Das 19. Jahrhundert kann als eine Zeit des gesellschaftlichen Wandels bezeichnet werden. Damals verändern sich die Vorstellungen von einer Ehe und einer Familie und die damit verbundenen Geschlechterverhältnisse. Neben dem traditionellen Frauenbild der Ehefrau, Hausfrau und Mutter entsteht langsam ein modernes Frauenbild der selbstbestimmten und erwerbstätigen Frau. Somit bestehen gleichzeitig zwei unterschiedliche Vorstellungen, die eine Ambivalenz im Frauenbild hervorrufen. Die literarischen Figuren können als Repräsentation der realen Gesellschaft dienen und daher stellt sich die Frage, welche Frauenbilder in der damaligen Literatur dargestellt werden und ob sie dem Frauenbild des 19. Jahrhunderts entsprechen oder es kritisieren. Diese Frage soll in der Masterarbeit beantwortet werden.
Dafür werden exemplarisch die beiden Werke Effi Briest (1894/1895) von Theodor Fontane und Buddenbrooks (1901) von Thomas Mann untersucht. Da die Werke in einem geringen zeitlichen Abstand entstanden sind und beide im 19. Jahrhundert spielen, werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Darstellung der Frauenfiguren interessant sein. In diesem Zusammenhang stellen sich weitere Fragen: Welche Figuren bedienen traditionelle und welche moderne Geschlechterrollen? Bei welchen Figuren werden die klassischen Geschlechterrollen getauscht? Inwiefern können Effi und Tony als Kindfrauen bezeichnet werden? Wie werden die Mutterfiguren und Mutterersatzfiguren bewertet? Wiederholen die Töchter die Schicksale der Mütter? Welche Bedeutung haben die Vaterfiguren? Welche Figuren dienen einander als Gegensätze und welche als Parallelfiguren? Welchen Einfluss nehmen Familie und Gesellschaft auf die Eheschließungen der Figuren? Wie werden Ehebruch und Ehescheidung in den Texten bewertet? Und zuletzt: Weshalb scheitern Effi und Tony an der Vereinbarkeit von Individualität und Gesellschaft?
Die wichtigsten Frauenfiguren der beiden Werke sind Effi Briest und Antonie „Tony“ Buddenbrook. Sie weisen viele Gemeinsamkeiten in ihren Einstellungen, ihren Charakterisierungen und in ihren Schicksalen auf. Der Leser begleitet die beiden Frauenfiguren von ihrer Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Sie werden in jungen Jahren von ihren Eltern mit unbekannten Männern verheiratet und müssen nach den Ehescheidungen mit dem Leben als geschiedene Frauen zurechtkommen. Somit werden verschiedene Stationen im Leben von literarischen Frauenfiguren des 19. Jahrhunderts gezeigt.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Feministische und genderorientierte Erzähltheorie
3 Frauenfiguren in Theodor Fontanes und Thomas Manns Werk
3.1 Frauenbild in der Familie
3.1.1 Mutterfiguren und Mutterersatzfiguren
3.1.2 Rollen der Vaterfiguren
3.1.3 Vertauschte Geschlechterrollen
3.2 Frauenbild in der Ehe
3.2.1 Vernunftehe statt Liebesehe
3.2.2 Skandal des Ehebruchs
3.2.3 Folgen der Ehescheidung
3.3 Schicksale der Frauenfiguren
3.3.1 Motiv des Todes bei Effi Briest
3.3.2 Motiv des Lebens bei Tony Buddenbrook
3.3.3 Unvereinbarkeit von Individualität und Gesellschaft
4 Fazit
5 Literaturverzeichnis
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur
1 Einleitung
Gefühle [gewannen] im Verhältnis der Geschlechter an Bedeutung. Überspitzt gesagt trat das Prinzip der „Liebesheirat“ an die Stelle einer früheren Sicht, die Heirat vor allem als Geschäft gesehen hatte. […] Wenn die zu Verheiratenden sich mochten, konnte das zwar nicht schaden. Aber unbedingt nötig war es nicht. Liebe galt nicht als Voraussetzung von Ehe. […] Die Gefühle der zukünftigen Ehepartner füreinander waren unwichtiger als die Frage, ob deren Familien eine „standesgemäße“ Verbindung gewährleisteten […].1
Das 19.Jahrhundert kann als eine Zeit des gesellschaftlichen Wandels bezeichnet werden. Damals verändern sich die Vorstellungen von einer Ehe und einer Familie und die damit verbundenen Geschlechterverhältnisse.2 Neben dem traditionellen Frauenbild der Ehefrau, Hausfrau und Mutter entsteht langsam ein modernes Frauenbild der selbstbestimmten und erwerbstätigen Frau.3 Somit bestehen gleichzeitig zwei unterschiedliche Vorstellungen, die eine Ambivalenz im Frauenbild des 19.Jahrhunderts hervorrufen.
Die literarischen Figuren können als Repräsentation der realen Gesellschaft dienen und daher stellt sich die Frage, welche Frauenbilder in der damaligen Literatur dargestellt werden und ob sie dem Frauenbild des 19.Jahrhunderts entsprechen oder es kritisieren. Diese Frage soll in der vorliegenden Masterarbeit beantwortet werden. Dafür werden exemplarisch die beiden Werke Effi Briest4 (1894/1895) von Theodor Fontane und Buddenbrooks5 (1901) von Thomas Mann untersucht. Da die Werke in einem geringen zeitlichen Abstand entstanden sind und beide im 19.Jahrhundert spielen, werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Darstellung der Frauenfiguren interessant sein. In diesem Zusammenhang stellen sich weitere Fragen: Welche Figuren bedienen traditionelle und welche moderne Geschlechterrollen? Bei welchen Figuren werden die klassischen Geschlechterrollen getauscht? Inwiefern können Effi und Tony als Kindfrauen bezeichnet werden? Wie werden die Mutterfiguren und Mutterersatzfiguren bewertet? Wiederholen die Töchter die Schicksale der Mütter? Welche Bedeutung haben die Vaterfiguren? Welche Figuren dienen einander als Gegensätze und welche als Parallelfiguren? Welchen Einfluss nehmen Familie und Gesellschaft auf die Eheschließungen der Figuren? Wie werden Ehebruch und Ehescheidung in den Texten bewertet? Und zuletzt: Weshalb scheitern Effi und Tony an der Vereinbarkeit von Individualität und Gesellschaft? Die wichtigsten Frauenfiguren der beiden Werke sind Effi Briest und Antonie „Tony“ Buddenbrook. Sie weisen viele Gemeinsamkeiten in ihren Einstellungen, ihren Charakterisierungen und in ihren Schicksalen auf. Der Leser begleitet die beiden Frauenfiguren von ihrer Kindheit bis ins Erwachsenenalter.6 Sie werden in jungen Jahren von ihren Eltern mit unbekannten Männern verheiratet und müssen nach den Ehescheidungen mit dem Leben als geschiedene Frauen zurechtkommen. Somit werden verschiedene Stationen im Leben von literarischen Frauenfiguren des 19.Jahrhunderts gezeigt. Daher können die beiden Werke exemplarisch für die genannte Fragestellung behandelt werden.
