20.03.2000
Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (Romananfang) Interpretation
Zu Beginn des Romans „Jugend ohne Gott“ (Z.1-78) aus dem Jahre 1935 stellt Ödön von Horváth einen Gymnasiallehrer und sein näheres soziales Umfeld vor und geht dabei auf seine Einstellung zu Beruf und zu sich selbst ein.
Einleitend erfährt der Leser, dass ein Mann Blumen und Glückwünsche zu seinem 34.
Geburtstag bekommen hat und nun über die Glückwünsche seiner Eltern reflektiert. (Z.1- 13). Es handelt sich um einen Gymnasiallehrer für Geschichte und Geografie. Er muss damit beginnen, Klassenarbeiten einer 26köpfigen Jungenklasse zu berichtigen, schweift aber immer wieder vom Thema ab und ärgert sich über Kleinigkeiten (Z.14-35). So denkt er über das vorgeschriebene Thema der Arbeit und über die Namen der einzelnen Schüler nach(Z. 36-46), bevor er endlich beginnt, erst einen gelungenen und anschließend einen nicht gelungenen Aufsatz zu korrigieren. Bei dem letzteren möchte er gerade eine Korrektur durchführen, als er bemerkt, dass der Schüler den falschen Inhalt seiner Arbeit aus dem Radio übernommen haben könnte. Daher korrigiert er nicht, ärgert sich aber innerlich über die Medien und das Schulsystem, Trotzdem beschließt er keine öffentliche Kritik an den herrschenden Mißständen zu üben(Z.47-78).
Bei dem Roman handelt es sich um einen normalen epischen Prosatext, welcher aus der Sicht des Lehrers, einem Ich-Erzähler, erzählt wird. Dies ist insofern hilfreich, als dass seine Gedanken dadurch überzeugender geschildert werden können. Das verwendete Tempus ist Präsens und vermittelt dem Leser daher nicht den Eindruck einer bereits abgeschlossenen Erzählung, sondern den einer noch laufenden. Dadurch vergrößern sich die Nähe des Lesers zum Geschehen und der Realitätsanspruch des Romans.
Den ganzen Text über erscheint der Lehrer sehr nachdenklich und vermittelt den Eindruck, in einem Konflikt zu einer ihn betreffenden Sache zu stehen. Am Anfang wird sein Verhältnis zu seinen Eltern deutlich. Sie haben ihm zum Geburtstag einen Brief mit jeweils den gleichen sehr allgemein gehaltenen Glückwünschen geschrieben. Sie wünschen ihm das „Allerbeste“, „Gesundheit, Glück und Zufriedenheit“ (Z.5-10). Das Verhältnis erscheint sehr distanziert und standardisiert. Da der Vater genau die gleichen Wünsche übermittelt wie die Mutter, erscheinen diese wie nachgeplappert und gedankenlos übernommen. Dadurch, dass bis hierhin keine negativen Worte im Text genannt werden, sondern nur solche wie „brav“, „lieb“ oder „lieblich“ (Z.1, Z.6), wirkt der erste Abschnitt des Romans insgesamt sehr einseitig und oberflächlich, als gäbe es nur eine heile und geradezu perfekte Welt. Dieser Eindruck verschwindet in dem Moment, in welchem der Lehrer über die Glückwünsche nachdenkt und bemerkt, dass er „eigentlich“ nicht zufrieden ist (Z.12). Hier wird ein Konflikt des Lehrers mir sich selber deutlich, und zwar dadurch, dass er sich selbst gegenüber nicht zugibt, dass er nicht zufrieden ist, sondern nur, dass er „eigentlich“ nicht zufrieden ist. Dadurch schränkt er seine Unzufriedenheit, die bisher nicht zum Ausdruck gekommen ist ein, als wisse er zwar, dass er unzufrieden ist, dies aber nicht zugeben möchte oder nicht zugeben darf. Also muss es einen Grund dafür geben, dass der Lehrer seine Unzufriedenheit verschweigen möchte.
Anschließend regt sich der Lehrer über eine Kleinigkeit auf, nämlich über seine rote Tinte, als wäre dies der Grund für seine Unzufriedenheit gewesen (Z.14ff.). Er ermahnt sich selbst und beginnt, zu überlegen, was er doch für einen guten, sicheren und allgemein angesehenen Arbeitsplatz habe, nachdem sich viele „sämtliche Finger ablecken“ würden (Z.20). Dabei kritisiert er zunächst nicht die kleinste Begebenheit, so dass wieder der Eindruck einer heilen Welt entsteht. Dies steht aber im Kontrast dazu, dass er gleichzeitig anfängt von einer Zeit zu reden, in welcher niemand wisse, „ob sich morgen die Erde noch drehen wird“ (Z.19). Somit zeigt er hier, dass es in Wirklichkeit doch keine heile Welt gibt, sondern eine unsichere, wechselhafte und gefahrvolle Welt, ermahnt sich anschließend aber wieder selbst, sich nicht zu „versündigen“ und verliert sich in Nebensächlichkeiten.
