Dem Image von Michael Jackson haben die (wahren oder falschen) Gerüchte über Kindesmißbrauch kaum etwas anhaben können. Dem amerikanischen Präsidenten Bill Clinton hätte die Affäre mit einer Praktikantin im Regierungssitz fast das politische Genick gebrochen.
- Eingedenk und sich erinnernd an viele nicht gehaltene Versprechen und wissend um dip- lomatische Sprache - hier hat politische Bildung für die Macher durchaus Nachteile - wird die Politik oft verdächtigt, doppelzüngig zu reden. Was denn nun die wirklichen Ab- sichten seien, was tatsächlich gemeint sei, was dahinter stecke. Politische Emanzipation macht es den Entscheidungshandelnden nicht leicht, über Köpfe hinweg zu entscheiden, denn es gibt genügend Beispiele, die derartige Verdächtigungen als gesund und richtig ausweisen.
Man kann es nicht oft genug wiederholen: Gerüchte sollten nie als grundsätzlich böswillig gestreut und falsch mißachtet werden. Sie gehören offenbar zu einer aufgeklärten Gesellschaft dazu, denn sie halten Widerspruchsgeist und Auseinandersetzungswillen am Leben. Wahre Gerüchte bereichern die Informationsgesellschaft, sind unabdingbare Quelle; falsche können verheerend sein, aber sie bewahren uns vor allem vor einem: Langeweile.
6 Forschungsansätze
Gerüchte sind kein Thema, das man als besonders bequemes Objekt wissenschaftlicher Unter- suchungen bezeichnen könnte. Forschung darüber hält sich denn auch in Grenzen: Der For- scher kommt meistens zu spät. Hat er davon erfahren, läßt sich das Gerücht weder zu seinen Anfängen zurückverfolgen, noch ist es durch Befragung gesichert nachzuweisen. Vergessen, Rationalisierung und Verfälschung gefährden exakte Resultate. Die lassen sich auch kaum in Experimenten nachweisen, weil sozio- oder involvometrische Strukturen ebenso starken Ver- änderungen unterworfen sind wie Zufälle unterschiedlichster Art, die bei der Verbreitung von Gerüchten eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Empirische Forschung ist sehr auf- wendig, weil für jeden Fall extrem genau nachgeforscht und - vor allem - geprüft werden muß. Gerüchtforschung muß in vielen Bereichen angesiedelt sein, um ihr Objekt annähernd erfassen zu können: Dazu gehören die Teilgebiete Soziologie, Psychologie, Kommunikati- onswissenschaft und Anthropologie.
Nichtsdestotrotz beschäftigen sich Wissenschaftler seit der Jahrhundertwende mit dem gesell- schaftlichen Phänomen Gerücht, allerdings oft genug eher moralisierend, als seine Funkti- onsweise zu untersuchen. Als Vordenker kann man den Breslauer Sozialwissenschaftler Wil- liam Stern bezeichnen, der im rechtswissenschaftlichen Bereich nach Methoden forschte, Aussagen mechanisch nachzuprüfen. Angesichts des gerade erfundenen Lügendetektors inte- ressierte er sich besonders für selektive Wahrnehmung und dementsprechende Glaubwürdig- keit bei der Reflexion und Erinnerung. Er fand heraus, daß Zeugenaussagen im Gericht höchst zweifelhaft und unter anderem durch Gerüchte verfälscht werden können. Bysows Problem ist bereits beschrieben worden: Mit seiner „epidemologischen Analyse“ setzte er zwar einen Meilenstein in der Interessenbildung hinsichtlich der Verbreitung und Entwicklung, ignorierte aber die Eigendynamik von Gerüchten auf ihrem Weg durch die transportierenden Instanzen. Erste systematische Versuche führten Allport und Postman sowie Knapp und Festinger nach dem Zweiten Weltkrieg in Amerika durch. Wie einleitend schon festgestellt wurde, wird hier das Problem der Verleugnung von Reaktion ersetzt durch jenes der vorgefaßten Meinung. Als untersuchte Beispiele wurden sämtlich Fälle von Falschinformationen ausgesucht, obwohl in ihren Definitionen nur von „unbestätigten Informationen“ die Rede ist, was sehr subjektiv betrachtet werden kann (von wem bestätigt?). Es gibt schließlich genügend positive Beispiele von Gerüchten wie jene von den Todesschützen Kennedys oder Abtritte von Politikern.
Trotzdem hat die Postmansche Formel
Gerüchtstärke (R) = Bedeutung (i) mal Unsicherheit (a)
Eingang und Weiterentwicklung in der wissenschaftlichen Literatur gefunden. Geht einer der Faktoren gegen Null, ist das Gerücht hinfällig. Problem an dieser Formel ist allerdings wieder, daß Personen willenlos erscheinen. Somit wurde in die Formel die sogenannte kritische Komponente eingeführt:
R = i * a / c
(c als Mündigkeit, die vor Gerüchten schützt). Zur Verhinderung von Gerüchtbildung wurden diese Ergebnisse in den Vereinigten Staaten in militärisch höchsten Etagen weiterentwickelt. Im Kalten Krieg hatten Gerüchte Doppelfunktion: Sie konnten den Gegner verwirren, aber auch ungewollt Informationen preisgeben. Über Ergebnisse der militärischen Studien ist bis heute denn auch kaum etwas bekannt geworden.