Die beiden Werke gehören zu den wichtigsten Gesellschaftsromanen der deutschsprachigen Literaturlandschaft. Außerdem zählen sie zu den bekanntesten und einflussreichsten Werken Theodor Fontanes und Thomas Manns. Daher sind sie für die Forschung von großem Interesse und werden ausgehend von verschiedenen Ansätzen analysiert: von der Emotionsforschung, über Alterität sowie Erinnerungs- und Gedächtnistheorien, bis zur Diskursanalyse und Dekonstruktion.7 In den bisherigen Untersuchungen werden maßgeblich die Hauptfiguren, im Falle der Buddenbrooks die männlichen Hauptfiguren, in den Vordergrund gestellt. In dieser Untersuchung, die mithilfe der genderorientierten Erzähltheorie erfolgen soll, werden dagegen vorrangig die weiblichen Hauptfiguren und die weiblichen Nebenfiguren betrachtet. Dennoch werden die weiblichen Figuren immer im Zusammenhang mit den männlichen Figuren gesehen, da diese die Handlungen der Frauenfiguren mitbestimmen. Ausgehend von der genderorientierten Erzähltheorie kann die Darstellung der Frauenfiguren aus den unterschiedlichen Perspektiven des Erzählers, der anderen Figuren und der Frauenfiguren selbst analysiert werden. Es soll herausgefunden werden, von wem die Informationen über die Frauenfiguren sind und wie die Informationen dargestellt werden, ob innere oder äußere Handlungen überwiegen, in welchen Räumen sich die Figuren bewegen und wie sich die Zeiterfahrungen der Geschlechter unterscheiden. Zusätzlich werden weitere erzähltheoretische Aspekte hinzugezogen, wozu die Zeit, der Modus, die Stimme, der Erzähler, die Handlung, die Figuren und der Raum gehören. Des Weiteren soll überprüft werden, inwiefern eine ironische Erzählweise vorliegt und ob es einen zuverlässigen oder unzuverlässigen Erzähler gibt. Besonders interessant sind einerseits die Bezeichnungen der „lieben“ Mama und der „armen“ Effi im Werk Effi Briest und andererseits die Übertreibungen und der Wechsel zwischen Fremdsprache und Dialekt im Werk Buddenbrooks. In dem Zusammenhang ist die Frage der Sympathielenkung durch den Erzähler interessant, da sie durch Ironie und unzuverlässiges Erzählen erfolgen kann. Darüber hinaus werden die zentralen Motive der beiden Werke untersucht, wozu das Motiv des Todes bei Effi Briest und das Motiv des Lebens bei Tony Buddenbrook zählen. Als Motiv bezeichnet Elisabeth Frenzel „einen Handlungsansatz […], der ganz verschiedene Entfaltungsmöglichkeiten in sich birgt“8. Ausgehend von dieser Definition werden die genannten Motive und weitere bedeutsame Motive der beiden Werke untersucht. Zuletzt werden die Ergebnisse dieser Untersuchung mit dem Frauenbild im 19.Jahrhundert verglichen, um die genannte Fragestellung zu beantworten. Ein kurzer Ausblick auf weitere aufschlussreiche Forschungsfragen soll diese Masterarbeit beschließen.
2 Feministische und genderorientierte Erzähltheorie
Die gesellschaftlichen und politischen Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern werden immer wieder mit den geschlechtlichen Unterschieden in Verbindung gebracht. Männer gelten als das „starke“ und Frauen als das „schwache“ Geschlecht. Mit dieser Begründung werden Frauen seit Anbeginn der Zeit von Männern unterdrückt und herabgesetzt. Da die Ungleichheiten aus den Geschlechterverhältnissen entstanden sind, scheint keine Möglichkeit zu bestehen, dass Frauen einen anderen Lebensweg einschlagen können. Doch die Frauenbilder jedes Jahrhunderts sind durch Ambivalenzen gekennzeichnet, die solche feststehenden Machtverhältnisse durchbrechen. Die damit verbundenen unterschiedlichen Frauenbilder können auch in der Literatur gefunden werden, deren Figuren als Repräsentation der realen Gesellschaft dienen.
Dieser Gedanke führt zu Beginn des 20.Jahrhunderts zur feministischen Erzähltheorie, die eine Kombination aus der klassischen Erzähltheorie und der Geschlechterforschung ist.9 Das Ziel dieser neuen Erzähltheorie besteht darin, Unterschiede in der Darstellung der Geschlechter in der Literatur zu erkennen und dadurch geltende Frauenbilder und Männerbilder zu kritisieren und nachhaltig zu verändern.10 Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Realität. Deswegen wird diese Theorie mit politischen Ambitionen verbunden, um eine Gleichberechtigung der Geschlechter herzustellen. Seitdem die rechtlichen Unterschiede zwischen Frauen und Männern aufgehoben sind, fallen die politischen Ambitionen weg.11 Heutzutage werden daher nur noch Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der Literatur untersucht. Dabei wird zum einen die inhaltliche und zum anderen die formale Ebene der Erzählung betrachtet.12 Neben dem Geschlecht der Figuren werden auch das Geschlecht des Autors, Erzählers und des Lesers angesehen.13 Beim Geschlecht wird in dem Zusammenhang zwischen dem natürlichen Geschlecht oder Sex und dem kulturellen Geschlecht oder Gender unterschieden.14 Demzufolge werden Erwartungen und Zuschreibungen an die Geschlechter mitgedacht. Als Weiterentwicklung der feministischen Erzähltheorie ist die heutige genderorientierte Erzähltheorie entstanden.15
Die folgenden Aspekte der genderorientierten Erzähltheorie können verwendet werden, um die Werke von Theodor Fontane und Thomas Mann zu untersuchen.
Der erste Aspekt, der von Natascha Würzbach dargestellt wird, ist die Raumdarstellung: Zum einen sind gesellschaftliche und natürliche Räume zu unterscheiden und zum anderen private und öffentliche Räume. Die natürlichen und privaten Räume werden eher Frauen zugeordnet, die diese Räume nicht oder nur eingeschränkt verlassen können. Die gesellschaftlichen und öffentlichen Räume werden dagegen den Männern zugeschrieben, die diese Räume uneingeschränkt betreten und verlassen können. Als Zwischenräume gelten Fenster und Gärten. Deswegen dienen Fenster und Gärten den Frauen als Ort der Grenzüberschreitung und als Zeichen ihrer Sehnsüchte. Das Handeln und Erleben in den genannten Räumen sind verschieden, da Männern eine große Handlungsfreiheit zusteht, während Frauen keine Handlungsfreiheit besitzen. Neben solchen realen Räumen werden auch mentale und virtuelle Räume beschrieben, die der Verwirklichung der Sehnsüchte von Frauen dienen. Die Darstellung der Räume unterscheidet sich insgesamt durch das Geschlecht des Erzählers. Eine weibliche Erzählweise ist mit Nahsicht und Emotionalität verbunden, während eine männliche Erzählweise mit Weitsicht und Sachlichkeit verknüpft ist.16
Der zweite Aspekt, der von Eveline Kilian beschrieben wird, ist die Zeitdarstellung: Zunächst wird zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit unterschieden. Die Erzählzeit stellt die Zeit zum Erzählen der Handlung dar, während die erzählte Zeit die Zeit der Handlung selbst ist. Das Verhältnis zwischen diesen Zeitebenen beeinflusst die Erzählung. Neben der gegenseitigen Abhängigkeit von Zeitlichkeit und Erzählung herrscht auch eine gegenseitige Abhängigkeit von Zeiterfahrung und Geschlecht. Das zeigt sich an den unterschiedlichen Biografien von Männern und Frauen. Da eine Erzählung in einem zeitlichen Kontext verordnet wird, müssen die historischen Geschlechter- und Machtverhältnisse hinzugezogen werden. Sowohl in der Familie als auch in der Ehe werden Frauen ihren Ehemännern und Vätern seit Anbeginn der Geschichte untergeordnet. Das Zeiterleben von männlichen und weiblichen Figuren unterscheidet sich daher aufgrund der historischen Geschlechter- und Machtverhältnisse. Demnach können Frauen bestimmte Lebenswege nicht einschlagen, die Männern wiederum offenstehen. Die Figuren werden somit allesamt durch ihre Gegenwart, Vergangenheit und ihre Zukunft beeinflusst.17
Der dritte Aspekt, der von Andrea Gutenberg erläutert wird, ist die Handlung: Die Ebenen der Darstellung und des Dargestellten werden als die Handlung eines Textes bezeichnet. Zu unterscheiden sind dabei äußere und innere Handlungen. Bei Texten mit weiblichen Protagonisten dominieren die inneren Handlungen, wogegen bei Texten mit männlichen Protagonisten die äußeren Handlungen überwiegen. Dadurch wirken die Protagonisten eher passiv oder eher aktiv. Äußere Handlungen sind für alle Figuren offenkundig, während innere Handlungen nur für den Protagonisten erkennbar sind. Alle Handlungen sind jedoch für den Leser sichtbar, weshalb die inneren Handlungen stärker untersucht werden sollten. Bestimmte literarische Themen werden mit männlichen oder weiblichen Handlungen verknüpft. Besonders große literarische Themen, die mit moralischen Vorstellungen verbunden sind, werden eher in Texte mit weiblichen Protagonisten eingebunden.18
