Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. ProblemaufriSS
3. Arbeit und Sozialleistungen in der DDR
3.1. Vollbeschäftigung als Staatsziel
3.2. Erwerbszentrierte Lebensläufe
3.3. Familienzentrierte Sozialleistungen
4. Armut in der DDR
4.1. Allgemeine Armutsquoten
4.2. Altersarmut
4.3. Sozialfürsorge
4.4. Ungleichheit
4.5. Wohnraumversorgung
5. Wendeereignisse
5.1. Arbeitslosigkeit
5.2. Ausbildungsabschlüsse
5.3. Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen
6. Armut nach der Wende
6.1. Berechnungsweisen
6.2. Armutsrisiken
6.3. Armutspopulationen
6.3.1. Rentner
6.3.2. Frauen
6.3.3. Alleinerziehende
6.3.4. Kinder
6.3.5. Arbeitslose
6.4. Sozialhilfe
6.5. Befindlichkeiten
7. Aussichten und Prognosen
8. Zusammenfassende Schlussbetrachtung *
1. Einleitung
Bei der Betrachtung des Themas Armut in Ostdeutschland passiert dank der einschneidenden politischen Veränderungen des letzten Jahrzehnts eine ganze Epoche Revue: Der real existierende Sozialismus deutscher Prägung, die Wendewirren von 89/90 und die angestrengten Bemühungen der letzten Jahre, aus zwei Gesellschaften wieder eine gemeinsame zu bilden. Die heutigen sozialen Verhältnisse in den ehemals fünf neuen Ländern sind nicht zu verstehen, ohne daß ihre Geschichte noch einmal vor Augen geführt wird. Armut in Ostdeutschland heißt, auch Armut zu Zeiten der DDR zu beleuchten, einer Gesellschaft, die uns Westdeutschen schon zur Zeit ihrer Existenz verschlossen war und mittlerweile in unwirkliche Ferne gerückt ist. Gleichzeitig gibt es neue Zugänge zum damaligen Leben, die freier von demagogischen Einschlägen sind, weil Literatur veröffentlicht werden kann, die zur Zeit ihrer Entstehung keinen Verlag finden durfte.
Die Strukturen der DDR scheinen durch den Beitritt zur BRD aufgelöst worden zu sein, der Umbau der Gesellschaft und ihrer Sozialsysteme war fundamental. Und doch sind die Spuren des Arbeiter- und Bauernstaates wieder und wieder zu finden. Bei der Untersuchung von Armut nach den Umwälzungen der Wendezeit ist der Widerstreit der neuen und der alten Strukturen unübersehbar. Es ist die große Frage, wie der Versuch der gesellschaftlichen Symbiose letztlich ausgeht. Vieles deutet darauf hin, daß die östlichen Bundesländer noch lange an ihrer Geschichte zu tragen haben werden. Wie diese Situation entstanden ist, welche Verbindungslinien über die Jahre zu finden sind und welche Richtung die Entwicklung nehmen könnte, dies zu verdeutlichen ist Ziel dieser Arbeit. Es kann nur ein kleiner Einblick bleiben, schon, weil Armut in Ostdeutschland noch viele Jahre ein brisantes Thema bleiben dürfte.
2. Problemaufriß
In dieser Arbeit wird Armut während dreier unterschiedlicher Bezugsrahmen untersucht. Zunächst geht es darum zu klären, welche Art von Armut in einer sozialistische Gesellschaft wie der DDR existierte und existieren konnte. Zu diesem Zweck steht am Beginn ein Aufriß über die Verteilung von Arbeit und die Art der Sozialleistungen der DDR (Kap.3). Trotz unzureichender Datenlage lassen sich auch Aussagen über die nominelle Verteilung von Armut in der DDR machen (Kap.4). Hierzu gehört auch die Benennung von besonders betroffenen Armutspopulationen, Unterversorgungen und damals bestehenden Ungleichheiten. Den Wendeereignissen ist ein eigenes Kapitel gewidmet (Kap.5), da in dieser Zeit die Fundamente für neue Risikoverteilungen gelegt wurden. An dieser Stelle werden keine separaten Armutsquoten ausgewiesen, vielmehr sollen die Faktoren, die Ab- und Aufsteige bedingten, deutlich werden. In dem Abschnitt über Armut nach der Wende wird die ostdeutsche Bevölkerung mit dem Instrumentarium untersucht, das aus dem Westen seit Jahren bekannt ist. Im Vordergrund steht hier Armut im Bezug auf Einkommensarmut. Dies, obwohl im Osten Deutschlands die Versorgung mit Wohnraum zu DDR-Zeiten zu einem großen Problem zählte (Kap. 4.5.).
In dieser Arbeit wird bei der Betrachtung von Einkommensarmut versucht, möglichst mit Daten zu operieren, in denen dann von Armut gesprochen wird, wenn einem Haushalt weniger als 50% des Durchschnittseinkommens zur Verfügung steht und in denen die OECDSkala zur Berechnung des Äquivalenzeinkommens genutzt wird. Der Vorteil, der in der Angabe von Werten für drei Armutsgrenzen (40%, 50% und 60% der Haushalts-Netto- Durchschnittseinkommens) liegt, Anhaltspunkte über die genaue Verteilung von Armut und Ungleichheit zu erlangen, wird dem Wunsch nach Übersichtlichkeit geopfert. Um dies auszugleichen, finden sich in aller Kürze Hinweise über Ungleichheitsverteilungen, die mit Hilfe von Quintilen und Klassen errechnet worden sind (Kap. 4.4).
Bei Daten für Ostdeutschland wird immer angegeben werden, auf welches Durchschnittseinkommen sich die Angaben beziehen, da in der Literatur sowohl mit Ostwerten, Westwerten und Werten für Gesamtdeutschland operiert wird.
Kapitel 7 widmet sich der Frage, wie es mit der Entwicklung von Armut in Ostdeutschland weitergehen könnte. Die unterschiedlichen Einschätzungen der rezipierten Soziologen werden an dieser Stelle wiedergegeben. Den Abschluß dieser Arbeit zum Thema Armut in Ostdeutschland bilden einige persönliche Analysen (Kap.7) zum Verlauf des Wandels und den Chancen, die Ostdeutschland gegeben wurden und heute gegeben sind.
3. Arbeit und Sozialleistungen in der DDR
Die Betrachtung der DDR-spezifischen Verteilung von Arbeit und Sozialleistungen eröffnet Erklärungsmöglichkeiten, inwiefern und aus welchen Gründen sich die Armutsrisiken für bestimmte Personengruppen mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und der Übernahme des westdeutschen Aufbaus veränderten.
Ausgegangen werden muß von einer Gesellschaft, die Beschäftigung garantierte: Das "Recht auf Arbeit" wurde 1968 endgültig in der Verfassung verankert. Im Hintergrund stand der permanente Arbeitskräftemangel in der DDR und ein ausgeprägtes Schutz- und Kontrollbedürfnis des real-sozialistischen Staates gegenüber seinen Bürgern. Dies führte dazu, daß nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur Arbeit Realität waren. Drei große Unterschiede lassen sich im Vergleich zur BRD präzisieren: Erstens führte Vollbeschäftigung dazu, daß Arbeitslosigkeit praktisch unbekannt war. Zweitens waren Betriebe Vermittler vielfältiger sozialer Leistungen, was den erwerbszentrierten Lebenslauf stärkte. Und drittens waren staatliche Sozialleistungen nicht auf die Ehe als anspruchsberechtigte Einheit, sondern auf die Familie ausgerichtet.
Vollbeschäftigung als Staatsziel
Der Vollzeitberuf war Norm, für Frauen wie für Männer - dazu gab es so gut wie keine Alternative. Staatlicherseits wurden immer wieder Regelungen ersonnen, die es ermöglichten, die Erwerbsquote weiter zu erhöhen, wodurch sie bis 1988 auf 91% stieg. So begann man in der DDR sehr früh, auch Frauen voll in den Erwerbsprozeß zu integrieren. Zunächst betraf dies die alleinstehenden und alleinerziehenden Frauen, späterhin auch Frauen mit Kindern. Waren 1958 erst 18,3% der Frauen in Ehen mit Kindern berufstätig (Leibfried et. al. 1995:239ff), wurde für 1988 festgestellt, daß lediglich jede zwanzigste Frau unter 24 Stunden pro Woche arbeitete. Es war nur schwer möglich, den potentiellen Wunsch nach verminderter Arbeitszeit umzusetzen (27 Prozent aller Frauen waren 1988 teilzeitbeschäftigt im Gegensatz zu 41 in der BRD) und die Zeit, die Frauen nach der Geburt eines Kindes aussetzten, wurde zunehmend kürzer. Selten führten Frauen die für die Bundesrepublik der Nachkriegszeit so typische "Hausfrauenehe" (Bast/Ostner 1992:244). Vielmehr war die Arbeit für alle der Ausgangspunkt jeder Planung, der die Familie beigeordnet wurde. Durch die hohe Beschäftigungsquote nahm auch die Zahl der nie erwerbstätig gewesenen Rentnerinnen stark ab.
