07.04.2000
Günter Kunert: Das Holzscheit
1. Interpretation
In der Parabel „Das Holzscheit“ aus dem Jahre 1972 erzählt Günter Kunert, wie ein jüd. Rabbi versucht, den Begriff Wahrheit zu erklären. Dabei verfährt er wie folgt: Einleitend schildert Kunert eine Rahmenhandlung. Ein reisender Rabbi bittet an einer Hütte um Unterkunft und wird aufgenommen. Die Bewohner der Hütte erkennen in ihm einen Gelehrten. Anstatt einer Bezahlung bitten sie um die Beantwortung der Frage, was Wahrheit sei (Z. 1-14). Der Rabbi vergleicht die Wahrheit mit einem Holzscheit, antwortet also mit einem Bildteil.
Da der Text eine in sich geschlossene Handlung bietet, in welcher ein Sachbestand mit Hilfe der Übertragung auf einen Bildteil dargestellt wird, handelt es sich hierbei um eine Parabel.
Zu Beginn der Erklärung geht der Rabbi auf die Vergänglichkeit des Holzscheits ein. So sei es zuvor noch ein Baum gewesen und werde in Zukunft, also nachdem es genutzt wurde, nur noch Asche sein (Z. 17-19). Um die Nutzlosigkeit und Abwendung von dieser Asche zu verdeutlichen kratzt er welche zusammen und bezeichnet sie als „die Wahrheit von gestern“ (Z. 20-25). Somit ist auch die Wahrheit nicht ewig, sondern nur von begrenzter Dauer von Nutzen. Dies bedeutet, dass der Mensch sich irgendwann von der heutigen Wahrheit, also den vorherrschenden Zuständen, abwenden könnte. Der Rabbi verdeutlicht die Nutzlosigkeit überholten Wissens. Denn er bemerkt, dass auch die Asche ohne Nutzen für den Menschen ist und daher abstoßend auf diesen wirkt (Z.26-30). Als einer der Zuhörer hinzufügt, diese Asche könne nie wieder brennen, behauptet der Rabbi, dies sei nicht ganz richtig, da nur kein Mensch dazu in der Lage sei, sie wieder zum Brennen zu bringen. Dies bedeutet, dass es theoretisch jedoch möglich sei(Z.31-38). Übertragen auf die Wahrheit drückt der Rabbi aus, dass die Wahrheiten, also Begebenheiten, von denen sich die Menschen abgewandt haben, zwar heute nicht mehr genutzt werden, theoretisch aber neu entdeckt werden könnten. Diesen Zustand, wieder als Wert anerkannt zu werden, bezeichnet der Rabbi als „die Wahrheit von morgen“ (Z. 39-42).
Eine wichtige Rolle spielt auch der Rabbi selbst in der Parabel. Er stellt sich als Baal Schem vor. Dieser ist eine reale Person. Baal Schem, eigentlich Israel Ben Elisier war der Begründer des Chassidismus, einer Richtung des jüdischen Glaubens. Als jüdischer Gelehrter und Begründer einer konkreten Richtung des Glaubens kann er in der Parabel als Vertreter anderer Juden oder sogar als Personifikation des gesamten Judentums angesehen werden. Dies bedeute, das nicht nur der Rabbi sich auf einer Reise befindet und um Hilfe bittet, sondern das gesamte Judentum.
Da Günter Kunert 1972 in der DDR, also einem sozialistischen Staat, lebte, und die Zahl der Juden in der DDR auf ca. 400 gesunken war, besteht mit großer Wahrscheinlichkeit die Absicht Kunerts, auf das schwächer werdende Judentum aufmerksam zu machen und dabei gleichzeitig ein noch mögliches Wiederaufleben des Judentums in Aussicht zu stellen. Denn da es sich in der Geschichte nicht um irgendeinen Juden handelt, sondern um einen angesehenen, als weise geltenden Gelehrten, können mit den Wahrheiten die Lehren des Judentums gemeint sein. So wie die Gefahr besteht, dass das Holzscheit in Zukunft als nutzlos und überholt in Form von Asche vergessen wird, könnte auch das Judentum, wenn immer weniger Menschen an ihm festhalten, bald als eine „Wahrheit von gestern“ angesehen werden und untergehen.
Kunert stellt dem Judentum aber Aufwind in Aussicht, da es wie die Asche eventuell doch noch wieder entzündet werden kann, momentan aber das Problem besteht, dass keiner weiß, wie dies zu bewerkstelligen ist.
Ich persönlich halte den Text für schwer verständlich, da er als Parabel dem Leser zunächst keinen Sachteil anbietet. Dieser wird erst im dem Moment erkannt, in dem der Leser die Parabel auf das Judentum bezieht und dieses im Rabbi personifiziert. Dann erhält der Text innere Schlüssigkeit und die Sichtweise des Autors wird akzeptabel und verständlich.
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