Der vierte Aspekt, der von Marion Gymnich erklärt wird, ist die Figurendarstellung: Bei der Untersuchung von Figuren wird häufig nur die inhaltliche Ebene betrachtet. Dadurch werden Figuren entweder als reale Menschen gesehen oder nur als Stereotype. Beide Vorgehensweisen werden literarischen Figuren nicht gerecht. Daher sollten beide Aspekte kombiniert und weitergedacht werden. Es sollten Entwicklungen der Figuren, die Rollen, die sie einnehmen, und ihre unterschiedlichen Darstellungen untersucht werden. Figuren können sich selbst beschreiben oder durch den Erzähler und andere Figuren charakterisiert und bewertet werden. Dadurch werden bestehende Frauenbilder und Männerbilder transportiert, die entweder bestätigt oder kritisiert werden können. Durch traditionelle Frauenbilder werden Bedürfnisse und Ängste von Männern ausgedrückt. Die dargestellten Ansichten der Figuren kann der Leser daraufhin übernehmen oder verwerfen.19
Der fünfte Aspekt, der von Gaby Allrath und Carola Surkamp definiert wird, ist die Erzählweise: Der Erzähler kann einerseits eine öffentliche und andererseits eine private Perspektive einnehmen und dabei heterodiegetisch, homodiegetisch oder autodiegetisch erzählen. Während das Geschlecht des Autors bekannt ist, wird das Geschlecht des Erzählers durch den Leser bestimmt und ist daher nicht feststellbar. Unabhängig von dem Geschlecht des Autors oder autodiegetischen Erzählers kann die Erzählweise weiblich oder männlich sein. Laut Susan Lanser kann dies anhand der Sprache untersucht werden.20 Männliche Erzählweisen sind eher sachlich und nüchtern, wogegen weibliche Erzählweisen eher emotional und bildhaft wirken. Deswegen werden weibliche Erzähler häufig mit unzuverlässigem Erzählen in Verbindung gebracht. Dadurch können vorherrschende Geschlechterproblematiken gezeigt und eine Kritik an den damit verbundenen Frauenbildern und Männerbildern geübt werden. Der Erzähler kann außerdem einen männlichen oder weiblichen Blick auf die Handlung und die Figuren werfen. Der Blick des Erzählers hängt besonders mit den Beschreibungen der Räume und Figuren zusammen. Während ein männlicher Blick die äußeren Handlungen betrachtet, sieht ein weiblicher Blick die inneren Handlungen.21
Die vorgestellten Aspekte der genderorientierten Erzähltheorie können für eine Untersuchung der Werke Effi Briest und Buddenbrooks verwendet werden. Die Frauenfiguren der beiden Werke vertreten sowohl das traditionelle als auch das moderne Frauenbild und repräsentieren somit die Ambivalenz im Frauenbild des 19.Jahrhunderts. Das kann mithilfe der genderorientierten Erzähltheorie nachgewiesen werden. Zum einen unterscheiden sich die Beschreibungen und Bewertungen der Frauenfiguren durch den Erzähler, die anderen Figuren und die Frauenfiguren selbst. Zum anderen werden abwechselnd männliche und weibliche Handlungen durch männliche und weibliche Figuren vorgenommen. Außerdem unterscheiden sich die Handlungsräume und die Zeiterfahrungen der Geschlechter. In der folgenden Untersuchung soll herausgefunden werden, inwiefern Theodor Fontane und Thomas Mann dadurch eine Kritik an dem vorherrschenden Frauenbild im 19.Jahrhundert ausüben. Dazu werden die wichtigsten Lebensbereiche der Frauenfiguren betrachtet, zu denen die Gesellschaft, die Familie und die Ehe gehören.
3 Frauenfiguren in Theodor Fontanes und Thomas Manns Werk
3.1 Frauenbild in der Familie
Im 19.Jahrhundert befindet sich die Vorstellung von einer Familie in einem Wandel. Die ständische Großfamilie wird langsam durch die bürgerliche Kleinfamilie abgelöst.22 Dadurch wird das Familienleben in das Private verlagert und von der Arbeit getrennt.23 Ein großes Haus, in dem die gesamte Familie mit Bediensteten lebt, wird seltener. Stattdessen lebt nur die engste Familie, bestehend aus Eltern und Kindern, zusammen in einem Haus. Daraus folgend verändert sich zum einen die Beziehung zwischen Eltern und Kindern und zum anderen die Beziehung zwischen Müttern und Vätern. Die Beziehungen werden weniger von wirtschaftlichen Interessen und mehr von Gefühlen geleitet.24 Dennoch bleiben die traditionellen Rollenverteilungen der Geschlechter gleich. Männer vertreten demnach die Rolle des Ernährers und Frauen behalten die dreifache Rolle der Ehefrau, Hausfrau und Mutter. In Effi Briest und Buddenbrooks werden eine ständische Adelsfamilie und eine bürgerliche Kaufmannsfamilie dargestellt. Somit handelt es sich um eine traditionelle Vorstellung von der Familie.
3.1.1 Mutterfiguren und Mutterersatzfiguren
Die Beziehungen der Mutterfiguren und Mutterersatzfiguren, womit die Kindermädchen gemeint sind, zu ihren Töchtern und Ersatztöchtern sind durch Spannungen gekennzeichnet. Es werden vorrangig beeinflussende und vernachlässigende Mütter dargestellt, die nur an standesgemäßen Eheschließungen ihrer Töchter interessiert sind. Die einzigen sorgenden Figuren sind die Mutterersatzfiguren Roswitha Gellenhagen und Ida Jungmann, die nicht von den gesellschaftlichen Erwartungen des Adels und des Großbürgertums betroffen sind.
Die Rolle von Luise, der Mutter von Effi, ist für die Entwicklung der Handlung ausschlaggebend. Sie ist eine beeinflussende Mutterfigur, die alle Entscheidungen für ihre Tochter übernimmt und immer nach ihren eigenen Interessen handelt. Bei ihr stehen die Taten im Vordergrund, womit die äußeren Handlungen überwiegen, die für Männlichkeit stehen. Als Geert von Innstetten um Effis Hand anhält, überlässt sie ihrer Tochter keine Entscheidungsmöglichkeit. Luise kennt Effi und daher auch ihren hohen Gesellschaftssinn, den sie für ihre Zwecke ausnutzt. Deswegen beschreibt sie Effi das standesgemäße und erfolgreiche Leben, das sie mit Innstetten führen kann (vgl. E,22). „‚[…] und wenn du nicht ›nein‹ sagst, was ich mir von meiner klugen Effi kaum denken kann, so stehst du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen. Du wirst deine Mama weit überholen.‘“ (E,22) Luises Worte verdeutlichen, dass sie kein „Ja“ von ihrer Tochter erwartet, sondern lediglich kein „Nein“. Effis Schweigen wird daher als eine Zustimmung gewertet.25 Damit wird über eine wichtige Lebensentscheidung geschwiegen.26 Im Verlauf des Werks werden die Figuren immer wieder schweigen, anstatt miteinander zu sprechen. Die Beziehung der beiden ist insgesamt durch Ambivalenzen gekennzeichnet. Einerseits wird die Liebe zwischen Mutter und Tochter betont. Andererseits sind Luises Handlungen und Aussagen immerzu gegen Effi gerichtet. Sogar in den Momenten, in denen die Liebe zwischen den beiden beschrieben wird, verdeutlichen Luises Handlungen ihre Unzufriedenheit mit ihrer Tochter. Der Erzähler bezeichnet Luise in dem Zusammenhang als die „liebe“ Mama. Solche Ambivalenzen lassen den Erzähler unzuverlässig wirken.27 Die Handlungen der Frauenfigur und die Zuschreibungen durch den Erzähler stehen in einem Widerspruch.28 Daneben wirken diese Aussagen ironisch, da die „liebe“ Mama nicht liebenswürdig handelt.29 Die Ironie wird durch Ironiesignale an den Leser weitergegeben, die in diesem Fall die unpassenden Zuschreibungen sind.30 Somit kann unzuverlässiges Erzählen durch Ironie entstehen.31 Besonders die Liebe zu ihrem Schwiegersohn Innstetten erscheint größer als die Liebe zu ihrer Tochter Effi. Dabei wird jedoch nur über die gemeinsame Vergangenheit von Luise und Innstetten gesprochen, während sie sich in der Gegenwart meiden.32 Nachdem Luise die Chance auf eine Ehe mit Innstetten nicht genutzt hat, soll Effi ihn an ihrer Stelle heiraten. „[…] sie hatte es nicht sein können, nun war es statt ihrer die Tochter – alles in allem ebensogut oder vielleicht noch besser.“ (E,23) Somit dient ihre Tochter als eine zweite Chance auf eine Ehe mit Innstetten, weswegen sie diese Verbindung ohne Rücksicht auf Effis Gefühle und Wünsche zustande bringen will.33 Das Werk behandelt somit große literarische Themen wie Liebe, Ehe, Betrug und Tod, die eine Moral verhandeln. Solche Themen werden besonders in Texten mit weiblichen Protagonisten genutzt. Gleichzeitig erfolgen keine Innensichten der Figuren und damit überwiegen die männlichen Handlungen, die offensichtlich geschehen. Somit kann das Werk sowohl den weiblichen als auch den männlichen Handlungen zugeordnet werden, genauso wie die Figuren teilweise Eigenschaften des anderen Geschlechts innehaben. Diese Eigenschaften und Handlungen werden besonders an der Frauenfigur Luise deutlich.