Erwerbszentrierte Lebensläufe
Möglich wurde die Durchsetzung der gesellschaftsweiten Vollbeschäftigung durch staatliche Angebote wie Kinderbetreuung (mit 9 bis 12 Stunden Öffnungszeiten), Ganztagsschulen und zentrale Wohnraumversorgung (vgl. Bast/Ostner 1992:241). Das Leben wurde auf Erwerbsarbeit konzentriert und deren Verlauf staatlich reguliert, womit biographische Kontinuität verbürgt war. Das politische Ziel, möglichst alle Menschen in einen erwerbszentrierten Lebenslauf zu integrieren, wurde durch die Kopplung von Sozialleistungen an die Erwerbstätigkeit gestützt: Kindergärten, Altenbetreuung, Ferienheime oder Versicherungen waren an die Arbeitsstelle geknüpft.
Weil ein Arbeitsplatz garantiert wurde, existierten kaum direkte, staatliche Einkommensunterstützungen, weder für alleinerziehende Mütter noch für Witwen, sogar die Rente war ausnehmend gering. Sicherungsansprüche wurden systematisch von der Institution Ehe abgezogen und an Erwerbsarbeit gekoppelt. Unterhaltszahlungen von Männern waren höchst unüblich und Witwenrente wurde nur an Invaliden und Frauen mit Kleinstkindern gezahlt. Statt dessen wurden diese Aufgaben auf staatliche Dienstleistungen verlagert, wenn sie nicht ohnehin durch die - meist ebenso staatlichen - Arbeitgeber abgedeckt waren. In der DDR war niemand ungewollt arbeitslos. Im Gegenteil waren sogar die Renten derart niedrig angesetzt, daß auch Ruheständler weiter Arbeit annahmen und oft genug annehmen mußten. Dies wurde befördert durch die Regelung, daß zusätzliche Einnahmen nicht mit der Rente gegengerechnet wurden. Leibfried et al. sprechen aus diesem Grund von einem real nur bedingt existierenden Ruhestand: 1972 arbeiteten noch 22,7% aller Ruheständler, 1989 noch 10,5%. Trotzdem lag auch dieser Anteil dreimal so hoch wie im Westen (Leibfried et al. 1995:241). Erwerbstätigkeit ragte auch in die Berufsausbildung hinein: Das Bildungs- und Erziehungswesen der DDR sollte immer auch auf Erwerbsarbeit vorbereiten. Im Kindergarten wurde Kollektiv- und Arbeitserziehung erteilt, der polytechnische Unterricht der allgemeinbildenden Schulen diente diesem Zweck, wie auch die strikte Orientierung der Ausbildungsgänge an den Erfordernissen der Wirtschaft. Insgesamt wurden Bildungswege und berufliche Chancen viel stärker als im Westen staatlich reguliert, womit kontinuierliche Erwerbsbiographien durchgesetzt wurden. Zum Recht auf Arbeit gesellte sich die Pflicht zur Arbeit, wodurch ein "einphasiges erwerbszentriertes Lebenslaufregime" (Leibfried et al. 1995:239) entstand, das nur geringfügig geschlechtsspezifisch gespalten war.
Das formale Ausbildungsniveau lag, bedingt durch die konsequente Ausrichtung der Lebensverläufe auf die Erwerbstätigkeit zur Zeit der Wende deutlich über dem Westdeutschlands: Nur sechs Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung waren ohne beruflichen Abschluß (Landua 1993:6). Es zeigte sich aber, daß "häufig eine veraltete Arbeitsplatzstruktur mit veralteten Qualifikationen der Erwerbstätigkeit einherging" (Landua ebd.).
Familienzentrierte Sozialleistungen
Obwohl 91,3% aller Frauen im erwerbstätigen Alter tatsächlich berufstätig waren (Bast/Ostner 1992:243), bedeutete dies nicht, daß Frauen gänzlich gleichberechtigt gewesen wären. Sie erhielten weiterhin weniger Lohn als Männer und waren in schlechteren Positionen beschäftigt. Andererseits waren Frauen in der DDR "mehrberechtigt" (Bast/Oster 1992:244), da sozialpolitische Leistungen nicht für Ehen sondern für Familien ausgelegt waren und zudem ein Anspruch auf Arbeit verankert war. Zuallererst richtete sich die Sozialpolitik auf die Kinder der Gesellschaft, die in dessen Verständnis die Zukunft des Sozialismus sichern sollten. Frauen konnten dank der hohen Subventionierung in der DDR ihren Kinderwunsch erfüllen, ohne besondere Rücksicht auf ihre soziale Lage nehmen zu müssen. Weder geringes Einkommen, noch die Behinderung eines Kindes, noch drohende Alleinerziehung waren Gründe, für die der Staat nicht Ausgleichsmaßnahmen erdacht hatte, welche die Ausübung der Erwerbstätigkeit weiterhin ermöglichten. Für das Jahr 1988 wurde ein Staatsanteil an den Kosten der Kindererziehung von ca. 85% errechnet. Insgesamt gesehen muß von einer "pronatalistischen Frauenpolitik" (Bast/Ostner 1992:245) der DDR gesprochen werden, die Frauen ungeahnte Freiheiten in ihrer Lebensplanung ließ. Gleichzeitig wurde aber sozialer Druck auf Frauen ausgeübt, die kein Kind bekommen wollten oder konnten. Beispielsweise galt eine Erstschwangerschaft mit 25 Jahren als Risikoschwangerschaft (Bast/Ostner ebd.).
Obwohl es keine expliziten Hilfen für Alleinerziehende gab, waren die Kind-orientierten Hilfen und die indirekten Hilfen wie Preissubventionen doch so hoch, daß Alleinerziehen eine echte Alternative zur verheirateten Familie darstellte. Auch die soziale Vaterschaft, also die Übernahme der Vaterrolle durch einen anderen Mann als den Erzeuger, war akzeptiert und ungewöhnlich weit verbreitet. Der Anteil der Alleinerziehenden - dies waren fast nur Frauen - war in der ehemaligen DDR mit 18% aller Familienhaushalte deutlich höher als im Westen (Hanesch 1994:89).
Einige Regelungen beförderten die Zunahme der Alleinerziehendenquote: Alleinerziehende und Mütter von zwei und mehr Kindern hatten Anspruch auf einen zusätzlichen bezahlten Hausarbeitstag pro Monat. Nach der Geburt des ersten Kindes war es möglich, ein Babyjahr zu nehmen, das einem bezahlten Urlaub bei 65-90% des Lohnes gleichkam. Nach der Geburt des dritten und jedes weiteren Kindes verlängerte sich diese Zeitspanne sogar auf 1 ½ Jahre und auf 3 Jahre, wenn die Versorgung der Kinder nicht gewährleistet war oder sie erkrankten. Staatliche Einmalzahlungen wurden nach jeder Geburt gewährt, deren Höhe mit der Kinderzahl anwuchs. Zusätzlich wurden Erziehungszeiten bei der Rentenbemessung angerechnet, bis zu 13 Wochen Urlaub wegen Krankheiten der Kinder gewährt und studierende Mütter speziell unterstützt. Alleinerziehende Mütter genossen zudem Kündigungsschutz bis das Kind drei Jahre erreicht hatte (Hanesch 1994:90f).
"In ihrer ökonomischen Situation waren Alleinerziehende in der DDR damit in enger Anbindung an die Arbeitswelt abgesichert, während im Westen diese Gruppe zu den finanziell am schlechtesten gestellten gehört." (Hanesch 1994:91) Versucht man, für die DDR eine idealtypisierte Familie (vgl. Bast/Ostner 1992:235) zu konstruieren, so besteht diese aus Mann, Frau und zwei Kindern. Letztere waren ganztägig in einer Betreuungseinrichtung untergebracht und fuhren wenigstens einmal im Jahr in Pionieroder Betriebsferienlager. Beide Elternteile arbeiteten 43 ¾ Stunden und nahmen in ihrem Betrieb eine warme Mahlzeit ein. Die Kinder waren meisten Wunschkinder (die Pille war kostenlos, Abtreibung möglich) und wurden kurz nach der Heirat geboren.