Von naturwissenschaftlicher Seite ist versucht worden, das Problem Gerücht auf bodenständigere Füße zu stellen: Harald Günzel, Mathematiker von Haus aus, entwarf ein Modell der Ausbreitung von Gerüchten. Danach gebe es drei verschiedene Wege. „Steigt“ das Gerücht ab Ausbreitung, erreicht es eine gesamte Population, genaue Größen sind abstrahiert und damit nicht näher definiert. Steigt das Gerücht erst und hat dann ein lokales Maximum, stellt Günzel den Grenzwert Null fest, auf den es sich hin ausbreitet, es „versackt“ also. Fällt das Gerücht jedoch von Anfang an gegen Null, kommt es erst gar nicht zum Ausbruch. Es gibt also selten Mittelwerte und häufig Extreme. Eine andere Theorie begründet Gerüchtausbreitung mit der Chaostheorie: Gerüchte springen, ihr Verlauf ist nicht vorhersehbar…
Bei allem Streit und ohne eindeutige Stellungnahme oder Präferenz soll meines Erachtens aber eines deutlich geworden sein: Das Gerücht bleibt auf lange Zeit Forschungsgegenstand, so viele Probleme es auch mit sich bringt; und es ist ein Trend hin zur bloßen Beschreibung erkennbar. Die unüberwindbaren Schwierigkeiten, diese flüchtige Erscheinung in ein festes Gerüst immer wiederkehrender Funktionen und Rollen zu pressen, macht sie so interessant.
Literatur- und Quellenverzeichnis
Bergmann, Jörg R.: Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion. De Gruyter: Berlin und New York 1988.
Dunbar, Robin: Klatsch und Tratsch: Wie der Mensch zur Sprache fand. Bertelsmann: München 1998.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.3.1999.
Hadorn, Werner/Cortesi, Mario: Mensch und Medien. Die Geschichte der Massenkommunikation. 2 Bde. AT Verlag: Aarau/Stuttgart 1986.
Kapferer, Jean-Noël: Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt. Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann. Gustav Kiepenheuer: Leipzig 1996.
Katz, Elihu/Lazarsfeld, Paul F.: Persönlicher Einfluß und Meinungsbildung. Verlag für Geschichte und Politik: Wien 1962.
Lauf, Edmund: Gerücht und Klatsch. Spiess: Berlin 1990.
Müller, Peter: Die soziale Gruppe im Prozeß der Massenkommunikation. Enke: Stuttgart 1970.
Neubauer, Hans-Joachim: Fama. Eine Geschichte des Gerüchts. Berlin Verlag: Berlin 1998.
Stroebe, Rainer W.: Kommunikation. Bd. 1: Grundlagen - Gerüchte - schriftliche Kommunikation. Sauer: Heidelberg 1996.
Zoll, Ralf/Lippert, Eckehard: Die soziale Gruppe. Grundformen menschlichen Zusammenlebens. Moritz Diesterweg: Frankfurt/Berlin/München 1979.
[...]
1 Zitiert nach: Neubauer S. 227.
2 Kapferer S. 12.
3 Alle Zitate Kapferer S. 11 ff.
4 Stroebe S. 58.
5 Kapferer S. 12.
6 Kapferer S. 19.
7 Siehe dazu auch Abschnitt 4.3.
8 Siehe dazu vor allem Abschnitt 5.1.
9 Siehe dazu Kapitel 4.
10 Dabei ist der Wahrheitsgrad völlig unerheblich!
11 Müller S. 43 ff.
12 Zitiert nach: Zoll S. 111 ff.
13 Es sei noch einmal an den Klatsch erinnert, der sich allein aus solchen Zusammenkünften ergibt.
14 Festinger-Zitat in: Stroebe S. 55.
15 Stroebe S. 59 ff.
16 Kapferer S. 118 ff.
17 Kapferer S. 88.
18 Versuche nachzuweisen, daß diese oft genug immer dieselbe Person innerhalb einer bestimmten Sozietät vertritt, sind fehlgeschlagen.
19 Werbefachleute nutzen diese Richtlinienkompetenz aus, indem sie gezielt die Opinion leaders anwerben.
20 Auch dies läßt sich ohne Probleme auf die Gleichschaltung der Medien beziehen: Antikriegsschreibende Zunft wird ähnlich belächelt/nicht estimiert/ignoriert/bekämpft analog den konform denkenden politischen Persönlich- keiten.
21 Wörtlich könnte man es etwa so formulieren: „Was so viele sagen, kann ja nicht falsch sein.“ - „Sagen doch alle!“
22 Neubauer S. 211 ff.
23 Zitiert nach: Ebd.
24 Siehe auch Kapitel 6.
25 Alle Zitate aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.3.1999, Seite 1 und Feuilleton.
26 Gemeint ist Slobodan Milosevic.
27 Nach Kapferer S. 266 ff.
- Arbeit zitieren
- Christian Schmidt (Autor:in), 1999, Das Gerücht - Definitionen sowie Darstellung von psychologischen Mechanismen und Prozessen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96843
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