Effi wird im Verlauf des Werks selbst Mutter, aber verfolgt eine andere Erziehungsmethode als ihre Mutter. Anstatt alle Entscheidungen für ihre Tochter Annie zu treffen, überlässt sie die Erziehung anderen. Anders als Luise kann sie demnach als vernachlässigende Mutterfigur bezeichnet werden. Als Kindfrau kann sie keine Mutterliebe aufbauen, weswegen sie nur eine vernachlässigende Mutterfigur werden kann.34 Bei Effi sind die Worte von Bedeutung, da sie keine entscheidenden Taten vollbringt. Damit überwiegen die inneren Handlungen, die für Weiblichkeit stehen. Es werden nur zwei Momente beschrieben, in denen sie Interesse an ihrer Tochter zeigt, und zwar nach der Ehescheidung von Innstetten und als die Zukunft ihrer Tochter besprochen wird. „Denn so adelsstolz sie war, so war sie’s doch nur für ihre Person, und ein eleganter und welterfahrener und vor allem sehr, sehr reicher Bankiersschwiegersohn wäre durchaus nicht gegen ihre Wünsche gewesen.“ (E,275) Während dieses Gesprächs gleichen ihre Aussagen denen ihrer Mutter. Effi möchte die Entscheidung bezüglich der Partnerwahl ihrer Tochter zugunsten ihrer eigenen Interessen treffen (vgl. E,275). Dabei erscheint ihr der Stand ihres Schwiegersohnes, der zur Entscheidung zu ihrer Ehe mit Innstetten beigetragen hat, weniger bedeutsam als das Vermögen und das Ansehen. Die möglichen Gefühle und Wünsche von Annie haben für Effi somit ebenfalls keine Bedeutung. Demnach nimmt sie ihre Mutter, in den Momenten, in denen sie Interesse an ihrer Tochter zeigt, unbewusst als Vorbild.
Die Erziehung von Annie überlässt Effi vollkommen dem Kindermädchen Roswitha Gellenhagen. Diese hat jedoch eine schwierige Vergangenheit. Als junge Frau bekommt sie ein uneheliches Kind, was in der damaligen realen Gesellschaft als Schande angesehen wird (vgl. E,219). Deshalb wird ihr das Kind von ihrem Vater weggenommen (vgl. E,219). Damit ist Roswitha eine versagende Mutterfigur für ihr leibliches Kind. „‚[…] Es war doch eigentlich eine große Sünde.‘ ‚Das mit dem Kinde und daß es verhungert ist? Ja, gnädigste Frau, das war es. Aber ich war es ja nicht, das waren ja die anderen... Und dann ist es auch schon so sehr lange her.‘“ (E,277) Die Schuld an diesem Schicksal sieht Roswitha jedoch nicht bei sich selbst, sondern bei ihrem Vater und der Gesellschaft. Seitdem verurteilt sie die Erwartungen, die von der Gesellschaft an beide Geschlechter gestellt werden. Effi erleidet nach ihrem Ehebruch und ihrer folgenden Ehescheidung ein ähnliches Schicksal, weil sie die Erwartungen der Gesellschaft nicht erfüllen kann. Trotz der Standesunterschiede wird Roswithas Schicksal mit dem Schicksal von Effi verglichen.35 Damit wird eine Kritik an der Standesgesellschaft deutlich, die Menschen wegen ihres Vermögens und Ansehens verschieden bewertet. Sie kann daher als Stimme des Erzählers verstanden werden, der durch diese Frauenfigur seine Meinung vertritt. Der Erzähler beschreibt Roswitha als Naturmensch im Gegensatz zu dem Kulturmenschen Luise.36 Die Aussagen des Erzählers über Roswitha erscheinen nicht unzuverlässig.37 Daher widersprechen die Handlungen der Frauenfigur und die Beschreibungen des Erzählers einander nicht.38 Außerdem wird sie im Gegensatz zu Luise nicht durch Zuschreibungen ironisch dargestellt.39 Daher wird die Sympathie deutlich auf Roswitha und gegen Luise gelenkt. Nachdem Roswitha sich nicht um ihr leibliches Kind kümmern konnte, kümmert sie sich umso mehr um Annie und Effi. Beide haben Mütter, die kein wirkliches Interesse an ihnen zeigen und finden stattdessen in Roswitha eine Mutterfigur.40 Roswitha kann daher als eine sorgende Ersatzmutter bezeichnet werden. Gleichzeitig haben Roswitha und Luise gemeinsam, dass nicht ihre Worte, sondern ihre Taten im Vordergrund stehen. Damit dominieren ebenfalls die äußeren Handlungen. Nach der Ehescheidung von Effi und Innstetten muss sie eine Entscheidung zwischen Annie und Effi treffen. Ihr Beschluss, zu Effi zu ziehen und damit Annie zu verlassen, erfolgt ohne lange Überlegung (vgl. E,325). Somit ist Roswitha die Beziehung zu Effi wichtiger als ihr Beruf und ihre Verbindung zu Annie.41 Sie versucht, Effi vor der Einsamkeit und vor dem Tod zu bewahren, indem sie Innstetten um ihren Hund Rollo bittet (vgl. E,353f.). Roswitha und Rollo haben gemeinsam, dass sie beide als natürlich und liebenswürdig beschrieben werden. Am Ende des Werks sind sie die einzigen Vertrauten, die Effi nach dem gesellschaftlichen Ausschluss geblieben sind. „[…] wenn es einfach menschliche Dinge betraf und Effi mit einem ‚Ach, Roswitha, mich ängstigt es wieder…‘ ihren Satz begann, dann wußte die treue Seele jedesmal gut zu antworten und hatte immer Trost und meist auch Rat.“ (E,327) Nach Effis Ehescheidung ist das Mitgefühl von Roswitha größer als das Mitgefühl ihrer leiblichen Eltern. Während ihren Eltern, und insbesondere ihrer Mutter, das eigene Ansehen in der Gesellschaft wichtiger ist als ihre Tochter, verzichtet Roswitha auf ihre Anstellung, um ihrer Freundin beizustehen. Damit wird noch einmal betont, dass Roswitha eine der wenigen herzlichen Figuren und die einzige gute Mutterfigur in dem Werk ist.
Die Rolle von Elisabeth „Bethsy“, der Mutter von Tony, ist ebenfalls für die Entwicklung der Handlung bedeutsam. Sie ist eine beeinflussende Mutterfigur, die alle Entscheidungen für ihre Tochter übernimmt, aber immer im Interesse der gesamten Familie handelt. Bei ihr scheinen die Worte und Taten und somit die äußeren und inneren Handlungen ausgeglichen zu sein. Als Bendix Grünlich um Tonys Hand anhält, lässt sie ihrer Tochter scheinbar die freie Entscheidungsmöglichkeit. Damit unterscheidet sie sich deutlich von Effis Mutter. Dennoch nutzt sie genauso Tonys Familiensinn für ihre Zwecke, indem sie Tony ihre Pflichten gegenüber der Familie und ihre Bestimmung als Nachkommin nahelegt (vgl. B,105).
„Aber wir müssen dir zu bedenken geben, daß sich eine solche Gelegenheit, dein Glück zu machen, nicht alle Tage bietet, und daß diese Heirat genau das ist, was Pflicht und Bestimmung dir vorschreiben. Ja, mein Kind, auch das muß ich dir vorhalten. Der Weg, der sich dir heute eröffnet, ist der dir vorgeschriebene, das weißt du selbst recht wohl...“ (B,105) Tonys Schweigen wird, im Gegensatz zu dem von Effi, nicht als Zustimmung gewertet.42 Stattdessen wird von ihr eine aktive Zustimmung verlangt, die sie nach mehreren Beeinflussungen durch ihre Familie und Grünlich gibt (vgl. B,158). Somit besteht für Tony zwar eine freie Entscheidungsmöglichkeit, aber aufgrund ihres Charakters und der Aussagen ihrer Familie kann sie keine andere Entscheidung treffen. Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist ebenfalls durch Ambivalenzen gekennzeichnet. Auf der einen Seite kann Bethsy mit Luise verglichen werden, da ihre Aussagen und Handlungen den Entscheidungen von Tony widersprechen. Auf der anderen Seite ist Bethsy gegensätzlich zu Luise, weil sie Mitleid mit ihrer Tochter empfindet, die kein freies und selbstbestimmtes Leben führen kann. Das Problem ihrer Beziehung besteht darin, dass Tony ihre Gedanken ausspricht, während ihre Mutter Konfrontationen ausweicht. Dazu benutzt sie die Floskel „Assez“. „‚[…] Mutter... das mag sein, die würde nicht geradezu darauf dringen, denn über fragwürdige Dinge geht sie hinweg und sagt Assez […].‘“ (B,341) Der Wechsel zwischen Dialekt und Fremdsprache macht einen großen Teil der Ironie in dem Werk aus. Trotz solcher Ambivalenzen erscheint der Erzähler in ihrem Fall nicht unzuverlässig.43 Die Aussagen der Frauenfigur und des Erzählers widersprechen einander nicht.44 Dennoch wird Bethsy teilweise ironisch dargestellt.45 Vor allem aufgrund ihres starken Glaubens erscheint Bethsy insgesamt als eine ernsthafte Frauenfigur. Das Werk behandelt ebenfalls Themen rund um Liebe, Ehe, Betrug und Tod. Somit werden wieder große literarische Themen aufgegriffen, die eine Moral vermitteln und in Texten mit weiblichen Handlungen vorzufinden sind. Außerdem gibt es keine Innensichten der Figuren, womit die männlichen Handlungen vorherrschen, die offensichtlich stattfinden. Demnach kann das Werk ebenfalls gleichzeitig den weiblichen und den männlichen Handlungen zugeordnet werden, genauso wie die Figuren zum Teil Eigenschaften des anderen Geschlechts innehaben. Bethsy kann demnach als Frauenfigur verstanden werden, die männliche und weibliche Eigenschaften in sich vereint.