Abseits der Idealtypen existierte Armut in der DDR durchaus. Sie unterschied sich zum Teil doch deutlich von der westlichen Armut, da Kinder und Arbeitslosigkeit als Armutsrisiken praktisch ausgeschlossen waren. Wer allerdings aus dem erwerbs- und kinderzentrierten Versorgungsprinzip herausfiel, sah sich schnell einem nicht unerheblichen Armutsrisiko ausgesetzt.
4. Armut in der DDR
Armut war in der DDR offiziell tabu und wurde nachhaltig verdrängt. Es gab jedoch Untersuchungen zum Thema, die allerdings zu Zeiten der DDR nicht veröffentlicht wurden. Insgesamt ist der Forschungsstand eher dürftig. Ähnliches gilt für Arbeitslosigkeit, die, wenn überhaupt, nur in verdeckter Form existierte und für die, zumal es seit 1977 keine Arbeitslosenversicherung mehr gab, keine Zahlen erhoben wurden.
Allgemeine Armutsquoten
In einer Untersuchung von Manz (veröffentlicht 1992) wurde Armut in der DDR über einen - sehr bescheiden zusammengestellten - Warenkorb definiert. Wer sich diesen, bzw. die äquivalente Geldsumme nicht leisten konnte, galt als arm. Vergleichbar ist das zugrunde gelegte Niveau am ehesten mit der westdeutschen 40-Prozent-Marke (Leibfried et al. 1995:252), es liegt in jedem Fall deutlich unter dem damaligen im Westen definierten soziokulturellen Existenzminimum. 1970 lebten demnach 30 Prozent aller Haushalte unterhalb der Armutsgrenze, wobei Haushalte im Ruhestand mit 65 Prozent am stärksten betroffen waren. Die Armut in der DDR nahm beständig ab, am stärksten betroffen blieben alte Menschen.
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Tabelle1: Armutsquoten für unterschiedliche Haushaltstypen in der DDR
Ersichtlich wird, daß die Familiengröße kein relevantes Armutskriterium darstellte. Im Vergleich zum Westen fällt auf, daß Kinderreichtum nicht mit hohen Armutsquoten einherging. Familien jedweder Größe profitierten besonders von den sozialen Leistungen der DDR, da ihre Werte im Untersuchungszeitraum am deutlichsten gefallen sind.
Altersarmut
Rentner bildeten in der DDR die dominierende Armutspopulation. Die Altersversorgung basierte auf dem Prinzip einer Mindestrente, die zwar nach Versicherungsjahren gestaffelt war, jedoch selbst bei voller Inanspruchnahme nur knapp über das Existenzminimum hinausgehen konnte (die Mindestrente betrug zwischen 300 und 370 Mark, das Existenzminimum lag jedoch bei 500 Mark für einen Ein-Personen-Haushalt). Die Höhe hing nicht in erster Linie von dem zuvor erzielten Erwerbseinkommen ab, sondern richtete sich nach politischen Vorgaben: Sie wurden nur periodisch nach Beschlüssen erhöht. Zu den Rentenzahlungen kamen allerdings staatliche Sozialleistungen wie Mittagstisch, Gesundheitsversorgung, Ferien in Betriebsheimen und Heimversorgung bei Pflegebedürftigkeit. Hier zeigt sich die Bevorzugung eines erwerbszentrierten Lebenslaufes deutlich: Jenseits der Beschäftigung, im Ruhestand, ist die Lebensphase sozialpolitisch benachteiligt, dies betrifft vor allem die Personen, die wegen Krankheit oder Gebrechlichkeit keinem zusätzlichen Erwerb nachgehen konnten. Gleichzeitig dürfte Altersarmut kein sozial brisantes Thema gewesen zu sein. Dadurch daß allgemein alte Menschen arm lebten, der Grad der Unterversorgung in großen Teilen der Bevölkerung vergleichbar war, wirkte sich Armut nicht ausgrenzend aus. Sie scheint als Teil des Lebenslaufes hingenommen worden zu sein.
Im Westen sah das Bild ganz anders aus. Dort gehörte Altersarmut zu der Armut, die bemerkenswert gut bekämpft wurde (vgl. Irene Becker, 1997). 1962/63 befanden sich noch 19,6 Prozent der Menschen über 65 Jahren in Westdeutschland unter der 50%-Armutsgrenze. Dieser Wert schwand bis auf 9,2% 1988. Im Vergleich dazu stieg der entsprechende Wert für Alleinerziehende mit einem Kind von 21,1 Prozent 1962/63 auf 42,4 Prozent 1988, wobei er 1973 bis auf 11,2% abgesunken war. Im Westen entschärfte sich damit das Problem der Altersarmut Ende der achtziger Jahre, "kann aber nicht als überwunden gelten" (Becker 1997:55).
Sozialfürsorge
Die Sozialfürsorge spielte in der DDR praktisch keine Rolle, da Armutsfällen in aller Regel über Beschäftigung geholfen wurden. Lediglich Frauen über 60, Männer über 65 und Frauen mit einem Kind unter drei Jahren bzw. zwei Kindern unter acht Jahren, die ihr Kind nicht anderweitig beaufsichtigen lassen konnten, sowie Personen mit pflegebedürftigen Angehörigen konnten Fürsorge beziehen. Unmittelbar vor der Wiedervereinigung lebten noch 0,03 Prozent der Bevölkerung von derartigen Barleistungen, in der BRD lebten 4,5 Prozent von Hilfe zum Lebensunterhalt. Ähnliches gilt für die im Westen einem starken Armutsrisiko ausgesetzte Gruppe der Arbeitslosen. Ihre Zahl war derart gering, daß sie keinen Grund für Armut darstellten. Auch behinderte Menschen, die im Westen häufig über Sozialhilfe versorgt werden, mußten nicht auf die Sozialfürsorge zurückgreifen, da Betriebe geschützte Arbeitsplätze in ausreichender Zahl für gesundheitlich eingeschränkte Personen zur Verfügung stellen mußten (Hanesch 1994:120).
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Tabelle 2: Fürsorgeempfänger in der DDR (sowie 1947 in der SBZ).
Aus der Tabelle 2 geht hervor, daß sich Arbeitsfähigkeit und Sozialfürsorge im Verständnis der DDR-Sozialgesetzgebung ausschlossen: 1980 waren keine arbeitsfähigen Menschen mehr durch Sozialfürsorge alimentiert. Zu sehen ist auch, daß Männer weniger häufig auf die letzte Versorgungsquelle zurückgreifen konnten und mußten. Sie waren vor allem deshalb von Sozialfürsorge ausgeschlossen, weil diese häufig an die notwendige Versorgung von Kindern geknüpft war, was nur in seltenen Ausnahmefällen Männern übertragen wurde. Die Dominanz von Frauen in der Sozialfürsorge muß deshalb - im Gegenteil zum Westen - nicht als strukturelle Benachteiligung angesehen werden, sondern kann auch als weitere Sicherheit bei der Verwirklichung eines Kinderwunsches der Frau auch unter ungünstigsten Bedingungen interpretiert werden.
Ungleichheit
Das Ausmaß der Ungleichheit war in der DDR weit weniger ausgeprägt als dies im Westen der Fall war. Hauser gibt Quintils-Berechnungen für 1990 an, aus denen hervorgeht, daß im Westen das oberste Quintil das 3,8-fache des Einkommensnteils des untersten enthielt, wohingegen dieses Verhältnis im Osten nur bei dem 2,6-fachen lag (Hauser 1997:69). Auch wenn in den folgenden Jahren bis 1995 eine stärkere Ausdifferenzierung im Osten als im Westen festzustellen war, lag das Ausmaß der Ungleichheit auch 1995 noch unter dem der alten Bundesländer. Auch in der Verteilung von Personen auf Klassen von Vielfachen des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens zeigt sich, daß die oberste und die unterste Vermögensklasse im Westen stärker besetzt ist als im Osten. Dort kumulieren die Einkommen deutlicher zwischen den 0,5-fachen und dem 1,25-fachen des Durchschnitts (Hauser 1997:69f).