Da er bis jetzt noch nicht angefangen hat zu arbeiten, sondern immer vom Thema abschweift, stellt sich die Frage, ob er vielleicht gar keine Lust dazu hat, die Tätigkeiten auszuüben, die zu seinen zuvor noch so hoch gelobten Beruf zählen. Der Lehrer macht deutlich, dass er sich mit seiner Arbeit nicht mehr identifizieren kann. Denn das Thema der Arbeit war von einer Aufsichtsbehörde vorgeschrieben und nicht etwa von ihm selbst überlegt worden (Z.36). Dies zeigt, dass das Bildungssystem hier direkt von einer höheren Stelle überwacht wird. Der Unterschied zu heute ist, dass es sich hier aber nicht etwa um eine Zentralabiturklausur aus den heutigen Bayern handelt, sondern um eine ganz normale Klassenarbeit in wahrscheinlich einer achten Klasse. Daher muss es sich hier um einen Staat mit einem tendenziösen Bildungssystem handeln. Das sich der Lehrer von seiner Arbeit entfremdet hat, wird weiter deutlich, da er beginnt, statt der Namen der Schüler nur noch deren Anfangsbuchstaben zu benutzen (Z.42ff., Z.68). Dies ist zum einen ein Zeichen dafür, dass er sich von seinen Schülern entfremdet hat, und zum anderen dafür, dass sich diese aus seiner Sicht nur noch minimal Unterscheiden, also keine Individuen mehr darstellen, sondern gleich denken und gleich handeln. der einzige Schüler, den der Lehrer bei vollem Namen nennt, ist Franz Bauer (Z.38f.). Der Lehrer korrigiert Bauers Arbeit und stimmt dessen Argumentation zu. Also kann sich der Lehrer hier mit einem seiner Schüler vergleichen und gibt ihm daher eine Individualität. Bei der Korrektur der nächsten Arbeit stimmt der Lehrer der Argumentation des Schülers nicht zu, kann seine eigenen Gedanken also nicht in denen des Schülers wiedererkennen, und nennt diesen daher auch nur „N“, und nicht beim Namen (Z.68). Somit besteht auch ein Konflikt zwischen dem Lehrer und seinen Schülern.
Erst hier macht Horváth deutlich, was für die innere Unzufriedenheit des Lehrers verantwortlich ist. Der Lehrer ärgert sich darüber, dass er völlig falsche Aussagen von N nicht als Fehler anstreichen kann, da N seine Äußerungen aus dem öffentlichen Rundfunk übernommen haben könnte. Der Lehrer weiß, dass die Schüler daher mit „schiefen Voraussetzungen falsche Schlußfolgerungen ziehen“ (Z.60f.). Er benennt deren Gerede als „hohle Phrasen“ (Z.63). Damit sind die Phrasen der Schüler genauso einseitig wie die Geburtstagswünsche der Eltern und der gesamte erste Absatz des Romans.
Da der Lehrer, obwohl er die herrschenden Zustände also nicht befürwortet, beschließt, sich zu hüten, „als städtischer Beamter [...] auch nur die leiseste Kritik zu üben“, wird deutlich, dass er in einem System leben muss, in welchem Kritikäußerung verboten ist und somit weder Meinungsfreiheit, noch liberale oder pluralistische Zustände herrschen. Also muss er in einem totalitärem Staat leben. Dafür sprechen nicht nur das Kritikverbot und die über Rundfunk und Zeitung verbreitete Propaganda, sondern auch die Überwachung des Lernstoffes und die Entindividualisierung, die der Lehrer mit seinen Schülern betreibt. Alle hier genannten Beispiele waren Mittel von totalitären Systemen wie dem Terror unter Robéspierre, dem Stalinismus in Osteuropa, dem Maoismus in China oder dem Nationalsozialismus seit dem Ende der Weimarer Republik.
Da Ödön von Horváth zu Beginn des Nationalsozialismus in Deutschland lebte und den Roman 1935 schrieb, liegt es nahe, dass „Jugend ohne Gott“ eine Kritik am totalitären Regime des Nationalsozialismus darstellt. Somit steht der Lehrer für all jene, die zwar in einem Konflikt zum Staat standen, aber aus Angst vor Verfolgung den Fehler bei sich selbst gesucht haben und dadurch zum Mitläufer wurden. Seine Schüler stehen stellvertretend für alle, die zu dumm waren, die geistige Terrorisierung zu durchschauen und daher kritiklos und ohne Verstand den Parolen der Nationalsozialisten folgten.
Der Gedankengang des Autoren erscheint mir verständlich, da der Text innere Schlüssigkeit besitzt. Somit ist Horváths Darstellungsweise für mich überzeugend und seine Sichtweise akzeptabel. Der Text besitzt auch heute noch Aktualität. Denn er ist nicht nur auf den Nationalsozialismus anwendbar, sondern von der Idee her auf alle totalitären Systeme.
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- Johannes Rehm (Autor), 2000, Horváth, Ödön von - Jugend ohne Gott - Romananfanginterpretation, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96572