Tony wird im Verlauf des Werks ebenfalls Mutter und verfolgt eine andere Erziehungsmethode als ihre Mutter. Effi und Tony befolgen denselben Ansatz. Sie übergibt die Erziehung ihrer Tochter Erika den anderen Figuren, anstatt alle Entscheidungen für sie zu treffen. Im Gegensatz zu ihrer eigenen Mutter ist sie demnach eine vernachlässigende Mutterfigur. Bei Tony sind die Worte von Bedeutung, da sie keine entscheidenden Taten vollbringt. Daher überwiegen wieder die inneren Handlungen, die für Weiblichkeit stehen. Es werden ebenfalls nur zwei Momente beschrieben, in denen sie Interesse an ihrer Tochter zeigt, und zwar als die Zukunft ihrer Tochter besprochen wird und nach der Ehescheidung von Erika und Hugo Weinschenk. „[Es war] Frau Antonies heißester Wunsch, daß ihre Tochter die Hoffnungen erfüllen möge, die ihr, der Mutter, fehlgeschlagen, und eine Heirat machen, welche, vorteilhaft und glücklich, der Familie zu Ehre gereichen, und die Schicksale der Mutter vergessen lassen würde.“ (B,439) In der Hinsicht gleichen sich Effi und Tony. Sie möchte auch die Entscheidung bezüglich der Partnerwahl ihrer Tochter zugunsten der familiären Interessen treffen (vgl. B,439). Dabei macht sie keine spezifischen Angaben über einen möglichen Schwiegersohn. Tony möchte eine vorteilhafte Verbindung ihrer Tochter, damit sie die Familienehre an ihrer Stelle wiederherstellt. Die möglichen Gefühle und Wünsche von ihrer Tochter Erika haben somit für Tony auch keine Bedeutung.
Die Erziehung von Erika überlässt Tony vollständig dem Kindermädchen Ida Jungmann. Sie kümmert sich im Laufe des Werks um mehrere Generationen der Buddenbrooks. Obwohl sie der Arbeiterschaft angehört, fühlt sie sich dem Großbürgertum und der Familie Buddenbrook zugehörig.46 Damit werden die Gemeinsamkeiten zwischen Angehörigen verschiedener Gesellschaftsschichten unterstrichen.47 Gleichzeitig wird eine Kritik an der Standesgesellschaft geäußert, da ihr Zugehörigkeitsgefühl nicht an ihren Stand gebunden ist. Ida kann als eine sorgende Ersatzmutter für Erika, und zuvor für die anderen Buddenbrooks, bezeichnet werden. „Die Treue und Hingebung der guten Ida Jungmann, die nun schon länger, [sic] als drei Jahrzehnte den Buddenbrooks diente, war ja mit Gold nicht zu bezahlen. Sie hatte die vorhergehende Generation mit Aufopferung gehegt und gepflegt […].“ (B,521) Zuletzt übernimmt sie die Erziehung von Johann „Hanno“, den sie mit ihrer gesamten Liebe und Hingabe überschüttet (vgl. B,699). Mit dem Verfall der Familie wird Ida jedoch entlassen und muss nach mehreren Jahrzehnten die Buddenbrooks verlassen (vgl. B,699).
Die leibliche Mutter von Hanno ist Gerda Buddenbrook. Die Beziehung zu ihrem Sohn beruht auf der gemeinsamen Leidenschaft für Musik. Das Vorhandensein von Liebe zwischen Mutter und Sohn wird dagegen nicht beschrieben. Sie kann daher einerseits als vernachlässigende Mutterfigur und andererseits als verständnisvolle Mutterfigur gesehen werden. Bei Gerda stehen die Worte im Vordergrund, da sie keine bedeutenden Taten vollbringt. Somit überwiegen die inneren Handlungen, die für Weiblichkeit stehen. Die einzigen Momente, in denen Mutter und Sohn gemeinsame Zeit verbringen, sind die Unterrichtsstunden in der Musik (vgl. B,500).
Wenn er dennoch immer wieder kam und ohne sich zu langweilen Stunde für Stunde reglos an seinem Platze ausharrte, so waren es Glaube, Liebe und Ehrfurcht, die ihn dazu vermochten. […] Nachdem Gerda ihn ein wenig hatte gewähren lassen, beschloss sie, daß er Klavierunterricht bekommen sollte. (B,500) Während dieser Unterrichtsstunden scheinen die beiden eine Verbindung zu haben, die jedoch nicht außerhalb der Musik bestehen kann. Nach dem Tod von Hanno wird daher nicht über ihre Trauer gesprochen, genauso wie zuvor nicht über ihre Liebe gesprochen wird (vgl. B,758). Die anderen Frauenfiguren der Familie und sein Kindermädchen Ida scheinen Hanno somit mehr zu lieben und zu vermissen als Gerda. Am Ende des Werks behauptet Tony, dass sie Hanno mehr geliebt habe und Gerda legt keinen Widerspruch ein (vgl. B, 758). Damit wird deutlich, dass Ida die einzige liebevolle Mutterfigur in dem Werk ist.
In beiden Texten sind demzufolge die Frauenfiguren der Arbeiterschaft die sorgenden und liebevollen Mutterfiguren, während die Frauenfiguren des Adels und des Großbürgertums die vernachlässigenden und beeinflussenden Mutterfiguren darstellen. Die gesellschaftlichen Erwartungen haben somit eine höhere Bedeutung als die Liebe zu den eigenen Kindern.
3.1.2 Rollen der Vaterfiguren
Die Beziehungen der Vaterfiguren zu ihren Töchtern sind ebenfalls von Spannungen durchzogen. Es werden wieder vorrangig beeinflussende und vernachlässigende Väter beschrieben, die nur an standesgemäßen Eheschließungen ihrer Töchter interessiert sind oder ihre Töchter vollkommen vernachlässigen. Herr von Briest ist die einzige liebevolle Vaterfigur, da er seinem gesellschaftlichen Ansehen keine Bedeutung zumisst.