Wohnraumversorgung
Als ostspezifische Problemlagen können auch bestimmte Unterversorgungen und deren Kumulationen angesehen werden. Hinsichtlich der Wohnverhältnisse wurden 1990 erhebliche Defizite festgestellt: In 17 Prozent aller Haushalte standen nicht für jede Person ein Zimmer zur Verfügung - dies ist der Stand von 1978 im Westen (Landua 1993:5). Der Grund hierfür waren nicht wie im Westen fehlende finanzielle Mittel, größere Wohnungen anmieten zu können, sondern der staatliche Verteilungsschlüssel und das Angebot an ausreichendem Wohnraum. Die Mietpreise waren vergleichsweise sehr gering, da sie hoch subventioniert wurden. Der Wohnstandard lag jedoch unter dem des Westens: 1990 wies jede sechste Wohnung kein eigenes Bad auf (Landua ebd.). Damit ergibt sich das Bild einer "formal- statistischen Verbesserung der Versorgung" (Hanesch 1994:79) zur Zeit der DDR, die auf Kosten der Qualität und der Erhaltung von Altbauten ging. Insbesondere die Gruppen, die nicht besonders gefördert wurden (Familien, Alleinerziehende), lebten in schlechten Wohnverhältnissen, besonders in maroden Altbauwohnungen.
Insgesamt schließen die Autoren, daß Armut in der DDR recht weit verbreitet war. 1988 befanden sich 10 Prozent der Gesamtbevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. "Vielmehr scheint die DDR bereits mit einem hohen Armutspotential - höher als im Westen - in den Prozeß der deutsch-deutschen Vereinigung hineingegangen zu sein" (1995:255).
5. Wendeereignisse
Mit der Wende standen die Menschen in Ostdeutschland vor einem erzwungenen kollektiven Bruch ihrer Lebensläufe: Betriebe wurden stillgelegt, Qualifikationen wertlos und das gesamte Sozialsystem dem westdeutschen angeglichen und damit in Gänze umgebaut. Der größte Wandel hinsichtlich des Themas Armut bestand sicher darin, daß statt der Zusage und der Absicht des zentralistischen Staates, das Leben seiner Bürger zu lenken, plötzlich gerade im Bereich der Erwerbstätigkeit Eigenverantwortung gefragt war und über die Öffnung dieses Feldes Einkommensarmut ermöglicht wurde.
Arbeitslosigkeit
Die direkt nach der Wende entstehende Massenarbeitslosigkeit, die für viele dauerhaft zu werden drohte, und das Bewußtsein, mit vielen Fähigkeiten nicht mehr gebraucht zu werden, ließen viele Menschen erstmals diskontinuierliche Berufsverläufe erleben, die nicht mit ihren in der DDR vermittelten Vorstellungen eines erfüllten Arbeitslebens korrespondierten. Im ersten Halbjahr 1989 waren in der DDR von 10.971.000 erwerbsfähigen Menschen 9.9932.000 erwerbstätig, was 91 Prozent entsprach. Im zweiten Halbjahr waren es nur noch 6.126.000 Personen und damit ein Drittel weniger. Gleichzeitig steig die Zahl der erwerbslos gemeldeten von 642.000 (1990) auf 1.260.000 (1994), die Arbeitslosenquote von 7.3 auf 17.7 Prozent (Leibfried 1995:245). Besonders betroffen waren Frauen, die häufig unfreiwillig aus dem Erwerbsleben ausschieden und sich dem westdeutschen Modell des Einverdienerhaushaltes anpassen mußten, worin der verdienende Part in aller Regel dem Mann zufällt (Leibfried et al.1995:249).
Ausbildungsabschlüsse
Der Zusammenbruch der DDR entwertete viele Ausbildungen, sie wurden überflüssig, weil die entsprechenden Berufe nicht überleben konnten. Dies als Faktor einer objektiven Lebenslage betrachtet, waren viele Ostdeutsche mit der Wiedervereinigung auf diesem Gebiet Absteiger und in waren hinsichtlich ihres beruflichen Ausbildungsabschlusses als arm anzusehen.
Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen
Seit 1991 befand sich jeweils ungefähr jede vierte bis sechste potentiell arbeitsfähige Person in einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme, im ersten Halbjahr 1991 betraf dies zwei Millionen Menschen (Hanesch 1994:56), welche dadurch nicht akut auf den leeren Arbeitsmarkt drängten.
Vorruhestandsregelungen entwickelten sich zum wichtigsten Instrument gegen Arbeitslosigkeit: Im zweiten Halbjahr 1990 entfiel ein Drittel, 1993 schon die Hälfte aller Maßnahmen auf derartige Vorhaben. Ab Oktober 1990 wurde das Altersübergangsgeld eingeführt, das Beschäftigte über 55 Jahre beantragen konnten. Durch diese Maßnahmen wurde der Arbeitsmarkt entlastet und die Rentenkassen mit ungeheuren Zusatzausgaben belegt, die über direkte Bundeszuschüsse ausgeglichen werden mußten. Für die Frührentner stellte sich die neue Situation häufig als eine drastische Abwertung ihrer Arbeitskraft und eine ungewollte Umstellung ihrer Lebensplanung dar, die im DDR-Verständnis so nicht vorgesehen war. Hanesch dazu:
"Die Altersgruppe der 55-jährigen und Älteren hat somit die Hauptlast des Beschäftigungsrückgangs getragen." (Hanesch 1994:110)
Ein Fünftel aller Maßnahmen entfiel auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, in denen jüngere Menschen in sozialen, städtebaulichen oder ökologischen Projekten eingesetzt wurden, um fehlende Beschäftigung zu kompensieren. Hinzu kamen etliche Programme zur Umschulung und Weiterbildung (Leibfried et al. 1995:246), um die Chancen auf dem neuen ersten Arbeitsmarkt wieder zu erhöhen. Die Maßnahmen waren als Überbrückungsleistungen gedacht, bis wirtschaftliches Wachstum wieder eintreten würde. Noch 1995 belief sich der jährliche West-Ost-Nettotransfer auf 120 bis 150 Mrd. DM und damit auf 4% bis 5% des westdeutschen Bruttoinlandsproduktes (Hauser 1997:63). Genutzt wurden die Mittel vorwiegend zur Subventionierung von Löhnen oder für Sozialleistungen und Steuerbegünstigungen. Auch die Regelungen für den Bezug von Kurzarbeitergeld wurden insofern erleichtert, als daß sie auch bei länger andauernder Arbeitslosigkeit in bedrohten Betrieben gezahlt wurde. Die sogenannten ABS-Gesellschaften, die auf regionaler Ebene als selbständige juristische Einheiten gegründet wurden, halfen, Menschen über durch den Bund finanzierte Sonderprogramme Arbeit zu geben, die sie wieder in den Arbeitsmarkt integrierbar machen sollte. Hinsichtlich der Arbeitslosigkeit ist festzustellen, daß ohne Abwanderung, Pendlerbewegungen und Vorruhestand noch weit höhere Einbrüche aufgetreten wären, die sich in hohen Armutsquoten widergespiegelt hätten.
Die Folgen der Umbrüche, die in unterschiedlichen Bereichen zu armen Verhältnissen führen können, spiegeln sich in der Analyse von Landua, der für 1990 ein "erstaunlich hohes" Ausmaß der Kumulation einzelner Problemlagen feststellt: 37 Prozent der befragten Ostdeutschen wiesen in mehr als einem Bereich Defizite auf, fast jeder zehnte war sogar von vier oder mehr objektiven oder subjektiven Problemlagen betroffen (Landua 1993:12). Zudem war nur ein Drittel von keiner der Problemlagen betroffen. (Im Vergleich West 1988: keine 44%, mehr als eine: 14%, mehr als 4: 4%). Dieser Zustand änderte sich bis 1993 rapide, so daß von einem Wendephänomen ausgegangen werden kann. Landua kommt zu folgender Auffassung:
"Die These, im Zuge des ostdeutschen Transformationsprozesses hätten breite Bevölkerungsschichten Verschlechterungen hinnehmen müssen, kann vor dem Hintergrund dieser empirischen Fakten zurückgewiesen werden."
Er stellt nach einer Zeit des Umbruchs, die seiner Ansicht nach circa drei Jahre umfaßte, eine Stabilisierung der Problembetroffenheiten auf niedrigem westdeutschen Niveau fest. Andere Armutsberichte äußern sich nicht derart optimistisch, was die Entwicklung im Osten Deutschlands nach der Wende angeht. Wie so häufig bei relativen Armutsdefinitionen sind die Ergebnisse erst bei näherer Beleuchtung der Eckdaten und Zielwerte durchschaubar.
6. Armut nach der Wende
Die Wendeereignisse haben die Lebensläufe aller Bürger der DDR einschneidend verändert. Sie mußten sich den neuen Arbeitsmöglichkeiten, den Anforderungen, Bürokratien, Gesetzen und vielem mehr anpassen. Jeder mußte seine Existenz neu ordnen und sah sich neuen Risiken ausgesetzt, die durchaus auch zu Armut führen konnten. Brisant ist Armut im Osten vor allem durch ihre Neuartigkeit: Ungleichheit war zu Zeiten der DDR ein eher peripheres Problem, ausgrenzende Armut fast unbekannt. In der neuen Bundesrepublik kommen zu der um sich greifenden Armut für Ostdeutsche auch die Unterschiede zum reichen Nachbarn im Westen hinzu, die Benachteiligungen deutlicher spüren lassen. Hauser faßt die Armut in Westdeutschland auf die Kurzformel, daß "unterhalb der 40%-Grenze etwa ein Zwanzigstel, unterhalb der 50%-Grenze etwa ein Zehntel und unterhalb der 60%-Grenze etwa ein Fünftel der Bevölkerung leben muß" (Hauser 1997:72). Für Ostdeutschland sind derzeit andere Ergebnisse zu ermitteln.
Ob Ostdeutschland zum Armenhaus der Republik wird oder schon geworden ist und ob die Unterstützungsleistungen des Westens einen Aufschwung ermöglichst haben, sind sehr umstrittene Fragen, in dessen Spannungsfeld die Untersuchungen zur Armut in Ostdeutschland entstanden sind. Ihnen sind politische Implikationen eigen, die zu den herkömmlichen Differenzen noch einige zusätzliche Variablen haben entstehen lassen.
Berechnungsweisen
Das ermittelte Ausmaß der Armut in dem Beitrittsgebiet zur BRD und seine Beurteilung schwanken wegen ihrer relativen Definitionsweise enorm. Dies hängt neben unterschiedlichen Untersuchungsmethoden und divergierenden Datensätzen von der jeweiligen Ziel- und Vergleichsgröße ab: Stellt sich die Frage nach der quantitativen Entwicklung im Osten des Landes, so bietet sich das Ost-Nettodurchschnittseinkommen als Vergleichsgröße an. Ergebnis wird sein, daß Armut gering verbreitet ist und steigt. Geht es aber darum zu beurteilen, wie weit sich die Einkommensverhältnisse im Osten denen im Westen angeglichen haben, empfiehlt es sich, die westdeutschen Einkommensgrößen heranzuziehen. In diesem Fall sind die Quoten für den Osten sehr hoch und fallen. Legt man als vergleichendes Einkommen den Gesamtdurchschnitt zugrunde, so wird von bereits geschaffenen einheitlichen Lebensbedingungen ausgegangen, die derzeit noch nicht geschaffen sind. Die ermittelten Werte werden zwischen den beiden erstgenannten, aber näher an den mit West- Daten verglichenen liegen, da sich der Durchschnitt durch die Zurechnung der Ost- Einkommen insgesamt ein wenig senkt.
Im Detail gibt Hauser (Hauser 1997:72) für beide Landesteile folgende Daten an:
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Tabelle 3: Armut in Deutschland
Deutlich zu sehen ist, daß die Armutsquote in der DDR 1990 unter der des Westens liegt, wenn getrennt nach Landesteilen erhoben wird. Gleichzeitig ist ein Anstieg zu beobachten, der bis 1995 noch nicht ganz das westdeutsche Niveau erreicht hat. Offenbar ist dies notwendiger Teil im Prozeß der Angleichung der Landesteile, oder, wie Hauser sich ausdrückt:
"Man kann feststellen, daß der Anstieg der Ungleichheit und insbesondere der Armutsquoten der 'Preis' für das starke Wachstum des durchschnittlichen Lebensstandards nach dem Systemwechsel gewesen ist. Andererseits kann aber auch mit hoher Wahrscheinlichkeit vermutet werden, daß diese Armutsquoten und vermutlich auch die gesamte Ungleichheit der Einkommensverteilung noch viel stärker ausgefallen wären. wenn im Fall eines Systemwechsels ohne Wiedervereinigung die von den alten Bundesländern finanzierten Transferleistungen ausgeblieben wären." (Hauser 1997:72)
Betrachtet man jedoch die Werte, die sich aus dem direkten Vergleich mit der westdeutschen Zielgröße ergeben, so fällt auf, daß Armut durchaus zurückgegangen ist, zumal die Angaben von 1990 noch zu Zeiten der DDR, insbesondere vor der Währungsunion erhoben worden sind. Dem Osten ist es danach gelungen aufzuholen, wenn auch nicht aufzuschließen.
Auch Anita B. Pfaff erläutert die Auswirkungen von unterschiedlichen zugrunde gelegten Vergleichs-Durchschnittseinkommen (Pfaff 1995, S.34 f). Ihren Daten zufolge lebten 1990 10,5% der Westler und 26,7% der Ostler in Armut. Bis 1992 blieb die Quote im Westteil der Republik konstant, sank dahingegen im Osten auf 17,6%, bzw. 14,7% 1993. Ganz anders sehen die Daten aus, wenn das Osteinkommen als Vergleichsmaßstab angenommen wird. Dann waren 1990 im Osten noch 3,5% und 1993 5,9% aller Menschen arm. Auf dieser
Datenbasis steigt die Armutsquote, wohingegen sie auf der Grundlage der Westeinkommen sinkt. Dahinter steht ein grundlegendes Vergleichsproblem, das Pfaff wie folgt beschreibt:
"Legt man das einheitliche West-Durchschnittseinkommen als Referenzeinkommen zugrunde, überschätzt man die Einkommensarmut im Osten auf Grund der vor allem anfänglich etwas niedrigeren Preise. Rekurriert man für die neuen Länder auf das Durchschnittseinkommen der neuen Bundesländer, unterschätzt man aber vergleichsweise den Anteil der Einkommensarmut bzw. unterstellt angesichts sich annähernder Preisniveaus unterschiedlich hohe Realeinkommen für die Armutsgrenzen in Ost und West. Dies widerspricht jedoch der Norm der Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse." (Pfaff 1995: 35)
Das Problem ist also ein eminent politisches. Je nachdem, welches Einkommen als Referenz angenommen wird, ändert sich die Zielsetzung: Die Vorgabe, Lebensstandards und Einkommenshöhen anzunähern, wird bei getrennten Berechnungen verfehlt. Andererseits sind Daten verfälscht, wenn sie auf Ost-Basis errechnet werden und die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten nicht einberechnet sind. Beispielsweise stieg der Preisindex für die Lebenshaltung in Ostdeutschland 1993 doppelt so schnell wie im Westen (Hildebrandt 1995:82). Bis sich die Lebensverhältnis nicht annähernd angeglichen haben, kann es nur sinnvoll sein, beide Werte anzugeben und sie im Verhältnis der jeweiligen Ausgangsbasis zu Vergleichen heranzuziehen.
Armutsrisiken
Das Armutsrisiko in Ostdeutschland ist höher als in den alten Bundesländern, jedoch sind die Chancen, Armut wieder zu verlassen, höher. Von den 1990 in Westdeutschland Armen haben 50 Prozent aus der Armut herausgefunden, im Osten dahingegen 66 Prozent (Leibfried u.a.:260). Armut ist in Ostdeutschland offenbar überwiegend kein dauerhafter Zustand, sondern Ausdruck des fortschreitenden Wandels. Hanesch stellt fest, daß die "Verfestigung des Armutsrisikos bei bestimmten Bevölkerungsgruppen bisher noch nicht so stark ausgeprägt ist wie im alten Bundesgebiet" (Hanesch 1994:57), die Tendenzen sind zwar ähnliche, doch ist Arbeitslosigkeit und Armut noch ein viel stärker temporäres Phänomen als im Westen.
Armutspopulationen
Die Problemgruppen im Westen Deutschlands sind bekanntermaßen Arbeitslosenhaushalte und Haushalte mit Kindern, wobei Alleinerziehende besonders stark von Armut betroffen sind und sich die Quoten für die genannten über die Zeit betrachtet eher verschlechtern als verbessern. Bei alten Menschen sind im Westen ähnliche Quoten wie im Gesamtdurchschnitt zu beobachten (Hauser 1997:73).