Die Rolle des Herrn von Briest, des Vaters von Effi, ist für die Entwicklung der Handlung weniger ausschlaggebend. Er ist eine liebevolle Vaterfigur, die keine Erwartungen an ihre Tochter richtet, sondern nur ihre Zufriedenheit im Sinn hat. Im Gegensatz zu Luise stehen bei ihm die Worte im Vordergrund, womit die inneren Handlungen überwiegen, die für Weiblichkeit stehen. Als Innstetten um Effis Hand anhält, wird er nicht in die Entscheidung einbezogen (vgl. E,22). Seine Ehefrau besitzt somit die alleinige Entscheidungsmacht. Sein Schweigen wird demzufolge, wie das Schweigen seiner Tochter, als Zustimmung bewertet.48 Dennoch bemerkt er, dass seine Ehefrau die falsche Entscheidung aus den falschen Gründen trifft. Herrn von Briest ist bewusst, dass Effi ihrer Mutter als eine zweite Chance auf eine Ehe mit Innstetten dient. „‚[…] Du, nun ja, du hättest dazu getaugt. Überhaupt hättest du besser zu Innstetten gepaßt als Effi. Schade, nun ist es zu spät.‘“ (E,47) Luise und Innstetten hätten seiner Ansicht nach besser zueinander gepasst als Effi und Innstetten (vgl. E,47). Dennoch bleibt er bei seinem Schweigen und äußert seine Ablehnung nicht. Die Beziehung zwischen Vater und Tochter ist insgesamt von Liebe und Verständnis durchzogen. In den gemeinsamen Momenten und Gesprächen wird deutlich, dass seine eigenen und die familiären Interessen hinter denen von seiner Tochter stehen. Daher wird Herr von Briest von dem Erzähler als Naturmensch im Gegensatz zu dem Kulturmenschen Luise dargestellt.49 In der Hinsicht kann er mit dem Kindermädchen Roswitha verglichen werden. Im Gegensatz zu Roswitha folgen auf seine Worte jedoch keine Taten. Während Roswitha eine aktive Hilfe für Effi darstellt, bleiben Herrn von Briests Überlegungen nur Theorien.50 Daher kann seine Darstellung als natürliche und herzliche Männerfigur kritisiert werden.51 Nicht nur Luise, sondern auch Herr von Briest tragen eine Mitschuld an Effis Schicksal. Sie hat zwar die Entscheidung getroffen, aber er hat die Entscheidung nicht verhindert. Daher kann er nicht nur als liebevolle, sondern auch als vernachlässigende Vaterfigur verstanden werden. „‚Ja‘, sagte Briest, ‚sie hat Sehnsucht […]‘ ‚Warum sagst du das jetzt? Du hättest es ja hindern können. Aber das ist so deine Art, hinterher den Weisen zu spielen. Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, decken die Ratsherren den Brunnen zu.‘“ (E,52) Bis zur Ehescheidung von Effi und Innstetten bewahrt Herr von Briest seine passive Haltung. Seine erste aktive Entscheidung besteht darin, seine todkranke Tochter wieder zurück nach Hohen-Cremmen zu holen (vgl. E,342). „‚[…] Und glaub mir, Luise, die ›Gesellschaft‹, wenn sie nur will, kann auch ein Auge zudrücken. […] Ich werde ganz einfach telegrafieren: ›Effi, komm‹. Bist du einverstanden?‘“ (E,342) Damit positioniert er sich gegen die vorherige Entscheidung seiner Ehefrau und gegen die Erwartungen der Gesellschaft. Im Gegensatz zu Luise besitzt Herr von Briest keinen Gesellschaftssinn und kann daher diese Entscheidung zugunsten seiner Tochter treffen.52 Von dem Erzähler wird die Gesellschaft in diesem Moment ebenfalls kritisiert, indem die Entscheidung des Herrn von Briest unterstützt wird. Damit werden seine vorherigen Fehler wiedergutgemacht und er kann als liebevolle Vaterfigur bezeichnet werden. Daher wird die Sympathie deutlich auf Herrn von Briest und gegen Luise gelenkt.
Geert von Innstetten verfolgt wiederum die Erziehungsmethode von Luise, indem er seine eigenen Interessen über die Wünsche und Gefühle seiner Tochter Annie stellt. Somit ist er eine beeinflussende Vaterfigur. Bei ihm stehen die äußeren Handlungen im Vordergrund, die für Männlichkeit stehen. Anstatt mit Effi in einen Austausch zu gehen, setzt er seine Handlungen ohne Rücksprache um. Luise und Innstetten treffen beide die Entscheidungen für ihre Töchter. Effi wird zu der Eheschließung mit Innstetten gezwungen und Annie wird zum Bruch mit ihrer Mutter gebracht.53 Nach dem Ehebruch von Effi und der folgenden Ehescheidung muss Effi das gemeinsame Zuhause verlassen und Annie bei ihrem Vater zurücklassen (vgl. E,302). Daraufhin haben Mutter und Tochter keinen Kontakt mehr zueinander. Daher kann Annie keine enge Verbindung zu ihrer Mutter haben. Schon vor der Ehescheidung haben die beiden keine Beziehung zueinander, weil Effi eine vernachlässigende Mutterfigur darstellt, die ihre Tochter dem Kindermädchen Roswitha überlässt. Erst nach der Ehescheidung erkennt Effi, dass sie eine Beziehung zu ihrer Tochter aufbauen möchte (vgl. E,330). Dabei scheint der Grund für ihre Meinungsänderung weniger in ihrer Mutterliebe als in dem Aufbegehren gegen Innstetten zu liegen.54 Ein einziges Mal erlaubt Innstetten ein Treffen zwischen seiner Tochter und ihrer Mutter. Seine Meinungsänderung scheint jedoch genauso wenig seiner Vaterliebe zu entspringen. „[...] ein Schulmeister war er immer, Crampas hat ihn so genannt, spöttisch damals, aber er hat recht gehabt. ›0 gewiß, wenn ich darf.‹ Du brauchst nicht zu dürfen; ich will euch nicht mehr, ich hasse euch, auch mein eigen Kind. Was zuviel ist, ist zuviel. Ein Streber war er, weiter nichts. – Ehre, Ehre, Ehre... und dann hat er den armen Kerl totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und nun Blut und Mord. [...] Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch. Ich muß leben, aber ewig wird es ja wohl nicht dauern.“ (E,339)
Während dieses Treffens wiederholt Annie seine Worte und seine Ansichten wie Effi zuvor die Worte und Ansichten ihrer Mutter (vgl. E,337f.). Nachdem sie von ihrer Mutter und ihrer Ersatzmutter verlassen wurde, kann Annie nur von ihrem Vater lernen.55 Daher übernimmt sie verständlicherweise seine Ansichten. Ihre Worte und vor allem ihre Ablehnung verletzen ihre Mutter. Im Endeffekt sorgt dieses Treffen bei Effi daher für einen Nervenzusammenbruch.56 Innstetten und Luise lassen ihre Töchter somit beide ihre Schicksale wiederholen, indem sie ihnen die Entscheidungsmöglichkeit wegnehmen und sie für ihre eigenen Zwecke benutzen. Somit hat Herr von Briest, der die einzige liebevolle Vaterfigur in dem Werk ist, mit seiner Annahme über seine Ehefrau und seinen Schwiegersohn recht behalten. Die beiden hätten besser zueinander gepasst und Effi und Innstetten konnten als Eheleute und Eltern nur versagen.
Die Rolle von Johann „Jean“, dem Vater von Tony, ist für die Entwicklung der Handlung gleichbedeutend wie die Rolle von Bethsy. Er ist eine beeinflussende Vaterfigur, die alle Entscheidungen für ihre Tochter übernimmt, aber stets im Interesse der Familie handelt. Bei ihm sind die Taten und Worte und somit die äußeren und inneren Handlungen ebenfalls ausgeglichen. Als Grünlich um Tonys Hand anhält, lässt er seiner Tochter scheinbar die freie Entscheidungsmöglichkeit. Damit unterscheidet er sich deutlich von Effis Mutter und gleicht seiner Ehefrau. Denn er nutzt genauso Tonys Familiensinn für seine Zwecke, indem er Tony ihre Pflichten gegenüber der Familie und ihre Aufgabe als Nachkommin nahelegt (vgl. B,112). Gleichzeitig hegt er die Hoffnung, dass Tony selbst zu dieser Entscheidung gelangt und damit ein glückliches Leben führen kann (vgl. B,112). „[…] ich kann nicht anders, als diese Heirat, die der Familie und der Firma zum Vorteil gereichen würde, dringend erwünschen! – Es tut mir leid, mein Gott, daß das Kind sich in einer bedrängten Lage befindet, daß sie von allen Seiten umlagert ist, bedrückt umhergeht und kaum noch spricht; aber ich kann mich schlechterdings nicht entschließen, Grünlich kurzer Hand abzuweisen […].“ (B,112)
In diesem Moment wird deutlich, dass er sie nicht zu einer Entscheidung zwingen möchte, aber sich wiederum durch die gesellschaftlichen Erwartungen dazu gezwungen sieht. Die Beziehung zwischen Vater und Tochter ist durch solche Ambivalenzen gekennzeichnet. Einerseits stellt er Tonys Gefühle und Wünsche hinter die familiären Erwartungen. Andererseits zeigt er Tony gegenüber Liebe und Verständnis. Nachdem sie ihre Zustimmung gegeben hat und die Eheschließung vollzogen wurde, muss sie von ihren Eltern Abschied nehmen. Tony hat ihre Entscheidung zugunsten der Familie und gegen ihre eigenen Gefühle und Wünsche getroffen. Daher möchte sie von ihrem Vater die verdiente Anerkennung erhalten (vgl. B,164). Stattdessen erntet sie von ihrem Vater nur Schweigen. „‚Adieu, Papa... Mein guter Papa!‘ Und dann flüsterte sie ganz leise: ‚Bist du zufrieden mit mir?‘ Der Konsul preßte sie einen Augenblick wortlos an sich; dann schob er sie ein wenig von sich und schüttelte mit innigem Nachdruck ihre beiden Hände…“ (B,164) Seiner Meinung nach ist die Zufriedenheit mit den eigenen Entscheidungen wichtiger als die Bestätigung von anderen Figuren (vgl. B,164). Daher kann er ihr keine Anerkennung für ihre selbstlose Tat geben. Im Gegensatz zu den meisten anderen Mutterfiguren und Vaterfiguren erkennt Jean die Fehler in seiner Erziehung.57 In der Hinsicht kann er mit Herrn von Briest verglichen werden. Während Herr von Briests Fehler in seiner zu geringen Einmischung besteht, ist Jeans Fehler seine zu große Einmischung. Nach dem Bankrott von Grünlich möchte er seine Tochter wieder nach Hause holen (vgl. B,213). Dabei verfolgt Jean jedoch nicht nur den selbstlosen Zweck, seiner Tochter zu helfen, sondern auch den selbstsüchtigen Zweck, die Familie vor einem Skandal zu bewahren. Genauso wie er Tony durch ihren Familiensinn zu der Eheschließung überredet, verleitet er sie durch ihren Familiensinn zu der Ehescheidung.