Im Osten sind ebenfalls Arbeitslosen- und Alleinerziehendenhaushalte besonders stark von Armut betroffen, doch sind hier die Problemlagen im Vergleich zum Westen vertauscht: Höchste Quoten zeigen Alleinerziehende, etwas geringer liegen die Daten für Arbeitslosenhaushalte, wobei sich beide Gruppen unterhalb der Westwerte bewegen. Die Fallzahlen für Alleinerziehende sind im Osten derart gering, daß die Angaben nur als Richtwerte zu verstehen sind. Für Rentner lassen sich keine wirklich verläßlichen Angaben machen, da sie im Osten regelmäßig nicht in der armen Bevölkerung erfaßt werden konnten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 4: Armutsquoten für Risikogruppen in Ostdeutschland Rentner
Im Osten weicht das Bild in einigen Punkten deutlich ab. Alte Menschen weisen niedrigere Armutsquoten als die Gesamtbevölkerung auf, weshalb sie, gerade im Vergleich zu ihrer Situation zu DDR-Zeiten, zu den Wendegewinnern gezählt werden. Vor allem die günstigeren Erwerbsbiographien, die rasche Anhebung der Rentenniveaus auf Weststandards und insgesamt, die Übertragung eines für westdeutsche Verhältnisse konzipierten Rentensystems auf eine ehemalige Vollerwerbsgesellschaft, kamen den Rentnern sehr zugute. Mit der viermaligen Erhöhung der Eckrente bis 1993 konnten Rentner einen realen Kaufkraftzugewinn von mehr als 60% erreichen (Hanesch 1994:106) und lagen nur noch 23% von der durchschnittlichen West-Rente entfernt. Gerade Frauen, die auf vergleichsweise lange Arbeitsperioden und wenig Teilzeitbeschäftigungen zurückblicken konnten, bekamen im Ost- West-Vergleich sehr viel höhere Renten zugesprochen. Sämtliche Strukturmaßnahmen dienten auch dazu, den Arbeitsmarkt für jüngere frei zu machen. Bis November 1992 sank die ehemals hohe Erwerbstätigenquote bei Rentnern auf unter 20%, weil hoch alimentierte Ruhestandsregelungen Alternativen boten (Hanesch 1994:57). Besondere Beachtung muß allerdings den Übergangsregelungen geschenkt werden, die jetzt langsam auslaufen. So wurden Rentner, die nach der Wende weniger als zuvor erhalten sollten, die Differenz als Auffüllbetrag zugegeben und mit Hilfe eines Sozialzuschlags denjenigen geholfen, deren Rente unterhalb von 495,- DM lag. Seit 1996 läuft diese Regelung aus, wodurch erstmals Rentner auf Sozialhilfe angewiesen sein könnten und Altersarmut auch im Osten Deutschland wieder feststellbar sein wird.
Frauen
Aus der Tabelle 4 werden auch die geschlechtsspezifischen Armutsquoten für beide Landesteile sichtbar. Zum einen spiegeln sich hier die insgesamt niedrigeren Armutsquoten im Osten wieder, zum anderen ist aber eine Parallelentwicklung für beide Geschlechter abzulesen, die im Westen nicht bekannt ist, wo Frauen regelmäßig stärker von Armut betroffen sind als Männer. Es gibt allerdings auch Hinweise auf Benachteiligungen: Nach der Wende hatten es Frauen deutlich schwieriger, bei einem notwendigen Arbeitsplatzwechsel eine neue Stelle zu finden. So gelang dies drei Jahre lang nach dem notwendigen Wechsel ununterbrochen 13% der Frauen und 20% der Männer.
Alleinerziehende
p>Besonders betrachtet werden müssen Alleinerziehende, auch wenn dies in aller Regel Frauen sind. Hanesch sieht in Ostdeutschland einen Wandel in der Risikostruktur, der "noch deutlicher als im Westen in Richtung Alleinerziehende und große Familien" zeigt (Hanesch 1994:38). Er weist Armutsquoten für mehrfach Unterversorgte bei Paaren mit zwei Kindern von 15,9% und bei Paaren mit drei und mehr Kindern von 42% aus. Bei Alleinerziehenden mit einem Kind nennt er 17,8% und mit zwei und mehr Kindern sogar 22,8%. Die Lage hat sich vor allem durch die Veränderung der Betreuungssituation verschlechtert. War zu Zeiten der DDR die Versorgung der Kinder ganztägig gewährleistet und ein umfassendes System aufgebaut, das Vollerwerb und Kindererziehung vereinbar machte, sind nach der Wende
Betriebskindergärten, Krippen- und Hortplätze, dem westdeutschen Vorbild entsprechend, stark reduziert worden. Durchgesetzt hat sich der Gedanke, daß Kinderbetreuung und ihre Erziehung Privatsache sind und dementsprechend zu organisieren und finanzieren ist. Alleinerziehende sind von dieser Perspektive doppelt betroffen: Einerseits haben sie wenig Geld, um Betreuungsplätz zu bezahlen, andererseits bleibt ihnen dadurch weniger Zeit zum Geld verdienen und keine sichere Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt.
In Bezug auf ledige, getrennt lebende oder geschiedene Alleinerziehende (im Gegensatz zu den besser abgesicherten Witwen) ist im Westen nie ein effektives Instrumentarium zur Verbesserung ihres Lebensstandards aufgebaut worden. Becker sieht hier ein "rapide Verschärfung des Problems" (Becker 1997:58) bis in die späten 80er Jahre hinein, das sich durch die Wiedervereinigung auf den Ostteil des Landes ausgedehnt hat.
Kinder
Gravierend ist die Betroffenheit durch Armut bei Kindern und Jugendlichen. Die Zunahme in diesem Alterssegment, die im Westen mit dem Schlagwort der Infantilisierung von Armut belegt ist, läßt sich seit der Wende auch im Osten nachvollziehen. Durchweg weisen Kinder die höchsten Armutsquoten auf. Zahlenmäßig sind sie nicht dominant, da ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nur knapp 14 % beträgt.
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Tabelle 5: Armutsquoten für Kinder in Ost und West Arbeitslose
Die Leistungsempfängerquote für Lohnersatzleistungen lag nach der Wende im Osten bei 82% und damit deutlich über der Westquote. Dies lag an der Anerkennung der hohen Erwerbsquote in der DDR, was zu hohen Leistungsansprüchen führte. Dies zeigt sich auch darin, daß 72% das höhere Arbeitslosengeld und nur 10% Arbeitslosenhilfe bezogen (Hanesch 1994:63). Auf diese Weise wurde verhindert, daß viele Menschen der - kommunal finanzierten - Sozialhilfe bedürftig wurde. Zusätzlich wurden sogenannte Sozialzuschläge gezahlt, die ebenfalls in der Überbrückungszeit die Finanzen der Kommunen schützen sollten. Auf lange Sicht ist allerdings ein Wandel zu erwarten, da die Ansprüche auf Arbeitslosengeld zurückgehen werden und mehr Menschen von Sozialhilfe leben werden müssen. Damit geht auch eine Umverteilung der Lasten vom Bund auf die Gemeinden und dadurch eine weitere Schwächung der ostdeutschen Regionalstruktur einher.
Hinsichtlich von Armut ist Arbeitslosigkeit im Osten Deutschland einer der häufigsten Gründe. Aufgefangen wurde dieser schon aus dem Westen bekannte Befund bislang durch hohe Frauenerwerbsquoten, die dazu führten, daß häufig in den Familien wenigstens eine Person erwerbstätig blieb und dazu beitrug, den Abstieg in armutsnahe Bereiche zu verhindern. Aus Tabelle 4 läßt sich erkennen, daß der Faktor Arbeitslosigkeit im Laufe der Jahre an Bedeutung zugenommen hat. Dies könnte sich fortsetzen, wenn die oben beschriebenen Sonderleistungen für den Osten zurückgenommen werden und kein regional gefestigter wirtschaftlicher Aufschwung seinen Anfang nimmt.
Sozialhilfe
Die Sozialhilfeempfänger sind auf 3.6 Prozent der Bevölkerung gestiegen (West 5.1) und bleiben weitgehend konstant. Dies wird erreicht durch vielfältige Maßnahmen, die vor der Sozialhilfe einsetzen. Auch zeigt sich, daß Arbeitslose seltener als im Westen arm sind, oft, weil Frauen auch arbeiten gehen und dadurch nur ein Familienteil ausfällt. Trotzdem ist Arbeitslosigkeit einer der wichtigsten Gründe für den Bezug von Sozialhilfe. Kinder bis 15 Jahren sind wie im Westen die größte Bezugsgruppe mit Anteilen von über 30 Prozent.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 6: Sozialhilfebezug in Deutschland
Empfänger laufender Hilfe zum Lebensunterhalt in % der Bevölkerung Hanesch nennt 40 Prozent Sozialhilfebezug bei Alleinerziehenden (Hanesch 1994:40), die zudem noch zu 77% in einer Untersuchung nach einem halben Jahr noch zu den Beziehern gehörten.
"Diese [Anm.: die Alleinerziehenden] bilden den 'harten Kern' der Sozialhilfeempfänger im Osten: Vor allem für sie stellt Sozialhilfe keine vorübergehende Hilfe, sondern eine Grundversorgung auf Dauer dar; sie sind in besonderem Maße 'Opfer der Vereinigung'." (Hanesch 1994:41)
Die Sozialhilfesätze unterscheiden sich trotz der Angleichung der Regelsätze weiterhin erheblich. Dies ergibt sich daraus, daß im Osten kein Mehrbedarfszuschlag für Ältere und Erwerbsunfähige und sehr viel weniger einmalige Beihilfen gezahlt werden.
Regine Hildebrandt wagt eine Schätzung der verdeckten Armut. Nach ihrer - vorbehaltlich politisch gefärbten - Angabe liegt sie bei 50% der Sozialhilfeempfänger und damit in einer Größenordnung von ca. 340.000 Personen (Hildebrandt 1995:78). Auch Hanesch befürchtet eine hohe Dunkelziffer, da das System der Sozialhilfe erst neu eingeführt ist und erst nach Auslauf pauschaler Übergangsregelungen wirklich greifen wird.
"Für den weiteren Verlauf der 90er Jahre ist daher davon auszugehen, daß sich durch die anhaltende Massenarbeitslosigkeit und die fehlenden bzw. auslaufenden Mindestsicherungselemente in der Sozialversicherung das Problem der arbeitsmarktbedingten Armut im Sinne von Sozialhilfebedürftigkeit zu einem sozialpolitischen Problem ersten Ranges entwickeln wird." (Hanesch 1994:53)
Befindlichkeiten
Was die Befindlichkeiten angeht, beschreibt Hanesch die typisch ostdeutsche Bemühung um die Wiederherstellung einer Normalbiographie mit einem erwerbszentrierten Leben. Er konstatiert, daß, obwohl kein Ende der Krise abzusehen sei, bei Betroffenen "ein Denken in den traditionellen Normen einer Arbeitsgesellschaft vorherrsche" (Hanesch 1994:43). Vielleicht läßt sich darüber auch die besonders hohe Zahl von nichterwerbstätigen Hausfrauen aus der Arbeiterschicht erklären, die in der Untersuchung von Landua die einzige Gruppe darstellen, die hinsichtlich objektiver und subjektiver Problemlagen zwischen 1990 und 1993 Verschlechterungen ausmachten: Ihnen scheint die Vereinsamung durch den Wegfall des Berufes zu schaffen zu machen und durch den Kontrast zum verinnerlichten Weltbild Konflikte, Ängste und Niedergeschlagenheit zur Folge haben.
7. Aussichten und Prognosen
Ostdeutschland steckt auch acht Jahre nach der Vereinigung in einem Anpassungsprozeß, der von Beginn an materielle Verbesserungen verhieß, aber mit dem Gesicht der einschneidenden Umbrüche daherkam. Von einer Angleichung der Lebensverhältnisse ist Deutschland noch immer weit entfernt, und die Ansichten, wann dieses Ziel erreicht sein könnte, gehen weit auseinander. Unter Soziologen ist nicht einmal ausgemacht, ob es überhaupt zu annähernd gleichen Bedingungen kommen wird. So Hanesch:
"Nach wie vor ist dabei offen, ob eine solche Angleichung tatsächlich stattfinden wird, oder ob das Beitrittsgebiet nicht vielleicht über einen längeren Zeitraum eine Armutsregion im vereinten Deutschland bleiben wird." (Hanesch 1994:33)
Wahrscheinlich wird sowohl Ungleichheit wie auch Armut im Osten eher zu als abnehmen, wenn die hohe Arbeitslosigkeit nicht schnell abgebaut werden kann und einige Sonderregelungen gerade für untere Einkommensschichten auslaufen. Ungleichheit wurde bislang vor allem dadurch gedämpft, daß Sozialhilfe beinahe auf West-Niveau gezahlt wurde und deshalb im Verhältnis zum Nettodurchschnittseinkommen des Ostens recht hoch liegt. Arbeitsförderungs- und Vorruhestandsregelungen bewahrten viele vor Verarmung und für Ostler günstige Steuertarife sicherten hohe Nettoeinkünfte. Zudem erleichterte die hohe Frauen-Erwerbsquote die Kompensation von ansteigender Arbeitslosigkeit.
Im Hinblick auf Armutsentwicklung sieht Hanesch eine "Konzentration auf bestimmte Problemgruppen des Arbeitsmarktes nach westdeutschem Muster" (Hanesch 1994:35) rasch voranschreiten. Wichtiger Faktor wird der Umfang der Wiedereingliederung der Menschen aus arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in den regulären Arbeitsmarkt sein. Auch hier gilt eine ähnliche Risikoverteilung wie im Westen: je kürzer die Bildungsdauer und je niedriger der erreichte Bildungsabschluß, desto größer ist das Risiko, im Erwerbsleben auf randständige und bedrängte Positionen abgedrängt zu werden (Hanesch 1994:72). Die derzeit zu beobachtende Zunahme der Sozialhilfeempfänger ist ein bedrohlicher Indikator für schwindenden Halt durch die bundesdeutschen Sicherungssysteme, auch wenn Leibfried et al. folgendes zu bedenken geben:
"Im Vergleich zu DDR-Zeiten leben im Osten heute vermutlich weniger Menschen in Einkommensarmut; jedoch gibt es deutlich mehr Empfänger von Sozialhilfe als damals Fürsorgeempfänger - Armut wird also deutlicher offengelegt; und der Einkommensrückstand konnte bisher nicht aufgeholt werden." (Leibfried et al.:258).
Unsicher bleibt die weitere Entwicklung auch dadurch, daß die Bevölkerung in Ostdeutschland auf deutlich weniger Rücklagen zurückgreifen kann und ist deshalb in Problemsituationen schneller auf soziale Hilfsleistungen angewiesen ist. 1992 betrug das durchschnittliche Geldvermögen ostdeutscher Haushalte 26% der Westwerte (Hildebrandt 1995:83). Der Grund ist im unterschiedlichen Verlauf der Kapitalakkumulation in der Nachkriegszeit zu finden, der nach der Wende keinerlei Ausgleich fand.
Politisch ist eine derartige Entwicklung zunehmend brisant, da es zu Schuldzuweisungen an die politischen Akteure in Ost wie West kommt. Und gerade das gut verwurzelte Bild der sozialen Gleichheit gibt immer mehr Anlaß zu Unmut: Nicht nur, daß die Annäherung an den Westen langsamer als gedacht verläuft und immer wieder stockt, auch die zunehmende Ausdifferenzierung der ostdeutschen Einkommenslagen werfen Schwierigkeiten auf, die derzeit nicht mit politischen Instrumenten abgefangen oder gedämpft werden.
Langfristig betrachtet ergibt sich das Problem, daß Ostdeutsche wegen der hohen Arbeitslosigkeit auch keine Leistungsansprüche erwerben können, die ausreichend hoch wären, sie im Risikofall vor Armut zu schützen. Sollte die Erwerbslage weiterhin stark divergent verlaufen, könnte allein dies dazu führen, daß Rentner und Arbeitslose im Osten zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen zählen werden, wenn sie nicht durch die erwerbsbasierten Sicherungssysteme erfaßt worden sind und keine Beitragsleistungen erbringen oder Rücklagen bilden konnten.
Derzeit gibt es keine Anzeichen, daß das Einkommensgefälle zwischen Ost und West schnell angeglichen werden würde. 1992 verfügten die ostdeutschen Haushalte über 64% des Haushaltseinkommens im Westen. 1991 betrug diese Relation noch 52,8% (Hanesch 1994:51). Die - umstritten - schwierige wirtschaftliche Lage hat zudem die sozialstaatlichen Ausgleichsbemühungen stocken lassen und läßt den sich selbsttragenden wirtschaftlichen Aufschwung zunehmend unwahrscheinlich werden. Sehr wahrscheinlich ist dahingegen, daß sich der Angleichungsprozeß noch weit in das nächste Jahrtausend hinein hinziehen wird.