Als er sich aber erinnerte, wie dringend er, um ein gelindes Wort zu gebrauchen, diese Ehe befürwortet hatte, als er sich den Blick ins Gedächtnis zurückrief, mit dem das Kind nach der Hochzeitsfeier von ihm Abschied genommen und ihn gefragt hatte: „Bist du zufrieden mit mir?“ da mußte er einem ziemlich niederdrückenden Schuldbewusstsein seiner Tochter gegenüber Raum geben […]. (B,213)
Somit bleibt er doch bei seiner beeinflussenden Erziehungsmethode. Im Gegensatz zu Herrn von Briest lernt Jean demnach nicht aus seinen Fehlern und kann nicht als liebevolle Vaterfigur verstanden werden. Seine Reflexion über die Fehler in seiner Erziehungsmethode bleiben damit nur Überlegungen.
Bendix Grünlich kann wiederum als vernachlässigende Vaterfigur beschrieben werden. Auf die Beziehung von Vater und Tochter wird nicht eingegangen. Somit scheint er kein Interesse an seiner Tochter Erika zu haben. Der Erzähler beschreibt ihn als theatralischen und aufdringlichen Mann, der von Tonys Eltern fälschlicherweise als charmant und weltgewandt wahrgenommen wird. Tony erkennt den wahren Charakter von Grünlich dagegen schon bei ihrem ersten Treffen (vgl. B,95).58 Dennoch heiraten sie einander und bekommen ein gemeinsames Kind. Während Tony ihre Tochter Meta nennen möchte, möchte Grünlich seine Tochter Erika nennen (vgl. B,175). In diesem Fall kann Grünlich sich durchsetzen und daher scheint er Interesse an seiner Tochter zu hegen. Nach ihrer Geburt hingegen wird über die Beziehung von Vater und Tochter nicht mehr gesprochen. Dennoch erhebt er Vorwürfe gegen seine Ehefrau, weil sie nach der Geburt ebenfalls kein Interesse an ihrer Tochter zeigt (vgl. B,198). Nach der Ehescheidung verliert er keinen Gedanken an eine mögliche Trennung von seiner Tochter und lässt sie scheinbar ohne Verabschiedung mit ihrer Mutter fortgehen. Während Innstetten die Verantwortung für seine Tochter übernimmt, beendet Grünlich den gesamten Kontakt zu seiner Tochter (vgl. B,230). „Ha! Schön! Gut!“ schrie er. „Geh' nur! Meinst du, daß ich dir nachheule, du Gans? Ach nein, Sie irren sich, meine Teuerste! Ich habe dich nur deines Geldes wegen geheiratet, aber da es noch lange nicht genug war, so mach' nur, daß du wieder nach Hause kommst! Ich bin deiner überdrüssig... überdrüssig... überdrüssig...!“ (B,230)
Daher verbannt er in diesem Moment nicht nur Tony, sondern auch Erika aus seinem Haus und aus seinem Leben. Mutter und Tochter haben demnach unterschiedliche Vaterfiguren, die beide einige Fehler im Umgang mit ihren Töchtern begehen.
Hugo Weinschenk kann genauso als vernachlässigende Vaterfigur verstanden werden. Über die Beziehung von Vater und Tochter wird ebenfalls nicht gesprochen. Somit scheint er kein Interesse an seiner Tochter Elisabeth zu haben. Der Erzähler beschreibt ihn auf den ersten Blick als fleißigen und selbstbewussten Mann, der sich auf den zweiten Blick als cholerisch und feige erweist. Somit haben Grünlich und Weinschenk gemeinsam, dass sie vernachlässigende Väter sind und dass sie als Lügner und Betrüger enttarnt werden. Nach dem Betrug von Weinschenk möchte Erika auf seine Rückkehr aus dem Gefängnis warten und ihm währenddessen beistehen (vgl. B,554). Doch nach der Entlassung verschwindet er aus ihrem Leben und damit auch aus dem Leben seiner Tochter. Als einzige Nachricht hinterlässt er den beiden einen Abschiedsbrief, der Hoffnung auf eine Wiedervereinigung macht (vgl. B,642). Dazu wird es jedoch nicht kommen.
Einige Tage später traf, noch aus Hamburg, ein an seine Gattin gerichtetes Schreiben ein, in welchem er zu wissen tat, er sei entschlossen, sich keinesfalls eher mit Frau und Kind zu vereinigen oder auch nur von sich hören zu lassen, als bis er ihnen eine angemessene Existenz werde bieten können. Und dies war Hugo Weinschenks letztes Lebenszeichen. (B,642)
Somit haben Erika und Elisabeth einige Gemeinsamkeiten, da beide von ihren Vätern verlassen werden und mit ihren Müttern zusammenleben. Demnach hat sich dieses Schicksal in der nächsten Generation der Buddenbrooks wiederholt.
Thomas Buddenbrook kann einerseits als vernachlässigende und andererseits als unzufriedene Vaterfigur verstanden werden. Die Beziehung zu seinem Sohn Hanno beruht auf wirtschaftlichen Interessen und seinem Wunsch nach einem Nachfolger für das Familienunternehmen. Das Vorhandensein von Liebe zwischen Vater und Sohn wird dagegen nicht angesprochen. Die einzigen Momente, in denen die beiden gemeinsame Zeit verbringen, sind die erzwungenen Ausflüge und Gespräche (vgl. B,628). […] Fragen seines Vaters, ob er Lust zu seinem künftigen Berufe in sich verspüre, beantwortete er mit Ja… einem einfachen, etwas scheuen Ja ohne Zusatz, das der Senator durch weitere drängende Fragen ein wenig lebhafter und ausführlicher zu machen suchte – und zwar meistens vergebens. (B,619f.)
Selbst während dieser Zeiten können die beiden keine Verbindung zueinander aufbauen. Der Grund dafür ist, dass Thomas und Hanno vollkommen verschiedene Charaktere besitzen. Während Thomas ein vernünftiger Kaufmann ist, ist Hanno ein leidenschaftlicher Musiker.59 Somit werden Bürgertum und Künstlertum einander gegenübergestellt.60 Das Problem besteht darin, dass Thomas kein Verständnis für Hanno aufbringen und daher keine Beziehung zu ihm aufbauen kann. Andersherum kann Hanno kein Verständnis für seinen Vater aufbringen und ihm deswegen nicht als Nachfolger für das Familienunternehmen dienen. Thomas ist dagegen der Meinung, dass Gerda ihm seinen Sohn durch deren gemeinsame Leidenschaft für Musik entfremdet (vgl. B,619). Seiner Ansicht nach sind Musik und Weiblichkeit miteinander verbunden genauso wie Unternehmertum und Männlichkeit zusammengehören.61 Der Bruch von Vater und Sohn hat zur Folge, dass beide ohne Aussprache miteinander sterben.62 Nach dem Tod von Thomas wird daher nicht über Hannos Trauer gesprochen, genauso wie zuvor nicht über ihre Liebe gesprochen wird (vgl. B,688). Die anderen Figuren der Familie scheinen Thomas mehr zu lieben und zu vermissen als sein eigener Sohn. Hanno muss sich nach dem Tod seines Vaters und nach dem Tod seiner Großmutter sogar ein Lachen verkneifen, wobei für den Leser nicht ersichtlich wird, warum er sich ein Lachen verkneifen muss (vgl. B,688). Damit wird deutlich, dass keine liebevolle Beziehung zwischen Vätern und Kindern und keine liebevolle Vaterfigur in dem Werk zu finden sind.
[...]
1 Nonn, Christoph. Das 19. und 20.Jahrhundert. 3., durchgesehene Auflage. Paderborn: Schöningh, 2014, S.90.
2 Vgl. Schaser, Angelika. Frauenbewegung in Deutschland 1848–1933. Darmstadt: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 2006, S.9.