8. Zusammenfassende Schlußbetrachtung
Wie eng Einkommensarmut mit sozialstaatlichen Leistungen verwoben ist, zeigt sich besonders offenkundig an der Entwicklung in Ostdeutschland. Waren zu DDR-Zeiten Familien noch besonders alimentiert und darüber vor Armut sicher, wird mit dem Tag der Vereinigung der ehemals getrennten Staaten ein Kind zum Armutsrisiko. Familien und besonders Alleinerziehende sind die großen Verlierer der Wende. Daß dies vor allem Frauen betrifft, kommt in der bundesrepublikanischen Gesellschaft erschwerend hinzu. Ostdeutsche Frauen befinden sich heute in der gleichen Geschlechterfalle wie ihre westdeutschen Kolleginnen: Beruf und Kind scheinen unvereinbar, Kind und Wohlstand damit auch. Das besondere an der Situation ist nun, daß viele die Möglichkeit erlebt haben, wie es anders sein könnte: In der DDR war ganztägige Kinderbetreuung der Regelfall, Ausgleichszeiten für Mütter wurden großzügig gewährt und Geldleistungen waren an Kinder und ihre Erzieher und nicht an eine Idee einer intakten Familie geknüpft. Möglich war dies, weil ökonomische Fragen hintenan gestellt und ideologische Motive betont wurden. Jetzt, da Wirtschaft wieder wirtschaftlich sein soll, sind derartige Leistungen plötzlich Kosten, die die Betriebe nicht zu tragen bereit sind (eine Belastung war dies auch für Ostbetriebe) und für die der Staat nicht in die Verantwortung gehen will. Dabei sollte gerade der Unterstützung von Kindern besondere Beachtung zukommen: Die Entscheidung, Nachkommen zu bekommen und sie in der jeweiligen Konstellation aufzuziehen, wurde auch und gerade auf dem Hintergrund zu erwartender Unterstützungen getroffen. Diese unwiderrufliche Entscheidung steht im strengen Kontrast zur Wechselhaftigkeit der zur Verfügung stehenden Unterstützungsleistungen. Zu den finanziellen kommen gerade in dieser Gruppe bedeutende psychische Belastungen durch den Umbruch hinzu.
Eine andere Gruppe im Westen häufig von Armut betroffener kam in dieser Arbeit nicht vor: Ausländer, die oft wegen Sprachproblemen, schlechter Ausbildung und großer Familien benachteiligt sind und zudem, was Wohnraum, Gesundheit oder Versicherungen angeht, als unterversorgt gelten, existieren im Osten nur wenig. Die Zahl der Ausländer im Osten ist derart gering, daß keine gesicherten Aussagen über ihren Armutsgrad getroffen werden konnten. Es ist jedoch als unwahrscheinlich anzusehen, daß, bei kopiertem Leistungs- und Unterstützungssystem, Ausländer im Osten Deutschland bessere Chancen hätten als im Westen - höchsten, weil wegen niedrigerer Quoten eine bessere Integration möglich sein könnte.
Auf die Gruppe der Rentner wurde bereits mehrfach eingegangen. Ihre Situation scheint derzeit rosig, doch sind auch die drohenden Veränderungen beschrieben worden. An dieser Stelle setzen die generellen Befürchtungen ein, was die Armutsentwicklung in Ostdeutschland angeht. Alles hängt an zwei Faktoren: Zum einen an der weiteren Entwicklung des Arbeitsmarktes und der allgemeinen wirtschaftlichen Lage und zum anderen an der Höhe der Ausgleichszahlungen aus dem Westen. Und beide Faktoren zeigen 1998 noch nicht nach oben.
Wie sähe ein mögliches Szenario aus, das Ostdeutschland dauerhaft zur Armutsregion werden lassen könnte? Die Arbeitslosigkeit könnte auf hohem Niveau stagnieren, weil Betriebe mit Liquidität zu kämpfen haben und Transferleistungen sowie Subventionen verringert werden. Die Armutsspirale könnte in Gang gesetzt werden, so daß mehr Menschen auf die finale Hilfeleistung Sozialhilfe angewiesen wären. Berufsausbildungschancen könnten sich bei dürftiger Konjunktur verschlechtern und damit auch die Verdienstmöglichkeiten der heutigen Jugendlichen. Eine Verschlechterung der Zukunftsaussichten könnte zu Abwanderung guter Arbeitskräfte in den Westen führen und Ostdeutschland in Unselbständigkeit verharren lassen. Was ist davon wahrscheinlich?
Absehbar ist, daß zahlreiche Übergangsregelungen zur Rentenversicherung, Arbeitslosenunterstützung und Fort- und Weiterbildung auslaufen werden. Hinzu kommt, daß langsam auch die Ansprüche aus DDR-Beschäftigungen verblassen: Der Anspruch auf Arbeitslosengeld muß mittlerweile in der BRD erworben worden sein. Hierzu ist ein festen Angestelltenverhältnis notwendig, für die volle Zahlung ein ununterbrochenes während der letzten drei Jahre. Dies trifft bei Arbeitslosenquoten zwischen 15% und 25%, zuzüglich der nichtgemeldeten Personen, für immer weniger Menschen zu. Rentenansprüche werden während der Arbeitslosigkeit weiter erworben, doch ist absehbar, wie gering die Leistungen nach einem zerfaserten Lebenslauf ausfallen werden.
Die Verwerfungen, die heute zu beobachten sind, werden uns erst in einigen Jahren in ihrer Konsequenz vor Augen geführt werden. Wenn Frauen, die sich auf die Möglichkeit des Alleinerziehens verlassen haben, ihre Chance auf dem engen Arbeitsmarkt suchen werden, wenn Rentner nicht mehr aus arithmetischen Gründen zu den Gewinnern, sondern vielleicht sogar zu den Verlierern zählen und die Sozialhilfe als finaler Rettungsanker an Bedeutung gewinnt, weil alle anderen Instrumente ausgeschöpft sind. Die Aussichten sind im Osten nicht rosig, zumal die Gestaltungsmöglichkeiten von Städten und Kreisen wegen der finanziellen Unterversorgung eingeschränkt sind und durch weitere Sozialhilfeleistungen zusätzlich belastet werden. Unter diesen Umständen fehlt es an Mitteln, den Risikogruppen mit alternativen Programmen unter die Arme zu greifen. Und es fehlt an Mitteln, aktive Wirtschaftspolitik zu betreiben. Es bleibt der Ruf nach bundesweiten Veränderungen, die die absehbaren Tendenzen, ganze Bevölkerungsgruppen einem erhöhten Armutsrisiko auszusetzen, unterbinden. Wenn es dazu, nach Jahren der Stagnation und dem Abbau von Unterstützungsleistungen an Familien, Frauen, Kinder, Obdachlosen, Ausländern uvm., wirklich kommen sollte, dann hätte die Vereinigung der beiden Deutschland den auslösenden Faktor gebildet. Denn der Problemdruck wird offenkundig zunehmen. Bis Lösungen gefunden werden müssen.
Literaturangaben:
Bast, Kerstin und Ilona Ostner (1992): Ehe und Familie in der Sozialpolitik der DDR und BRD - ein Vergleich. In: Winfried Schmähl (Hg.), Sozialpolitik im Prozeß der deutschen Vereinigung, S.228 - 270.
Becker, Irene (1997): Die Entwicklung von Einkommensverteilung und Einkommensarmut in den alten Bundesländern von 1962 bis 1988. In: Irene Becker, Richard Hauser (Hg.), Einkommensverteilung und Armut - Deutschland auf dem Weg zur Vierfünftel-Gesellschaft? Frankfurt/New York.
Hanesch, Walter u.a. (1994): Armut in Deutschland. Der Armutsbericht des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Reinbek.
Hauser, Richard (1997): Vergleichende Analyse der Einkommensverteilung und der Einkommensarmut in den alten und neuen Bundesländern von 1990 bis 1995. In: Irene Becker, Richard Hauser (Hg.), Einkommensverteilung und Armut - Deutschland auf dem Weg zur Vierfünftel-Gesellschaft? Frankfurt/New York.
Landua, Detlef, Roland Habich (1993): Problemgruppen der Sozialpolitik im vereinten Deutschland. Aus Politik und Zeitgeschichte, B3/94, 21.4.94, S.3-14.
Leibfried, Stefan, Lutz Leisering, Petra Buhr, Monika Ludwig, Eva Mädje, Thomas Olk, Wolfgang Voges, Michael Zwick (1995): Zeit der Armut - Lebensläufe im Sozialstaat. Frankfurt am Main.
Pfaff, Anita B. (1995): Was ist das Neue an der neuen Armut? In: Karl-Jürgen Biebach, Helga Milz (Hg.), Neue Armut.
Hildebrandt, Regine (1995): Armut in Ostdeutschland. In: Muzaffer Perik (Hg.), Arm dran: Armut - sozialer Wandel - Sozialpolitik. Marburg, Berlin.
- Citar trabajo
- Philipp Müller (Autor), 1997, Armut in Ostdeutschland, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96420
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