3 Vgl. Nonn, Christoph: Das 19. und 20.Jahrhundert, S.89.
4 Fontane, Theodor. Effi Briest. 7. Auflage. Berlin: Insel Verlag, 2019; im Folgenden zitiert mit der Sigle E und Seitenzahlen in Klammern.
5 Mann, Thomas. Buddenbrooks. 65. Auflage. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2018; im Folgenden zitiert mit der Sigle B und Seitenzahlen in Klammern.
6 Es wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die ausschließliche Verwendung der männlichen Form für den Autor, den Erzähler, den Leser etc. in dieser Arbeit geschlechtsunabhängig verstanden werden soll.
7 Siehe u.a. Neuhaus, Stefan (Hrsg.). Effi Briest-Handbuch. Berlin: J.B. Metzler Verlag, 2019. & Mattern, Nicole; Neuhaus, Stefan (Hrsg.). Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzer Verlag, 2018.
8 Frenzel, Elisabeth. Motive der Weltliteratur. 6., überarbeitete und ergänzte Auflage. Stuttgart: Kröner, 2008, S.VIII.
9 Vgl. Allrath, Gaby; Gymnich, Marion. Feministische Narratologie. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT, Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2002, S.35.
10 Vgl. Würzbach, Natascha. Einführung in die Theorie und Praxis der feministisch orientierten Literaturwissenschaft. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. 4., erweiterte Auflage. Trier: WVT, Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2004, S.137.
11 Vgl. Lanser, Susan S. Toward a Feminist Narratology. In: Style , Vol. 20, No. 3, Narrative Poetics, 1986, S.345f.
12 Vgl. Allrath, Gaby; Gymnich, Marion: Feministische Narratologie, S.36.
13 Vgl. Würzbach, Natascha: Einführung in die Theorie und Praxis der feministisch orientierten Literaturwissenschaft, S.147.
14 Vgl. Würzbach, Natascha: Einführung in die Theorie und Praxis der feministisch orientierten Literaturwissenschaft, S. 140.
15 Vgl. Allrath, Gaby; Gymnich, Marion: Feministische Narratologie, S.66f.
16 Vgl. Würzbach, Natascha. Raumdarstellung. In: Nünning, Vera (Hrsg.). Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart [u.a.]: Metzler, 2004, S.49–71.
17 Vgl. Kilian, Eveline. Zeitdarstellung. In: Nünning, Vera (Hrsg.). Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart [u.a.]: Metzler, 2004, S.72–97.
18 Vgl. Gutenberg, Andrea. Handlung, Plot und Plotmuster. In: Nünning, Vera (Hrsg.). Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart [u.a.]: Metzler, 2004, S.98–121.
19 Vgl. Gymnich, Marion. Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung. In: Nünning, Vera (Hrsg.). Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart [u.a.]: Metzler, 2004, S.122–142.
20 Vgl. Lanser, Susan S.: Toward a Feminist Narratology, S.348f.
21 Vgl. Allrath, Gaby; Surkamp, Carola. Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, Multiperspektivität und Bewusstseinsdarstellung. In: Nünning, Vera (Hrsg.). Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart [u.a.]: Metzler, 2004, S.143–179.
22 Vgl. Gestrich, Andreas. Geschichte der Familie im 19. und 20.Jahrhundert. 3., erweiterte Auflage. München: Oldenbourg, 2013, S.4ff.
23 Vgl. ebd., S.5.
24 Vgl. ebd., S.35.
25 Vgl. Rüth, Nicole. Schweig stille, mein Herze. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller, 2008, S.72.
26 Vgl. Mittenzwei, Ingrid. Die Sprache als Thema. Bad Homburg v.d.H. [u.a.]: Gehlen, 1970, S.134.
27 Vgl. Martínez, Matías; Scheffel, Michael. Einführung in die Erzähltheorie. 10., überarbeitete Auflage. München: Verlag C.H.BECK, 2016, S.101.
28 Vgl. ebd., S.102.
29 Vgl. Lapp, Edgar. Linguistik der Ironie. Tübingen: Narr, 1992, S.24.
30 Vgl. Weinrich, Harald. Linguistik der Lüge. 8. Auflage. München: Verlag C.H.BECK Literatur – Sachbuch – Wissenschaft, 2016, S.68.
31 Vgl. Martínez, Matías; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, S.106.
32 Vgl. Böschenstein, Renate. „Und die Mutter kaum in Salz.“ Muttergestalten in Fontanes Vor dem Sturm und Effi Briest. In: Roebling, Irmgard; Mauser, Wolfram (Hrsg.). Mutter und Mütterlichkeit. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1996, S.264.
33 Vgl. Kaarsberg, Martha. Die verkaufte Braut. In: Kraft, Helga; Liebs, Elke (Hrsg.). Mütter – Töchter – Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Literatur. Stuttgart: J.B. Metzler, 1993, S.103f.
34 Vgl. To, Ki-suk. Ehe und Ehebruch in der Literatur des 19.Jahrhunderts. Berlin: Mensch-&-Buch-Verlag, 2003, S.183.
35 Vgl. Liesenhoff, Carin. Fontane und das literarische Leben seiner Zeit. Bonn: Bouvier, 1976, S.112.
36 Vgl. Böschenstein, Renate: „Und die Mutter kaum in Salz.“ Muttergestalten in Fontanes Vor dem Sturm und Effi Briest, S.267.
37 Vgl. Martínez, Matías; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, S.101.
38 Vgl. ebd., S.102.
39 Vgl. Lapp, Edgar: Linguistik der Ironie, S.24.
40 Vgl. Böschenstein, Renate: „Und die Mutter kaum in Salz.“ Muttergestalten in Fontanes Vor dem Sturm und Effi Briest, S.263.
41 Vgl. Thomsen, Lena. Familiäre Konstellationen und ihre literarische Darstellung bei Tolstoi, Flaubert und Fontane. Hamburg: Kovač, 2011, S.104.
42 Vgl. Klingler, Bettina. Emma Bovary und ihre Schwestern. Original-Ausgabe. Rheinbach-Merzbach: CMZ-Verlag, 1986, S.186.
43 Vgl. Martínez, Matías; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, S.101.
44 Vgl. ebd., S.102.
45 Vgl. Lapp, Edgar: Linguistik der Ironie, S.24.
46 Vgl. Wenzel, Georg. Buddenbrooks. In: Hansen, Volkmar (Hrsg.). Thomas Mann: Romane und Erzählungen. Stuttgart: Reclam, 2005, S.29f.
47 Vgl. ebd., S.30.
48 Vgl. Bange, Pierre. Humor und Ironie. In: Teitge, Hans-Erich (Hrsg.). Fontanes Realismus. Berlin: Akademischer-Verlag, 1972, S.145.
49 Vgl. Rösel, Manfred. „Das ist ein weites Feld“. Frankfurt am Main [u.a.]: Lang, 1997, S.34.
50 Vgl. Mittenzwei, Ingrid: Die Sprache als Thema, S.145.
51 Vgl. Tebben, Karin. Effi Briest. Tochter der Luft. Atem, Äther, Atmosphäre – zur Bedeutung eines Motivs aus genderspezifischer Sicht. In: New German review 17 (2001/2002), S.96.
52 Vgl. Bange, Pierre: Humor und Ironie, S.145.
53 Vgl. Thomsen, Lena: Familiäre Konstellationen und ihre literarische Darstellung bei Tolstoi, Flaubert und Fontane, S.113.
54 Vgl. ebd., S.106.
55 Vgl. To, Ki-suk: Ehe und Ehebruch in der Literatur des 19.Jahrhunderts, S.183.
56 Vgl. Thomsen, Lena: Familiäre Konstellationen und ihre literarische Darstellung bei Tolstoi, Flaubert und Fontane, S.103.
57 Vgl. Sautermeister, Gert. Tony Buddenbrook: Lebensstufen, Bruchlinien, Gestaltwandel. In: TMJb Band 20, 2007, S.118.
58 Vgl. ebd., S.111.
59 Vgl. Lutosch, Heide. Ende der Familie – Ende der Geschichte. Bielefeld: Aisthesis-Verlag, 2007, S.43.
60 Vgl. ebd., S.41.
61 Vgl. Bauer, Jenny. Geschlechterdiskurse im 19.Jahrhundert. Bielefeld: transcript, 2014, S.132.
62 Vgl. Gutjahr, Ortrud. Beziehungsdynamiken im Familienroman. In: Gutjahr, Ortrud (Hrsg.). Thomas Mann. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012, S.35f.
- Arbeit zitieren
- Sophia Rohan (Autor:in), 2020, Frauenfiguren in "Effi Briest" von Theodor Fontane und "Buddenbrooks" von Thomas Mann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/967277
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